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Rudolf Hennig oder die Erfindung der Filmzensur

Anfang April 1906: Der Ausrufer vor dem Kino kündigt einen Verbrecherfilm an. «Ganz nach dem Leben!» schreit er, «dem Leben des Raubmörders Hennig» und «Wie ein Verbrecher unsere Polizei zum Narren hält!»

Schon seit Tagen steht in fast jeder Zeitung eine Notiz über die Jagd der Polizei auf den Verbrecher. Die Leute strömen ins Kino. Der Film macht ein gutes Geschäft, denn wer lacht nicht gerne über das Pech der Polizei. Am 13. April verbietet der Polizeipräsident von Berlin den Film. Was war vorgefallen?

Am 9. Dezember 1905 findet der Kutscher Quinten aus Glienicke abseits der Chaussee von Wannsee her eine Leiche, die als der gewesene Kellner Giernoth identifiziert werden kann. Er lag dort schon einige Tage und die Polizei findet bald heraus, dass sein Bankbuch von einem Fremden, der die Unterschrift gefälscht hatte, beliehen worden war.

Nachforschungen über den letzten Umgang des Giernoth ergeben, dass es der Lederarbeiter Karl Rudolph Hennig (31) gewesen sein muss, ein Betrüger und Gewaltverbrecher.

Es wird eine Belohnung von 500 Mark ausgeschrieben und ein Bild veröffentlicht: Hennig ist 1.68 m gross und schlank, hat hellblaue stechende Augen mit starken Brauen, ein schmales blasses Gesicht, schwarzbraunes Haar und Schnurrbart, einen kahlen Scheitel, hervorstechende Backenknochen und unter der Kehlgrube eine Narbe. Er trägt einen schwarzen steifen Hut, einen dunklen Überzieher und Jackettanzug, einen langen hellen Schlips mit birnenförmiger Perlnadel und einen Stock mit rundem Silbergriff. Oft hat er einen blauen Aktendeckel oder eine schwarze Tasche bei sich.

Am 6.Februar hält sich der Kriminalbeamte Wolle in der Schönhauser Allee auf, wo Hennig schon öfters Beziehungen zu Mädchen hatte. Als er ihn entdeckt, macht er sich unauffällig an ihn heran und nimmt ihn fest. Vor der Türe des 17. Reviers zieht Hennig plötzlich seinen Revolver und schlägt den Beamten zu Boden. Der Schuss versagt, aber Hennig kann entkommen. Trotz des Aufgebotes der ganzen Revierpolizei, die das Haus, in das Hennig geflüchtet ist, umstellt und durchsucht, wird er nicht gefunden. Er ist inzwischen über das Dach in ein Nachbarhaus gedrungen. Zwei Wohnungen bleiben ihm verschlossen, obwohl er sich als Kriminalbeamter ausgibt. Erst beim Schuster Krause kann er in die Werkstatt kommen, bestellt sich ein Paar Stiefel, und während der Vorbereitungsarbeiten nimmt er sich ein Paar Latschen und die Mütze des Schusters und springt aus dem Fenster.

Inzwischen hat die Polizei die Wohnung ausfindig gemacht, in der Hennig wohnt und findet dort in einem Koffer Papiere des ermordeten Giernoth. In den folgenden Wochen gehen viele Meldungen bei der Polizei ein, wo Hennig gesehen sein sollte, aber keine Spur erweist sich als erfolgreich. Die nahegelegene Laubenkolonie wird durchsucht, die Gegend um die Schönhauser Allee und die Kopernikusstrasse ebenso - alles vergeblich.

In den folgenden Tagen tauchen Extrablätter auf, Hennig sei verhaftet worden - die Polizei greift gleich ein und beschlagnahmt sie. Männer werden fälschlich verhaftet, da man sie für Hennig hält. Andererseits kann die Polizei aber auch Verbrecher verhaften, die sie gar nicht zu fangen erwartet hat.

Neue Aufregung entsteht, als der Berliner Lokalanzeiger bei der Polizei meldet, Hennig hätte ihm seine Lebensgeschichte zum Abdruck angeboten. Zum Schein bietet die Zeitung ihm 1700.- Mark, immerhin mehr, als ein Lederarbeiter in einem Jahr hätte verdienen können. Alles ist zum Empfang und der Verhaftung vorbereitet. Hennig erscheint an einer Strassenecke, aber er schöpft offensichtlich Verdacht - auf jeden Fall entfernt er sich wieder, ohne dass die Polizei ihn festnehmen kann.

Jetzt wird die Belohnung auf 3000.- Mark erhöht. Am 15.März ist es dann soweit. Ein Kassierer der Wach- und Schliessgesellschaft in Stettin beobachtet einen Fahrraddieb und verfolgt ihn. Der Dieb lässt das Rad stehen, als er den Verfolger bemerkt, und flieht zu Fuss weiter, direkt in die Arme eines Polizisten. Vor dem Revier zieht der Verhaftete wieder seine Pistole, verletzt den Polizisten, doch dieser schlägt ihn mit seinem Stock so heftig auf den Kopf, dass er bewusstlos zusammenbricht.

Während er dort im Gefängnis einsitzt, erreicht eine Postkarte aus Berlin die Polizei, adressiert an «Den Herrn Raubmörder Hennig» und schon vor der Verhaftung aufgegeben. Sie enthält die Bitte, dem Absender doch zu ermöglichen, die Belohnung einzustreichen, da er sehr in finanziellen Nöten sei und er, der Adressat, ja doch bald «kopflos» sein würde.

Nach ein paar Tagen wird Hennig von Stettin nach Spandau überstellt. Am Bahnhof dort sammelt sich eine grosse Menschenmenge, und begrüsst ihn mit Worten, wie: «Du Lump!» und «Da ist er!».

Aber nicht nur die Erwachsenen beschäftigt der Fall Hennig, auch Kinder fasziniert er. Manchmal wird dann allerdings aus dem Spiel Ernst: Ein paar Tage nach der Verhaftung spielen einige Buben «Hennig und der Schutzmann» und bei der Verhaftung löst sich aus der dem Vater entwendeten Pistole ein Schuss, der den unglücklichen «Hennig» auf der Stelle tötete.

Am 30.April und 1.Mai erfolgt die Verhandlung, die mit der Verurteilung zum Tode endet. Wenige Tage später wird Hennig hingerichtet.

Kehren wir zum 13.April zurück, an dem der Polizeipräsident von Berlin alle «auf künstlichem Wege hergestellte Darstellungen von Hennigs Mordtat und seiner Flucht» verbietet. Als Begründung führt er an, diese Filme seien eine Verunglimpfung der Polizei und ein Eingriff in ein schwebendes Verfahren. Auf den Einspruch der Produzenten hin, wird das Verbot zwar am 18.April wieder aufgehoben, aber schon am 5. Mai wird eine Polizeiverordnung betreffend Filmzensur erlassen. Von nun an muss jeder Film bevor er in Berlin gezeigt werden darf, von der Polizei geprüft werden. Innerhalb weniger Jahre erlassen nicht nur die meisten deutschen Länder ähnliche Verordnungen.

(Die Vorgänge sind in der Tagespresse gut dokumentiert, der Prozess zum Teil wörtlich. Wer hätte Interesse, dies zum hundertjährigen "Jubiläum" zu verfilmen?)
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