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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte der Filmarbeitsgemeinschaften an den deutschen Hochschulen (FIAG)

Einführungsseite

film 56, Heft 3, März 1956

Inhalt
In eigener Sache
Brief aus Paris
Sie nennen es Realismus
Film - Die aktuelle Kunst
Film in Europa 1945-1955 - 1. Italien III
Heute! Heute! Heute!
Marlon Brando
Meinung und Gegenmeinung
Lola Montez (Lola Montez)
Senso (Sehnsucht)
The Desperate Hours (An einem Tag wie jeder andere)
Ein M&äuml;dchen aus Flandern
Dunja
A Kid for Two Farthings (Voller Wunder ist das Leben)
The Kentuckian (Der Mann aus Kentucky)


In eigener Sache

Es scheint, dass das Verhältnis zwischen den Filmarbeitsgemeinschaften an den deutschen Hochschulen (Fiag) und dieser Zeitschrift einer ausführlichen Definition bedarf. Bei einigen Kritikern an film 56 haben sich in diesem Punkte offenbar irrige Vorstellungen festgesetzt. So beschliesst das filmforum seine sonst diskutable Kritik mit der "schüchternen Frage": "film 56' bezeichnet sich als das ,Organ der Filmarbeitsgemeinschaften an den deutschen Hochschulen. Wenn, was wir unterstellen wollen, die Fiag tatsächlich den Herausgeber dazu autorisiert hat, so bleibt offen, ob der ideologische Überbau des Organs der programmatischen Basis der Fiag entspricht, oder ob hier nicht vielmehr sehr willkürlich geschaltet wurde."

film 56 hat sich keineswegs als Örgan der Filmarbeitsgemeinschaften" bezeichnet, und die Fiag brauchte keinen Herausgeber zu irgend etwas zu autorisieren, da sie selbst Herausgeber von film 56 ist. Und sie ist nur der Herausgeber dieser Zeitschrift: die Meinungen, die in ihr zum Ausdruck kommen, sind die der Autoren und nicht notwendigerweise die der Fiag. Das Ziel, das der Herausgeber unter anderem mit dieser Zeitschrift verfolgt, ist es, ein Diskussionsforum für die "junge Kritik" zu schaffen, die sonst nur recht sporadische Chancen hat, sich in der von ihr gewünschten Klarheit zu äussern. Die Fiag sieht keinen Anlass, den Äusserungen der aus ihren Reihen hervorgehenden jungen Publizisten auf die Linie eines blassen Neutralismus festzulegen oder auch nur der Entschiedenheit ihrer Formulierungen Grenzen zu setzen. Vielmehr ist sie selbst der Ansicht, dass die aktuelle Situation des Films und der Filmpublizistik klare Stellungnahmen erfordert, wenn die Diskussion über den Film aus der Unverbindlichkeit feuilletonistischer "Kunstbetrachtung" heraustreten soll.

Wenn einige Kritiker glaubten, einen bestimmten politischen "Kurs" in den bisher erschienenen Heften feststellen zu können, so kann dafür weder die Fiag noch die Redaktion von film 56 verantwortlich gemacht werden. Beide sind sich einig in dem Wunsch, ihre Zeitschrift zu einem echten Diskussionsforum zu machen und einem möglichst vielfältigen Pluralismus der Meinungen Raum zu geben. Sie haben wiederholt dazu aufgefordert (und tun es jetzt erneut), die hier geäusserten Ansichten einer radikalen Kritik zu unterziehen und der Redaktion Beiträge einzusenden, die Ansichten vertreten, die von denen der Redakteure abweichen oder ihnen selbst diametral entgegengesetzt sind. Soweit diese Beiträge die (auch von den Kritikern konzedierte) Fundiertheit des Urteils und das erforderliche stilistische Niveau aufweisen, steht ihrem Erscheinen nichts im Wege.

In diesem Sinne ist die Notiz zu werten, die von diesem Heft an ins Impressum aufgenommen wird: Die hier geäusserten Meinungen stellen nicht unbedingt die der Herausgeber dar. Auf keinen Fall darf sie als eine Distanzierung der Fiag von ihrer Zeitschrift angesehen werden. Vielmehr hat die Lebhaftigkeit des Echos, das diese gefunden hat, die Herausgeber von der Notwendigkeit dieses Unternehmens und von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges überzeugt.       Willy Wehrhahn
Vorsitzender der Filmarbeitsgemeinschaften an den deutschen Hochschulen (Fiag)

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Brief aus Paris

Die Leinwände der pariser Kinos rechts und links der Seine boten auch in den vergangenen Wochen ein Programm, ausreichend, um die zahlreichen Cinéphilen in Atem zu halten. So sah man: den mexikanischen Film "Raices" ("Wurzeln"), des Spaniers Bardem überraschend aktuellen und lebendigen "Muerte de un ciclista" ("Tod eines Radfahrers"), Robert Aldrichs "The big knife" ("Das grosse Messer") und nicht zuletzt die grosse Retrospektive des sowjetischen Tonfilms in der Cinémathèque. Doch können selbst optimistische Kritiker nicht umhin, zu konstatieren, dass unter all diesen Filmereignissen die französische Produktion nur einen bescheidenen Platz beanspruchen kann. Abgesehen vielleicht von Alexandre Astruc und von einigen Ausnahmeleistungen auf dem Gebiet des Kurzfilms stellen alle jenen grossen Produktionen, die in Leuchtschrift auf den Champs-Elysées den neuesten Stand französischen Filmschaffens repräsentieren, einen Rückschritt gegenüber bereits errungenen Positionen dar, Rückschritt in die Bereiche unverbindlicher Historizität und verschwenderischer Huldigung an die Publikums-Mythen.

Eine höchst zwiespältige Reaktion hat René Clairs neuester Film hervorgerufen. Die Kritiker der "progressistischen" Linken haben ihm seine mangelnde Bereitschaft zum Engagement vorgeworfen, das sie in dieser galanten Geschichte um einen Kavallerieoffizier im 19. Jahrhundert vermissen. So entrüsteten sich die Kritiker des "Express" - des Organs von Mendès-France - anlässlich der Uraufführung in Moskau: "Nicht dieses Frankreich der belle époque mit ihrem lustigen Garnisonleben und -lieben hätten wir den Russen zeigen dürfen _... Dieser Film wird im Ausland vielleicht Sympathien für René Clair wecken, nicht aber für Frankreich." Und während einige impertinente Zungen behaupten, "Les Grandes Manoeuvres" ("Die grossen Manöver" sollen sie doch nun auch in Deutschland heissen) seien "der Film eines Greises", ergehen andere Kritiker sich in Lobeshymnen. Ünbestreitbar ein chef-d' oeuvre" nannte ihn Francois Bondy, und die "Cahiers du Cinéma" feierten ihn als "Clairs besten Film seit ,Schweigen ist Gold'". Wir wollen sein Erscheinen in Deutschland abwarten (es ist für Ende dieses Monats angekündigt) und dann ausführlich auf ihn zurückkommen.

Interessant und anspruchsvoll gibt sich das Werk des jungen Alexandre Astruc, "Les mauvaises rencontres" ("Die unheilvollen Begegnungen"). Der 33jährige Regisseur, der bereits 1952 mit "Le Rideau cramoisi" nach Barbey d' Aurevilly Aufsehen erregte, wollte hier "seiner Generation ihren Film geben". Dieser hochgezielte Anspruch gab bereits Anlass zu mancherlei Kontroversen. Hauptsächlicher Streitpunkt der Meinungen ist dabei Astrucs "Formalismus". Wir haben es hier zum erstenmal mit dem Vertreter einer jungen Generation von Regisseuren zu tun, die ihre Ausbildung weniger in den Atelier? von Boulogne-Billancourt als vor den Leinwänden der Cinémathèque und der Filmclubs erworben haben. Es ist unschwer festzustellen, dass Astrucs Meister Murnau, Lang, Hitchcock und Welles heissen (und - Shakespeare, nach Meinung der "Cahiers du Cinéma"). So spricht aus jeder Szene der "Rencontres" das Bemühen um filmischen Ausdruck, um einen "komponierten" Bildaufbau, in dem jeder Licht- und Schattenfleck seine Funktion hat. Doch sucht Astruc das schöne oder interessante Bild nicht um seiner selbst willen. Selbst wenn er manche Szenen so weit stilisiert, dass sie, für sich genommen, surrealistische Anthologiestücke abgeben könnten, so spiegeln sie doch mit jeder ihrer Einzelheiten eine psychologische Disposition wider; keine Geste, kein Beleuchtungseffekt, kein Satz, der nicht in Beziehung zum Ganzen des Films stände. "Die Verteilung von Schwarz und Weiss, Licht und Schatten, schliesslich die Inszenierung, wie sie gleichermassen dem Film wie dem Roman unterliegt, alles dies bringt mehr noch als die eigentliche Handlung das bewegende Geheimnis zum Ausdruck, das die Personen am Grunde ihres Herzens tragen." Unwillkürlich muss man an Bresson denken, jenen anderen Meister einer extrem kultivierten Filmsprache.

Im Gegensatz zu seinem "Rideau Cramoisi" jedoch bemüht sich Astruc in den "Rencontres", trotz aller formalen Stilisierung den Boden der gesellschaftlichen Realität nicht unter den Füssen zu verlieren. Inspiriert vom Roman des Erfolgsautors Cecil Saint Laurent erzählt Astruc in Rückblenden die Geschichte des Mädchens Catherine und ihrer unlösbaren Verstrickungen im Pariser Literaten- und Journalistenmilieu und entrollt damit zugleich eine Art Chronik der intellektuellen Jugend Frankreichs, eine Chronik des Ehrgeizes, der Erwartung, der Unsicherheit, der Angst und der verlorenen Illusionen. Der äussere Rahmen einer Kriminal- und Eifersuchtsgeschichte, zu dem Astruc hier greifen musste - vermutlich seine einzige Konzession -, verträgt sich allerdings nicht immer mit dem sakralen Gesichtsausdruck Catherines (Anouk Aimée) und dem hochgeschraubten Intellektualismus der Dialoge.

Doch letztlich geht die Diskussion um "Les mauvaises rencontres" über die Begriffe des Äesthetizismus" und des "Formalismus" hinaus. Hier wird vielmehr Stellung bezogen für oder gegen eine gewisse Gattung von "literarischen" Filmen. Wo bleiben, so fragen viele, in den "Rencontres", in diesem Paris ohne Sonne, das in ewigem Schlaf versunken scheint, das tätige Leben, der Alltag und seine Probleme So reklamierte Guido Aristarco anlässlich der "Mauvaises Rencontres" das "mangelnde neue Empfinden für die Realität im französischen Film".

Eine andere Handschrift als Astruc mit seinem "Kamera-Federhalter" schreiben in ihren Filmen Jean Paul Le Chanois und Andre Cayatte. Sie scheinen heute die einzigen Regisseure zu sein, die sich für das französische Alltagsleben interessieren, in deren Filmen der Durchschnitts-Kinobesucher sich selbst wiedererkennen kann. Von Le Chanois kennen wir "Wenn man die Schule schwänzt" und Öhne Angabe der Adresse". In "Maman, Papa, la Bonne et moi" zeichnete er im anspruchslosen Gewand einer volkstümlichen Komödie eine Reihe lebendiger Volkstypen. "Les évades" ("Die Entflohenen") spiegeln die Situation, in der sich fünf Jahre lang über eine Million Franzosen befanden: die Gefangenschaft in Deutschland. Doch enthält der Film mehr als eine Anspielung auf unsere Gegenwart: die zunächst rein materielle Solidarität der drei Flüchtlinge, eines Lehrers, eines Tischlers und eines Angestellten, die tagelang in einem plombierten Eisenbahnwaggon aushalten müssen, führt sie schliesslich zu der Einsicht, trotz der Unterschiede sozialer Herkunft auch nach dem Kriege vereint bleiben zu müssen, um neue Massaker zu verhindern: ein Sieg über den unpolitischen Individualismus.

In diesem Zusammenhang der gesellschaftlichen Aktualität ist vor allem Andre Cayattes "Dossier noir" ("Die schwarze Akte") erwähnenswert. Nach den früheren Filmen dieses Regisseurs - "Schwurgericht", "Wir alle sind Mörder" und "Vor der Sintflut" - ist dies ein weiterer aufrichtiger, mutiger, erfreulicher Film, dem sich - zumindest was seine Absichten betrifft - nichts Weiteres aus der französischen Filmproduktion von 1955 an die Seite stellen lässt.

Eindringlicher noch als in "Vor der Sintflut" wird hier gezeigt, wie routinierte Polizeibeamte "spontane" Geständnisse herbeiführen, wie fein gesponnen das Netz einer Unterpräfektur ist, in dem die reichen Bürger durch ein System gegenseitiger Verpflichtungen und Allianzen Regierung, Polizei und Beamtenschaft in der Hand halten. Es dreht sich um einen jungen Untersuchungsrichter (Cayatte: "Der Untersuchungsrichter ist in Frankreich mächtiger als der Präsident der Republik"), der mit der Aufklärung eines angeblichen Giftmordes beauftragt wird. Aber die von verschiedenen Seiten eingeleiteten Untersuchungen ergeben widersprechende Resultate; die schweigende Verschwörung, die die Kleinstadtgesellschaft verbindet, erweist sich als unüberwindbar. Wo liegt also die Wahrheit? "Ich allein muss die Entscheidung treffen, ich ganz allein", resigniert der um ein weniges zu märtyrerhaft geratene Untersuchungsrichter. Cayattes Story hat die Schwächen einer Handlung, die erfunden wurde, um zu demonstrieren. Sie ist überkompliziert, ihr fehlt es an Echtheit im Detail und an Wärme. Trotzdem sind manche Partien des Films ausgezeichnet gelungen. Mit analytischem Scharfblick vermerkt Cayatte die Ursachen der Justizschwäche: materielle Unzulänglichkeiten und die Verflechtung der Interessen. Trotz offenbarer künstlerischer und dramaturgischer Mängel ist "Le Dossier noir" seiner entschiedenen gesellschaftlichen Stellungnahme halber doch vorbildlich. Cayatte gehört zu den wenigen Cinéasten Frankreichs, die es bisher mit akrobatischer Geschicklichkeit fertiggebracht haben, weder vor den Tabus der Zensur noch vor den Imperativen der Produzenten zu kapitulieren.

Das gleiche konnte man bisher von Claude Autant-Lara ("Teufel im Leib", "Die rote Herberge", "Rot und schwarz") sagen. Sein neuester Färb- und Cinemascope-Film "Marguerite de la Nuit" ("Margarete der Nacht") hat Autant-Laras Anhänger allerdings in einige Verlegenheit gestürzt. Sogar ein prominenter Kritiker wie Jacques Doniol-Valcroze gab zu, "über diesen Film kein Urteil abgeben zu können". Es handelt sich um eine Transponierung der Faust-Legende in das Montmartre der zwanziger Jahre; Yves Montand spielt einen klumpfüssigen, aber höchst gentlemanliken Mephistopheles, der zwielichtigen Geschäften nachgeht und "nicht mehr den lieben Gott, sondern die Polizei fürchtet". Autant-Lara, der schon in der Stummfilmzeit für L' Herbiers "Inhumaine" kubistische Dekors entwarf, versucht hier mit merkwürdig theaterhaft stilisierten Hintergründen eine irreale Atmosphäre zu schaffen. Dabei gerät er aber in auffallenden Widerspruch zu den zahlreichen Attributen des technisierten Lebensstiles, die aus dieser Epoche (um 1925) schon nicht mehr zu eliminieren sind. Einige handfeste und gutplacierte antibürgerliche und antiklerikale Ausfälle konnte sich Autant-Lara offenbar nur mit schweren Konzessionen am Inhalt erkaufen. Dialoge und Psychologie des Films bewegen sich - von den ersten Szenen abgesehen - vornehmlich auf der Ebene tiefster Plattitüde.

Man hat die Struktur der französischen Filmindustrie oft mit einer auf der Spitze stehenden Pyramide verglichen: einer kleinen Zahl "erfahrener" Regisseure überträgt man die Quasi-Gesamtheit aller Filmprojekte, während die jungen Talente, von denen eine Erneuerung ausgehen könnte, sich in die Domäne des Kurzfilms abgedrängt sehen: Pierre Kast, Yannick Bellon, Roger Leenhardt, Georges Franju, Henri Vidal, Georges Rouquier, Alain Resnais, Paul Paviot. So fällt es auf dem Gebiet des "documentaire" nicht schwer, eine ganze Reihe authentischer Leistungen der letzten Monate aufzuzählen.

Agnès Varda, die 26jährige Fotografin von Jean Vilars Volkstheater, drehte in einem abgelegenen Fischerdörfchen der Provence mit geliehenem Material ihren ersten Film "La Pointe courte". Aus diesem mittellangen Film sprechen vielfach der gleiche sakrale Ernst, das gleiche Suchen nach expressivem Stil wie aus den "Mauvaises Rencontres". Doch die mit allzu viel Tiefgang befrachtete Story von dem entfremdeten Liebespaar, das wieder zueinander findet, durchkreuzt sich hier ständig mit liebevollen Detailschilderungen aus dem charakteristischen Milieu provencalischer Fischerfamilien. Dieser "populäre" Teil des Films ist von einer lebendigen Echtheit, die man in der forcierten Ernsthaftigkeit der Dialoge vermisst. Agnès Vardas Vorliebe gilt ungewöhnlichen, symbolschweren Bildperspektiven: ragende Mastbäume, Steinhaufen, kahles Gestänge, eigentümlich starre, Grossaufnahmen menschlicher Profile - dies alles lässt manchmal an Herbert Vesely und. "nicht mehr fliehen" denken. - "Jardin Public" von Paul Paviot ist ein kleines Juwel aus der französischen Kurzfilmproduktion, der geniale Marcel Marceau mimt hier in nächtlicher Dämmeratmosphäre und vor leicht stilisierten Dekors verschiedene Volks- und Bürgertypen, wie sie tagsüber die pariser Parks bevölkern: die strickende Madame, der Luftballonverkäufer, das schüchterne Mädchen, der Polizist, der Laternenanzünder. "Jardin public" verdankt seine Faszination vornehmlich der suggestiven, auf minutiöser Beobachtung des Alltäglichen gegründeten Kunst Marceaus; doch auch die optische Belebung eines Films mit nur einem einzigen Darsteller ist von Paviot durch einen sensiblen und rhythmischen Bildschnitt gelöst worden.

Während Paviot und Marceau den Zuschauer unmerklich in den Bann einer subtilen Zauberwelt locken, hatte sich Georges Rouquier in seiner dreiteiligen Filmreportage "Lourdes et ses miracles" ("Lourdes und seine Wunder") die Demystifikation des grossen Wallfahrtskultes zur Aufgabe gestellt. Die kritische Einstellung, mit der Rouquier im ersten Teil seines abendfüllenden Dokumentarwerks die merkantilen Randerscheinungen des gigantischen Pilgerzuges vor das Objektiv seiner Kamera bringt, machen im Verlauf des Films allerdings immer mehr einer distanzlosen Ergriffenheit vor der "grossen Bewegung menschlicher Solidarität" Platz. So hinterlässt "Lourdes" trotz aller dokumentarischen Präzision schliesslich einen Eindruck merkwürdiger Zweideutigkeit.

Nach seinem poetisch-makabren Meisterwerk "Le sang des bêtes" ("Das Blut der Tiere") konnte Georges Franju kürzlich "Poussières", einen Kurzfilm über das Staub-Problem, fertigstellen. Obwohl hier vorgeschriebene wissenschaftliche Akribie Franju nicht sehr viel Platz für filmische Originalität lässt, enthält "Poussières" doch die atmosphärisch dichtesten Bilder aus der Pariser Arbeiter-Banlieue, die man seit "Paris-Express" und Äubervilliers" auf der Leinwand sah. Ähnliche Qualitäten sagt man auch den Dokumentarfilmen von Robert Mennegoz nach, die indessen noch schärfer auf die Analyse gesellschaftlicher Widersprüche ausgerichtet sind. Während "Jeannette et mes copains" in einer verstümmelten Version als Beiprogramm zu einem belanglosen Dutzendfilm in den Verleih gekommen ist, werden "Les Dockers" und "La Commune" bis heute von der Zensurbehörde zurückgehalten: Meisterwerke des sozialen Dokumentarfilms nach dem Urteil der wenigen Privilegierten, die diese Üntergrund-Filme" sehen konnten.

Mit Ereignissen der unmittelbaren Vergangenheit setzen sich "Varsovie quand même" ("Warschau trotzdem"), von Yannick Bellon, ein dramatischer Montagefilm über die Zerstörung Warschaus kurz vor Kriegsende und Alain Resnais' Dokumentarbericht über die deutschen Konzentrationslager, "Nuit et Brouillard" ("Nacht und Nebel"), auseinander. Resnais stellte historische Aufnahmen mit Dokumenten, Photos und einer kurzen Reportage über das Treffen ehemaliger Häftlinge, das 1955 in Buchenwald stattfand, zu einem Filmwerk zusammen, dessen intensive Bildsprache und knapper, trockener Kommentar (von Chris Marker) die Chronik menschlichen Leidens zu einer erschütternden Vision steigern. Nur in Resnais' "Guernica" erreichte der Dokumentarfilm, wenn auch mit anderen Mitteln, ähnliche Ausdruckskraft. Filme wie "Varsovie quand même" und "Nuit et Brouillard" wären nirgendwo mehr am Platze als in den Filmtheatern der Bundesrepublik, wo sie der allzu geschwinden Neigung zum Vergessen entgegenwirken könnten.

Chris Markers vielversprechende China-Reportage "Clair de Chine" schliesslich befindet sich gegenwärtig im Stadium der Montage. Eine Art trauriger Berühmtheit hat Resnais-Markers Kurzfilm "Les Statues meurent aussi" (Äuch die Standbilder sterben") erlangt, den die staatliche Zensurbehörde seit nunmehr drei Jahren mit einem Vorführverbot belegt hat. Der Grund: Angriffe gegen den Kolonialismus.

