Vorwort | Filmdaten bis 1920 | Filmdaten ab 1920 | Filmdaten noch nicht hier | Nicht-Filmdaten |
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Filmstudio Heft 10/11 Wintersemester 1954/55
[ Inhalt
Geleitwort des Prorektors >
3 Jahre Film-Studio Frankfurt >
René Clair >
René Clair über den Film >
Offener Brief an ein liebenswertes Mäuschen >
Vorträge mit Filmbeispielen >
Filmkurs mit Übungen >
Film-Colloquium >
Filmdiskussion >
Entr'acte >
Les deux timides (Die beiden Schüchternen) >
Sous les toits de Paris (Unter den Dächern von Paris) >
A nous la liberté (Es lebe die Freiheit) >
Le Silence est d' or (Schweigen ist Gold) >
La beauté du diable (Der Pakt mit dem Teufel) >
La vie en rose >
Sein Engel mit den zwei Pistolen (Paleface) >
L' Auberge rouge (Die unheimliche Herberge) >
Julius Caesar >
Boulevard der Dämmerung (Sunset Boulevard) >
Rotation >
Mutter Krausens Fahrt ins Glück >
Metropolis >
Die steinerne Blume >
Paris plein ciel (Über den Dächern von Paris) >
Rêverie de Claude Debussy (Träumerei von Debussy) >
Auf offener Bühne >
Vor den Stufen >
Vente en encheres (Die Versteigerung) >
Pantha rhei >
Der Griff nach dem Atom >]
Geleitwort des Prorektors
Die Arbeit des Film-Studio ist seit seinem Bestehen von Seiten der
Universität mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt worden. Das
vorliegende Programm für das Wintersermester 1954/55 ist wieder ein
Beweis dafür, dass die Tätigkeit des Film-Studio ein wertvoller Beitrag
zum studentischen Leben darstellt und im kulturellen Bereich unserer
Universität eine Bedeutung gewonnen hat, der die weiteste Förderung und
ein nachhaltiger Erfolg zu wünschen ist. Die Veranstaltungen des
Film-Studio bilden eine Ergänzung des Lehrplans auf wichtigen Gebieten.
Ich hoffe und wünsche, dass die Entwicklung des Film-Studio weiter in
dieser Richtung geht und sage im Interesse der Universität jede
Unterstützung zu, die ich gewahren kann.
Prof. Dr. med., Dr. med. Oscar Gans
Prorektor der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Das Filmstudio an der Johann Wolfgang Goethe-Universität verdient an der
Schwelle zum Wintersemester 1954/55 erneut die Aufmerksamkeit und den
Glückwunsch all derer, die von den Möglichkeiten des künstlerischen
Films überzeugt sind. Wer wie ich an der Entwicklung eines benachbarten,
noch unerforschten Zweigs publizistischen und künstlerischen Wirkens -
ich meine das Fernsehen - mitwirkt, kennt die kaum zu überschätzende
Bedeutung der geglückten Gestaltungen des Filmschaffens für die moderne
Dramaturgie. Ich halte es deshalb für besonders ermutigend, dass sich
insbesondere die studierende Jugend mit so gründlicher Anteilnahme dem
Studium und dem Genuss gerade der älteren, schon klassisch gewordenen
Schöpfungen der Filmgeschichte annimmt. Ich bin sicher, dass sie hierin
von dem freundschaftlichen Interesse aller, denen das geistige Wachstum
der Generation am Herzen liegt, tatkräftig gefördert wird.
Eberhard Beckmann
Intendant des Hessischen Rundfunks
Der Film ist diejenige Kunstgattung, die am tiefsten in die Gesamtstruktur des Volkes eindringt. Um so mehr gilt es daher, unter der Vielfalt des Gebotenen zu sondern und auszuwählen, das Unterscheidungsvermögen für Wesentliches und Wertvolles zu schärfen und heranzubilden, damit der Film nicht nur Zerstreuung und Narkotikum, sondern Erlebnis und innere Bereicherung wie jeder wahrhafte Bildungsfaktor wird.
Dieser Aufgabe unterzieht sich das Film-Studio der Johann Wolfgang Goethe-Universität in vorbildlicher Weise. Der Studentenschaft wird nicht nur die praktische Kenntnis des rein Filmtechnischen übermittelt, sondern der geistige Gehalt, die Atmosphäre und das jeweilige historische, wissenschaftliche oder psychologische Moment der einzelnen Produktionen nahegebracht; es wird Einblick in die Tätigkeit der grossen Regisseure aller Nationen gewährt und damit das künstlerische Wollen anderer Völker vermittelt. Diskussionsabende geben den Studenten zum lebendigen Gedankenaustausch Gelegenheit.
Es liegt mir am Herzen, die dringende kulturelle Notwendigkeit des
Film-Studio zu betonen, dessen Protektorat ich aus voller Überzeugung
übernommen habe.
Dr. Karl vom Rath
Kulturdezernent der Stadt Frankfurt am Main
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Das neue Programm des Film-Studio erscheint zum Wintersemester als Folge 10/11 in erweiterter Form.
Wir benutzen diese Gelegenheit, um einmal über die Arbeit des Film-Studio, das jetzt 3 Jahre besteht, zu berichten und einiges über die Aufgaben einer studentischen Filmarbeitsgemeinschaft zu sagen.
Das Film-Studio ist mit dem vorgelegten Programm für das Wintersemester 1954/55 in die dritte Phase seiner Entwicklung und zu einem Höhepunkt seiner Arbeit gelangt.
Nach der Gründung am 17. Dezember 1951 durch Studenten aller Fakultäten, die sich die theoretische und praktische Arbeit am Dokumentär-, Kultur-, Spiel- und wissenschaftlichen Film zum Ziel setzten, stand zunächst der organisatorische und materielle Aufbau im Vordergrund. Man begann mit der praktischen Arbeit, d. h. mit der Herstellung von Schmalfilmen und der Beschäftigung mit den damit zusammenhängenden Problemen. Gelegentlich wurden einige Dokumentar- und Experimentalfilme sowie drei Spielfilme vorgeführt.
Durch die nachdrückliche Förderung der Universität und der Studentenvertretung konnte sich die neue Arbeitsgemeinschaft rasch entwickeln. Als Ende 1952 der Bau des neuen Studentenhauses seiner Vollendung entgegenging, wurde das Film-Studio zu den Planungsarbeiten für die Film- und Toneinrichtungen herangezogen. Der Vorschlag des Film-Studio für die Einrichtung der Kino- und Tonanlage wurde angenommen und durchgeführt.