Die Filmzensur wird in Frankreich mit ungleich grösserer Strenge gehandhabt, als man das vom Lande der traditionellen Freiheiten annehmen sollte. Die verschiedenen Kontrollinstanzen, die sich der Verwirklichung eines Filmprojektes in den Weg stellen - von der "Kommission zur Genehmigung von Drehbüchern" bis zur offiziellen "Kommission zur Filmkontrolle", die das kommerzielle Visum erteilt - sie alle belasten die Absichten von Regisseuren und Autoren mit den Bleigewichten politischer, gesellschaftlicher und religiöser Rücksichtnahme. Wie viele anspruchsvolle Filmprojekte sind nicht in den letzten Jahren von der Vor-Zensur in den Schubladen der Produzenten zurückgehalten worden! Der konformistische Dirigismus, der hier von staatlichen Stellen auf die Filmproduktion ausgeübt wird, die sorgfältige Unterdrückung jeglicher "subversiven" Tendenz, sie sind wesentlich mitverantwortlich für die künstlerische Krise, die der französische Film augenblicklich durchmacht.

Die fragwürdigen Praktiken der französischen Filmzensur sind in letzter Zeit durch die Äffäre Bei Ami" wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt worden. Dieser 1954 in Wien von Louis Daquin als französisch-österreichische Koproduktion gedrehte Film war im Februar vergangenen Jahres von der Zensurkommission mit zwölf gegen sechs Stimmen zur Vorführung freigegeben worden. Trotzdem weigerte sich der zuständige Minister, das kommerzielle Visum auszustellen. Was wirft man dem Film vor? Eine angebliche tendenziöse Behandlung der französischen Kolonialisierung in Nordafrika. Damit wird aber letztlich Maupassant selber gemassregelt, der in seinem Roman ganz bewusst auf die Eroberung Tunesiens 1881 anspielte. Dass Derartiges freilich zu einem Zeitpunkt ungelegen kommt, an dem sich die Guerillakämpfe in Algerien zu einem zweiten Indochinakrieg auszuweiten beginnen, leuchtet ein.

Im Mai 1955 kam der Fall "Bei Ami" sogar vor die Nationalversammlung. Doch hier bildete sich sehr rasch eine Union aller "wohldenkenden" konservativen Kräfte gegen einen "von Gorki bearbeiteten Maupassant". Man argumentierte, dass "Bei Ami" mit sowjetischem Rohfilmmaterial gedreht worden sei, folglich einen äusländischen" Film darstelle, dass man aber die Kritik eigener Institutionen durch ausländische Filme nicht dulden könne. Die Zulassung von "Bei Ami" wurde schliesslich mit Dreiviertelmehrheit abgelehnt. Das französische Filmpublikum wird somit weiterhin darauf verzichten müssen, Maupassants "Bei Ami" auf der Leinwand zu sehen.       Ulrich Gregor

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Sie nennen es Realismus Selbstkritik und ihre Grenzen im amerikanischen Film
      Wilfried Berghahn
    Theodor Kotulla
    Enno Patalas

Dem Kritiker am amerikanischen Film begegnet bei den Wohlmeinenden regelmässig der Hinweis auf einen gewissen "kritischen Realismus", der sich alljährlich in mehreren Produktionen Hollywoods kundtut. In der Tat wird man, wenn man Ansätze zu einem realistischen Filmstil sucht, diese in Hollywood eher als in den Ufa-Ateliers oder selbst in Frankreich finden. Vor allem unmittelbar nach dem Kriege, als in Italien die Regisseure auf die Strasse gingen, begannen einige Produzenten in Hollywood ähnliches. Mit Aufnahmewagen und Handkameras wagten sie sich in die Häuserschluchten von New York und in die Slums von Los Angeles. Gleichzeitig schlug sich die seit der Wirtschaftskrise ständig zunehmende Skepsis gegenüber dem American Way of Life in einer Reihe sozialkritischer Streifen nieder. Es entstanden Filme wie "Naked City" ("Stadt ohne Maske"), Äsphalt Jungle" und "Teresa". Es waren aufrichtige, scharfsichtige und schockierende Filme. Vom Neorealismus der Italiener unterschied sie zumeist die Vorliebe für das Aussergewöhnliche, das Sensationelle und manchmal sogar das Abseitige. In diesen Elementen steckten bereits Ansätze der späteren Perversion des neuen Stils zur "Masche", eine Entwicklung, die sich unter dem Druck wirtschaftlicher und politischer Vorgänge in den letzten Jahren unmerklich vollzogen hat. Heute weist schon beinahe jeder Revuefilm seine selbstkritischen und realistischen Sequenzen auf. Die Kritik selbst ist zum Standardprodukt geworden, wird überdies durch Abstempelung sterilisiert: was, ohne Reklame dargeboten, nicht im Ghetto der Art Cinemas versteckt, vielleicht als gesellschaftlicher Sprengstoff wirken möchte, wird zum Gebrauchsmittel, zur Ware, die von den feiner organisierten Gaumen und Mägen der Intellektuellen ebenso konsumiert wird wie "Zorro" von denen der "Plebs".

Was ist das für eine Kritik, die so leicht von der Perfektion eingeholt und von den Institutionen integriert wird, gegen die sie sich doch gerade zu richten scheint? Ist Hollywoods "kritischer Realismus" wirklich frei von den Tabus, die sonst das öffentliche Meinen beschränken, wagt er sich an die entscheidenden Faktoren des gesellschaftlichen Lebens, die konkreten Institutionen der Politik oder Wirtschaft und die kollektiven Mythen?

Wir wollen die Frage an einige Filme richten, die in den letzten Jahren zu uns kamen. Es sind Filme, die für diese Gattung und den Hollywood-"Realismus" repräsentativ sind, die in den letzten Jahren den meisten Beifall bei der Kritik und dem änspruchsvollen" Publikum fanden.

Schlechte Geschäfte in Neu-England
THE DEATH OF A SALESMAN (DER TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN) - Produktion: Stanley Kramer - Regie: Laslo Benedek - Buch: Arthur Miller, nach seinem gleichnamigen Schauspiel - 2952
Zielscheibe vieler amerikanischer Entlarvungsfilme ist das Erfolgsidol. Seit der Wirtschaftskrise ist vielen Amerikanern die naive Vorstellung einer Karriere "vom Schuhputzer zum Millionär" zunehmend fragwürdiger geworden. Es gibt zwar immer wieder Filme, die an Hand der Biographie eines Sportmanns, Unternehmers oder Stars dem optimistischen Mythos huldigen, aber sie sind schon in der Machart viel bescheidener als ihre Vorläufer aus den Happy Twenties und noch den Dreissigerjahren des New Deal. Auf der anderen Seite mehren sich die Streifen, die sich skeptisch zu den Glückschancen im "Lande der unbegrenzten Möglichkeiten" äussern.
Im "Tod eines Handlungsreisenden" geht es um die Entlarvung der Lebenslüge. Der kleine Handlungsreisende Willy Loman lebt von der Illusion, ein grosser Mann werden zu können, denn so sagt es ihm die Ideologie seines Landes: Jedermann ist seines Glückes Schmied. Er leidet also nicht an einer privaten Grossmannssucht, sondern an einer Weltanschauung, die besagt, dass Initiative alles sei, dass die Chancen gleichmässig verteilt seien und dass man, was einer tauge, an seinem Verdienst ablesen könne. Diese Rechnung fällt für Loman, den Handlungsreisenden, jedoch nicht rosig aus. Es passiert ihm mit zunehmendem Alter immer häufiger, dass die Geschäftsleute, zu denen er seine Musterkoffer schleppt, durch ihn hindurchsehen. Auch seine Söhne bringen es zu nichts.
Die Handlung treibt methodisch auf den Punkt zu, an dem der abstrakte Glaube an den unvermeidlichen Erfolg entlarvt werden muss. In diesem Augenblick aber macht der Film eine innere Kehrtwendung: Denselben Handlungsreisenden, den er eben noch als Anbeter eines Magazinreklame-Götzenbildes entlarvt hat, stilisiert er in der Schlusssequenz zum tragischen Helden. Weder führt er ihn zur Einsicht, noch lässt er ihn konkret scheitern, um etwa die Zeugen - die Familie, das Publikum - zur Einsicht zu führen. Loman gesteht sich den Zusammenbruch seiner Vorstellungswelt nicht ein, sondern benutzt ihn noch als letztes Mittel, um doch noch zum Erfolg zu kommen. Er fährt in den Tod, um seinen Söhnen noch eine Versicherungsprämie zu verschaffen, die sie endlich instand setzen soll, grosse Männer zu werden. Hier ist auch das Optische verräterisch: Als Loman in den Tod fährt, verwandeln sich ihm die Strassenlaternen und Lichter in Sterne - die Verklärung eines schlechten und unnützen Todes ist komplett.
So werden Loman selbst, seine Söhne und das Publikum um die Erkenntnis betrogen, die die Geschichte in sich barg. Und schliesslich hat der Kinobesucher recht, dessen Äusserung Robert Warshow wiedergibt: "Ja ja, in Neu-England war nie viel zu holen _..."
Der Umfall kündigt sich indessen schon vor dem "letzten Akt" in der Konzeption und im Formalen an. Es ist symptomatisch, dass Miller seinen Willy Loman als Individuum so vage gezeichnet hat. Was wir von ihm erfahren, sind Stereotypen des amerikanischen Bewusstseins, wie wir sie etwa in den Comics finden: das Verhältnis zum älteren Bruder, des Vaters zu den Söhnen und so fort. Die Grundhaltung des Stücks und des
Films ist nicht die der Analyse, die der Kritik vorangehen muss, sondern die der verallgemeinernden Emotion. Ihre Wurzel ist die Selbstbemitleidung amerikanischer Intellektueller, die sich selbst als "Versager" empfinden, weil ihnen die Gesellschaft zuwider ist, ohne dass sie ihr doch ein Gegenbild entgegenstellen oder auch nur die Ursuchen des Dilemmas ausmachen können. Dem derart ideologisch getrübten Blick stellt sich die Gesellschaft in den Negativ-Prägungen ihrer eigenen Klischees dar. Robert Warshow hat in seiner Kritik des Films (zuerst in "Partisan Review", nachgedruckt in "Perspektiven", Heft 2) auf die ideologischen Hintergründe des Stückes hingewiesen. Einer seiner Hauptanziehungspunkte, meint er, habe in seinem Pessimismus bestanden: "Ein so grosser Teil der offiziellen' amerikanischen Kultur war billiger Optimismus, dass wir, fast als Reflexbewegung, dazu neigen, Pessimismus für einen Massstab der Tiefe zu halten."
Die Neigung zur Verwischung der Konturen, zur klischierenden Verallgemeinerung, die hinter der dramatischen Intrige steht, prägt auch den Stil des Films. "Willys Brooklyn", schreibt wieder Warshow, "bleibt ein so schattenhaftes Nirgendsland wie nur je; er lebt in einem Amerika, das nicht einmal übersteigerte Wirklichkeit, sondern nur Vorurteil des Autors ist. Wenn eine der Halluzinationsszenen in die U-Bahn verlegt wird, so soll damit noch stärker die Absicht unterstrichen werden, dass der Film dem konkreten Hintergrund der Leiden Willys keine Anschaulichkeit geben will: Alles ist tadellos und sauber gehalten, die Passanten nur eine ausdruckslose Gruppe von Statisten, die U-Bahn-Reklame ist, sorgfältig gemildert, im Hintergrund, und niemals schwenkt die Kamera von Willy weg."
Ist die Selbstkritik des "Handlungsreisenden" nichts als ein selbst ideologisch geprägter vager Pessimismus, so ist sein Realismus nur eine Attitüde, die die Wirklichkeit absichtlich im Zwielicht lässt - ganz wie jene Unterhaltungsfilme, die den Älltag der kleinen Leute" optimistisch verklären.

Verdammt bis zum 8. Dezember
FROM HERE TO ETERNITY (VERDAMMT IN ALLE EWIGKEIT) - Produktion: Columbia - Regie: Fred Zinnemann - Buch: Daniel Tarradash, nach dem gleichnamigen Roman von James Jones - 1953
Nicht ohne Grund greifen die amerikanischen Regisseure der "realistischen Schule" mit Vorliebe auf die zeitgenössische amerikanische Literatur zurück. Für mehrere Vertreter der jungen Schriftstellerorganisation bedeutete der Krieg das zentrale Erlebnis ihrer Jugend, von dem sie geprägt wurden - der Krieg und das Militär. Unter ihnen steht James Jones in der ersten Reihe.
Wenn Remarque in seinem Buch "Im Westen nichts Neues" von einer Generation zu berichten versuchte, "die vom Kriege zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam", so schreibt Jones in "Verdammt in alle Ewigkeit" das beängstigende Epos des Soldaten, lies: des Menschen, der von der Armee zerstört wird, auch wenn er dem Kriege - noch - entgeht. In beiden Romanen steht der Tod des "Helden" am Schluss: Paul Bäumer fällt durch eine feindliche Kugel; den Robert E. Lee Prewitt streckt ein Feuerstoss der eigenen Militärpolizei nieder. Und hierin liegt der entscheidende und so beunruhigende Unterschied! Denn den Tod von Remarques Frontsoldaten kann man nur im Kriege sterben, das Problem bleibt also begrenzt. Der Tod Prewitts aber bedroht jeden, dem die Unverletzlichkeit seines inneren Menschen mehr wert ist als die äusseren Mächte, die ihn versuchen.
Durch das menschlich-unmenschliche, unübersehbare Gewirr des Garnisonslebens auf Hawaii, das der Roman beschreibt, zieht sich als roter Faden die Geschichte des Hornisten und Dreissigenders Prewitt, der nicht mehr boxen will, weil er einst einen seiner Partner im Ring blind geschlagen hat. Auf Geheiss seines Kompaniechefs wird er barbarisch schikaniert, da für diesen der Sieg seiner Boxstaffel gleichbedeutend ist mit der Beförderung zum Major. Doch Prewitt gibt nicht nach. Er landet folgerichtig im Militärgefängnis, wo er erleben muss, wie einer seiner Kameraden zu Tode gefoltert wird. Er ersticht den sadistischen Mörder, einen Sergeanten, und desertiert. Die Verwirrung, die der Angriff der Japaner auf Pearl Harbour am 8. Dezember 1941 anrichtet, will er benutzen, um wieder zu seiner Truppe zu gelangen. Dabei läuft er in die Kugeln der M.P.
Bei Jones verbindet sich eine an Thomas Wolfe erinnernde, breit strömende Eloquenz mit einem Verismus der Darstellung, der seinesgleichen sucht. Ob "Liebe" oder Militärgefängnis - alles wird schockierend unkaschiert dargeboten, ohne indes die sprachliche Bewältigung vermissen zu lassen. Wir erleben, wie in kühlen Generalstabshirnen der rauschhafte Traum von der Macht faschistische Konturen annimmt; wie es für den Individualisten Prewitt aus der Maschinerie, in die er sich hat einspannen lassen, keine Eskapade in "ein anderes Land" mehr gibt, wie stattdessen in den Baracken des Gefängnisses so etwas wie ein neuer Glaube aufsteht: der Glaube an den Triumph der Geschändeten. Wir erleben weiter, wie das Leben in der Armee die gesunden Beziehungen zwischen den Geschlechtern zersetzt: der Ehebruch wird Selbstverständlichkeit, die Dirne wird zur vergötterten Geliebten, die Homosexualität wird eine schleichende Gefahr. Ein erschreckendes Dokument. In all dem behält die Gestalt des Prewitt, des Mannes, der keinen Schritt vom Wege seines Gewissens abgeht, ihren menschlichen Glanz, der unsere Hoffnung nicht versinken lässt.
Aber wir reden vom Buch, wo wir längst vom Film reden sollten. Das ist ein schlechtes Zeichen für den Film. Fred Zinnemann drehte ihn. Er gehörte zu der spärlichen Avantgarde von Filmregisseuren in Hollywood, die immer wieder den Mut fanden, heisse Eisen anzufassen. Zinnemanns letzter Film wirkt indessen geradezu gemütlichunbeschwert im Vergleich zu Jones. Der Dialog hat seine ätzende Schärfe eingebüsst, dafür ist er mit Kommissgags angereichert worden, so dass es beim Publikum immer wieder Lacher gibt, selbst an Stellen wie der, als der kleine Maggio ins Militärgefängnis eingeliefert wird. Von der schweren, bitter-vergänglichen Süsse der jonesschen Liebesszenen spürt man im Film kaum etwas. Wird im Film von Prewitt gesagt, er liebe die Armee, so klingt das wie eine patriotische Formel; bei Jones brach gerade bei diesen Worten die ganze Absurdität des Soldatseins auf. Keine Rede ist auch mehr von Homosexuellen, und das Bordell ist zum "Club" befördert worden. Und das Wichtigste: die beiden äussersten Orte des jonesschen Gesellschaftsmodells - als das erscheint im Buch die Armee -, durch die dieses erst in seiner grausamen Wahrheit bestätigt wurde, sind eliminiert. Das Militärgefängnis erscheint nur in der Erzählung des sterbenden Maggio, und die obersten Militärs treten als gerecht richtender deus ex machina auf und stossen Prewitts Captain Holmes aus der Armee aus - denselben Captain Holmes, der im Buch am Ende zum Major befördert wird, wozu es heisst, dass, wer als Major in einen Krieg ziehe, als General heimkehre _...
Damit ist die Aussage von Jones illusorisch geworden. Ihm kam es ja gerade darauf an, zu zeigen, dass es in der Logik einer Institution wie der Armee liegt, dass sie auf die Dauer zu einer unmenschlichen werden muss. Im Film dagegen ist alles wieder in der rechten Ordnung, nachdem erst die Schurken, die ihren Kameraden oder Untergebenen das Leben zur Hölle machen, bestraft sind. So erscheint denn auch der Tod Prewitts als Betriebsunfall. Warum musste er denn jetzt noch sterben? Bei Jones war der Tod die notwendige Hinrichtung des Opfers vor dem Angesicht des Molochs.
Fred Zinnemann ist ein besserer Regisseur als der Laslo Benedek des "Handlungsreisenden". Seine früheren Filme liessen die Kritiker von einer amerikanischen Adaptation des italienischen Neorealismus schwärmen, indessen verband sich in "The Search", "The Men" und "Teresa" dem Bemühen um Authentizität eine wahrnehmbare Kenntnis optischer und rhythmischer Wirkungsmöglichkeiten, die man etwa bei Rossellini vergebens sucht. Der Stil dieser Filme besass eine Beredsamkeit, die ihn zum Adapteur des Jones-Romans prädestinieren mochte.
Der brüchige Boden des Jones verfälschenden Drehbuchs lässt indessen das veristische Pathos nicht zum Tragen kommen. Vieles wirkt deplaziert und peinlich: etwa wenn der Angriff der Japaner derart "zelebriert" wird - mit allen Schikanen "komponierter" Einstellungen, die wie Postkarten wirken, der Wildwest-Grazie Burt Lancasters, wenn er die M.Pi. an die Hüfte setzt, oder wenn der von japanischen Kugeln getroffene Leib eines Soldaten langsam - "decrescendo" - ausrollt, bis er genau in der Bildmitte liegenbleibt _... Man wird erinnert an jenen Mussolini-Sohn, der eine abessinische Wohnsiedlung bombardierte und das Platzen seiner Bombe mit dem Aufblühen einer Rose verglich. Im Leerlauf eines Formalismus, der den Grund unter den Füssen verloren hat, verrät sich die Morschheit des Bodens. Schliesslich sind Zinnemann auch nicht von ungefähr die lyrischen Intermezzi am besten gelungen, wie die Strandszene zwischen Sergeant Warden und Karen oder die Trompeten-"Phantasie" Prewitts nach dem Tode seines Freundes. Für sich genommen, erscheint manches akzeptabel, im Kontext, in der Beziehung zwischen Inhalt und Form und zwischen den Handlungsstücken verfehlt der Film seine Vorlage - verfehlt er sie gründlich und in symptomatischer Weise.

Weder mutiny noch Schicksal
THE CAINE MUTINY (DIE CAINE WAR IHR SCHICKSAL) - Produktion: Columbia - Regie: Edward Dmytryk - Buch: Stanley Roberts, nach dem gleichnamigen Roman von Herman Wouk - 1954
In einem anderen Fall von verfilmter zeitgenössischer Literatur ist die Adaptation der Vorlage ziemlich treu geblieben. Die Verfilmung des erfolgreichen und pulitzerpreisgekrönten Romans "Die Caine war ihr Schicksal" zeichnet die Vorlage recht genau nach: Auf einem kleinen amerikanischen Kriegsschiff bricht während eines Hurricanes in der Südsee eine Meuterei aus, der erste Offizier setzt den paranoiden Kapitän, der nicht mehr in der Lage ist, das Schiff zu führen, ab. Es kommt zum Kriegsgerichtsverfahren, der rebellierende Offizier wird freigesprochen. Doch der Offizialverteidiger klagt ihn später - nach Abschluss der Verhandlung - persönlich an: Er habe unanständig gehandelt, als er den Kapitän, einen verdienten Offizier, absetzte, denn der sei - trotz Paranoia - immer noch ein Symbol der Marine gewesen, einer altehrwürdigen Tradition, und die Revolte habe er aus purem Egoismus und verbrecherischer Verantwortungslosigkeit angezettelt. Den Hauptvorwurf aber schmettert der Anwalt nicht gegen den nicht übermässig intelligenten ersten Offizier, sondern gegen den zweiten, den er aus dem Hintergrund ins Rampenlicht holt. Dieser, der Intellektuelle unter den Offizieren, war der Drahtzieher der Revolte; er hat sie entfesselt aus einem gemeinen Drang zur Destruktion, aus einer prinzipiellen Ablehnung der Autorität heraus. Voller Verachtung kippt ihm der Anwalt sein Schnapsglas ins Gesicht.
Vom Roman sprechen, heisst hier bereits vom Film reden. Was hat sich begeben? Eine Revolte, die alle Vernunftgründe für sich hat, die selbst von der etablierten Gesellschaft in Gestalt des Kriegsgerichts für Recht erkannt werden muss, wird abgeurteilt - nicht mit Vernunftgründen, sondern indem ihre Initiatoren diffamiert werden. Die Revolte selbst, der Aufstand gegen die Autorität - sei diese auch noch so unvernünftig - wird gemassregelt. Zugleich wird die Intelligenz für derlei amoralisches Tun verantwortlich gemacht. Man könnte das Ganze für einen Bluff halten: Zu welchem Ende werden fünfhundert Buchseiten und einhundert Filmminuten bemüht, wird eine Meuterei so ausführlich motiviert, dass niemand mehr an ihrer Rechtlichkeit zweifelt, wenn das alles doch am Ende auf den Kopf gestellt werden soll?
"Der geschäftliche und damit emotionale Erfolg", hat ihn ein Kritiker gedeutet (Heinz Liepmann: Weder mutiny noch Schicksal, in "Texte und Zeichen", Heft 1), "beruht vor allen anderen Dingen auf der Tatsache, dass die ,Caine Mutiny' ein Werk mit doppeltem Boden und einer dreifachen Pointe ist _... Einerseits gibt Wouk seinem Leser, Bühnen- oder Filmbesucher die emotionale Chance, sich mit einem flammenden Protest, einer veritablen Meuterei mitten im Krieg zu identifizieren, die keiner von ihnen in Wirklichkeit je riskiert hätte. Und andererseits offeriert Wouk in wahrhaft grosszügiger Weise all den Millionen Veteranen des zweiten Weltkriegs ein Alibi, die während des Krieges in den bekannten Konflikt zwischen Gehorsam und Gewissen gerieten und die Linie des geringsten Widerstands: den Gehorsam, wählten _..."
Diese Geschichte, die in der Konstruktion an unsere "Fridericus"-Filme erinnert - "durch Rebellion zur Unterwerfung" -, hat Edward Dmytryk glatt und routiniert in Technicolor gesetzt - derselbe Edward Dmytryk, der einmal zu den grössten Regiehoffnungen in Hollywood gehörte, mit "Crossfire" (1947) mutig den Rassenhass anprangerte, wegen ün-amerikanischer Aktivitäten" belangt werden sollte, emigrierte, im britischen Exil mit "Give Us This Day" ("Haus der Sehnsucht") den besten Film über die Depression (und einen der besten überhaupt) drehte, nach USA zurückkehrte und für ein halbes Jahr ins Gefängnis musste. Wir wissen nicht, an welchem Punkt dieser Karriere der Geist des Rebellen gebrochen wurde, dass nichts weniger als dies geschehen ist, dafür zeugen die Filme, die er seit seiner Rückkehr gedreht hat: sie verraten nichts von der Ernsthaftigkeit der Kritik, der Schärfe der Beobachtung und dem Talent zur atmosphärischen Verdichtung, die Dmytryks Werke früher ausgezeichnet hatten.

Der König ist tot - es lebe der König!
ON THE WATERFRONT (DIE FAUST IM NACKEN) - Produktion: Columbia - Regie: Elia Kazan - Buch: Budd Schulberg, nach Reportagen von Malcolm Johnson - 1954
Wie aber steht es mit dem Film, der allenthalben als das Härteste an Selbstkritik, was möglich ist, gepriesen wurde und der, wie schon "Verdammt in alle Ewigkeit", mit acht Oscars ausgezeichnet wurde, mit "Die Faust im Nacken"? Es geht bekanntlich um die Niederwerfung einer Gangsterclique, die durch Terror die Führung einer Hafenarbeitergewerkschaft an sich gerissen hat. Nachdem der Arbeiter Terry Malloy sich gegen sie - seine früheren Freunde - entschieden und vor dem Untersuchungsrichter ausgesagt hat, geschieht nicht das Selbstverständliche - jedenfalls für europäische Begriffe -, dass nämlich die Gangster verhaftet werden oder ihnen zumindest der Prozess gemacht wird, denn sie haben immerhin neben allem anderen ein paar Morde auf dem Gewissen. Der Film hätte dann mit der gerichtlichen Verurteilung enden müssen. Nein, die Mörder laufen weiter frei herum und führen die Gewerkschaft. Den Beschluss bildet nach dem Willen des Drehbuchs die grosse Kampfszene zwischen Malloy und dem Gangsterboss, Johnny Friendly. Die Arbeiter auf der Leinwand und das Publikum im Kinosaal brauchen den Helden! Erst als Malloy im Faustkampf besteht und sich mit blutendem Gesicht als stärkerer im Nehmen erweist denn die Gangster im Geben, hat er das Spiel für sich entschieden. Die bisher unschlüssige Herde der Arbeiter folgt ihm als ihrem neuen Führer.
Ein Finale der Hoffnung? Zwar hat die gute Sache gesiegt, aber man muss sich fragen, ob überhaupt eine Sache gesiegt hat und nicht vielmehr der Stärkere. Unzweifelhaft wird dem Faustkampf der Vorzug vor dem Rechtsweg gegeben. Nichts deutet darauf hin, dass die Arbeiter, die bis dahin als ein Haufen willenloser Feiglinge gezeichnet worden sind, zu einem demokratischen Verantwortungsbewusstsein erwacht sind. Sie folgen Terry dumpf, wie sie vorher Johnny Friendly gefolgt sind. Wer bürgt dafür, dass nicht eine neue diktatorische Herrschaft sich etabliert - ist Terry selbst gegen die Versuchung der Macht gefeit? Man darf diese Haltung des Films wohl "faschistoid" nennen.
Die Apologeten des Films verweisen auf die individuelle Geschichte des Terry Malloy, in der sie einen Äufstand des Gewissens" sehen wollen. Welches Gewissen steht denn auf? Das ganz private des Terry Malloy. Von sozialen Impulsen ist keine Rede. "Ich habe die ganzen Jahre gegen mich selbst gekämpft", schreit er Friendly entgegen, als er zur letzten Runde mit ihm antritt. Dass es dazu kommen kann, dazu bedarf es erst der stärksten persönlichen Aufreizung: der Ermordung des Freundes und des Bruders, der Gefährdung des eigenen Lebens, der Brandmarkung durch die "Schwarze Liste". Was er tut, tut er für sich. Er holt sich sein Recht, und sieht ein, dass er sich bekämpft hat. Dass bei seinem "Erwachen" ein Priester Pate steht, ändert nichts daran, dass seine Aktion schliesslich nur zur Emanzipation in eine einsame Freiheit führt.
Unter dem Anspruch einer kollektiven Mission - sozial oder religiös - ist Ön the Waterfront" eine wilde Ironie. Absicht der Autoren? Ein Versagen der Gattung - des "vertieften" Melodrams? Einen Hinweis könnte wohl die persönliche Entwicklung der Schöpfer des Films geben, des Drehbuchautors Budd Schulberg und des Regisseurs Elia Kazan. Beide kommen von der "Linken": Schulberg von der Presse, Kazan vom new yorker "Group Theatre"; beide haben sich während der berüchtigten Hexenjagd auf hollywooder Ex-Kommunisten und fellow travellers von ihren früheren Freunden distanziert. Wollten sie sich in dieser Geschichte eines "guten Verrats" ein Alibi schaffen? Diese Annahme würde immerhin ihrer Geschichte eine gewisse Logik verleihen.
Kazans Stil bei diesem Film, eine Kombination aus dokumentarischem Verismus und technischem Raffinement, bezeichnete der englische Kritiker Lindsay Anderson als "hysterical filmmaking". Die Fotografie Boris Kaufmans erinnert an die durchdringende Sachlichkeit der new yorker Fotografenschule und Cartier-Bressons, ihr kommt die um Effekt bemühte Bildregie merklich in die Quere. Die Darstellung steht deutlich unter dem Einfluss des Flüster- und Schrei-Realismus des Group Theatre - "Group Theatre without Moscow", charakterisierte Murray Kempton in der "New York Post" den Film. Kazan treibt den Terror der Situation mit optischen und akustischen Mitteln stets bis zum äussersten. Dennoch wird der Betrachter stets fasziniert hinschauen, denn so abstossend das Sujet sein mag, dem Grauenhaften wird nie gestattet, sich im hässlichen Bild oder Geräusch zu manifestieren; es wird sofort zur schönen Attitüde überdreht. Wir werden terrorisiert, im gleichen Moment aber um den Terror betrogen. Und das, ohne dass wir es bemerken. Erst nachher mögen wir uns wundern, dass wir keinen Ekel verspürten vor der Grossaufnahme des blutüberströmten Terry Malloy - so malerisch waren die Blutfäden auf Brandos Gesicht angeordnet.
So prägt auch den Stil, wenn man will, das schlechte Gewissen der Autoren: ein raffiniertes System der Überredung und Gewaltigung soll über das mangelnde Vermögen zur Überzeugung hinwegtäuschen. Dieselbe Geschichte, in der nüchternen Orthographie Rossellinis oder de Sicas aufgezeichnet, hätte wohl die Ungereimtheiten der Erfindung entlarvt.

Trautes Heim - Glück allein!
MARTY (MARTY) - Produktion: Hecht/Lancaster - Regie: Delbert Mann - Buch: Paddy Chayefsky, nach seinem gleichnamigen Fernsehspiel - 1955
Das Filmdebut des jungen Fernsehregisseurs Delbert Mann, "Marty", nach dem erfolgreichen Fernsehspiel (nicht "Versehspiel" übrigens, wie eine rätselhafte Fehlleistung uns in unserem Heft 1 schreiben liess) von Chayefsky, hat nichts von der stilistischen Überdrehtheit des Schulberg-Kazan-Films. Die in der künstlerischen Erfindung ebenso wie in den materiellen Mitteln ganz anspruchslose Produktion hält sich weitgehend an die Dramaturgie des Fernsehens: wenige Schauplätze werden von einer begrenzten Zahl von Standpunkten aus aufgenommen, die Funktion der Montage übernimmt der Dialog. Dass diese Armut in den Mitteln an sich bereits einen Fortschritt gegenüber den reicheren Filmen der grossen Studios bedeute, ist der charakteristische Irrtum einiger Kritiker. Erst Intensivierung der Aussage würde für den Verlust an Augenweide entschädigen. - Wie ist es darum bestellt?
Als "die Liebesgeschichte eines sehr guten Metzgers" charakterisierte das amerikanische Magazin "Time" den Film kurz und treffend. Marty, Pächter eines Metzgerladens im new yorker Stadtteil Bronx, immens fleissig, anständig verdienend, guter Sohn seiner Mutter, leidet unter seinem Aussehen: er ist ein "stattlicher" Mann, dessen Züge von fern an die einer Bulldogge erinnern. Er begegnet einem Mädchen, einer Lehrerin aus Brooklyn, die unter einem ähnlichen Komplex leidet: auch sie hält sich für hässlich, freilich ist sie eher ungepflegt und farblos. Die beiden bisher Unglücklichen finden sich zusammen, d. h. sie unterhalten sich über ihre alltäglichen Probleme, ob Marty einen eigenen Laden aufmachen soll und so weiter. Gegen die Opposition seiner Freunde und seiner Mutter setzt Marty seinen Willen durch: er wird Clara heiraten.
Wie gesagt: eine anspruchslose Geschichte. Ihre Psychologie ist in Ordnung: zwischen Menschen, die so komplett wie diese beiden durch das Urteil ihrer Umwelt bestimmt sind - einer Umwelt, deren höchste Werte success und glamour heissen -, zwischen solchen Menschen mag sich eine Liebesgeschichte in dieser Weise abspielen, also durch das Medium von Gesprächen über einen Metzgerladen. Wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, dass auch das Milieu korrekt gezeichnet ist, die Strassen, die Tanzsäle von New York und die Wohnung einer Mittelstandsfamilie italienischer Herkunft.
Indessen: ist korrekte Oberflächenschilderung bereits ein gültiger Ausweis für den künstlerischen - oder auch moralischen - Realismus? Die dritte Dimension gewinnt das naturalistische fait divers zweifellos erst durch irgendeine Art von Interpretation. "Marty" lässt sie wohl nicht ganz vermissen: man darf annehmen, dass der Film seine Geschichte als ein Muster ansieht. Und so wollen sie die Verfechter des Films auch sehen: als die bewegende Geschichte einer Liebe zwischen "einfachen Menschen". Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn sichtbar würde, wie die Liebe das Elend verwandelt, wie sie die Menschen verwandelt, die bislang dumpf in den Fesseln eines unwürdigen Schicksals dahinlebten. Eben davon aber ist "Marty" weit entfernt. Liebe dient hier nur der Befestigung des Status quo der schlechten Verhältnisse und der beschränkten Vorurteile. Marty, wie er erscheint, ist ein Ausbund amerikanischer Wertklischees: das Bewusstsein, beruflich "ein Erfolg zu sein", d. h. entsprechend seinem Alter zu verdienen, schwellt ihm die Brust. Was ihm zur "Erfüllung" fehlt, was er, dem Code entsprechend, vermisst, ist die Anerkennung durch das andere Geschlecht, keineswegs Liebe. Dass er sie bisher nicht gefunden haben soll, glauben wir ungern - vollends kaufen wir es in reverso dem Mädchen nicht ab. So trifft ein, wovon man von Beginn an wusste, dass es eintreffen musste: Marty und Clara finden sich und bestätigen einander, was der Zuschauer schon längst gemerkt hatte, nämlich, dass sie gar nicht hässlich sind. (Ein Psychiater hätte beide wohl schon früher und gründlicher "heilen" können.) Die vorgebliche Hässlichkeit wird als Manöver erkennbar, dessen Ziel die billige Floskel der professionellen Liebesratgeber ist: Äuch Du kannst schön sein - auch Du kannst Erfolg haben." Keine Rede davon, dass die falschen Massstäbe - sei es auch nur zwischen den Zeilen - entlarvt werden.
Dabei spricht das Verhalten beider "Liebender" - Tugend der korrekten Beschreibung - so eindringlich von der Verkehrtheit der Massstäbe, dass es andauernd zu Kritik herausfordert. Die umweltbedingte Beschränktheit der Intelligenz und des Charakters teilt sich in jedem Satz, in jeder Geste mit - die ständige Präsens dieses Milieus macht sie um so glaubwürdiger. Nur so konnte dem französischen Kritiker Doniol-Valcroze entgehen, dass das Ganze als positives Muster gedacht war: er nahm es als Warnung und fand, "dieser American Way of Life" gebe ihm "einen Vorgeschmack auf die Hölle"! Genau das hatte ein anderer Film in der Beschreibung des gleichen Milieus und ganz ähnlicher Verhältnisse getan: Fred Zinnemanns "Teresa". Da war die Beschränktheit wirklich "Vorgeschmack der Hölle", die Herrschaft der Mutter (in "Marty" milde abgewandelt), das Versagen des Vaters (in "Marty" verschwiegen), die Qual der engen Mietwohnungen, die psychologischen und soziologischen Faktoren, die das Bewusstsein Amerikas bestimmen, wurden in "Teresa" scharf anvisiert; in "Marty" werden sie vernachlässigt zugunsten einer sentimentalen Geschichte, die uns die Anpassung an die schlechten Umstände als Glück verkaufen will.
Lassen wir die Beispiele auf sich beruhen! Vermeiden wir Verallgemeinerungen: abseits der "repräsentativen" Produktion, den Oscar-Gewinnern und Cannes-Preisträgern gibt es mannigfache Zeugnisse für den redlichen Willen amerikanischer Autoren und Regisseure, Missstände zu kritisieren, die schlechten Mythen zu zerstören und eine Menschlichkeit jenseits der falschen Ge- und Verbote zu finden. Sie geben sich meist weniger auffällig als diese Streifen, deren lärmender Ehrgeiz oder aufgetragene Schlichtheit die Kritik ins System integriert, sie kanalisiert und ableitet in die Kläranlagen der ideologischen Kontrollinstanzen.

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Wehe, wenn man es unserer Filmwirtschaft nicht möglich macht, Filme mit deutschen Menschen, in deutscher Denkart, aus deutschem Geist, in deutscher Sprache und mit deutscher Musik zu schaffen, damit wir mit deutscher Filmkunst in der ganzen Welt Verständnis für deutsches Wesen suchen und finden.       Dr. Oskar Kalbus

(Die Situation des deutschen Films) 1956

"Ich bin davon überzeugt, der deutsche Film wird einmal die Welt erobern, wenn er wieder als deutscher Film auftritt, wenn er unsere Wesensart, unsere Eigenschaft, unseren Charakter, unsere Tugenden und, wenn Sie wollen, auch unsere Schwächen wieder zur Darstellung bringt." Diese kurzen Auszüge aus den Reden des Schirmherrn des deutschen Films, Minister Dr. Goebbels, mögen genügen, um einen Begriff zu geben von dem neuen Geist, in dem die deutsche Filmindustrie fortan ihre Aufgaben zu erblicken hat.       Dr. Oskar Kalbus (Vom Werden deutscher Filmkunst) 1935


Film - Die aktuelle Kunst Das neue Zeit- und Raumbewusstsein in der Kunst der Gegenwart       Arnold Hauser

Die folgenden Abschnitte haben wir mit freundlicher Genehmigung der C. H. Beck'schen Verlagsbuchhandlung der Sozialgeschichte der Kunst und Literatur von Arnold Hauser entnommen.

Die Krise des psychologischen Romans ist vielleicht die auffallendste Erscheinung der neuen Literatur. Die Werke von Kafka und Joyce sind keine psychologischen Romane mehr in dem Sinne, wie es die grossen Romane des letzten Jahrhunderts waren. Bei Kafka ist die Psychologie durch eine Art von Mythologie ersetzt, und bei Joyce gibt es nicht nur keine Helden im Sinne eines psychologischen Zentrums der Darstellung, sondern auch keine besondere psychologische Seinssphäre in der Gesamtheit der Lebenserscheinungen. Die Entpsychologisierung des Romans beginnt eigentlich schon mit Proust, der als grösster Meister der Gefühls- und Gedankenanalyse zwar den Höhepunkt des psychologischen Romans bedeutet, zugleich aber die beginnende Desintegrierung der Psyche als besondere Entität darstellt. Joyces Ülysses" ist die direkte Fortsetzung des proustschen Romans; hier haben wir es buchstäblich mit einer Enzyklopädie der modernen abendländischen Kultur zu tun, so wie diese sich im Gespinst der Motive spiegelt, die den Inhalt eines Tages aus dem Leben einer Grossstadt bilden. Dieser Tag ist der wirkliche Held des Romans. Der Flucht vor der Fabel folgt die Flucht vor dem Helden.

Statt einer Flut von Ereignissen schildert Joyce eine Flut von Gedanken und Assoziationen, statt eines individuellen Helden einen Bewusstseinsstrom, einen unendlichen, zäsurlosen inneren Monolog. Der Nachdruck liegt überall auf der Zäsurlosigkeit der Bewegung, dem "heterogenen Kontinuum", dem kaleidoskopischen Bild einer desintegrierten Welt. Der bergsonsche Zeitbegriff erfährt eine neue Interpretation, eine Zuspitzung und Umbiegung. Betont wird nunmehr vor allem die Simultaneität der Bewusstseinsinhalte, die Immanenz der Vergangenheit des Individuums, der Rasse, der Menschheit in der Gegenwart, das beständige Zusammenfliessen der verschiedenen Zeitabschnitte, das amorphe Fluidum der inneren Erfahrung, die Uferlosigkeit des Zeitstroms, von dem die Seele getragen wird, die Relativität von Raum und Zeit, das heisst die Ununterscheidbarkeit und Unabgrenzbarkeit der Medien, in welchen sich das Subjekt bewegt.

In dieser neuen Zeitkonzeption laufen so gut wie sämtliche Fäden der Textur zusammen, die den Stoff der modernen Kunst bilden: die Entfabelung der künstlerischen Motive, die Entheroisierung der Literatur, die Entpsychologisierung des Romans, die äutomatische Schreibweise" des Surrealismus, und vor allem die Montagetechnik und die zeitlich-räumlichen Mischformen des Films. Denn in keiner Gattung drückt sich der neue Zeitbegriff, dessen Grundzug die Simultaneität ist und dessen Wesen in der Verräumlichung der Zeit besteht, so eindrucksvoll aus wie in dieser jüngsten, mit der bergsonschen Konzeption gleichaltrigen Kunst. Die Übereinstimmung zwischen den technischen Mitteln des Films und den Kennzeichen des neuen Zeitbegriffs ist so vollkommen, dass man die Zeitkategorien der modernen Kunst wie aus ,dem Geiste der filmischen Form entstanden empfindet und den Film selbst als die stilgeschichtlich repräsentative, wenn auch nicht gerade als die qualitativ ergiebigste Kunstgattung der Gegenwart zu bezeichnen geneigt ist.

Das Theater ist in vieler Beziehung das dem Film ähnlichste künstlerische Medium; es stellt namentlich in seiner Verbindung der räumlichen und der zeitlichen Formen die einzige wirkliche Analogie des Films dar. Das, was aber auf der Bühne vor sich geht, ist teilweise räumlich, teilweise zeitlich; in der Regel räumlich und zeitlich; nie aber zeit-räumlich, wie es die Vorgänge im Film sind. Der Film unterscheidet sich von den anderen Künsten am wesentlichsten gerade dadurch, dass in seinem Weltbild Raum und Zeit fliessende Grenzen haben - der Raum mit einem quasi-zeitlichen, die Zeit mit einem gewissermassen räumlichen Charakter. In der bildenden Kunst, so wie übrigens auch auf der Bühne, ist und bleibt der Raum statisch, unbewegt und unverändert, ziel- und richtungslos; wir bewegen uns vollkommen frei in ihm, weil er in allen seinen Teilen homogen ist, und weil keiner dieser Teile den anderen zeitlich voraussetzt. Die Bewegungsphasen sind hier keine Stadien, keine Entwicklungsstufe, ihre Reihenfolge ist ungebunden. Die Zeit der Dichtung - vor allem des Dramas - hat dagegen eine bestimmte Richtung, eine Entwicklungstendenz, ein objektives, von dem Zeiterlebnis des Zuschauers unabhängiges Ziel; sie ist kein blosses Reservoir, sondern eine geordnete Reihe.