Mit der Einweihung des Hauses im Februar 1953 war die Möglichkeit gegeben, Filme in ordnungsgemässer Weise vorzuführen. Jetzt konnte das Film-Studio an die Verwirklichung seiner Aufgabe herangehen, "durch geeignete Filme die Studenten in ihrem Studium zu fördern", wie der damalige Rektor der Universität, Prof. Dr. M. Horkheimer, in einem Schreiben formulierte, in dem er weiterhin zu der Feststellung kam: "Das Film-Studio gibt damit die Möglichkeit, den Lehrplan auf wichtigen Gebieten zu ergänzen."
In der zweiten Entwicklungsstufe wurden ab März 1953 von dem vom
Film-Studio ins Leben gerufenen FILMFREUNDEKREIS regelmässig
Filmvorführungen, Vorträge mit und ohne Filmbeispiele, Diskussionen,
Arbeitsgemeinschaften und Kurse durchgeführt. Das Programm wird von
einem Ausschuss zusammengestellt und nach folgenden Gesichtspunkten
ausgewählt:
1. Einführung in die Geschichte des Films;
2. Internationale Filmkunstwerke;
3. Internationale Experimentalfilme oder Filme, bei denen ein Teil der
Produktion oder Projektion einen Versuch bzw. ein Novum in der
Entwicklung darstellt;
4. Filme, die für wissenschaftliche Untersuchungen (z.B. Filmtests)
geeignet sind oder wissenschaftliche Probleme zum Thema haben, meist auf
Vorschlag von Dozenten oder Instituten;
5. Filme, die im Rahmen von Sonderveranstaltungen der Universität (z.B.
Universitätsfest) vorgeführt werden sollen;
6. Filme, die im Zusammenhang mit anderen Filmen die Entwicklung eines
künstlerischen Gestaltungsmittels, eines Regisseurs, Kameramannes,
Darstellers usw. aufzeigen können.
Bis zum Sommersemester 1954 war das Film-Studio als Organ der studentischen Selbstverwaltung tätig. Es hat sich jedoch als vorteilhaft erwiesen, die Arbeit als studentische Vereinigung, vom Rektor lizensiert, und als eingetragener Verein fortzusetzen. Von dieser rein organisatorischen Massnahme wird die eigentliche Tätigkeit, insbesondere die Zielsetzung des Film-Studio, nicht berührt.
Nach den oben aufgezählten Grundsätzen haben wir für das Wintersemester, in dem wir besonders das Werk des Regisseurs René Clair als Semesterthema behandeln wollen, 6 Filme von René Clair und weitere 9 Spiel- und 12 Dokumentar-, Kultur- und Experimentalfilme ausgewählt.
Diese Filme, die teilweise unter grössten Schwierigkeiten beschafft wurden, sind für das gewerbliche Filmtheaterprogramm - mit 2 bis 3 Ausnahmen für Matinee-Vorstellungen - zum Teil (leider) uninteressant, zum Teil aus rechtlichen Gründen nicht spielbar.
Für unsere Mitglieder, die in der Hauptsache der jüngeren Generation angehören, bedeutet die Kenntnis solcher. Filme eine wichtige Voraussetzung für das Studium der Gestaltungsmittel und der Geschichte des Films, für die Beurteilung von Filmen überhaupt - so, wie z. B. zum Verständnis und zur Kritik der modernen Kunst die Kenntnis der klassischen Kunstformen notwendig ist.
Bei der Arbeit des Film-Studio steht immer wieder die Frage im Mittelpunkt: Was ist Film? Was sind die Möglichkeiten des Films und wo liegen seine Grenzen?
Es soll an dieser Stelle der Öffentlichkeit und unseren Mitgliedern und Studenten einmal gesagt werden: Wir sind kein Kino in der Universität und wollen nicht mit den gewerblichen Filmtheatern in Konkurrenz treten. Unsere Arbeit, unsere Programme sind nur zu verstehen und zu beurteilen als ein ehrliches Bemühen um die Verwirklichung unserer Aufgaben. Die Bedeutung des Films als Massenbeeinflussungsmittel und Kulturträger verpflichtet den Studenten, der später im Beruf mit den verschiedensten Problemen des Films in Berührung kommt, sich schon und gerade während seines Studiums mit Filmfragen - künstlerischen, pädagogischen, technischen, wirtschaftlichen - auseinanderzusetzen. Solange es an der Universität noch keine Vorlesungen über Film, keine Möglichkeiten, praktisch und theoretisch den Film zu studieren, gibt, wird diese Lücke durch die aus studentischer Initiative entstandene Arbeitsgemeinschaft geschlossen. Diese Form der Beschäftigung mit dem Film im Rahmen der Universität kann nur vorläufig und vorbereitend sein, kann nur solange dauern, bis die Universität selbst diese Aufgaben übernehmen kann.
Die studentischen Filmarbeitsgemeinschaften, die sich in der Arbeitsgemeinschaft Film beim VDS zusammengeschlossen haben, betrachten es als ihre Aufgabe, in Zusammenarbeit mit den Dozenten, besonders mit der Deutschen Filmwissenschaftlichen Gesellschaft, Grundlagen für eine Filmwissenschaft in Deutschland zu schaffen, einem Gebiet, auf dem man uns z. B. in Amerika und Frankreich um vieles voraus ist. Demgemäss steht im Film-Studio nicht allein die Förderung des guten Films und die Erziehung zum guten Film an erster Stelle. Denn die ästhetische Betrachtung von Filmen, wie sie vorwiegend in den Filmclubs gepflegt wird, ist nur ein Teil einer echten Filmarbeit. Erst in Verbindung mit Filmkunde, Filmtechnik, Filmwirtschaft und den anderen Spezialgebieten, Filmsoziologie, Filmpsychologie usw. wird die Grundlage zu einer Arbeit gelegt, wie sie an einer Universität geleistet werden muss. Deshalb steht bei uns die systematische Arbeit a m Film, theoretisch und praktisch, im Vordergrund.
Alle Studierenden sind eingeladen, sich an dieser Arbeit aktiv zu beteiligen. Neben der allgemeinen Filmdiskussion haben wir im Wintersemester ein Film-Colloquium eingerichtet, in dem im kleineren Kreis mit Fachleuten eine intensive und systematische Beschäftigung mit Filmfragen erfolgen soll. Wer sich praktisch betätigen will, kann in unserer Produktionsgruppe mitarbeiten oder, wer noch nicht genügend Erfahrung besitzt, kann am Filmkursus teilnehmen, der im Wintersemester wieder durchgeführt wird.
Selbstverständlich können sich auch Nichtstudenten als a.o. Mitglieder an allen Einrichtungen beteiligen. Die Tatsache, dass auch eine ganze Anzahl Nichtstudenten aus allen Berufsschichten dem Film-Studio als Mitglied angehören, betrachten wir als sehr förderlich und anregend für unsere Arbeit. Dadurch wird, wie bis jetzt wohl ohne Beispiel, ein fruchtbringender und wünschenswerter Kontakt zwischen Universität, Studentenschaft und Öffentlichkeit hergestellt. Karl Heinz Reitzlein
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Erstmalig stellt das Film-Studio das Gesamtwerk eines einzelnen, wohl gerade in Deutschland sehr populären Film-Regisseurs in den Mittelpunkt seiner Semesterarbeit.
Unser erweitertes Programmheft trägt dem durch den folgenden Aufsatz, ein vollständiges Verzeichnis seiner Filme und Auszüge aus seinem schriftstellerischen Schaffen Rechnung.
Als der 21jährige René Chomette (geb. 11. November 1898 in Paris) im Jahre 1919 als Journalist in der Redaktion des "Intransigeant" sass, dachte er nicht im entferntesten daran, dass er einmal unter dem Namen René Clair der berühmteste Regisseur Frankreichs werden sollte. Er träumte davon, ein grosser Romancier zu werden, der von allen Verlegern umworben würde, die ihm seine Bücher aus den Händen reissen. Aber diese Zeit scheint noch weit entfernt zu sein. Vorerst sitzt er in einem Zeitungsbüro, verfasst Artikel und kommt mit seinem kleinen Gehalt nicht aus. Auf der Suche nach einem Nebenverdienst entdeckt der junge Mann den Film. Der Film der damaligen Zeit ist eine Rummelplatzunterhaltung von niedrigstem Niveau und hat einen sehr schlechten Ruf. Aber wer etwas Geschick hat und auf die Meinung der "seriösen Leute" nichts gibt, der hat hier die Möglichkeit, viel Geld zu verdienen.
René Chomette arbeitet als Regieassistent bei Louis Feuillade, der mit künstlerisch indiskutablen Monstrefilmen enormes Geld verdient. Als Feuillade seinem jungen Assistenten die Möglichkeit gibt, als Darsteller zusätzlich Geld zu verdienen, greift dieser sofort zu. Aber nun wird sein Name auf der Leinwand erscheinen, und das ist dem angehenden Schriftsteller Chomette sehr peinlich. Er nennt sich René Clair, damit ja niemand später erfahren soll, dass der "grosse Romancier" bei dem verachteten Kintopp gearbeitet hat.
Bei seiner Arbeit als Regieassistent erkennt Clair, dass der Film ihm ungeahnte Möglichkeiten zur künstlerischen Gestaltung eröffnet, die noch kein Mensch wirklich ausgenutzt hat. Ohne zu zögern gibt er Schauspielerei, Journalismus und den Traum vom grossen Schriftsteller auf und wendet sich ganz dem Film zu. Er geht in die Lehre bei Jaques de Baroncelli, der technisch hervorragende und künstlerisch miserable Filme herstellt. In ihm hat Clair den Meister gefunden, der ihn mit allen technischen Mitteln und Möglichkeiten des Films vertraut macht und ihm eine solide handwerkliche Ausbildung gibt.
Clairs erster Film, "Paris qui dort", fällt beim Publikum durch, das an massive Komik gewöhnt ist und Clairs zarte Poesie und feinen Humor nicht versteht. Auch die Filmproduzenten stehen den Drehbüchern, die Clair ihnen vorlegt, ablehnend gegenüber. Die Pointen dieser Exposés liegen im Optischen, und die am "Literarischen" orientierten Produzenten können mit diesen betont unliterarischen Filmstoffen nichts anfangen.
Clair schliesst sich einer Gruppe von jungen Künstlern an, zu der Man Ray und Francis Picabia gehören. Sie hatten in Paris die dadaistische Schule begründet und schockierten die Gesellschaft, wo sie nur konnten. Für ein Ballett von Picabia dreht Clair den Film "Entr'acte", in dem ausser Ray und Picabia auch Marcel Achard, Georges Charensol und Jean Cocteau als Schauspieler mitwirken. "Entr'acte" hat keine zusammenhängende Handlung, reiht mit fröhlicher Unbekümmertheit unsinnige Passagen aneinander und verzichtet grosszügig auf jede Logik. Charmanter Quatsch! "Entr'acte" entfesselt einen unglaublichen Skandal, und erst viel später erkennt man, dass dieses Werkchen eine der grössten filmischen Kostbarkeiten der Welt ist. Obwohl sich noch heute einige Analytiker die Köpfe bei der Deutung dieser sonderbaren Assoziationen zerbrechen, ist "Entr'acte" anerkannt als eines der wertvollsten Werke der Filmgeschichte. Der Filmjournalist Denis Marion schreibt 1950: "Fünfundzwanzig Jahre später ist dieser Film nicht im geringsten gealtert und bleibt ein Ausbund von heiterer Unverschämtheit."
Mit dem Märchen "Paris qui dort" und der dadaistischen Pantomime "Entr'acte" trägt Clair seinen Teil zu der filmischen Avantgarde in Frankreich bei. Dann versucht er sich auf dem Gebiet des Dokumentarfilms, wendet sich jedoch bald davon ab, da ihm der nüchterne Stil des streng Dokumentarischen wenig liegt.
Die Krönung von Clairs Stummfilmarbeit ist der 1927 gedrehte Film "Le Chapeau de paille d' Italie", dessen Handlung Clair in das Jahr 1875 verlegt, um einen Vorwand zu haben, den Stil der ersten Filme zu parodieren und sich über Frankreichs "Age d' Or" lustig zu machen. Aber auch wo Clair seiner Ironie freien Lauf lässt, bedenkt er seine Gestalten nie mit Hohn oder Gemeinheit. Sein bezeichnendster Zug ist die Liebe zu den Menschen die er gestaltet, und dem Milieu, das er beschreibt. In "Le Chapeau de paille d' Italie" amüsiert er sich über die kuriosen Eigenarten der Menschen um die Jahrhundertwende und macht sich lustig über die mit verschnörkelten Büffets, falschen Javavasen und kitschigen Eisbärfellen vollgepfropften Salons und ähnliche Dinge. Aber immer ist sein Lächeln gütig und verständnisvoll und seine Ironie ohne Schärfe.