Diese dramaturgischen Kategorien des Raumes und der Zeit verändern nun im Film ihre Eigenart und ihre Funktion von Grund aus. Der Raum verliert seine Statik, seine in sich ruhende Passivität und gewinnt einen dynamischen Charakter; er entsteht sozusagen vor unseren Augen. Er ist fliessend, unbegrenzt, unabgeschlossen, ein Element, das seine Geschichte, seine einmaligen Momente, Etappen und Stadien hat. Der homogene physikalische Raum nimmt hier die Merkmale der heterogen zusammengesetzten historischen Zeit an. Die einzelnen Bewegungsphasen sind in diesem Räume nicht mehr gleichartig, die einzelnen Raumteile nicht gleichwertig; es gibt darin besonders qualifizierte Positionen, solche, die in der Entwicklung des Raumbildes eine gewisse Priorität besitzen, und solche, die die Kulmination des Raumerlebnisses bedeuten.

Das Zeiterlebnis der Gegenwart besteht vor allem in der Bewusstheit des Augenblicks, in dem wir uns befinden - im Gegenwartsbewusstsein. Alles Aktuelle, Zeitgenössische, im gegenwärtigen Moment miteinander Verbundene besitzt einen besonderen Sinn und Wert für den heutigen Menschen, und von diesem Bewusstsein erfüllt, gewinnt das blosse Faktum der Gleichzeitigkeit einen bedeutungsvollen Zug in seinen Augen. Seine geistige Welt ist von einer Gegenwarts- und Gleichzeitigkeitsstimmung erfüllt, so wie die des Mittelalters von einer Jenseitsstimmung und die der Aufklärung von einer Zukunftsstimmung erfüllt ist. Er erlebt die Grösse seiner Städte, die Wunder seiner Technik, die Differenziertheit seiner Gedankenwelt, die Hintergründe seiner Psychologie im Nebeneinander, in der Verbundenheit und Verschränktheit der Dinge und Vorgänge. Die Faszination des "Zugleich", die Entdeckung, das einerseits der gleiche Mensch in ein und demselben Augenblick so viel Verschiedenes, Unzusammenhängendes und Unvereinbares erlebt, und dass andererseits verschiedene Menschen an verschiedenen Orten oft dasselbe erleben, dass sich an verschiedenen, voneinander völlig isolierten Punkten der Erde gleichzeitig dasselbe ereignet, dieser Universalismus, den die moderne Technik dem heutigen Menschen zum Bewusstsein gebracht hat, ist vielleicht der eigentliche Ursprung der neuen Zeitkonzeption und der ganzen Sprunghaftigkeit, mit der die moderne Kunst das Leben schildert.

Diese Rhapsodik, die den neuen Roman von dem älteren am schärfsten unterscheidet, ist zugleich der Zug, der an ihm am filmischsten wirkt. Die Diskontinuität der Fabel und der Szenenführung, die Unvermitteltheit der Gedanken und Stimmungen, die Relativität und die Inkonsequenz der Zeitmasse ist es, was uns bei Proust und Joyce, bei Dos Passos und Virginia Woolf an die Schnitte, Überblendungen und Interpolationen des Films erinnert, und es ist einfach Filmzauber, wenn bei Proust zwei Vorfälle, zwischen denen vielleicht dreissig Jahre vergangen sind, näher aneinanderrücken als solche, die in der Wirklichkeit nur durch zwei Stunden voneinander getrennt sind. So wie bei Proust Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Meditation einander über Raum und Zeit die Hand reichen, wie die stets auf neue Spur gesetzte Sensibilität im Räume und in der Zeit herumschweift und wie in diesem end- und uferlosen Strom der Beziehungen die Grenzen des Raumes und der Zeit schwinden, all das entspricht genau jenem zeiträumlichen Medium, in dem sich der Film bewegt. Der bergsonschen Zeitkonzeption des Films begegnen wir in allen Kunstgattungen und Kunstrichtungen der Gegenwart. Die Gleichzeitigkeit der Bewusstseinsinhalte, die simultanéité des états d' âme, ist das grundlegende Erlebnis, das auch die verschiedenen Richtungen der modernen Malerei miteinander verbindet, den Futurismus der Italiener mit dem Expressionismus Chagalls und den Kubismus Picassos mit dem Surrealismus Giorgio de Chiricos. Bergson entdeckte den Kontrapunkt der seelischen Prozesse und die musikalische Struktur ihres Zusammenhangs. So wie wir beim richtigen Anhören eines Musikstücks die Wechselbeziehung eines jeden Tones mit allen den bereits verklungenen Tönen im Ohr haben, besitzen wir auch in unseren tiefsten, vitalsten Erlebnissen stets alles, was wir je erlebt und im Leben uns zu eigen gemacht haben. Wenn wir uns selbst verstehen, lesen wir in der eigenen Seele wie in einer Partitur; wir lösen das Chaos der verschlungenen Töne auf und verwandeln sie in einen kunstvollen Satz der Stimmen.

Alle Kunst ist ein Spiel mit dem Chaos; sie rückt in eine immer gefährlichere Nähe zu ihm und entreisst ihm immer weitere Seelenbereiche. Wenn es in der Geschichte der Kunst einen Fortschritt gibt, so besteht er im beständigen Wachsen dieser dem Chaos abgerungenen Gebiete.

Mit seiner Analyse der Zeit steht der Film in der Linie dieser Entwicklung: es sind durch ihn Erlebnisse, die vorher nur musikalisch ausgedrückt werden konnten, optisch darstellbar geworden. Der Künstler, der diese offene Möglichkeit, diese noch leere Form mit wirklichem Leben erfüllen sollte, ist allerdings noch nicht da.

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Film in Europa 1945-1955 - 1. Italien

Filmkunst im Präsens       Enno Patalas

Glanz und Elend des Neorealismus (III) (zu Teil I> und Teil II>

Zavattini: Nichts als die Wirklichkeit _...

Cesare Zavattini dürfte heute die wichtigste Erscheinung unter den italienischen Filmschaffenden sein. Der Autor von insgesamt über siebzig Filmen, darunter "Vier Schritte in die Wolken", "Kinder sehen uns an", "Sciuscia", "Die Mauern von Malapaga", "Fahrraddiebe", "Das Wunder von Mailand", "Der Göttergatte", "Bellissima" und Ümberto D.", um nur die wichtigsten zu nennen, nimmt im italienischen Film heute eine Stellung ein, wie sie nur Carl Meyer, der Autor der bedeutendsten deutschen Stummfilme, in der "klassischen" Zeit des deutschen Films gehabt hat. Während die Tendenzen zur Kommerzialisierung und zum Kompromiss immer stärker werden und politischer Druck die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks bedroht, verficht er die konsequente Fortsetzung des Neorealismus. Er ist so zum lebendigen Gewissen des italienischen Films geworden.

In seinen theoretischen Ausführungen, von denen wir einige in diesem Heft abdrucken, hat Zavattini erklärt, dass er die bisherigen Leistungen des Neorealismus - seine eigenen eingeschlossen - nur als Vorstufen zu dem eigentlichen Realismus begreift, den er anstrebt. Erst einmal konnte er sein Anliegen des "Films der Begegnung" ganz verwirklichen, in einem anderen Film näherte er sich ihm auf einem Umweg. "Siamo donne" ("Wir Frauen") ist ein Starfilm besonderer Art: Vier bekannte Schauspielerinnen "spielen" Episoden aus ihrem eigenen Leben. Zavattinis Manuskript nach Erzählungen von Anna Magnani, Ingrid Bergman, Alida Valli und Isa Miranda wurde von vier Regisseuren unterschiedlich verfilmt. Am nächsten kommt wohl Rossellini mit der Bergman-Episode der Konzeption. Hier erlangt der Spielfilm den Ton der Intimität und die private Unmittelbarkeit eines Amateurfilms. Für Zavattini war "Siamo donne" nur ein Alibi gegenüber den Produzenten, ein Beweis, dass seine Formel des konsequenten Realismus nicht notwendigerweise zur Langeweile führen müsse.

Zavattini ging nun daran, seine Idee des Tatsachenfilms zu verwirklichen, banale Ereignisse, wie sie im Lokalteil einer Zeitung stehen mögen, auf die Leinwand zu bringen. Die "Erste Nummer der gefilmten Zeitschrift ,Der Beobachter'" (Primo numero della rivista filmata Lo Spettatore) erschien und skandalisierte das Publikum des vornehmen mailänder Premierenkinos. Als Thema hatte Zavattini Ämore in città" ("Liebe in der Stadt") gegeben. Sechs kurze Berichte erzählen ohne formale Ambitionen einfache Vorgänge nach. "Liebe, die sich verkauft" geht den Ursachen der Prostitution nach, "Versuchter Selbstmord" erzählt eine unglückliche Liebesgeschichte wieder, "Paradies für drei Stunden" ist ein Besuch auf einem ländlichen Ball, "Heirats-Vermittlung" eine Begegnung mit den "einsamen Herzen", und in "Danach sehen sich die Italiener um" steigt die Kamera einigen Schönen durch die Strassen Roms nach. Am meisten Aufsehen erregte jedoch die von Francesco Maselli und Zavattini selbst inszenierte "Geschichte der Caterina", die Geschichte eines Dienstmädchens, das wegen Kindesaussetzung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Hier erscheint wirklich "ein erniedrigter Mensch mit seinem Namen und Vornamen": jedes Moment der Episode ist authentisch, Caterina Rigogliosa ist - Caterina Rigogliosa, der Park, in dem sie ihr Kind aussetzt, ist derselbe. Mit strengster Objektivität wird berichtet. Sucht man eine literarische Parallele, so findet man sie wohl nicht so sehr in der Zeitung wie im juristischen Protokoll, in der écriture juridique, wie sie Stendhal anstrebte.

Visconti: Angriff auf die Gesellschaft

Zavattinis Bild von den Neorealisten als einer "marschbereiten Armee" dürfte die Wirklichkeit nicht ganz treffen. In der Tat ähneln sie eher mehreren Landsknechtshaufen, die einander unter der Führung ihrer Condottieri auf das heftigste befehden. Es gibt heute wenigstens fünf verschiedene Lesarten des Neorealismus, deren Anhänger jeweils die anderen als Abtrünnige verunglimpfen. Die Verschiedenheit der Auffassungen kam bei der vorletzten Biennale zum Ausdruck, als die Auszeichnung von Castellanis "Romeo und Julia" mit dem Goldenen Löwen heftigsten Widerspruch hervorrief. Aber auch die Gegner der umstrittenen Entscheidung waren untereinander keineswegs einig. Viscontis "Senso" ("Sehnsucht") und Fellinis "La Strada" ("Die Strasse") fanden gleichermassen entschiedene Verfechter. Doch bedeuten diese Fraktionskämpfe alles andere als einen Verfall, vielmehr sind sie der Beweis für die innere Dynamik des italienischen Films und seinen Reichtum an ausgeprägten Individualitäten. Verdanken de Sicas Filme ihre Wirkung zum grossen Teil (manche sagen: zum grössten) dem Beitrag Zavattinis, so ist Luchino Visconti eine ganz selbständige Erscheinung. Jeder seiner Filme ist vom ersten bis zum letzten Meter unverwechselbarer Ausdruck seiner eigenwilligen Persönlichkeit, seines unduldsamen Temperaments, seiner leidenschaftlichen Parteilichkeit und seiner Sensibilität. Seit Össessione" ist Visconti nur mit drei Filmen hervorgetreten, von denen jeder mit aussergewöhnlicher Sorgfalt vorbereitet wurde.

Nach dem Kriege nahm er das ehrgeizige Projekt eines dreiteiligen Epos über das Leben des sizilianischen Proletariats in Angriff. Als Vorlage dienten ihm Vergas "I Malavoglia", die er aber wesentlich abänderte. Geplant waren je ein Teil über die Fischer, die Arbeiter in den Schwefelgruben und die Landarbeiter. Nur der erste Teil wurde beendet (er läuft allein in der vollständigen Fassung drei Stunden) und erschien 1948 unter dem Titel "La terra trema" ("Die Erde bebt"). Neben "Paisà" und den "Fahrraddieben" ist dies eine der bedeutendsten Manifestationen des italienischen Filmrealismus. Die Erzählung ist einfach: der junge Fischer 'Ntoni glaubt, die alte Ordnung von Ausbeutern und Ausgebeuteten aufheben und selbst zum Nutzniesser seiner Arbeit werden zu können; er scheitert und bezahlt die Rebellion mit seinem Glück. Um diese Geschichte herum entfaltet sich eine episch breite Schilderung vom Leben einer Familie und eines Fischerdorfes, vom Kampf mit dem Meer und vom "Klassenkampf auf dem Dorf". Der Stil - ganz verschieden von dem de Sicas - ist agressiv und von einem heftigen Pathos getragen. Jedes Bild ist sorgsam und mit einem deutlichen Sinn für Wirkung komponiert. In der Vorliebe für lange Einstellungen, endlose Schwenk- und Fahraufnahmen, die dem Film seinen epischen Atem geben, verrät sich der Einfluss des Lehrmeisters Renoir. Unvergesslich sind einige Szenen wie die Ausfahrt der Boote zum nächtlichen Fischzug und der Sturm mit den unbeweglichen schwarzen Standbildern der wartenden Frauen auf den Strandklippen.

Nach mehreren Theaterinszenierungen - Shakespeare, Brecht, Tennessee Williams - nahm Visconti 1951 ein neues Projekt in Angriff. "Bellissima" ist die Geschichte einer Illusion, ihres Zerbrechens und einer neuen Gewissheit. Eine Arbeiterfrau - vielleicht Anna Magnanis bislang beste Rolle - hofft durch die Filmkarriere ihrer kleinen Tochter dem Elend ihrer Klasse entrinnen zu können und ihr eigenes Glück zu finden; der Plan scheitert, doch am Ende steht nicht Resignation, sondern ein neues soziales Bewusstsein. Das politische Engagement des Regisseurs äussert sich nicht im aufgesetzten Dialog, sondern in der absichtsvollen Auswahl und der filmischen Gestaltung. Es gibt Szenen, deren satirische Schärfe an Daumier erinnert und daneben Partien von impressionistischer Zartheit.

Nach der Magnani-Episode in "Siamo donne", einem filmischen morceau de bravour, griff Visconti mit "Senso" auf eine Novelle des Schriftsteller-Architekten Camillo Boito zurück, die das Schicksal eines österreichischen Offiziers und seiner italienischen Geliebten, einer jungen Adeligen, vor dem Hintergrund des Risorgimento zum Gegenstand hat. Wie vorher Cain und Verga, so wandelte Visconti auch die Vorlage des fin de siècle-Autors Boito wesentlich ab. Während bei diesem die Historie nur die Folie eines privaten romantischen Geschehens abgab, stellt Visconti seine Gestalten mitten in die politischen Auseinandersetzungen der Zeit hinein. Privates Geschehen wird in seiner politischen und sozialen Bedingtheit gesehen. Darüber hinaus ist der Film eine lebendige historische Rekonstruktion, die sich nicht mit der sorgfältigen Imitation von Bauten und Kostümen begnügt, sondern mit soziologischem Rüstzeug dem wirklichen Geist der Zeit nachspürt. (Vgl. Kritik des Films in diesem Heft.)

Ein franziskanischer Regisseur: Fellini

Von der Aggressivität Viscontis ist bei Federico Fellini nichts zu spüren. Fellini begann seine Filmkarriere mit fünfundzwanzig Jahren als Mitarbeiter Rossellinis an "Rom, offene Stadt". Er war noch an mehreren Drehbüchern beteiligt, ehe er 1951 mit Lattuada zusammen "Luci del varietà" ("Lichter des Varietés") drehte. Dem folgte als erste selbständige Regieleistung "Lo sceicco bianco" ("Der weisse Scheich"); mit "I Vitelloni" errang er seinen bisher grössten Erfolg, und "La Strada" machte ihn zur gegenwärtig am meisten diskutierten Erscheinung des italienischen Films.

Fellinis Filme sind persönliche Bekenntnisse; oft liegen ihnen Episoden zugrunde aus seinem eigenen bewegten Leben, das ihn durch Zeitungsredaktionen, Varietés und lange Intervalle der Untätigkeit geführt hat. Es sind liebenswürdig-ironische Porträts aus dem provinziellen Kleinbürgertum und der Welt der Gaukler und Fahrenden. Ihr Thema ist die Einsamkeit. In "Lo sceicco bianco" zeichnet er das Bild eines kleinbürgerlichen Liebespaares, das ein Leben aus zweiter Hand führt. "Er", ein hübscher, aber unbedeutender Junge, ist der jugendliche Held eines "Romans in Bildern", wie sie in italienischen Magazinen erscheinen, und identifiziert sich auf lächerliche Weise mit seiner Rolle. "Sie" liebt ihn durch das Bild jener kitschig-sentimentalen Geschichte hindurch, ohne zu merken, dass sie in eine Atrappe verliebt ist.

Ohne Hass, mit einer aus Mitleid und Bitterkeit gemischten Ironie tritt Fellini seinen Gestalten gegenüber. In "I Vitelloni" sind es die "grossen Kälber", erwachsene Nichtsnutze, die sich die Zeit auf Kosten der väterlichen Börse mit Albernheiten, kindlichen Spielen, Kaffeehausbesuchen und billigen Aventüren vertreiben. Fellinis Kamera interpretiert nicht, sie registriert nur. Aber durch die Nichtigkeit der minutiös wiedergegebenen Banalitäten schimmert die Melancholie hindurch, mit der die Gesellschaft diejenigen schlägt, die sich nicht organisieren lassen.

"La Strada" hat den "Fall Fellini" zu einem öffentlichen Diskussionsgegenstand werden lassen. Man spricht von "Stradisten" und Änti-Stradisten". Wie in seinen anderen Filmen begibt Fellini sich auch hier auf die "Suche nach der verlorenen Zeit": autobiografische Erfahrungen - seine Erlebnisse als "Hauspoet" einer wandernden Zirkustruppe - mischen sich mit dichterischer Erfindung und Reflexion und werden transformiert durch eine ganz individuelle Bildsprache, die der Realität legendäre Züge verleiht. Das Thema ist wiederum die Einsamkeit: "Weite, fast astronomische Entfernungen trennen die Menschen voneinander, ohne dass sie sich selbst dessen bewusst würden", sagt Fellini einer Interviewerin. Die Mitglieder einer Zirkustruppe: ein schwachsinniges Mädchen - von Giulietta Masina bewegend interpretiert -, "il matto", der Narr, ein philosophierender Seiltänzer, und Zampano, der tellurisch-gewalttätige "Direktor", bilden ein Trio, das in einem absurden Dämmerzustand zwischen Traum und Wachheit dahinlebt. Indessen ist "La Strada" alles andere als ein Film "über" eine Zirkustruppe. Das Milieu - ebenso wie die Natur, zu der die "einfachen Herzen" des Films ein intimes Verhältnis unterhalten - ist mehr Reflex einer seelischen Realität, als dass es diese bestimmte. - Mit "La Strada" hat Fellini dem Neorealismus ein Feld erschlossen, das ihm bisher verschlossen war. Dass er darauf bestand, die Einsamkeit als eine menschliche Grundtatsache darzustellen und sie nicht dialektisch-materialistisch zu bagatellisieren, wurde ihm von der "progressistischen" Kritik natürlich übel vermerkt. Der Kritiker der "Nouvelle Critique" verstieg sich zu der Behauptung, "sowjetische Arbeiter" hätten "bewiesen, dass alle Probleme, die sich einem glücklichen Leben entgegenstellen, zu lösen" seien. Auf der anderen Seite versuchte die kirchlich orientierte Kritik, "La Strada" für sich in Anspruch zu nehmen. Fellini selbst, befragt, ob er einen christlichen Film habe drehen wollen, antwortete: "Ich glaube, es ist ein franziskanischer."

Fortsetzung und Schluss im nächsten Heft: Das Ende des Neorealismus? [Leider ist kein weiteres Heft mehr erschienen.]

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Heute! Heute! Heute! Thesen zum Neorealismus       Cesare Zavattini

Ohne Zweifel ist unsere erste und oberflächlichste Reaktion auf die Alltagswirklichkeit die Langeweile. Solange wir nicht in der Lage sind, unsere moralische und intellektuelle Trägheit zu überwinden, wird diese Wirklichkeit uns weiterhin uninteressant erscheinen. Wir sollten gar nicht erstaunt sein, dass der Film es immer als natürliche und unvermeidliche Notwendigkeit angesehen hat, eine "Handlung" in die Wirklichkeit einzuschalten, um sie aufregend und schauprächtig zu machen. Gleichwohl ist es klar, dass eine derartige Methode dem unmittelbaren Zugang zur alltäglichen Wirklichkeit ausweicht und suggeriert, diese könne nicht ohne den Eingriff der Phantasie und des Kunstgriffs dargestellt werden.

Das wichtigste Kennzeichen und die wichtigste Neuerung des sogenannten Neorealismus scheint mir die Einsicht zu sein, dass die Notwendigkeit der "Handlung" lediglich ein unbewusster Weg war, menschliches Unvermögen zu vertuschen, und dass die Art der Erfindungskraft, die sie bestimmte, einfach eine Technik war, tote Formeln über lebendige soziale Tatbestände zu stülpen. Jetzt hat man begriffen, dass die Wirklichkeit ungeheuer reich ist, dass die Fähigkeit, sie unmittelbar zu betrachten, genügt, und dass es nicht die Aufgabe des Künstlers ist, die Menschen mit Hilfe metaphorischer Situationen zu bewegen oder abzustossen, sondern sie darüber nachdenken zu lassen (und, wenn man will, auch dadurch zu bewegen und abzustossen), was sie und andere tun - über die wirklichen Dinge, genau wie sie sind.