Der Tonfilm bringt den völlig aus dem Optischen schaffenden Clair ausser Fassung. Er will sich endgültig vom Film zurückziehen, da er es für unmöglich hält, das von ihm immer vertretene "cinema pur" mit dem Dialog zu kombinieren. Verzweifelt schreibt er: "Bezüglich der in die Handlung eingewebten Geräusche und Dialoge stossen die Geister zusammen. Vor allem lässt sich über deren Notwendigkeit streiten. Beim ersten Anhören überraschen und amüsieren sie. Mehrmals kann man sie jedoch nicht hören, ohne sie als Störung zu empfinden. Man stellt verwundert fest, wie begrenzt die Welt der Geräusche ist." Nach langem Zögern entschliesst sich Clair, dem ihm unheimlichen Tonfilm zu Leibe zu gehen, und er dreht "Sous les Toits de Paris". Aber auch im Tonfilm legt er den Akzent auf das Bild und fügt den Dialog sehr sparsam als formales Element ein, ohne ihm den Vorrang zu gestatten.
Der Film wird von Publikum und Presse abgelehnt. Obwohl bei den Leuten das Bedürfnis nach dem tönenden Film immer mehr wächst und die jämmerlichsten Filme grossen Zulauf haben, wird "Sous les Toits de Paris" in leeren Sälen gespielt. Clair ist deprimiert und will dem Film den Rücken kehren, um sich schriftstellerisch zu betätigen. Da wird "Sous les Toits de Paris" in Berlin aufgeführt, und es erhebt sich ein Sturm der Begeisterung. Der Film hat einen noch nie dagewesenen Erfolg, der sich in der ganzen Welt fortsetzt. Von Berlin bis New York und Tokio wird der Name René Clair ein Begriff, und das Publikum schreit nach weiteren Filmen dieses genialen Regisseurs. Allmählich erkennt man auch in Frankreich die Qualität dieses Werkes, und Clair bekommt Aufträge von allen Seiten.
Nun ist Clair der bedeutendste Filmschöpfer Frankreichs und die Produzenten beginnen sich um ihn zu reissen, so wie er es als junger Mann von den Buchverlegern erträumt hatte. Dem ersten Tonfilm folgen viele andere, die alle in gleicher Weise von der Persönlichkeit ihres Regisseurs geprägt sind. Auch die Filme, die er in England und Amerika dreht, zeigen seinen Stil, aber sie haben weder dort noch in der Heimat Clairs Erfolg. Keines dieser Werke reicht an die Filme heran, die in Frankreich gedreht sind, in denen Clair mit unendlicher Liebe und Einfühlung ein Bild seiner Heimatstadt gestaltet. Er liebt sein Paris, und dort kommen ihm auch die besten Ideen. Mit seinem charakteristischen Stil, den man "poetischen Realismus" genannt hat, feiert Clair Triumph über Triumph. In jedem Film stellt er uns seine Lieblingstypen vor, Gestalten des Pariser Alltags. Allen Zuschauern sind diese Leute bekannt und vertraut, und jeder ist fest überzeugt, ihnen einmal irgendwo und irgendwann begegnet zu sein. René Clair hat Paris für den Film entdeckt und eine neue Welt geschaffen: die verklärte Welt der engen Vorstadtgassen, der melancholischen Chansons und der einfachen, kleinen Leute. Filmkenner sprechen von "le monde René Clair", und diese Bezeichnung ist zu einem festen Begriff in der Stilkunde des Films geworden. Elisabeth Meyer
Filme von René Clair
Stummfilme:
1923 Paris qui dort (Das schlafende Paris)
1924 Entr'acte (Zwischenakt)
1924 La fantôme du Moulin Rouge (Das Gespenst von Moulin Rouge)
1925 Le voyage imaginaire (Die eingebildete Reise)
1926 La Tour (Der Turm, Dokumentarfilm)
1926 La proie du vent (Die Beute des Windes)
1927 Le chapeau de paille d' Italie (Der italienische Strohhut)
1928 Les deux timides (Die beiden Schüchternen)
Tonfilme:
1929 Sous les toits de Paris (Unter den Dächern von Paris)
1931 Le Million (Die Million)
1931 A nous Ia liberté (Die Freiheit gehört uns)
1932 Le quatorze Juillet (Der vierzehnte Juli)
1934 Le dernier Milliardaire (Der letzte Milliardär)
1935 The ghost goes West (Der Geist reist nach Westen), England
1936 Brake the News (Stoppt die Neuigkeiten), England
1940 The Flame of New Orleans (Die Abenteurerin), USA
1943 I married a Witch (Meine Frau, die Hexe), USA
1944 What happened tomorrow (Was morgen geschah), USA
1944 And then there were none (Das letzte Wochenende), USA
1946 Le silence est d'or (Schweigen ist Gold)
1949 La beauté du diable (Pakt mit dem Teufel)
1952 Les belles de nuit (Die Schönen der Nacht)
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Man vergisst immer wieder, dass Film Bewegung ist, was doch einmal eine Binsenwahrheit war. Die heutige Generation sollte den Film zu seinen Anfängen zurückführen und ihn von allem falschen Beiwerk befreien. Es war irrig, ihn von vornherein als Kunst zu betrachten. Hätte man eine Industrie in ihm gesehen, wäre das der Kunst zuträglich gewesen.
Wenn es eine Filmästhetik gibt, so wurde sie gleichzeitig mit dem Aufnahmegerät entdeckt. Sie umfasst nur ein Wort: Bewegung. Äussere Bewegung der Erscheinungen und innere der Handlung. So entsteht Rhythmus, den alle im Munde führen und der so selten verwirklicht wird. (1924)
In Wahrheit stammen alle klassisch gewordenen Filme von äusserst markanten Persönlichkeiten, und das schöpferische Ingenium der Hollywoodproduktion versiegte in dem Augenblick, als sie anonyme Gemeinschaftsarbeit wurde. (1925)
Am Film wird die Relativität besonders sinnfällig. Die Kinematografie wollte das Leben materialisieren und der Zeit trotzen; die Zeit aber rächt sich, indem sie sie zur flüchtigsten aller Erscheinungen macht. (1925) Einzelteile einer guten Automobilmarke können ohne weiteres in verschiedenen Ländern hergestellt werden. Nicht die eines guten Gedichtes. Der Film ist Wagen und Gedicht; er hat einen Körper und eine Seele. (1927)
Wer behauptet, der Film verdränge das Theater, verkennt die beiden Künste (mangels eines besseren Ausdrucks sage ich Kunst), und wer sie überhaupt im gleichen Atemzuge nennt, versteht von beiden nichts. Was immer die Bühne vom Film entlehnte und umgekehrt, war von Schaden. Der Sprechfilm hat dem aus den ersten Stummfilmjahren datierenden Missverständnis die Krone aufgesetzt.