Für mich ist das ein grosser Sieg gewesen. Ich wünsche, ich hätte ihn viele Jahre eher errungen. Aber ich habe die Entdeckung erst am Ende des Krieges gemacht. Es war eine moralische Entdeckung, eine Berufung. Ich sah schliesslich, was vor mir lag, und ich verstand, dass, wer der Wirklichkeit ausweicht, sie betrügt.

Beispiel: Hätte man sich vorher Gedanken zu einer Filmidee über - sagen wir: einen Streik gemacht, war man sofort genötigt, eine Fabel zu erfinden. Und der Streik selbst wurde zum blossen Hintergrund des Films. Heute würden wir eine Haltung der Öffenbarung" einnehmen: wir würden den Streik selbst beschreiben, wir würden versuchen, den grösstmöglichen Grad an menschlichen, moralischen, sozialen, wirtschaftlichen, poetischen Werten aus der reinen dokumentarischen Tatsache herauszuarbeiten.

Wir sind von einem im Unbewussten verwurzelten Misstrauen gegen die Wirklichkeit, einer illusorischen und fragwürdigen Ausflucht, übergegangen zu einem unbegrenzten Vertrauen in Dinge, Tatsachen und Menschen. Eine derartige Einstellung verlangt von uns, dass wir die Wirklichkeit ausgraben, ihr eine Macht zu geben, eine Verbindlichkeit, einen Wiederschein, von denen wir bisher nie geglaubt haben, dass sie sie besässe. Sie verlangt auch ein wahres und wirkliches Interesse an dem, was geschieht, eine Suche nach den am tiefsten verborgenen menschlichen Werten; darum fühlen wir, dass der Film nicht nur intelligente Köpfe heranholen muss, sondern vor allem "lebendige" Herzen, die moralisch reichsten Menschen.

Der überwältigende Drang des Films zu sehen, zu analysieren, sein Hunger nach Wirklichkeit, ist ein Akt konkreter Huldigung an andere Menschen, an das, was in der Welt geschieht und existiert. Und das ist es, nebenbei bemerkt, was den "Neorealismus" vom amerikanischen Film unterscheidet.

Tatsächlich ist der amerikanische Standpunkt die Antithese zu unserem eigenen; während wir uns für die Wirklichkeit, die uns umgibt, interessieren und sie unmittelbar kennenlernen wollen, wird die Wirklichkeit in amerikanischen Filmen unnatürlich gefiltert, "gereinigt" und tritt erst vor uns, nachdem sie ein oder zweimal gebrochen wurde. In Amerika bewirkt ein Mangel an Filmstoffen eine Krise, bei uns jedoch ist eine derartige Krise unmöglich. Man kann um Themen nicht verlegen sein, solange es immer noch die Fülle der Wirklichkeit gibt. Jede Stunde des Tages, jeder Ort, jede Person bietet Stoff für eine Erzählung, wenn der Erzähler fähig ist, alle diese vereinten Elemente zu beobachten und zu erhellen, indem er ihren inneren Wert erforscht.

Daher kann keine Rede von einer Stoffkrise sein, höchstens von einer Krise der Interpretation. Dieser wesentliche Unterschied wurde von einem bekannten amerikanischen Produzenten nachdrücklich bestätigt, als er mir sagte: "So würden wir uns eine Szene mit einem Flugzeug vorstellen: Die Maschine fliegt vorüber _... ein Maschinengewehr schiesst _... die Maschine stürzt ab _... Und so würden Sie sich das vorstellen: Die Maschine fliegt vorüber _... die Maschine fliegt wieder vorüber _... die Maschine fliegt noch einmal vorüber _..." Er hatte recht. Aber wir sind noch nicht weit genug gegangen. Es genügt nicht, das Flugzeug dreimal vorüberfliegen zu lassen; wir müssen es zwanzigmal vorüberfliegen lassen.

Welche Folgen für die Erzählung und die Darstellung des menschlichen Charakters hat nun der neorealistische Stil hervorgebracht? Beginnen wir damit: Während es bisher im Film üblich war, eine Siuation aus der anderen hervorgehen zu lassen, noch eine und noch eine, wieder und wieder, und jede Szene durchdacht und unmittelbar auf die nächste bezogen wurde (das natürliche Ergebnis des Misstrauens gegenüber der Wirklichkeit), fühlen wir heute, wenn wir eine Szene durchdacht haben, die dringende Notwendigkeit, in ihr zu verweilen, denn die einzelne Szene selbst kann soviel Rückwirkung und Widerhall enthalten, sie kann sogar alle die Situationen enthalten, derer wir nur bedürfen. Heute können wir tatsächlich ruhig sagen: gib uns irgendeine "Tatsache", die du magst, und wir werden sie ausweiden, werden sie irgendwie der Betrachtung wert machen.

Während der Film bisher das Leben in seinen augenscheinlichsten und äusserlichsten Momenten darzustellen pflegte - und ein Film war gewöhnlich nichts anderes als eine Reihe von mit wechselndem Erfolg ausgewählten und verknüpften Situationen -, versichert heute der Neorealist, dass jede einzelne dieser Situationen - eher als all die äusserlichen Momente - in sich selbst genügend Material für einen Film enthält. Beispiel: In den meisten Filmen würden die Erlebnisse zweier Menschen, die sich eine Wohnung suchen, in einigen äusserlichen Handlungsmomenten gezeigt werden, für uns jedoch könnten sie das Drehbuch für einen ganzen Film bedeuten, und wir würden all ihre Rückwirkungen und Verwicklungen erforschen.

Natürlich haben wir noch einen weiten Weg bis zu einer wahren Analyse menschlicher Situationen, und man kann eigentlich von Analyse nur im Vergleich zu der leblosen Synthese in den meisten gegenwärtigen Produktionen sprechen. Wir befinden uns eher in einer Ättitüde" der Analyse; aber in dieser Attitüde liegt ein strenger Vorsatz, ein Begehren nach Verstehen, nach Dazugehören, nach Teilnahme - nach tatsächlichem Zusammenleben.

So kommt es heute darauf an, anstatt erfundene Situationen in "Wirklichkeit" zu verwandeln und zu versuchen, ihr den Schein von "Wahrheit" zu verleihen, die Dinge so zu gestalten wie sie sind, fast durch sie selbst ihre eigene Bedeutung herzustellen. Was in "Handlungen" erfunden wird, ist nicht das Leben; das Leben ist etwas Anderes. Um es zu verstehen, bedarf es einer sorgfältigen, unnachgiebigen und geduldigen Suche.

Hier muss ich einen anderen Gesichtspunkt einführen. Ich glaube, dass die Welt sich weiter verschlechtert, weil wir die Wirklichkeit nicht richtig wahrnehmen. Der echteste Standpunkt, den man heute einnehmen kann, ist das Engagement, die Wurzeln dieses Problems aufzuspüren. Die brennendste Notwendigkeit unserer Zeit ist "soziale Aufmerksamkeit". Doch Aufmerksamkeit gegenüber dem, was ist, unmittelbar: nicht durch eine Lehrfabel. Ein hungernder Mensch, ein erniedrigter Mensch müssen gezeigt werden mit Namen und Vornamen, keine Fabel um einen hungernden Menschen, denn das ist etwas anderes, weniger wirksam und weniger moralisch. Die wahre Funktion des Films besteht nicht darin, Fabeln zu erzählen, und zu seiner wahren Funktion müssen wir ihn zurückrufen.

Natürlich kann die Wirklichkeit über den Weg der Dichtung analysiert werden. Dichtungen können ausdrucksstark und natürlich sein; aber der Neorealismus muss, wenn er die Mühe lohnen soll, den moralischen Impuls durchhalten, der seine Anfänge kennzeichnete: den analytischen, dokumentarischen Weg. Kein anderes Medium der Aussage hat die einzigartige und angeborene Fähigkeit, die Dinge, von denen wir glauben, sie seien es wert, so zu zeigen wie sie Tag für Tag geschehen.

Natürlich sind einige Filmschöpfer, obwohl sie das Problem erkennen, aus einer Reihe von Gründen (triftigen und nicht triftigen) gezwungen gewesen, in der gewohnten Art Geschichten zu "erfinden" und diesen einige Bruchstücke ihrer wirklichen Intuition einzuverleiben.

Aus diesem Grunde war oft die erste Bemühung, die Geschichte auf ihre elementarste, einfachste, und ich möchte fast sagen banalste Form zu reduzieren. Es war der Beginn einer Rede, die später unterbrochen wurde. Die "Fahrraddiebe" bieten ein typisches Beispiel. Das Kind folgt dem Vater auf der Strasse; einmal wird das Kind fast überfahren, der Vater bemerkt es nicht einmal. Diese Episode wurde "erfunden", aber mit der Absicht, einen alltäglichen Vorfall aus dem Leben dieser Menschen zu vermitteln, einen kleinen Vorfall - so unbedeutend, dass die Protagonisten sich nicht mal darum kümmern -, aber voller Leben.

Tatsächlich erhalten "Paisà", "Rom - offene Stadt", "Sciuscia", "Fahrraddiebe", "La Terra Trema" Elemente von absoluter Bedeutung - sie spiegeln die Idee wider, dass alles erzählt werden kann; jedoch ihr Sinn bleibt metaphorisch, weil es da immer noch eine erfundene Geschichte gibt, nicht den Geist des Dokuments. In anderen Filmen, wie etwa Ümberto D.", tritt die Wirklichkeit als analysierter Tatbestand viel klarer hervor, jedoch bleibt die Darbietung immer noch traditionell.

Wir haben den Mittelpunkt des Neorealismus noch nicht erreicht. Der Neorealismus gleicht heute einer aufbruchsbereiten Armee; und da sind ihre Soldaten - hinter Rossellini, de Sica, Visconti.

Wir müssen einsehen, dass jeder von uns lediglich im Aufbruch begriffen ist, der eine mit mehr, der andere mit weniger Vorsprung. Aber das ist immerhin etwas. Die grosse Gefahr besteht jetzt darin, dass wir die Positionen aufgeben, die moralischen Positionen, die das Werk von vielen von uns während des Krieges und unmittelbar danach kennzeichnet.

Es ist oft geschrieben worden, dass der Anlass zum Neorealismus der Krieg gewesen ist. Dieses überwältigende Erlebnis hat die Seelen der Menschen erschüttert und die Cinéasten haben jeder auf seine Weise versucht, diese Erschütterung in den Film zu übertragen. Uns Italienern war der Krieg als besonders monströs erschienen, weil wir überhaupt keinen Grund sahen, an ihm teilzunehmen - wir hatten sogar viele Gründe, nicht daran teilzunehmen. Aber es handelte sich nicht um eine Revolte, die sich nur auf diesen Krieg bezog: es war mehr, es war die absolute, ich möchte sagen ewige Offenbarung, dass der Krieg immer die fundamentalen Bedürfnisse und menschlichen Werte beleidigt, die uns teuer sind: und diese Offenbarung war nach meiner Meinung der Ausgangspunkt einer grossen menschlichen Bewegung. Man könnte mir entgegenhalten, dass diese Offenbarung nicht das Privileg Italiens war. Ich glaube aber doch. In dem, was sehr viele Leute als die Fehler unseres Volkes bezeichnen und was doch im Gegenteil seine Tugenden sind - die offensichtliche soziale Not, der Individualismus und so weiter -, können wir die Gründe einer Berufung sehen, das heisst einer totalen und leidenschaftlichen Reaktion auf diese äusserste Beleidigung, die der Krieg ist. Ich wage zu glauben, dass andere Völker selbst nach dem Kriege fortfuhren, den Menschen als historisches Material zu betrachten, der in seiner schicksalhaften Bewegung determiniert ist und dass dies der Grund ist, weshalb sie uns keinen "Film der Befreiung" gegeben haben, wie der italienische Film; weil nämlich für sie alles weiterging, während für uns alles neu begann. Für sie war der Krieg einer der Kriege gewesen, die unseren Planeten heimsuchen, für uns war er der letzte aller Kriege.

Wenn diese Liebe zur Wirklichkeit, zur unmittelbar beobachteten menschlichen Natur sich noch den Notwendigkeiten des Films, wie er augenblicklich organisiert ist, anpassen muss, wenn sie nachgeben, leiden und warten muss, dann bedeutet das, dass die kapitalistische Struktur des Films immer noch einen ungeheuren Einfluss auf seine wahre Funktion ausübt. Man kann das an der vielerorts wachsenden Feindschaft gegen die grundlegenden Motive des Neorealismus sehen, die in der Hauptsache zur Folge hat, dass man sich wie ehedem wieder "dichterischen" Stoffen zuwendet, konsequent der Wirklichkeit ausweicht und eine Anzahl bourgeoiser Anklagen gegen die Prinzipien des Neorealismus erhebt.

Der Hauptanklagepunkt ist: Der Neorealismus beschreibt nur die Armut. Aber der Neorealismus muss sich der Armut stellen. Wir haben mit der Armut begonnen, einfach weil sie eine der vitalsten Wirklichkeiten unserer Zeit ist, und ich fordere jeden auf, das Gegenteil zu beweisen. Es wäre ein grosser Fehler zu glauben oder vorzutäuschen, dass wir das Problem mit einem halben Dutzend Filmen über die Armut überwunden hätten. Es wäre, als glaubte man, sich bereits hinter dem ersten Acker niedersetzen zu können, wenn man ein ganzes Land umzupflügen hat.

Das Thema der Armut, das Thema von Reich und Arm, ist etwas, dem man sein ganzes Leben widmen kann. Wir haben gerade damit begonnen. Wir müssen den Mut haben, alle Einzelheiten zu erforschen. Wenn die Reichen ihre Nase über "Miracolo a Milano" rümpfen, können wir sie nur bitten, sich ein wenig zu gedulden. "Miracolo a Milano" ist lediglich ein Märchen. Wir haben aber noch viel mehr zu sagen. Man zählt zu den Reichen nicht nur, weil man einiges Geld hat (was nur den augenscheinlichsten und unmittelbarsten Aspekt des Reichtums ausmacht), sondern ausserdem, weil man in einer Position ist, in der man unterdrücken und Unrecht üben kann. Darin besteht der moralische (oder unmoralische) Zustand des so genannten reichen Mannes.

Wenn irgendwer (es könnte das Publikum, der Regisseur, der Kritiker, der Staat oder die Kirche sein) sagt: "Schluss mit der Armut!", so heisst das: Schluss mit den Filmen über die Armut, und er begeht eine Sünde wider die Moral. Er lehnt es ab, zu verstehen und zu lernen. Und wenn er es, bewusst oder nicht, ablehnt zu lernen, weicht er der Wirklichkeit aus. Das Ausweichen entspringt einem Mangel an Mut, es entspringt der Furcht. (Man sollte hierüber einen Film machen und zeigen, an welchem Punkt wir angesichts beunruhigender Tatbestände der Wirklichkeit auszuweichen, an welchem Punkt wir sie zu versüssen beginnen.)

Fürchtete ich nicht für unehrerbietig gehalten zu werden, würde ich behaupten, dass Christus, hätte Er eine Kamera in Seiner Hand, keine Märchen filmen würde, und wären sie noch so wundervoll, sondern dass er uns die Guten und die Bösen dieser Welt zeigen würde - genauer: dass er uns Grossaufnahmen von jenen bieten würde, die das Brot ihres Nächsten zu bitter machen und von denen, die ihre Opfer sind - wenn die Zensur es erlaubte.

Weiter wird behauptet: "Der Neorealismus bietet keine Lösungen. Das Ende eines neorealistischen Films ist ganz besonders resultatlos." Das kann ich überhaupt nicht akzeptieren. Was mein eigenes Werk betrifft, so bleiben die Charaktere und Situationen in den Filmen, zu denen ich das Drehbuch geschrieben habe, aus einem praktischen Gesichtspunkt ungelöst, einfach deswegen, weil "das die Wahrheit ist". Aber jeder Moment des Films ist in sich selbst eine ununterbrochene Antwort auf irgendeine Frage. Es ist nicht die Bestimmung eines Künstlers, Lösungen vorzulegen. Es ist genug und eine ganze Menge, würde ich sagen, dem Publikum ihre dringende Notwendigkeit bewusst zu machen.

Jedenfalls, welche Filme bieten denn Lösungen? Wenn in diesem Sinne "Lösungen" geboten werden, sind sie sentimental, sie entspringen der oberflächlichen Art, mit der man an die Probleme herantritt. In meinen Werken wenigstens überlasse ich die Lösung dem Publikum.

Der Film sollte sich nie rückwärts wenden. Er sollte bedingungslos das Gegenwärtige akzeptieren. Heute, heute, heute! Geben wir ein Beispiel: Eine Frau geht in einen Laden, um ein Paar Schuhe zu kaufen. Die Schuhe kosten 7000 Lire. Die Frau versucht zu handeln. Die Szene dauert vielleicht zwei Minuten. Ich muss einen Zwei-Stunden-Film machen. Was tue ich? Ich analysiere den Tatbestand in allen seinen ihn bestimmenden Elementen, in seinem "vorher", in seinem "nachher", in seiner Gegenwärtigkeit. Der Tatbestand schafft sich seine eigene Dichtung, in seinem ihm eigenen besonderen Sinn. Die Frau kauft die Schuhe. Was tut ihr Sohn währenddessen? Was tun die Menschen in Indien, die irgendeine Beziehung zum Tatbestand der Schuhe haben könnten? Die Schuhe kosten 7000 Lire. Wie kommt die Frau zu den 7000 Lire? Wie hart muss sie dafür arbeiten, was bedeutet dies Geld für sie? Und der Ladeninhaber, der mit ihr feilscht, wer ist er? Welche Beziehung hat sich zwischen diesen beiden Menschen entwickelt? Was bewegt sie, welche Interessen vertreten sie, während sie feilschen? Der Ladeninhaber hat ebenfalls zwei Söhne, die essen und sprechen; möchtest du wissen, worüber sie sich unterhalten? Hier sind sie, vor deinen Augen _...

Es kommt auf die Fähigkeit an, die wirkliche Wechselwirkung zu ergründen, die zwischen den Tatbeständen und dem Prozess ihrer Entstehung besteht, zu entdecken, was ihnen zugrundeliegt. Derart den Kauf von einem Paar Schuhe zu analysieren, eröffnet uns somit eine weite und komplexe Welt, reich an Bedeutungen und Werten, in ihren praktischen, sozialen, ökonomischen, psychologischen Motiven. Banalität verschwindet, weil jeder Augenblick geradezu mit Verantwortlichkeit beladen ist. Jeder Augenblick ist unendlich reich. Banalität existiert nicht wirklich.

Ich bin gegen äussergewöhnliche" Persönlichkeiten. Es ist an der Zeit, dem Publikum zu sagen, dass es selbst die wahren Protagonisten des Lebens stellt. Das Ergebnis wird ein beständiger Appell an die Verantwortung und die Würde eines jeden Menschen sein. Andernfalls wird die häufige Gewohnheit, sich mit einem erfundenen Charakter zu identifizieren, zu einer akuten Gefahr. Wir müssen uns mit denen identifizieren, die wir selbst sind.

Grabt, und jede kleine Tatsache wird sich als Mine erweisen. Wenn die Goldgräber schliesslich dahin kommen, in der unerschöpflichen Mine der Wirklichkeit zu graben, wird der Film soziale Bedeutung erlangen.

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Der Kritik ins Stammbuch

Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen.
Der Kritiker hat mit dem Deuter vergangener Kunstepochen nichts zu tun.
Immer muss "Sachlichkeit" dem Parteigeist geopfert werden, wenn die Sache es wert ist, um welche der Kampf geht.
Kritik ist eine moralische Sache. Wenn Goethe Hölderlin und Kleist, Beethoven und Jean Paul verkannte, so trifft das nicht sein Kunstverständnis, sondern seine Moral.
Für den Kritiker sind seine Kollegen die höhere Instanz. Nicht das Publikum. Erst recht nicht die Nachwelt.
Die Nachwelt vergisst oder rühmt. Nur der Kritiker richtet im Angesicht des Autors.
Die Kunst des Kritikers in nuce: Schlagworte prägen, ohne die Ideen zu verraten. Schlagworte einer unzulänglichen Kritik verschachern den Gedanken an die Mode.
Das Publikum muss stets Unrecht erhalten und sich doch durch den Kritiker vertreten fühlen.
Walter Benjamin (Aus: Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen (Einbahnstrasse)

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Marlon Brando       Benno Klapp

Seit sechs Jahren webt Marion Brando an der Mythe seiner Persönlichkeit. Der pathetische Nonkonformismus, den er anfangs in genieteten blue jeans und muskelprallen Unterhemden auf Hollywoods Cocktail-Parties zur Schau stellte - eine Zeitlang lief er Gefahr, von der Cinemonde in Beverly Hills als kurioser Banause mit Lokalkolorit integriert zu werden - schien unserem bewährten Argwohn nichts weiter als eine alte Masche, willkommener Diskont für den Publicity-Etat. In Fred Zinnemanns "The Men" hatte er debütiert, sein Ken war eine eindrucksvolle Studie amerikanischer Versehrtenpsychologie. Unter dem reinen Klang des frisch gemünzten brandoschen Goldes war mitunter das hohle Geklingel des Falschgeldes hörbar geworden - wenn er sich, mit der Geschicklichkeit eines jugendlichen Selbstfahrerchauffeurs auf dem Jahrmarkt, in seinem Rollstuhl in Szene setzte und nur auf das erlösende "Stehe auf und wandle" des Regisseurs zu warten schien - aber wir tolerierten seine Defekte, weil wir seit Jahren auf diesen Ken gewartet hatten. Was sein privates Gebaren anging, so schien es uns eine selten realisierbare, aber durchaus positive Reaktion auf unerwünschten Besuch zu sein, Waschbären in Richtung Tür zu schleudern; als wir vernahmen, wie er auch die four-letter-words gelassen aussprach, waren wir begeistert; schliesslich war er vollends unserer Sympathie sicher, als er Salate wegen des unvermeidlichen Mahlgeräusches ablehnte - soviel Kongenialität hatte niemand vermutet.