Im Theater führt das Wort die Handlung, während die Optik sekundäre Bedeutung hat. Im Film kommt das Primat dem Bild zu und der gesprochene beziehungsweise tönende Teil tritt an die zweite Stelle. (1932) Der Film nähert sich dem Theater durch die Struktur, dem Roman durch die innere Form. (1947)
Ich bin nicht zu denen übergeschwenkt, die im Film immer nur ein Instrument zur Verbreitung von Theaterstücken sahen. Nach wie vor halte ich Theater und Film für grundverschiedene Ausdrucksformen, wogegen mir Fernsehen und Lichtspiel einige Affinität zu besitzen scheinen. Alles, was uns das Fernsehgerät bisher gezeigt hat, könnte ebensogut auf der Filmleinwand erscheinen. (1950)
Unsere Urteilsschemata für Kunst und Literatur haben für den Film nun einmal keine Geltung. Daher ist Filmkritik eine so heikle Angelegenheit und gleichzeitig von so eminenter Bedeutung. (1950)
Wenn man mich fragen würde, was ich unter dem heute so oft gebrauchten Ausdruck "Filmsinn" verstehe, würde ich sagen, er sei auf den Film angewandter gesunder Menschenverstand. Filmsinn heisst demnach, sich beim Filmen filmischer Mittel zu bedienen. (1950)
Der Filmapparat ist heute derartig überorganisiert, dass er desorganisiert werden müsste, um besser zu funktionieren. (1950)
Der Film ist heute in der Hauptsache eine Industrie. Das Zustandekommen vom "reinen" Film, vergleichbar mit reiner Musik, ist so sehr von Imponderabilien abhängig, dass man nicht ernsthaft darüber diskutieren kann. Die Beschriftung ausländischer Filme, die den Beschauer zum Lesen zwingen, statt dass er sieht und hört, ist ein Unding, und von der Synchronisation sagt Jean Renoir mit Recht, ihr Erfinder wäre im Mittelalter auf den Scheiterhaufen gekommen. (1950)
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Wir möchten den nachfolgenden Brief, den wir aus Hollywood erhalte haben, unseren Lesern nicht vorenthalten.
Offener Brief an ein liebenswertes Mäuschen
Mein lieber kleiner Jerry! Hollywood, den 15. Oktober 1954
Es ist ja eigentlich nicht ganz recht von mir, in der Anrede nur Deinen Namen allein zu gebrauchen, wo doch sonst die ganze Welt Euch beide im gleichen Atemzug nennt. Aber mir sei es doch einmal gestattet, darin eine Ausnahme zu machen; denn schliesslich gehören wir beide ja zur gleichen Familie, und da dürften Vertraulichkeiten wohl erlaubt sein.
Also, mein lieber Jerry, die Sache fing damit an, dass mein Paps, der Walt Disney, eines Tages zu mir sagte: Mickey Mouse - hat er gesagt, es ist an der Zeit, dass Du unseren Freunden Tom und Jerry zu ihrem letzten Oscar gratulierst; die beiden haben nämlich schon 7 Stück von der Sorte. Setz Dich gleich hin und schreib den beiden einen schönen Brief. - O. K., Daddy, hab ich gesagt, schob mir einen bubble gum in meine linke Backentasche und wollte anfangen. - Lieber Tom und lieber Jerry - wollte ich schreiben, aber es wollte einfach nicht aus meiner Feder fliessen. Alles in mir sträubte sich dagegen, diesen Namen zu Papier zu bringen, denn den ekligen Kater aus Chicago kann ich nun mal auf den Tod nicht ausstehen.
Wie Du es so lange mit diesem Biest aushältst, ist mir unbegreiflich. Genau so unbegreiflich ist es mir, dass das ganze Publikum sich köstlich über alle Quälereien amüsiert, die der böse Tom mit Dir anstellt. Da dreht man Dir Deinen Kopf so lange, bis Dein Hals wie ein Korkenzieher aussieht, oder man staucht Dich zusammen wie einen Harmonikabalg, und alles bricht in schallendes Gelächter aus, wenn man irish stew aus Dir macht. Entweder sind die movie-fans total crazy oder wir sind eben zu tierisch ernst, um diesen nonsense noch spassig zu finden. Wenn ich allerdings ganz ehrlich sein soll, dann muss ich gestehen, dass ich mich auch schon diebisch gefreut habe, aber immer nur dann, wenn der Tom, an der Reihe war. Damned, war das ein joke neulich, als Du mit der grossen Dampfwalze kamst und unser lieber Tom nachher so platt wie ein pancake war.
Unsere Tante Hedda Hopper sagt immer, uns gibt es in Wirklichkeit ja gar nicht und wir seien so etwas ähnliches wie Klapperstorch und Weihnachtsmann. Und dann hat sie noch gesagt, ihr seid nur die Hirngespinste eines spleenigen Herren namens Fred Quimby, der damit das Recht hat, sich als der Vater von Tom und Jerry zu bezeichnen. Aber das ist doch so silly; wie könnt Ihr beide denselben Vater haben, das ist doch direkt shocking - ein Kater und eine Maus - pfui! Das ist genau so dumm, wie wenn die Leute sagen würden - die Mickey Mouse lebt ja gar nicht, das sind nur tote Striche und Zeichnungen auf einem riesenlangen Band. Das sind übrigens dieselben Leute, die auch immer sagen, dass die Sterne am Himmel gar nicht glitzern und funkeln, sondern dass das nur eine optische Täuschung war'. Nun, lassen wir die Leute bei ihrem komischen Glauben!
Es ist noch gar nicht lange her, da war ich mit Mr. Stokowski im Atelier und hab zusammen mit ihm den Zauberlehrling gemacht, einen phantastischen comic strip frei nach Goethe. Wir kamen miteinander ins Gespräch, und da hat er mir erzählt, dass Du es fertiggebracht hast, in einem wunderbaren Film als Tanzpartner von Gene Kelly aufzutreten. Und nun höre ich, Ihr beide sollt zusammen mit Esther Williams sogar in einem Unterwasserfilm mitwirken. Das ist wirklich das Tollste, was unsereinem passieren kann; und da soll noch einer kommen und sagen, wir würden in der Wirklichkeit gar nicht existieren, sondern nur mit Hilfe eines raffinierten Illusionstricks lediglich für einige Minuten zu einem scheinbaren Leben erweckt.