Schon äusserlich war er nach dem gradlinigen Kleinstadtgesicht Clark Gables und dem heroischen Einzelgängertum Gary Coopers eine Offenbarung: man konnte sicher sein, dass er in seiner Selbsterziehung die Standard-Requisiten des Farmhauses, der weidenden Kühe und endlosen Weizenfelder abgetan hatte, er kannte sich aus in der trostlosen Atmosphäre der Beer Parlors und Billardsäle, der Bürgersteig der Grossstadt war seine Bühne. Die Agilität seines Gesichts, die kalten Augen, der schneidend harte und trotzige Mund, dazu eine Nase, die wie "geschmolzener Eiskrem" verfliesst, waren grandiose Werkzeuge bei seinem ersten Versuch, Lebensangst und Gehemmtheit zu überspielen. Seine Kritiker wollten noch mehr sehen: ein Darsteller, der sich in einer freudlosen Welt so unbekümmert juvenil geben konnte, musste sich von verborgenen Quellen speisen, geistige Sicherheiten haben. Ein flüchtiges lyrisches Element in Haltung und Miene war ihnen nicht entgangen, verkniffene Gelöstheit wider Willen und ein gewisses strahlendes Lächeln, das er bisweilen mit eisiger Selbstverständlichkeit wie eine Brille aufsetzte und nach Sekunden gelassen in der Tasche verschwinden liess. Das Stichwort "Romantiker" fiel und der Run auf die besten Epitheta setzte ein. Nacheinander war Brando der "Lord Byron aus Brooklyn", "Gretus Garbo" und "Dostojewskis Tom Sawyer", sein Darstellungsstil inspirierte die sprachschöpferischen Begabungen zu eigenwilligen Prägungen: "Marlonität" und "marlishness" waren plötzlich da und versuchten sich mit Bedeutung anzufüllen.

Elia Kazans "Endstation Sehnsucht" führte ihn auf den Gipfel öffentlicher Anerkennung und in die gefährliche Sackgasse des manierierten Kowalski-Stils. Die Kritiker überschlugen sich: die Möglichkeit, eine zerfallende Welt durch die Vitalität des Primitiven zu retten, war ihnen noch nie so überzeugend nahegelegt worden. Brando bot sich und uns eine Chance, die bedrückende Wunschvorstellung von körperlicher Kraft und Ungehemmtheit zu ventilieren. Wer unter uns war nicht beschämt von Kowalskis tierhafter Männlichkeit? Wir alle stellten ängstlich Vergleiche an zwischen unserer hinfälligen Körperlichkeit und dem entfesselten Proleten Stanley, der im malerisch zerissenen T-Shirt den Raubtierkäfig seiner beiden Zimmer in ein Königreich verwandelte, modrigen Plunder in den Staub trat und sich mit dem selbstsicheren Zeremoniell des Siegers den Gral aus der Flasche kredenzte. Ein bequemer Kurzschluss des Publikums identifizierte die Charaktere Kowalskis und Brandos - wer Brutalität und Egoismus so lebensprall auf die Leinwand bringen konnte, musste selbst brutal und egoistisch sein. Unter dem wild wuchernden Gestrüpp der Legende drohte der eigentliche Brando zu ersticken, er hatte seine Spitzmarke: "the slob" ("der Schlamper"), wie John Barrymore "das Profil" oder Valentino "der Scheich" gewesen waren, obwohl er seine Arbeit todernst nahm und sogar seine Schulden bezahlte. Sein Verhältnis zu Sauberkeit und Ordnung schien nicht unproblematisch - vielleicht war die Geschichte des Staubsaugervertreters, der nach kurzer Musterung des Brandoschen Ateliers in Carnegie Hall resignierend zum Ankauf eines Dampfpflugs riet, nur ein wohlgemeinter Appell an die Samariterinstinkte der jungen Mädchen Amerikas. Wir haben allen Grund, anzunehmen, dass ein solcher Aufruf nicht übermässig notwendig war, wenn Brando als Brando in seinem Bungalow in Benedict Canyon nur die Hälfte von dem wahrmachen konnte, was er als Kowalski auf der Leinwand versprach: Liebe ohne Umstände, intensive Erforschung der Welt unterhalb des Nabels, die exakte Antithese des Flirts - Flirt als älles ausser dem Einen" verstanden, eine Konzeption der Erotik, die nach dem Konsum in Hass umschlägt oder sich erst dann als Hass erweist.

In "Viva Zapata" war er verwandelt. Kowalskis ungestümer Ejakulationsdrang unterwarf sich dem beruflichen Eros Zapatas, der in der Hochzeitsnacht von seiner Frau in die Anfangsgründe des Alphabets eingeführt wird und seine geistige Unschuld verliert. Die in "Endstation Sehnsucht" verschämt anklingende Underdog-Thematik weitet sich aus zum Individuationsprozess, der ein aktives politisches Bewusstsein verlangt und die Frau mit pädagogischen Funktionen belastet. Zapata fällt einem Hinterhalt zum Opfer, Brando dem Übereifer des Maskenbildners, der unbewusst eine Tradition fortsetzte: Bei Schüleraufführungen der Shattuck Military Academy - wo Brando zwei Jahre aushielt - spielte er einen Leichnam am Galgen und einen Forscher in ägyptischen Königsgräbern, zu dicke Schminke und fehlerhaftes Licht liessen jedoch nicht erkennen, ob er wirklich gut war.

Seit "Viva Zapata" schien uns sein Verhältnis zur Frau stark karitativ motiviert, oft herablassend oder indifferent. Abgesehen von Kowalski - den er als die extremste Antithese seiner selbst bezeichnet hat - haben alle seine Gestalten ihre stärksten Momente vor dem Hintergrund einer rein maskulinen Gesellschaft. Männer brauchen kein Mitleid, im beruhigenden Asyl der Kumpanei konnte er an seiner Tarnung arbeiten, im halbmilitärischen Verband der Motorradbande ein neues Gefühl der Sicherheit gewinnen und als Johnny in Laslo Benedeks "Der Wilde" seine Sensibilität bewusst der äussersten Verrohung aussetzen.

Auf der Suche nach literarischen Parallelen zu Brandos seelischem Flagellantentum in der Darstellung bietet sich T. E. Lawrence an, aber wir können keine Entsprechungen konstruieren, wo wir Gegensätze sehen. Immerhin gibt es ja einen Privatmann Brando, der die Kellnerinnen am Sunset Boulevard nicht durch albernen Schnickschnack mit Silberdollars demütigt, sondern sich mit ihnen verabredet, zum Rendezvous erscheint und recht drastische Wünsche äussert. Wir sprachen von der Karitas, die in seinen Filmen den weiblichen Partnern gegenüber deutlich wird: Die Frau vereinzelt, bricht die strenge Bandenordnung der Männergesellschaft und droht das Intermezzo in eine dauernde Bindung zu verlängern. In "Der Wilde" und "Faust im Nacken" ist die Taktik Brandos ebenso originell wie einleuchtend: weil er die Sicherheit im Kollektiv nicht zugunsten einer erotischen Bindung aufgeben will, die ihm labil und isolierend erscheint, lässt er im entscheidenden Augenblick seine aggressive Männlichkeit in Rauch aufgehen und setzt sie um in geschwisterlich-unverbindliche Menschlichkeit, die jede Vorstellung einer erotischen Union ausschliesst. Terry Malloy reagiert seine Angst vor dem Weiblichen in der Wartung von Brieftauben ab, seine pathologische Flucht in die blutwarme Anspruchslosigkeit des Kreatürlichen ist die Flucht Brandos, der sich nach eigener Aussage mit Hund und Katze am wohlsten fühlt, zeitweilig ein Pferd, eine Dogge, eine Gans und 28 Katzen besass und schon als Achtjähriger von einem seiner Streifzüge durch Libertyville (geb. 4. April 1926 in Omaha) eine lebende Frau mitbrachte. Seine spätere Vorliebe für Ladenmädchen zeichnete sich ab (vielleicht bedarf er der rückhaltlosen Bewunderung der Partnerin, der Aura des Numinosen, verbunden mit der Selbstgerechtigkeit des Pfadfinders, der seine tägliche gute Tat hinter sich gebracht hat), als er zum Entsetzen seiner Grossmutter dutzendweise schielende Waisenhauskinder zu Kaffee und Kuchen einlud. Seine kleinen Gäste unterhielt er in bester Brandomanier, kletterte auf den Kamin, posierte dort als General, griff sich waidwund geschossen ans Herz und fiel dann leblos zu Boden.

Für einen kleinen Bengel, der sich zwanzig Jahre später an den klassischen Feldherren versuchen sollte, waren derartige Exerzitien mehr als ratsam. Vielleicht hat Brando immer nur für die Kindergesellschaft gespielt, seine eigenwilligen Interpretationen Napoleons in Henry Kosters "Desirée" und Mark Antons in "Julius Caesar" geschaffen, um die Schieläugigen der ganzen Welt zu düpieren und dort, wo wir uns alle erdenkliche Mühe gaben, seine unorthodoxe Darstellung interessant zu finden - etwas Besseres fiel uns nicht ein -, den Auftritt über dem Kaffeetisch vor einem grösseren Publikum wiederholt. Müssen wir noch erwähnen, dass er sich als korsischer Underdog für die Desirée des Films nur begeistern konnte, weil Annemarie Selinkos Roman und die Historie es ihm nahelegten? Wir konstatierten mit Genugtuung, dass er sich endlich bequemte, in seinem Verhalten unsere Hypothesen zu berücksichtigen - da kam die Überraschung. Mit einem satanischen Schachzug warf er unser Schema um und holte in einer tagelangen tour de force in seinem Leben alle Aufregungen nach, die er im Film versäumt hatte: Verlobung mit einer jungen Französin, die wie Desirée irgendwie mit Fischen in Zusammenhang gebracht wurde, monatelanges Hin und Her und schliesslich mit der Erleichterung Terry Malloys, der bei Eve-Marie Saint aufläuft und im Grunde seines Herzens die Abfuhr immer erhofft hatte, das lapidare: "Na, dann nicht."

Wir wollen, wenn wir auf die Besonderheiten seines Darstellungsstils zu sprechen kommen, den unhöflichen Vorwurf nicht wiederholen, dass er in jeder seiner Rollen der Kowalski aus "Endstation Sehnsucht" geblieben ist. Die Anklage schien gekonnt und überzeugend formuliert - es war die Rede von kowalskischen Variationen über ein Thema von Shakespeare oder Selinko -, aber wie konnte sie die dünnen Fäden, die sich von Kowalski zu Johnny oder Terry spannen, als Fesseln bezeichnen? An der Oberfläche suchten seine Kritiker immer wieder nach den strapazierten Gemeinsamkeiten: die Gladiatorenpose, mit der er sich in den Raum schiebt, die kalte Arroganz seines Gesichtes selbst bei völliger Entspannung, die tänzerische Schlaksigkeit seiner Bewegungen.

Sie übersehen, dass Kowalski noch so etwas wie ein absoluter Privatier war, der nur im Interieur seines neolithischen Höhlenbaues hoffen durfte, seine Persönlichkeit auszuspielen, während Malloy und Johnny ihre Sesshaftigkeit schon gegen ein neues Nomadentum eingehandelt haben. Die fast schizophrene Ambivalenz des Brando-Stils, die ihn befähigt, in Terry oder Johnny wie eine Eidechse unter ihrem Stein zu verschwinden und wieder auszuschlüpfen, war in "Endstation Sehnsucht" noch unentwickelt. Sein Identitätswechsel auf offener Szene verblüffte uns, ohne phantastischen Krimskrams und ohne Phiolen realisierte er Stevensons Traum von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Oft waren seine Gesten in ihrer abgründigen Natürlichkeit fast unerträglich, dann wieder akzentuierte er seine Trägheit und Indifferenz, die den unhörbaren Befehlen des Intellekts gehorchte und ihn meilenweit entrückte. Hätten wir mehr von seiner Grosszügigkeit - wahrscheinlich könnten wir mit guten Aussichten versuchen, die Dialektik Brandos auf den Gegensatz Mensch-Mann oder, noch kühner, die Antithese Wohnung-Welt reduzieren. Es gibt in seinem Spiel eine deutliche Zäsur zwischen dem Zwang der in der Gesellschaft übernommenen Funktion und dem Bedürfnis nach Ruhe in der absoluten Idylle. Tatsächlich hat er jeden einzelnen seiner Helden als Mann begonnen, oft mit einer rüden Zur-Schau-Stellung elementarer Männlichkeit, und ihn als Menschen enden lassen. Eine aufregende Konversion also, auch wenn wir uns Chris Markers Deutung der "Faust im Nacken" (im "Esprit") nicht zu eigen machen, in der er von der Bekehrung eines Homosexuellen sprach. Immerhin liess uns ein ähnlicher unbenennbarer Verdacht in "Der Wilde" sekundenlang die Haare zu Berge stehen. Trotzdem werden wir nicht darauf verfallen, das Geheimnis seiner Wirkung in erotischer Zweideutigkeit zu suchen, wir müssten denn an der Instinktlosigkeit einer ganzen Generation von Teenagern verzweifeln, denen er schon in seiner äusseren Erscheinung triftige Garantien gibt.

In den achtmal neunzig Minuten Leinwand, die ihm bisher gehörten, hat er sich und uns reicher gemacht, nicht nur dann, wenn er demonstrierte, wie weit er in der Veräusserlichung seiner Psyche gehen kann. Bisweilen schien er die unechten Töne des nächsten Augenblicks vorwegzunehmen, er war sein eigener Herold, Schaumann und Kommentator. Aber es war nicht nur das: wir entdeckten in ihm den uns allen gemeinsamen latenten Willen zum Misserfolg, eine fast masochistische Ergebenheit - auf die Golgatha-Symbolik der "Faust im Nacken" ist oft genug hingewiesen worden -, "wenn er dem Himmel zuschrie, noch härter zuzuschlagen, auf dass gerade durch sein Zuschlagen sich sein gemartertes Ich zurechtschmieden möchte zur Waffe seines eigenen Verderbens" (Lawrence). Brando selbst wird die problematischen Engpässe immer mehr vermeiden, sein Sky Masterson in "Guys and Dolls" ist ein erster Schritt, er wird sich heftiger als jeder andere gegen das Alter zur Wehr setzen müssen, weil er sich bindender als jeder andere mit der Jugend identifiziert hat. Ein behutsames Ubergleiten in die Vaterrollen der Fünfzigjährigen, wie es ihm von Gable, Tracy, Cooper und March demonstriert worden ist, kann seine Hoffnung nicht sein. Aber diese Nuance der Angst darf ihm auch noch fremd sein, wichtiger ist die nächste Rolle - er möchte wieder einmal Schmierentheater spielen oder sich auf einer einsamen Insel mit dem Problem der Fortpflanzung beschäftigen. Noch nie hat sein Optimismus sich selbst so elegant in Szene gesetzt, wie bei der Entscheidung zwischen einer Kollegin und seinem Waschbären: "Ich will den Waschbären behalten, denn wo ich jetzt hingehe, gibt es viel mehr Frauen als Raccoons."

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Ich habe, verdammt nochmal, keinen Grund, mich zu verteidigen, aber ich bin es einfach leid, als eine Rotznase in Farmerhosen abgestempelt zu werden. Ich habe den Konformismus immer gehasst. Natürlich ist "kein Mensch eine Insel", aber die Konformität scheint mit die Mittelmässigkeit auszubrüten. Als ich nach Hollywood kam, hatte ich eine ziemlich behütete und übertriebene Vorstellung von meiner eigenen Integrität. Es war dumm von mir, das Vorurteil: "Geld hat recht" so unmittelbar abzulehnen. Andererseits hatte ich keinen Grund, darüber hinwegzusehen, wie die Produzenten mit anderen Leuten umsprangen. Sie waren nett zu mir gewesen, aber es konnte mich nicht täuschen: Meist sind sie feindlicher als Ameisen bei einem Picknick. Das Besondere an Hollywood ist, dass diese Leute als die Norm durchgehen, während ich nur ein Balg bin. Ich glaube, dass Amerika ausser einer guten Fünf-Cent-Zigarre auch eine Fünf-Cent-Investition in Toleranz braucht. Persönliche Freiheit ist mir immer sehr wichtig gewesen, Abstand war für meine Auffassung der Freiheit so etwas wie ein Banner.       Marlon Brando in einem Interview mit "Time"


Mit der Flucht aus dem Alltag, welche die gesamte Kulturindustrie mit allen ihren Zweigen zu besorgen verspricht, ist es bestellt wie mit der Entführung der Tochter im amerikanischen Witzblatt: der Vater selbst hält im Dunklen die heiter. Kulturindustrie bietet als Paradies denselben Alltag wieder an. Das Vergnügen befördert die Resignation, die sich in ihm vergessen will.       Max Horkheimer und Th. W. Adorno (Kulturindustrie, in dem Band: Dialektik der Aufklärung)

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Meinung und Gegenmeinung

_... Ein erstes Durchblättern zeigt mir schon, dass sie in unserem Geiste geschrieben ist. Gut gefällt mir bereits, was Sie über den auch mir verhassten Film "Marcelino" schreiben _... Was ist "wertfrei"? Ist das noch ein Naziwort der Leute, die Ihr Unternehmen als nihilistisch und destruktiv bezeichnen?       őDr. Lotte H. Eisner (Paris)

Ich habe mich über den Geist gefreut, der aus dem ersten Artikel - "Panorama 1955" - spricht. Dies ist ein frischer Auftakt, and it sets the right tune. Ich glaube, diese soziologische Einstellung zur Filmproduktion ist sehr nötig; nur wünschte ich mir, Sie würden in der Zukunft mehr systematisch versuchen, das sozial und politisch Falsche oder Richtige auch im ästhetischen Bereich zu erkennen. Vorderhand scheint es mir, als sei zu einseitig Gewicht auf den Inhalt - the manifest content - gelegt. Doch auch die Art der Photographie, der Kamera-Einstellung und der Schnittmethoden sagen viel aus, das in der Gesamtbewertung berücksichtigt werden sollte. Kurz, ich rede einer Verschmelzung der soziologischen und ästhetischen Betrachtungsweise das Wort _... Berghahns "MacArthur und die Zivilisten" ist ein sehr brillanter Interpretationsversuch, der auch hier gelesen werden sollte - vor allem von den Leuten, die das Politische um des Psychologischen und des Psychoanalytischen willen vernachlässigen - ich denke an das Wolfenstein-Leites-Buch "The Movies" _... Und halten Sie die Klingen scharf!       Dr. Siegfried Kracauer (New York)

Es ist immer wieder erfreulich, zu sehen, dass mutig und unverhüllt Meinungen geäussert werden, die im Lande des Wirtschaftswunders nicht gern gehört werden, dass die geistige Gleichschaltung einmal durchbrochen wird und dass Dinge, die sonst von einem wie selbstverständlichen Tabu umgeben sind, bei ihrem Namen genannt werden. Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, dass Ihre Zeitschrift mithilft, den Nebel selbstzufriedener Behaglichkeit, die schon unbehaglich wird, zu durchstossen.       Dipl.-Ing. Rudolf Luss (Offenburg/Baden)

_... Wen wundert es, dass diese "geballte Ladung" massiver Einwendungen gegenüber dem Urteil des in jahrelanger verantwortlicher Filmarbeit bewährten Gremiums der Katholischen Filmkommission für Deutschland und vor allem gegenüber Geschmack und Urteil eines kritikfesten Publikums weithin spontanen Protest auslöste? _... Eine Zeitschrift _..., in der drei Studenten offenbar vornehmlich einen Tummelplatz für antikirchliche Komplexe und linksverklemmte Unausgegorenheiten sehen _... Das Recht auf freie Meinungsäusserung bleibt auch den Redakteuren von "film 56" unbestritten; das öffentliche Interesse ist jedoch alarmierend auf den Plan gerufen, wenn dieses Recht hinter dem Rücken eines respektablen Herausgebers in der dargebotenen Weise kolportiert wird. Das Recht auf freie Meinungsäusserung darf auch im Bereich der Filmkritik aus Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit nicht mit einem Freibrief für publizistische Tiefschläge gegen die in "film 56" (Nr. 2) zynisch zitierte "etablierte Ordnung" verwechselt werden.       Dr. Günter Graf in "Westfälische Nachrichten" (Münster i. W.) 25. 2. 1956

_... Ihre verschiedenen Beiträge _... haben mich ausserordentlich interessiert, da sie durchweg das aussprechen, was wir auf unsere Weise schon seit Jahren auszusprechen bemüht sind. Man kann nur hoffen, dass Sie sich in Ihrer mutigen publizistischen Arbeit nicht einschüchtern lassen. Schliesslich ist es doch unser aller Überzeugung, dass dem deutschen Film mehr durch eine ehrliche, wenn auch harte Kritik, als durch unverbindliche Lobreden geholfen wird.       Dietmar Schmidt, Kirche und Film (Oberursel)

_... Der Start war ebenso aggressiv wie arrogant, als Objekt der ersten Angriffe dienten fünf von der Katholischen Filmliga als "Jahresbestfilme" empfohlene Filme ausländischer Produktion. Das verwundert nicht, wenn man weiss, dass die Redakteure dieses fatalen Unternehmens drei Studenten der Universität Münster sind, die schon vor Erreichung ihres Studienzieles durch krampfhafte Originalität auf sich aufmerksam machen möchten _...       K. K. in "Rheinischer Kurier" 16.3.1956

_... Was bleibt, ist das Vergnügen am Revoluzzerton. Und der Fanfarenklang ist denn auch gleichsam der cantus firmus dieser "Internationalen Zeitschrift für Filmkunst und Gesellschaft" _... Da nicht angenommen werden soll, dass schlaue Infiltration die Absicht ist, müssen wir uns darauf einigen: Der soziale Tenor, allem unterliegend, hat seine Wurzel nicht in einer (offen propagierten) Idee, sondern in jener Liebelei zwischen Intellekt und anarchisieren, der Negation, einer Koketterie, dergleichen die Geistesgeschichte häufiger zu verzeichnen hat in ihren aktivistischen Abschnitten _... Was in "film 56" vorerst festzustellen ist, ist die Tatsache, dass die ersten Hefte mehr über die Redakteure als über den Film aussagen. Das soll nicht heissen, dass man keine Gedankenergebnisse zu bieten habe. Verdächtig ist jedoch, dass die Resultate oft eher apart als durchdacht zu nennen sind, ja, dass sie ihre bestrickendste Form gerade am untauglichsten Objekt (einer ernsthaften Analyse) erzielen. Es ist das Recht der Jugend, aus der Reihe zu tanzen. Hier handelt es sich aber um Erwachsene, auch im intellektuellen Sinne. Die Reife der Technik aller Beiträge stellt sie durchaus schon jenseits aller "schlecht verdauten Pubertät". Darum darf man darauf verzichten, ihnen wohlwollend die Schultern zu klopfen. Man muss sie mit einer Skala für Erwachsene messen. Und da dürfen sie so lange Untergrösse bleiben, wie es ihnen nicht gelingt, um des rechten Wagens willen hin und wieder einen Gag rechtzeitig abzuführen, bevor er noch den Gedankenorganismus vergiftet. Wer aus dem Gesagten den Eindruck behalten sollte, diese Leute seien "wertfrei", der ist falsch beraten. Nein, bei aller Unklarheit der Konzeption darf man nicht übersehen, dass die jungen Feuerköpfe stets zwei Instanzen von wahrhaft ethischer Qualität in den Zeugenstand rufen: Die Moral im Prozess gegen die moralistische Lüge und die Vernunft im Verfahren gegen den Widersinn von Krieg, Renazifizierung, sozialer Ungerechtigkeit und gottverlassener Behäbigkeit. Ihnen ist sicherlich "links" der Ort, "wo das Herz sitzt" _...       H. B. S. in "filmforum" (Emsdetten) März 1956

Ich glaube, dass eine derart radikale Stimme zum Filmgeschehen in der heutigen Zeit, in der die übrige Filmpublizistik das Geschehen mit Ultra-Weichzeichner darzustellen pflegt, als unbedingt notwendig angesehen werden muss.       Werner Tack (Dortmund)

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Die kalte Lola
LOLA MONTEZ (LOLA MONTEZ) - Produktion: Gamma/Florida-Gamma/OSKA - Regie und Buch: Max Ophüls - Kamera: Christian Matras - Musik: Georges Auric - Darsteller: Martine Carol, Peter Ustinov, Adolf Wohlbrück, Will Quadflieg, Oskar Werner - Frankreich und Deutschland (West) 1955

Für die Liebe einer grossen Kurtisane braucht man Geld, scheint Max Ophüls gedacht zu haben. So hat seine "Lola" ihre deutsch-französischen Ko-Produzenten denn mehr als sieben Millionen Mark gekostet. Ob sich das auszahlen wird, fragen sie sich jetzt mit Bangen, wie man sich nach dem Bezahlen immer fragt. Das Publikum fühlt sich jedenfalls sichtlich geprellt, denn es stellt sich hier heraus, dass nicht alles für Lieschen Müller ist, was sich in Breitwand dehnt. Wer gekommen war, um Einblick in die handgreiflichen Reize der Martine Carol zu nehmen und sich statt dessen nun für einige subtil komponierte Farbimpressionen aus der Optik des Christian Matras erwärmen soll, wird mit Recht murren. Ist das etwas für Ophüls? hatte man sich gefragt, als die Idee des Films bekannt wurde: Lola Montez, die sagenhafte Erotomanin aus Grossvaters Tagen auf der letzten Station ihrer Skandalkarriere, in der Zirkusmanege, dem verehrten Publikum zusammen mit dem dreiköpfigen Kalb und dem klavierspielenden Elefanten vorgeführt von einem tüchtigen Manager! Ihr Leben in Rückblenden: Ladies and Gentlemen, fragen Sie, Lola beantwortet die indiskretesten Fragen über ihre Vergangenheit! Eine Attraktion, erregender als alle Raubtiere! Für einen Dollar darf jeder ihre Fingerspitzen küssen. Der Dompteur schwingt die Peitsche. Die Menge duckt sich und drängt herzu, denn sie bekommt ihr Fressen: Sensation, Intimitäten und den Flitter vom Glanz der grossen Welt.
Leider war die Skepsis berechtigt. Es war kein Stoff für Max Ophüls. Er kann grosse Filme drehen, wenn alles in der Schwebe bleiben darf. Er ist ein Meister des Ambivalenten: jene unauflösbare Mischung aus Tränen und Ironie in "Liebelei" oder die betörende Desillusionierung im "Reigen": fin de siècle, das Wien Arthur Schnitzlers - das ist seine Welt. Aber die harte brutale Demaskierung ist nicht seine Sache, und gerade sie wäre hier am Platze gewesen. Wenn man mit dem Ende im Zirkus beginnt, haben die Zwischentöne keine Chance mehr.
In diesem Sinne war die Wahl des Cinemascope-Formats und der Farbe und der damit verbundene Verzicht auf jene intimen atmosphärischen Lichtspiele, die Ophüls' frühere Werke charakterisieren, zunächst eine erfreuliche Konsequenz. Dann freilich stehen ihm seine Tugenden wieder im Wege, weil er versucht, die am Schwarz-weiss gewonnene Meisterschaft der Nuancierung mit Licht und Schatten ins ganz anders geartete farbige Bild hinüberzuretten. Anstatt aus einem neuen Material eine neue Bildsprache zu entwickeln, bemüht er sich, die Intimität seiner früheren Optik auf Cinemascope-Breite auszudehnen. Er komponiert die Farben mit äusserster Sorgfalt und tüftelt eine "interessante" Einstellung nach der anderen aus. Darüber vergisst er leider die Dramaturgie, verfällt einem Missverständnis vom Filmischen, zu dessen Überwindung gerade er selbst soviel beigetragen hat: dem "schönen Bild".
Die Psychologen bestätigen heute, was auch in Theorie und Praxis des Films zum Gemeinplatz geworden ist: dass man im Kino keine Folge von in sich geschlossenen, ausgewogenen Bildern sieht, sondern Bewegungsabläufe. Das Filmbild hat keinen Rahmen, es ist im strengen Sinne kein "Bild". Erlebt wird nur sein Aktionszentrum. Doch eben das: Aktion in seinen Film hineinzubringen, gelingt Ophüls diesmal nicht. Offenbar spürte er selbst den Mangel, denn er kompensiert ihn durch ein Übermass an blosser Bewegung. Hin- und herlaufende Personen, sich verschiebende Requisiten, besonders im Vordergrund, sind in diesem Film zur Manie geworden, da ihnen die inhaltliche Funktion meist abgeht. Sie geben nur den Vorwand ab, damit die Kamera in Bewegung bleiben kann, oder wenn das schon nicht geht, wenigstens im Bild nicht die Ruhe eintritt, die die Farbkomposition zum schönen Standbild gerinnen lassen würde.

Ein Kritiker mit dem bösen Blick hat geschrieben, dieser Film gehöre weniger ins Filmtheater als in eine Ausstellung angewandter Dekorationskunst. Daran ist etwas richtiges, obwohl hier keineswegs naiv in Dekoration geschwelgt wird, wie im üblichen Ausstattungsfilm - das eben ärgert ja die Leute, die durch die Millionenzahlen angelockt werden. "Lola Montez" ist ein sehr distanzierter Film, und seine Begeisterung für das schöne Bild ist ungewöhnlich kühl und hochartistisch. Freilich eine Artistik ganz ohne das erregende Klima der Manege. Man blieb selten im Kino in so ungewöhnlichem Abstand von den Vorgängen auf der Leinwand. Selbst die Zirkussequenzen vermögen nicht in den Bann zu schlagen. Sie wirken seltsam zerdehnt. Peter Ustinov wandert als Direktor anpreisend in der Manege umher, die Kamera geht immer mit, Dekorationen werden hinein- und herausgetragen, aber es passiert nichts, ausser dass das Bild sich ständig wandelt. Das geht so weit, dass man glauben könnte, der Regisseur habe die im epischen Theater entwickelte Verfremdungstechnik für den Film fruchtbar machen und dem Zuschauer verwehren wollen, mit seinen Projektionen in eine Handlung einzusteigen. Sollte Bertolt Brecht bei dieser Lola heimlich Pate gestanden haben? Der Gedanke ist so interessant, dass man ihn nur ungern aufgibt, denn würde das nicht alles in einem neuen Licht erscheinen lassen? Kampf der Kino-Illusionistik? Versuch zur Erziehung eines kritisch-distanzierten Publikums? Zum nichtaristotelischen Theater nun der nichtaristotelische Film? Vielleicht hat Ophüls tatsächlich irgendwo in seiner Konzeption an derartige; gedacht. Aber dann könnte man auch gerade mit Brecht zeigen, warum er scheitern musste: Er hat kein Thema - meinetwegen: keine Tendenz; er weiss nicht, warum er verfremdet!
Ein typisches Beispiel ist die berühmte Busenprobe, der Lola Montez sich vor dem bayerischen König unterzieht. Man bezweifle ihre körperlichen Qualitäten, hat dieser ihr zu verstehen gegeben. Empört reisst sie ihr Mieder auf: Bitte überzeugen Sie sich selbst! Der Regisseur schneidet schnell. Nächste Einstellung: das Vorzimmer des Königs, die Tür öffnet sich, die Majestät ruft nach Nadel und Faden. Eine gelungene Pointe, so scheint es, wenn die Szene jetzt zu Ende wäre, stattdessen fährt die Kamera mit dem laufenden Diener ins Treppenhaus. Der Ruf wird weitergegeben, jeder scheucht den nächsten auf. Lange Totale: auf allen Treppengalerien des Schlosses grosses Gerenne und Gerufe. Man betrachtet es aus geruhsamem Abstand und kann es höchstens kurios finden.
Bei Brecht wäre die Auswalzung der Situation politisch motiviert, wäre eine Demonstration des Feudalismus daraus geworden: Der Herrscher ruft und alle müssen laufen! Bei Ophüls hingegen finden Bewegung und Dehnung um ihrer selbst willen statt. Die Szene hat keinen Stachel. Wenn Gesellschaftskritik intendiert sein sollte, kann nur ein marxistisch vorgeschultes Publikum sie begreifen. In unseren Kinos wartet man darauf, dass noch etwas kommt - und wird enttäuscht.
Nein, dies ist kein entlarvender Film - und auch nur in den Zirkusszenen ein kritischer! Als bemerkenswertes Indiz: Den Aufstieg der Lola illustriert er mit Rückblenden in breit ausgeführter, liebevoller Detailmalerei, ihren Abstieg führt er nur symbolisch am Trapez vor. Und wenn zum Schluss die Menge drängt, um für einen Dollar die Hand des schönen Tieres zu küssen, sieht man nicht in lüsterne Gesichter, spürt man nicht den Atem der Sensation, fühlt sich nicht in Tuchfühlung mit denen, die da drängen - schliesslich hat man auch seine Eintrittskarte gekauft -, sondern betrachtet die Aufregung aus milderndem und für ästhetische Reize ansprechbarem Abstand. Die verdiente Ohrfeige bleibt aus. Für diesen Zirkus hätte man sich den Billy Wilder des "Big Carnival" gewünscht!
Aber was hilft 's, sich darüber zu ärgern, was dieser Film hätte werden können und nicht ist; denn obgleich er seine Entdeckung, die Distanz, nicht zu nutzen weiss, könnte von ihm die Entwicklung einer epischen Dramaturgie im Kino ausgehen. Wenn man sich darüber klar ist, dass sie im Film immer nur partiell möglich und wünschenswert sein kann, zu Schockzwecken gewissermassen, ist Ophüls' Technik, Vordergrund im Bild zu schaffen, indem er Vorhänge, Gitter, Fenster oder sich bewegende Körper zwischen Kamera und Szene schiebt, vorzüglich geeignet, den Zuschauer plötzlich von der Leinwand wegzurücken und dem optischen Sog entgegenzuarbeiten. Es wird gleichsam Bühnenrampe geschaffen. Der Mann im Kinosessel wird seiner selbst wieder als Zuschauer wahr. Nur muss man dann dafür sorgen, dass diese Distanz nicht negativ als Ausgeschlossensein und Langeweile erfahren wird, sondern in eine Position versetzt, die mehr sehen lässt - und das nicht nur im formal-ästhetischen Sinne.
Auf ähnliche Weise könnten die Experimente mit dem Bildformat fruchtbar gemacht werden. Wenn in diesem Film die Cinemascope-Breite plötzlich für einen Augenblick zusammenschrumpft oder kurze Zeit ein kleiner Teil abgedeckt bleibt, sieht man nicht immer ein, warum. Die Freude am Probieren scheint vorerst noch stärker zu sein als die Absicht, solche Tricks dramaturgisch einzusetzen. Aber ein Hinweis, der aufgenommen werden sollte, ist damit gegeben. Das gilt für den ganzen Film. Wenn er verstanden wird, in seinen Ansätzen und in seinem Versagen, dann werden sich sogar die sieben Millionen Mark - künstlerisch jedenfalls - noch verzinsen.       Wilfried Berghahn
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SENSO (SEHNSUCHT) - Produktion: Lux - Regie: Luchino Visconti - Buch: Luchino Visconti und Suso Cecchi d' Amico nach einer Novelle von Camillo Boito - Dialoge: Tennessee Williams und Paul Bowles - Kamera: G. R. Aldo und Robert Krasker - Musik: nach Verdi und Bruckner - Darsteller: Alida Valli, Farley Granger, Heinz Moog, Rina Morelli, Marcella Mariani, Massimo Girotti - Italien 1954

Von den mannigfachen politischen und wirtschaftlichen handicaps, die den italienischen Filmautoren und -regisseuren auferlegt werden, soll in film 56 (im Schluss der Neorealismus-Serie) noch ausführlich die Rede sein. Ein "klassisches" Exempel können wir gegenwärtig in unseren Kinos studieren: Viscontis "Senso" - oder vielmehr: was davon übriggeblieben ist. Luchino Visconti (s. auch Filmkunst im Präsens (III), in diesem Heft) hat in elf Jahren vier Filme gedreht. Er hat sich nie, wie selbst der de Sica von "Stazione Termini" und "L' Oro di Napoli", auf Kompromisse eingelassen. Er hat dann lieber gar nicht gefilmt. Obwohl Visconti also jeden seiner Filme nach seinen Intentionen hat machen können, vermitteln "La Terra Trema" und "Senso" nur einen beschädigten Eindruck von den tatsächlich realisierten Ideen ihres Schöpfers. Denn wie "La Terra Trema" ist auch "Senso" nur in einer verstümmelten Fassung in den Verleih gekommen. Nur ein einziges Mal, auf dem 1954er Festival von Venedig, soll die ungekürzte Fassung von "Senso" öffentlich vorgeführt worden sein. Sofort danach begannen offizielle Stellen und, nicht genug damit, die Produktionsfirma selbst einzuschreiten. Es fing damit an, dass die venezianische Jury sich entschloss, den Film zu ignorieren. (Wenn man bedenkt, dass bei gleicher Gelegenheit der weit weniger bedeutende Film von Castellani, "Romeo und Julia", einen Goldenen Löwen einheimste _... !) Dann erregte die Sequenz der Schlacht bei Custozza das Missfallen des römischen Verteidigungsministeriums; sie wurde zunächst einiger Einstellungen beraubt. In der deutschen Fassung fehlt die Schlacht inzwischen völlig. Offenbar hat Visconti seine Kamera zu schonungslos auf Blut, Dreck und Tod gerichtet, denn der italienische Filmpublizist Guido Aristarco nennt diesen Teil des Films "die Szene, in der die grosse Anklage der Menschlichkeit aus dem Regisseur und dem Kameramann G. R. Aldo mit voller Gewalt hervorbricht _..." Ferner fehlen Szenen, in denen die Charakterisierungen des Freiheitskämpfers Ussoni, des mit den Habsburgern kollaborierenden Conte Serpieri und der dienstbeflissenen Zofe Laura ihre Abrundung erfahren; auch sollen Stellen aus dem mit quälender Unmittelbarkeit geschilderten unheilvollen Liebesverhältnis zwischen Livia und Franz geschnitten sein. Uns ist es leider nicht möglich, die Verletzungen dieses ausserordentlichen Films im einzelnen nachzuprüfen. Was uns bleibt, ist die einfühlende Betrachtung des Torsos.
Visconti geht von einer Geschichte von Camillo Boito aus, einem Mann, der aus der italienischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts mehr als Architekt und Kunstkritiker denn als Literat bekannt ist, von dem aber Landsleute behaupten, dass er heute mehr Leser fände als zu seiner Zeit, würde er erst mal gelesen. Boitos Geschichte spielt im Jahre 1860, zur Zeit der italienischen Einigungskriege. Sie erzählt von einer heftigen Leidenschaft, die das Leben beider Partner zerstört: Während der Conte Serpieri im Felde steht, wird die Contessa einem hübschen, aber liederlichen österreichischen Offizier hörig. Dieser benutzt seine Beziehung zu der reichen Frau, den Kriegsdienst von sich abzuschütteln, indem er mit den Juwelen seiner gräflichen Freundin den Stabsarzt besticht. Als die Contessa entdeckt, dass ihr Geliebter sie unausgesetzt betrügt, denunziert sie ihn bei seinem General und wohnt seiner Exekution bei, was nicht nur ihre Rache, sondern auch ihr erotisches Gefühl befriedigt.
Was hat einen so konsequenten Neorealisten wie Visconti dazu bewogen, sich einem Thema aus dem 19. Jahrhundert zuzuwenden? Hat er damit nicht notwendig seine neorealistische Haltung aufgeben müssen?
Visconti bleibt auch in "Senso" Neorealist: er sieht das grösste und stolzeste Ereignis der neuzeitlichen italienischen Geschichte, das Risorgimento, mit den Augen des neuen politischen und moralischen Bewusstseins, das im Erlebnis der Widerstandsbewegung gegen Faschismus und Zweiten Weltkrieg in den besten Teilen des italienischen Volkes erwachte. Für die sich nach präfaschistischem Muster restaurierenden sozialen und politischen Mächte im nachfaschistischen Italien jedoch ist der immer noch wache Geist des Widerstandes zum verdächtigen und subversiven Element geworden. (Wie steht es denn bei uns in Deutschland? Eben hat Walter Dirks darüber geklagt, dass der Geist des Widerstands "immer noch nicht sicherer Besitz" des Staatsbürgers der zweiten, bonner Republik geworden sei, ja dass sein Andenken weithin verdrängt oder gar diffamiert werde.)
Also musste das öffizielle" Italien auf diesen Film erst mit Verlegenheit, dann mit Eingriffen reagieren. Hier hatte sich zwar einer von denen, deren bevorzugte Themen die Armut und der soziale Missstand unter dem herrschenden System sind, endlich mal in die Vergangenheit abgewandt, was er aber damit unternahm, war der allzu intelligente Beweis am sakrosankten historischen Exempel des Risorgimento, dass, wer den Widerstand verraten, sich unweigerlich dem wahren Anruf der geschichtlichen Stunde versagt hatte.
Denn: Visconti sucht leidenschaftlich und mit zwingendem Intellekt nach Kongruenzen zwischen damals und heute. Er konstruiert sie nicht, er gräbt nur nach und findet sie. Die Epoche, das gesellschaftliche Milieu und die politische Atmosphäre muten in "Senso" so real an, wie zuvor in keinem anderen Film. In der Technicolor-Fotografie verschmilzt das Vorbild der üppigen Farbgebung der zeitgenössischen italienischen Malerei mit der öbjektiven Kamera" des Neorealisten zu einer Art verfremdeter Schönheit: man möchte fast jedes Bild von der Leinwand reissen, man fragt sich nur, ob wegen seiner "Schönheit" oder seiner epischen Authentizität. Neben Luis Buñuels "Robinson Crusoe" scheint mir in "Senso" der einzig geglückte Versuch einer "realistischen" Farbfotografie vorzuliegen. Höchst erstaunlich zudem, dass kein Bruch zwischen der Arbeit von Aldo und Krasker spürbar wird. (Der Kameramann G. R. Aldo kam während der Dreharbeiten durch einen Autounfall ums Leben.)
Visconti weitet die stellenweise an einen sexualpathologischen Kurzbericht grenzende "Story" Boitos überlegen zu einem Stück aktualisierter "Historie" aus. Das geschieht in einem (schon in "La Terra Trema" geübten) episch retardierten drive der filmischen Erzählung, die in ihrer Art so vollkommen und faszinierend anmutet, dass man ohne weiteres zustimmt, wenn man hört, dieser Film werde von Italienern unter die bedeutendsten Errungenschaften der epischen Dichtung ihres Landes seit Manzonis klassischem Roman "Die Verlobten" gezählt.
Das Liebesverhältnis der venezianischen Contessa Livia Serpieri (Alida Valli) mit dem jüngeren österreichischen Oberleutnant Franz Mahler (Farley Granger) vollzieht sich vor dem Hintergrund der sich erhebenden Nation, die die Fesseln der habsburger Herrschaft abzuschütteln versucht. Und hier ist der springende Punkt: das Risorgimento bleibt nicht Hintergrund; private Entscheidung, gesellschaftlicher Zustand und Notwendigkeit des geschichtlichen Augenblicks bedingen einander und verschränken sich zu dichtem Geflecht. Weder wird einem Kult individuellen erotischen Erlebens gefrönt (diesen Eindruck könnte die beschnittene Fassung nämlich erwecken), noch verschlingt ein aufgeblähter politischer Engagementsanspruch den persönlichen Bereich. Beide Kräfte stossen vielmehr in harter Dialektik aufeinander, und hieraus entwickelt sich die Katastrophe. (Eine endgültige kritische Bewertung wäre natürlich nur an Hand der ungekürzten Fassung möglich.) Livia ist Patriotin, ihr Gatte (Heinz Moog) dagegen Parteigänger der Österreicher, ein Kollaborateur, in dessen Gestalt aktuelle Parallelen besonders deutlich werden. Um der Leidenschaft für Franz zu entgehen, folgt Livia ihrem Gatten auf sein Gut. Franz stöbert sie dort auf. Obwohl sie ihn jetzt durchschaut haben müsste, verliert sie ihren letzten moralischen Halt. Ihr Vetter Ussoni (Massima Girotti) hatte Geld für die Freischärler gesammelt und es ihr anvertraut. Dieses Geld nun (und nicht eigene Diamanten, wie bei Boito - eine bezeichnende Veränderung) verschenkt sie an Franz, damit er sich durch Bestechung loskaufen kann. (Dass diese Tat auf den unglücklichen Ausgang der Schlacht von Custozza Einfluss gehabt hat, lässt die hierzulande gezeigte Fassung nicht mehr erkennen: ein wesentliches politisches Motiv ist der Zensurschere zum Opfer gefallen und hat den Geist des Werkes verstümmelt.)
Livia lässt alles im Stich und begibt sich nach Verona. Dort findet sie Mahler volltrunken, verkommen und mit einem Strassenmädchen in einem mit "ihrem" Geld bezahlten üppigen Appartement. Mahler bricht in einen widerlichen Rausch der Selbstbemitleidung aus: Sie beide seien die Opfer einer zusammenbrechenden aristokratischen Welt, und er sei immer nur auf ihr Geld aus gewesen, nie auf ihre Liebe. Nachdem Livia Franz angezeigt hat, irrt sie wahnsinnig durch die nächtlichen Gassen Veronas und ruft immer wieder nach ihrem Geliebten. Währenddessen wird Franz füsiliert. (Allein an dieser letzten Szene übrigens lässt sich rein äusserlich ermessen, wie dieser Film dem Geist des Widerstandes verpflichtet ist: die Szene, akzentuiert durch den Kommisston der deutschen Befehle des Exekutionskommandos - die Originalfassung ist zweisprachig -, muss eine ähnliche emotionale Wirkung auf den Beschauer ausüben, wie das Erscheinen der SS in "Rom, offene Stadt".
Farley Granger wird mit seiner Rolle in überraschender Weise fertig. Die fatale Mischung aus knabenhafter Liebenswürdigkeit und der erotischen Skrupellosigkeit eines Ripois wäre glänzend verkörpert, gewänne am Ende nicht theatralische Affektiertheit die Oberhand. Die Darstellung der Valli ist ohne Makel: keinen Augenblick verlässt uns das Gefühl, dass sie aufs Haar die Frau realisiert, die Visconti konzipierte. Die Grossaufnahme ihres Gesichts in dem schwülen Innern der Kutsche, die sie nach Verona bringt, als ein leises Lächeln langsam in ihren zerquälten Zügen aufbricht, weil sie an den Geliebten denkt - diese Einstellung, beispielsweise, ist bildlich und mimisch von delikater Reife, und Visconti erzielt damit Wirkungen, wie sie tatsächlich seitenlanges literarisches Psychologieren nicht besser erreichen könnte.
Zur Synchronisation ein notwendiges Wort: Sie würde wohl einen Grand Prix für Instinktlosigkeit in der Übersetzung der Dialoge von Bowles und Williams, in der Regie und in der Wahl der Sprecher verdienen.       Theodor Kotulla
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Herr im Haus bleibt Paps
THE DESPERATE HOURS (AN EINEM TAG WIE JEDER ANDERE) - Produktion: Paramount - Regie: William Wyler - Buch: Joseph Hayes nach seinem gleichnamigen Roman - Kamera: Lee Garmes - Musik: Gail Kubik - Darsteller: Humphrey Bogart, Fredric March, Martha Scott, Mary Murphy, Gig Young, Dewey Martin, Robert Middleton - USA 1955