Ihr habt es sicher schwer, einen fun nach dem anderen auszuknobeln. Wenn ich mir überlege, dass die Metro-Goldwyn-Mayer in jeder Story von Euch 25 big laughs verlangt, dann seid Ihr wirklich nicht zu beneiden. Ein guter Bekannter von mir, ein gewisser Charlie Chaplin - wir kennen uns jetzt schon bald 30 Jahre -, hat einmal zu mir gesagt: - Mickey, merk Dir das, es ist viel schwerer, unser Publikum zum Lachen zu bringen als zum Weinen. - Und er muss es ja schliesslich wissen, denn er konnte beides zugleich.
Früher habe ich mich immer gefragt, was denn dieser ganze Blödsinn, den wir da verzapfen, überhaupt für einen Sinn hat. Bis heute habe ich noch keine vernünftige Antwort darauf gefunden. Manchmal hatte ich wirklich keine Lust mehr und wollte ganz einfach aufhören. Aber dann sagte man mir, wir seien alle Stars, Du und der Tom und ich, und schon längst weltberühmt, und da könne von Aufhören überhaupt keine Rede sein. Stell Dir das nur vor, Jerry, Du eine kleine Maus, bist ein weltberühmter Star. Und ein ganz Verrückter sagte sogar, wir seien unsterblich. Aber das glaube ich nun doch nicht; das ist faustdick geflunkert.
Eins aber stimmt wirklich: Wir sind tatsächlich der Sammelwut der Wissenschaftler zum Opfer gefallen. Unsere stories werden alle hübsch aufbewahrt in einer grossen box mit einem Etikett darauf, auf dem steht: "animated Cartoons." Wenn ich bloss wüsste, was das bedeutet. Hoffentlich ist's kein Schimpfwort. Das weiss man bei den Brüdern nie ganz genau. Das Wort "star" zum Beispiel hat auch nicht mehr denselben Klang wie früher. Na, ist ja auch egal. Übrigens, von Tom und Jerrys Streichen hat man schon über 50 Stück gesammelt.
Aber jetzt muss ich schliessen, denn Daddy will mich noch heute mit einer ganz tollen Sache bekanntmachen. Die Leute nennen es CinemaScope. Das soll eine völlig neue Welt sein, doppelt so breit wie die alte. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, hab ich ein bisschen Angst davor. Aber dann denke ich ganz schnell an Dich, mein Jerry, wie Du tapfer alle fights mit dem bösen Kater bestehst, und dann bekomme ich langsam wieder Mut.
Ach ja, das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen. Meine herrlichsten Glückwünsche also zu Eurem 7. "Oscar", den Ihr Euch redlich verdient habt. Hoffentlich macht Ihr noch zu meinen Lebzeiten das Dutzend voll.
Good Bye, mein Kleiner, und denk ein wenig an
Deine Mickey Mouse!
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10. 12. 54 Prof. Dr. Gottfried Hausmann, Mainz: "Der Mensch und die Kulturtechniken"
7. 1. 55 Fritz Kempe, Hamburg: "Gestaltungsmittel des Films"
14. 1. 55 Dr. Hannes Schmidt, Offenbach a. M.: "Das Lebenswerk des René Clair"
21. 1. 55 Pfarrer Werner Hess, Frankfurt a. M.: "Gefährdet der Film unsere Kultur?"
4. 2. 55 Dr. Lotte H. Eisner-Escoffier, Paris: "Der französische Film vor dem zweiten Weltkrieg"
11. 2. 55 N. N. "Film und Soziologie"
25. 2. 55 Detlof Karsten, München: "Film im Leben der Jugend"
11. 3. 55 Podium-Diskussion, Leitung: Detlof Karsten: "Filmkritik und Publikumsgeschmack"
Die Vortragsreihe wird vom Film-Studio und von der Staatlichen Landesbildstelle Hessen veranstaltet.
Die Vorträge finden zu den angegebenen Terminen jeweils freitags, 20 Uhr, im Festsaal des Studentenhauses statt.
Unsere Referenten:
Prof. Dr. Gottfried Hausmann, geboren 1906, ist a.o. Professor für Pädagogik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, Mitglied des Landesschulbeirates für Hessen, seit 1950 Leiter der Abteilung Schulfunk, seit 1953 Leiter der Hauptabteilung Bildung und Erziehung beim Hessischen Rundfunk.
Fritz Kempe ist Direktor der Staatlichen Landesbildstelle Hamburg, ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift "Film, Bild, Ton" mit dem Referat "Spielfilmkritik für die Jugend", Herausgeber des Buches "Der Film in der Jugend- und Erwachsenenbildung" und Leiter der Veranstaltungsreihe "Was man vom Film wissen muss".
Detlof Karsten ist Jugendfilmreferent im Institut für Film und Bild, München, Jugendfilmreferent beim Verband der deutschen Filmclubs. Mitarbeiter beim Fernsehen des NWDR Hamburg.
Pfarrer Werner Hess ist der Filmbeauftragte der evangelischen Kirche in Deutschland, Vorsitzender des Fachausschusses Film in der Kammer für die publizistische Arbeit der EKiD und Mitglied der freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft.
Dr. phil. Hannes Schmidt ist Präsident der Arbeitsgemeinschaft deutscher Filmjournalisten, Mitglied der Filmselbstkontrolle, Mitherausgeber der Zeitschrift "filmforum", Chefredakteur der "Filmwoche", Mitglied der vom Auswärtigen Amt einberufenen Ausschüsse für die deutsche Filmauswahl auf internationalen Festspielen, Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Filmclubs Essen.
Dr. Lotte H. Eisner-Escoffier ist in Berlin geboren und seit 1926 als Journalistin tätig. Seit 1933 lebt Lotte H. Eisner in Paris als Korrespondentin mehrerer bedeutender Fachblätter, seit 1945 als Conservatrice an der Cinémathèque Française. Sie hat ein grundlegendes Werk geschrieben "L' Ecran Démoniaque", Edit. André Bonne, Paris, das demnächst vom Deutschen Institut für Filmkunde, Wiesbaden, in deutscher Übersetzung herausgegeben wird.
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Der Filmkurs wird sich über 2 Semester erstrecken. Durch Vorlesungen und praktische Übungen werden die Teilnehmer in die Probleme des Films eingeführt.
1. Der Film als Gegensatz zu Theater und Bild. Film und Fernsehen.
2. Komposition des Filmbildes.
3. Das Optische als Träger für Drehbuch, Musik und Darstellung.
4. Kameratechnik. Das Objektiv.
Übung: Handhabung der Kamera.
5. Filmmaterial, Belichtung, Beleuchtung.
Übung: Gebrauch von Belichtungsmessern, Kunstlichtexperimente.
6. Bildanalyse und Ergänzungen.
Übung: wie bei 5.
7. Entwurf von Drehbüchern.
Übung: Regieführung.
8. Der Aufnahmestab beim Film.
Übung: Dreharbeiten an einem Kurzfilm.
9. Filmtricks.
Übung: Filmtrickpraxis I.
10. Gesamtkomposition des Films.
Übung: Filmtrickpraxis II.
11. Filmgeschichte.
Übung: Filmschnitt.
Kursleitung: Günter Schölzel.
Zeit: Montags 18 Uhr c. t. Übung: 19 Uhr c. t.
Beginn: 15. November 1954. Ort: Studentenhaus, Zimmer 13 (Erdgeschoss).
Kursgebühr: 3 DM.
Es kann nur ein beschränkter Teilnehmerkreis zugelassen werden.
Vorkenntnisse auf photographischem Gebiet sind erforderlich. Anmeldung
in der Geschäftsstelle.
In einem engeren Kreis werden ausgewählte Filmfragen zum Teil im
Anschluss an vorgeführte Filme systematisch erarbeitet.
Leitung: Ivar Rabeneck.
Zeit: Mittwochs 20.30 Uhr. Beginn: 3. November 1954. Ort:
Studentenhaus, Raum 106.
Beschränkte Teilnehmerzahl. Anmeldung in der Geschäftsstelle.
Im Anschluss an die Vorführung bestimmter Filme wird eine allgemeine
Diskussion durchgeführt, zu der wir nach Möglichkeit Diskussionsleiter
aus Filmkreisen gewinnen werden.
Zeit: Donnerstags 18.15 Uhr nach Ankündigung. Ort: untere Mensa des
Studentenhauses.
Beachten Sie bitte den Veranstaltungsplan.
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Filme in der Kritik
Wir geben hier eine Auswahl ausführlicher Kritiken mit den Produktionsangaben der Filme, die im Wintersemester zur Vorführung gelangen.
Entr'acte
Regie: René Clair (1924)
Drehbuch: Francis Picabia
Kamera:
Jimmy Berliet
Darsteller: Jean Borlin; Georges Charansol; Georges Auric; Marcel
Achard; Eric Satie; Man Ray; Francis Picabia; Marcel Duchamp; Jean
Cocteau; die Tänzerin Friis und das Ballett Suédois unter Rolf Maré
In Entr'acte verbinden sich die teils burlesken, teils zynischen
Elemente des Dadaismus mit komödiantischem Witz, tänzerischer Bewegung
und rhythmischer Montage. Das Ergebnis ist eine teils erheiternde, teils
schockierende, stets jedoch originelle Pantomime, die nirgendwo als auf
dem Zelluloid existieren kann und daher völlig dem avantgardistischen
Ideal des "cinema pur" entspricht: "Mein bist Du, liebe optische
Illusion, und mein diese neugeborene Welt, deren gefällige Erscheinungen
ich nach meiner Laune interpretiere" (René Clair).
Les deux timides (Die beiden Schüchternen)
Regie: René Clair;
Produktion: Albatros-Sequana (1928)
Drehbuch: René Clair nach dem Stück von Eugène Labiche und Marc Michel
Kamera: R. Batton und N. Roudakoff
Bauten: Lazare Meerson
Darsteller: Pierre Batcheff; Jim Gérald; Maurice de Feraudy; Véra
Flory; Yvette Andreyor; Françoise Rosay; Madeleine Guitty; Pré fils;
Stacquet; Paul Ollivier
Nach seinen ersten filmischen Versuchen erprobte René Clair sein Können
an ausgesprochenen Vaudeville-Stoffen. Der erste Film dieser Art war "Le
chapeau de paille d' Italie" (Der italienische Strohhut) nach einer
Komödie von Eugène Labiche. Der Erfolg war so gross, dass man den
gleichen Stoff später als Tonfilm in Deutschland herausbrachte ("Der
Florentiner Hut" mit Heinz Rühmann) und neuerdings in Frankreich mit
Fernandel.
1928 drehte René Clair seine zweite Vaudeville-Komödie, ebenfalls nach
einem Stück von Eugène Labiche: "Les deux timides." Hier wie dort galt
es, das gleiche Problem zu lösen: nämlich ein Theaterstück, das vom
witzigen Dialog lebt, in eine stumme Filmkomödie zu übertragen. Um diese
Dialoge in die Bildersprache des Films zu übersetzen, musste René Clair
völlig neue Situationen erfinden, die es in der Vorlage nicht gab. In
Anlehnung an die zur damaligen Zeit äusserst populären amerikanischen
Filmkomiker inszenierte er "Les deux timides" im Stil einer
amerikanischen Filmgroteske. Auf diese Weise schuf er ein völlig neues
Werk, das mehr ist als lediglich eine reine Verfilmung eines
Theaterstücks, wie sie uns später die Tonfilmepoche zu Hunderten
bescherte.
"Les deux timides" war René Clairs letzter Stummfilm; erst ein Jahr
später begegnen wir ihm wieder bei der Arbeit an seinem ersten Tonfilm
"Sous les toits de Paris". Ivar Rabeneck
Sous les toits de Paris (Unter den Dächern von Paris)
Regie: René Clair
Produktion: Tobis (1929)
Drehbuch: René Clair
Darsteller: Albert Préjean; Pola Illery; Gaston Modot
Vereinzelte Filme, die den Rang eines Kunstwerkes für sich beanspruchen
können, gab es schon in den ersten Tagen der beweglichen Fotografie.
Aber nur in Frankreich wurde ein eigener, unverwechselbarer Filmstil
nicht allein geschaffen, sondern auch gehalten. Der älteste französische
Tonfilm wirkt frisch wie am Tage seiner Premiere, Ende der zwanziger
Jahre.
Meister René Clair wird die junge Generation ebenso bezaubern und
begeistern wie sein altes Publikum, für das die anspruchslos
unsentimentale Apachengeschichte in Bildern ein Wiedersehensfest wurde.
Erst jetzt wird es offenbar, welche Pionierleistung in diesem Streifen
steckt. Was uns Junge von damals verblüffte und bewegte, tritt nun klar
zutage: die Kunstmittel, die eine Tradition begründeten.