Es hätte nicht William Wylers bedurft, uns bei "The Desperate Hours" einen Gang zur Kinokasse notwendig erscheinen zu lassen - der Stoff hatte drei Jahre lang für sich selbst sprechen können und als Buch, Hörspiel, Fernsehsendung und Theaterstück bei allen erdenkbaren Medien erfolgreich die Runde gemacht, nicht ganz zu Unrecht, wie wir glauben. Joseph Hayes war es gelungen, in einem reisserisch aufgemachten Stoff unterschichtig die Bedrohung einer Lebensform sichtbar zu machen. An einer gutsituierten Familie in Indianapolis, den Hilliards, demonstriert er einen Einzelfall: Drei entsprungene Schwerverbrecher dringen auf der Flucht aus dem Zuchthaus in die Vorortvilla der Hilliards ein, um hier in aller Ruhe auf das Eintreffen einiger tausend Dollar zu warten, die sie bei einer Komplizin nach dem letzten Raub deponiert haben. Die Verbrecher zwingen alle Mitglieder der Familie, ihr Leben so weiterzuführen, als sei nichts geschehen: Der Vater muss weiterhin morgens zur Stadt fahren, wo er als Personalchef eines Warenhauses beschäftigt ist, die Tochter wird gezwungen, ihn zu begleiten. Zurück bleiben als Faustpfänder für den Fall des Verrats die Mutter und der siebenjährige Sohn. Aus Sorge um das Schicksal der anderen müssen alle das Spiel der Verbrecher mitspielen, bis schliesslich das Kollektiv der Eindringlinge zerfällt und die Familie sich, aktiv von der inzwischen mobil gewordenen Polizei unterstützt, selbst befreien kann.
Ein Bürgerdrama also, Konflikt von Ordnung und ordnungsfeindlichen Kräften, den das Gesetz für sich entscheidet. Aber die grossen Parallelen bieten sich von selbst an, sind so offensichtlich, dass wir vermuten müssen: Hier wird in einer Verherrlichung amerikanischen Bürgersinns versucht, eine gross angelegte Metapher unserer politischen Welt zu konstruieren. Schrieben wir nicht 1956, wäre der braune Spuk in Deutschland nicht seit elf Jahren zerstoben, wir müssten Joseph Hayes zu seinem Schlüsselroman, William Wyler zu seinem Schlüsselfilm beglückwünschen. Die Methode der nazistischen Usurpation wäre sinnfällig verbildlicht worden, zwar in einer amerikanischen Version und im perspektivisch schiefen amerikanischen Sichtwinkel, aber doch so überzeugend, dass die Vereinfachung eines verwirrenden politischen Prozesses, exerziert an einem Staat en miniature - der Familie Hilliard - sich gerechtfertigt hätte. Offensichtlich geht es Hayes und Wyler aber nicht um Nazis, nicht um Deutschland, sondern um die USA und die heute aktuelle Bedrohung durch kommunistische Infiltration. Die drei Verbrecher unterwerfen sich das Haus und die Familie unbemerkt von der Öffentlichkeit, errichten ein Terrorregime und werden erst überwunden, als die Hilliards ihren nur passiven Widerstand aufgeben und tätig gegen die Belagerer innerhalb ihrer vier Wände vorgehen. Vielleicht sollte man nicht so weit gehen und in den "Desperate Hours" eine erwünschte Rückendeckung für Hexenjagden im Sinne McCarthys sehen - der Altwarenhändler, den die Verbrecher ermorden, weil er sie verraten könnte, wäre dann eine gekonnte Persiflage des Senators aus Wisconsin - fraglos bleibt jedoch, dass hier mit lauter Trommel das eingeschläferte politische Gewissen Amerikas wachgerufen werden soll. So weit, so gut. Wenn dieser Appell so geschickt unterlegt wird und die Vordergrund-Story keine allzu peinlichen Verdrehungen auf sich nehmen muss, hat man immerhin noch eine handfeste Kriminal-Handlung, von der die angehängte politische Botschaft mühelos weggezogen wird.
Übler scheint uns, dass man dem intelligenten Anführer des Verbrecher-Trios unbedenklich sozialkritische Wahrheiten in den Mund legt, die nicht nur durch die unsympathische Gestalt ihres Trägers diskreditiert werden: "Ich hab die Schnauze voll von euch Scheisskerlen mit den schneeweissen Taschentüchern, Geschäftemachern", sondern bewusst in ihrer hassträchtigen Formulierung berechtigte Vorwürfe des asozialen Aussenseiters in antibürgerliche Ressentiments umfälschen. Schliesslich wundern wir uns nicht, wenn bei den Gangsterfiguren recht oberflächlich schematisiert wird und die negativen Aspekte, kräftig betont, auch den letzten Funken von Menschlichkeit ersticken - wohlgemerkt, es handelt sich nebenspurig um einen politischen Film.
Dabei hätte William Wyler eigentlich allen Grund, seinen drei Entsprungenen dankbar zu sein. Mit fast artistischem Geschick wählen sie in der Häuser langer Zeile, an einer idyllisch gelegenen Vorortstrasse, just jenes Haus, das ihren Absichten, denen des Regisseurs und den Forderungen Vistavisions am weitesten entgegenkommt. Und wie sie es wählen: Aus dem gestohlenen Wagen heraus, durch das Autofenster, kreisen Kamera und Verbrecher ihr Opfer mit der Lautlosigkeit eines Raubvogels ein, drehen sich in einer immer enger werdenden Spirale um das Kinderfahrrad auf dem Rasen, stossen dann zu mit der tödlichen Entschlossenheit eines Adlers, bringen das Auto mit kreischenden Bremsen in der Garage zum Halten und haben das Haus der Hilliards für sich und William Wyler erobert, noch ehe sie die Tür hinter sich ins Schloss gedrückt haben. Einstellungen von ähnlicher Eindringlichkeit - mit denen uns Wyler in "Polizeirevier 21" eher verwöhnt hatte - finden sich nur noch gegen Ende. Im Innern des Hauses beginnt für Regie und Kamera ein Tag wie jeder andere: Wylers charakteristischer Stil, eine Einstellung so lange wie eben möglich durchzuhalten, bei unbewegter Kamera ein Maximum an Darstellern und Handlung im Bildraum zu gruppieren und den Einstellungswechsel durch Erschliessung des Mittel- und Hintergrundes zu ersetzen. Die Architektur der Hilliardschen Villa kommt seinem Tick, Vistavision mit Schwarz-Weiss zu kombinieren, entgegen, die strenge Teilung in ein Erdgeschoss mit weiträumigen Fluren und Glaswänden, darüber in der Etage eine Unmenge kleiner Zimmer, bietet ihm Gelegenheit zur Inszenierung eines subtilen Kammerspiels. Die Symbolik kommt dabei nicht zu kurz, in feiner Entsprechung zur jeweiligen Situation haben die Gangster ihr Quartier ünten" aufgeschlagen, während die Familie öben" bleibt. Die besten Momente hat der Film im Interieur immer dann, wenn schräg über die Treppe beide Stockwerke im Bild bleiben und der Gegensatz der gelangweilten Gangster, die sich auf den Stufen rekeln, zu der angstvollen Unsicherheit der Familie, die sich auf der Galerie zusammendrängt, durch die räumliche Überlegenheit der Hilliards - die auch in gefährlichen Momenten noch auf ihre Unterdrücker "herabblicken" können - fast völlig aufgehoben wird. Abgesehen von der gründlichen Bildkomposition bietet die Kamera bis gegen Ende des Films nur noch tägliches Brot. Das Finale aber beschert uns wieder eine grandiose Szene: im Licht der Polizeischeinwerfer geht der Letzte der Verbrecher seinem Tode entgegen, mit erhobenen Händen tastet er sich durch absolute Stille und die fahle, wächserne Helligkeit einer Mondlandschaft, zerstört das Licht und wird im Dunkel von zahllosen Kugeln zerrissen.

Das Ende des Trio-Chefs ist der Höhepunkt Humphrey Bogarts, "The Desperate Hours" entschieden sein bester Film - überzeugender noch als sein Desperado im "Schatz der Sierra Madre". Zynisch, gemein, sadistisch fegt er den ewigen Handlungsreisenden Frederic March hinweg, bei allen Unmenschlichkeiten, die ihm das Drehbuch diktiert, stellen wir bestürzt fest, dass er auch einen letzten Rest von Recht für sich beanspruchen darf und dass Frederic Marchs unverändert schmerzlich verzogenes Ohrfeigengesicht nicht nur Bogart in sinnlose Raserei versetzen kann. Unvergesslich, wie er den Familienvater zum Gnadenschuss überreden will und noch in der letzten, aussichtslosen Verzweiflung der Überlegene bleibt, und es ist unvergesslich, weil wir spüren: Hier überrundet der Darsteller Bogart die Absichten des Drehbuchs, verkehrt sie geradezu. Dass seine Mitspieler - abgesehen vielleicht von Robert Middleton, der seinen unappetitlichen Gangster plastisch zu machen glaubt, wenn er unüberhörbar gut schmatzt und rülpst - merkwürdig farblos bleiben, kommt (credo quia absurdum) dem Film als Ganzem zugute. So wirkt vielleicht unbewusst das Unvermögen der restlichen Darsteller den spitzfindigen Politika des Drehbuchs als Korrektur entgegen.       Benno Klapp
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Romeo und Julia bei Langemarck
Ein Mädchen aus Flandern - Regie: Helmut Käutner - Deutschland (West) 1956

Helmut Käutners Stärken sind Sentiment und Atmosphäre. Er ist ein musikalischer Regisseur, der einzige in Deutschland, der "mit der Kamera zu dichten" versteht. Seine besten Filme - "Romanze in Moll", "Grosse Freiheit Nr. 7", Ünter den Brücken" - waren impressionistische Zustandsschilderungen, psychologischer Durchdringung mehr zugewandt als einer spannungsreichen Aktion oder gesellschaftlichen Aussagen. Dass diese sich unvermerkt doch einstellten, liegt in der Natur der Sache: das Bestehen auf der Unverletzlichkeit des Privaten, das darüber seine Gefährdung durch die Gesellschaft nicht übersieht, ist selbst eine radikale soziale Aussage. Die Nazis, als sie jene Filme Käutners mit Misstrauen bedachten, ahnten es. - Seit "jenen Tagen" aber ist Politik Käutners unglückliche Leidenschaft. Es ist ärgerlich, dass unser einziger "intimistischer" Regisseur zugleich als einziger politisches Verantwortungsbewusstsein besitzt. Unvermeidlich gerät ihm Politik in die private Perspektive, wo sie sich in eine fatale Affäre verwandelt, die dem menschlichen Zugriff entzogen ist: so der Nazismus in "In jenen Tagen", der Krieg in "Die letzte Brücke", die Spaltung in "Himmel ohne Sterne". Über die Sache selbst werden letztlich nur Gemeinplätze ausgesagt. - Wilfried Berghahn hat "Himmel ohne Sterne" hier in diesem Sinne behandelt (Heft 1: "Romeo und Julia an der Zonengrenze"). Mit "Ein Mädchen aus Flandern", den Käutner anschliessend nach einer Zuckmayer-Novelle gedreht hat, steht es kaum besser: für diese Liebesgeschichte zwischen einem deutschen Soldaten und einer Belgierin ist der Krieg (der erste Weltkrieg) ein Hindernis von ganz privater Bedeutung - sein eigentliches Wesen bleibt ausserhalb der Erörterung, fast ausserhalb des Bildes - es bleibt bei ein paar beiläufigen symbolischen Andeutungen. Es ist symptomatisch, dass Käutner sich den Repräsentanten des Widerstands nur als eine Art Glöckner von Notre Dame vorstellen kann und die Revolution nur als Aufstand der schlechten Manieren. Wo immer die Rede auf den Krieg kommt, stellen sich Peinlichkeiten ein im Dialog, im Bild, selbst in der Musik. - Andererseits sahen wir lange im deutschen Film nicht so echte und bewegende Liebesszenen, Schilderungen von solcher atmosphärischen Dichte und eine so vorzügliche Darstellung (vor allem durch Nicole Berger und einige Chargen). Die Treffsicherheit in der Karikatur der diversen wilhelminischen Typen lässt uns mit hoffnungsvoller Spannung die Verfilmung des "Hauptmanns von Köpenick" erwarten. Nur eine (Neben-) Gestalt freilich ragt über das ironische "Simplizissimus"-Format der anderen hinaus und erreicht George Groszsche Konturen: der Etappenoffizier Gerd Fröbes.       pat
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Wenig Post und kein Meister
DUNJA - Regie: Josef von Baky - Österreich 1955

Mit feinem Gespür für die Neugier des Konsumenten - der für wenig Geld immer wieder selbstzufrieden feststellen darf, wie sich der Unverstand unserer Produzenten an der vermeintlichen Ufa-Gloriole die Zähne ausbeisst - setzen die donaudeutschen Re-Makers ihren Exhumierungsspaten jetzt über dem "Postmeister" an. Die Ucicky-Version mit ihrem umständlichen Halbnaturalismus stand dabei Gevatter: die babelsberger Routine, mit der vor fünfzehn Jahren Puschkin von George an die Wand gespielt wurde, die binnendeutsche Vorstellung vom heiligen Mütterchen Russland, wodka- und ikonenselig, zaristisches Uniformgeklingel und die breit ausgespielte Dämonie hinter der Stirn des kleinsten Kulaken werden in Bakys "Dunja" bis zur Unkenntlichkeit der literarischen Vorlage vergröbert. Hinzu kommen Farben, wie man sie in dieser schleimigen Makart-Manier im Kino selten gesehen hat. Bei der Darstellung hatte man sich in Desny einen "echten" Iwan gesichert, Karlheinz Böhm und Eva Bartok optieren für Petersburg und strapazieren ihre immobilen Physiognomien bis zum grotesken Katzenjammer des Finales, Walter Richter liefert Variationen über ein Thema von George, und Regisseur von Baky ist erfolgreich um die Schmierseifenglätte seines Erzeugnisses besorgt, während das künstlerische Gewissen zaghaft Überstunden machen muss.       -PP
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Das Gold von London
A KID FOR TWO FARTHINGS (VOLLER WUNDER IST DAS LEBEN) - Regie: Carol Reed - Grossbritannien 1955

Das "Pittoreske" ist die grosse Versuchung der Regisseure, die, zur kritischen Betrachtung der Wirklichkeit nur von Zeit zu Zeit zugelassen, sich doch auch nicht ohne Widerspruch der Traumfabrik ausliefern wollen. So kam de Sica dazu, "Das Gold von Neapel" auszumünzen, so beschert uns Sir Carol nun sein Gold von London: Ä Kid For Two Farthings". Auf dem Budenmarkt des Petticoat-Lane-Distrikts im londoner East End gibt sich eine Musterkollektion skurriler Typen ein Stelldichein: ein ostjüdischer Hosenschneider, sein muskelstarker und geistesschwacher Geselle, dessen wasserstoffblonde Braut, der erfolgreiche Catcher, schliesslich der Knabe Joe. Vom Schneider Kandinsky erfährt er die Geschichte vom Einhorn, das einem alle Wünsche erfüllt - und Joe findet es, das heisst: er kauft einem Landstreicher ein Zicklein ab, dass nur ein kümmerliches Hörnchen besitzt. Ein paar Zufälle bescheren nun Joes Freunden massvolle Freuden: Kandinsky bekommt die ersehnte Dampfbügelpresse und so weiter. Dem Jungen aber erscheint sein Zicklein als der wahre Wundertäter. - Das Ganze ist mit mässiger Phantasie ersonnen, das "Wunderbare" ist sorgfältig motiviert, nirgends sprengt es die Kausalität der Naturgesetze. Einen breiten Raum nehmen betuliche Dialoge ein, die dem alten Juden alle Weisheiten des Konformismus in den Mund legen, angefangen beim "Man muss das Leben hinnehmen, wie es ist". Die Kinderperspektive, auch optisch über die Massen strapaziert, liefert das Alibi für die indifferente Sicht dieses Lebens der Ärmsten und Elendesten, die selbst ein so bedenkliches Symptom menschlicher Selbstentfremdung wie das Catcher-Unwesen mit dem Schein des "Pittoresken" umgibt und verklärt. Dass die Elenden die kleinste Milderung ihres Elends als Glück empfinden, wird als Trost ausgegeben und nicht vielmehr als ein Symptom dieses Elends, das die Proportionen so verschoben hat. All diese Widerwärtigkeiten werden auch nicht aufgehoben durch Reeds narzissische Stilrepetitionen und formale Lichtblicke - den Einsatz des Tons in der Exposition und einiges mehr.       pat
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Parzival im Blaugras

THE KENTUCKIAN (DER MANN AUS KENTUCKY) - Regie: Burt Lancaster - USA 1955

Eklatanter ist Wilfried Berghahns Leitbildhunger in diesem Jahr nicht befriedigt worden: Reinen Herzens siegt der Held in einer Welt ekler Krämerseelen durch die Aufrichtigkeit seines unbezähmbaren Kolonisationsdrangs. Der Blaugras-Staat Kentucky bietet ihm und seinem halbverwaisten Sohn nur noch zweifelhafte Möglichkeiten, und mächtig zieht ihn das Vakuum Texas nach Süden. Doch wie schon weiland bei Herkules erlahmt sein ungestümer Eifer auf der Reise, ein attraktiver Spinnrocken droht ihn ganz in seinen Bann zu ziehen, und das bängliche Schwanken feiger Gedanken gibt ihm und den beiden Mädchen seiner Wahl manche harte Nuss zu knacken. Wenn er in authentischer Lederstrumpftracht durch pittoresken Mischwald schleicht und das germanischblaue Auge nach dem reduplizierten Hagen Ausschau hält, werden die Nibelungen-Parallelen schmerzhaft körperlich spürbar. Im Detail des Dekors und der Kostüme und in eingefügten Anekdoten ist er erfolgreich um historische Treue bemüht; dass er sich ausserdem auch in der Wahl der Typen einer einigermassen glücklichen Hand rühmen kann, lässt uns über gewisse, fast naive Unterstellungen hinwegsehen. Eine einigermassen stetige dramatische Mittellage in der Verteilung der Spannungshöhepunkte wäre Lancaster zu wünschen, und Cinemascope, scheint 's, ist noch ein wenig zu gross für ihn. Im ganzen bringt er gutes wildwestliches Mittelgewicht und viel Trappermoral.       -pp
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