Da ist vor allem die Fotografie, diskret und delikat zugleich, das
Spiel des Helldunkel, die schmiegsame Kamera, die über Dächer gleitet
und in Fenster schaut und auf einem koketten Mädchenantlitz ebenso lange
und zärtlich verweilt wie auf den Gegenständen, die unheimlich lebendig
werden. Subjektive Impression verbindet sich mit objektiver Exaktheit,
graziöser Humor und Tragikomik der Situation mit den immer bedrohlichen
Hintergründen des Daseins. Das Soziale wird nicht gepredigt, sondern
ergibt sich nebenbei. Niemals lügt die Kamera, niemals werden die
gesellschaftlichen Kontraste propagandistisch ausgespielt. Sie sind
einfach da, und wir sehen Menschen, keine Typen,
Der Stiefel des feisten Kriminalbeamten tritt wahrend einer Haussuchung
auf den zierlichen Pantoffel des Mädchens, das die Nacht zuvor ihren
Geliebten besucht hat. Welche Ausdruckskraft in einer winzigen Geste!
Keine Szene, die Klischee ist - oder in der späteren Wiederholung
Routine geworden wäre. Der französische Film ist sich selbst treu
geblieben, dort, wo er diese künstlerischen Elemente beibehielt und bis
zur letzten Virtuosität weiterführte.
Bemerkenswert wohltuend bei diesem ersten grossen Tonfilm der Franzosen
ist, dass er seine wesentlichen Wirkungen bewusst aus dem Optischen
gewinnt. Das Wort wird nur sparsam angewandt, nur andeutend, nicht
verdeutlichend. Man verfiel nicht dem später anderwärts so häufigen
Fehler des auf Tonband genommenen Bühnendialogs. Auch die
Geräuschkulisse ist nur in den dramatischen Höhepunkten vernehmbar, dann
jedoch um so eindringlicher. Später oft kopiert und selten erreicht: das
Geräusch des nächtlich vorüberrollenden Eisenbahnzuges der "Banlieu".
Das Hupen der heranrasenden Polizeiautos, die Pfiffe der Polizisten, die
das Messerduell der beiden Rivalen unterbrechen. Rabiate Details des
Kampfes verschwimmen in der Finsternis. (Mr. Rank hätte es sich nicht
nehmen lassen, krasses Grell zu belichten!)
Das Schönste jedoch: die überzeugend echte Atmosphäre. Das gibt es eben
nur in Paris: sensible Unterweltler - und kauzig-charmante Kleinbürger.
Jeder Franzose eine Individualität - selbst im Filmatelier. Albert
Préjean ist und bleibt der unvergessliche Strassensänger dieses
herrlichen - man möchte fast sagen - unvergesslichen Films. Was aber ist
aus der Illery geworden, die das pariserische kleine Mädchen Pola
unnachahmlich spielte? Arnold Bauer, "Neue Zeitung", Berlin
A nous la liberté (Es lebe die Freiheit)
Regie: René Clair
Produktion: Films Sonores Tobis (1932)
Drehbuch: René Clair
Kamera: Georges Périnal
Musik: Georges Auric
Darsteller: Henri Marchand; Raymond Cordy; Rolla France; Paul Ollivier
Zwei Freunde, der kleine Emile und der grosse Louis, sitzen im
Gefängnis. Eines Tages unternehmen sie gemeinsam einen Fluchtversuch,
der jedoch nur teilweise gelingt: während Louis entkommt, wird Emile von
den Wärtern ergriffen. Nach seiner Flucht beginnt Louis unter falschem
Namen ein neues Leben. In wenigen Jahren gelingt ihm der Aufstieg vom
kleinen Strassenmusikanten zum allmächtigen Besitzer einer gewaltigen
Grammophonfabrik, die er nach dem Vorbild der Zwangsarbeit im Gefängnis
aufbaut.
Emile hat inzwischen seine Strafe verbüsst und arbeitet in der Fabrik
Louis'. Als einige ehemalige Mitgefangene eines Tages dem Geheimnis des
Direktors auf die Spur kommen, und ihm die Verhaftung droht, sucht er,
nachdem er die nun vollautomatisierte Fabrik den Arbeitern geschenkt
hat, mit seinem Freund Emile das Weite, um wie früher als Vagabund durch
das Leben zu ziehen.
Der Stil der Handlung entzieht sich einer eindeutigen begrifflichen
Bestimmung, man kann ihn sowohl eine übermütige Parodie, eine
tragikomische Burleske, ein modernes Märchen oder auch ein ironisches
Problemstück nennen.
Das leitende Prinzip der Regie ist die Bewegung - die rhythmische
Bewegung, die tänzerische Bewegung. Dabei hat René Clair es verstanden,
den optischen und den akustischen Rhythmus zu einer vollkommenen Einheit
zu verschmelzen: die Menschen bewegen sich nach der Musik, und selbst
wenn Emile die Gitterstäbe zersägt, geschieht dies im Takte des Liedes:
"A nous la liberté".
Auch das Bild wird fast durchgehend durch die Bewegung beherrscht.
Gelegentlich greift der Regisseur jedoch auf das beinahe unbewegte Bild
zurück und erreicht dadurch eine desto stärkere emotionale oder
rationale Wirkung: dies gilt für die wenigen Landschaftsaufnahmen und
für zahlreiche Grossaufnahmen, in denen sich Clair als ein Meister in der
Regie der kleinen Dinge erweist. Ein Blütenzweig, eine Hand, ein Foto,
eine Blume, eine Brille können sekundenlang gross auf der Leinwand stehen
und dramatische Funktionen oder symbolische Bedeutung gewinnen. Der Film
zeichnet sich durch eine wohltuende Sparsamkeit in der Verwendung
technischer Mittel aus. Im Gegensatz zu der lebhaften Aktion im Bild
beschränkt sieh die Kamera fast immer auf langsame, fast linear
ausgeführte, mit den Augen verfolgbare Bewegungen. Nur wenige Bilder
sind aus der Höhe des Objektes aufgenommen; vorherrschend sind die
Aufnahmen von oben und von unten. Dieser Einsatz der Kamera lässt die
Realität stets in einem ungewohnten Blickwinkel erscheinen und verstärkt
dadurch jene eigentümlich romantische Stimmung, die über der ganzen
Handlung liegt.
Die Beleuchtung sorgt fast immer für eine freundliche,
sommerlich-strahlende Helligkeit - in der Welt der beiden Vagabunden
lacht immer die Sonne - und trägt dadurch entscheidend zu der heiteren,
lebensfreudigen Atmosphäre des Filmes bei.
Der Film lässt durchgehend das Bestreben nach äusserster Sparsamkeit in
der Verwendung des gesprochenen Wortes erkennen. Der Dialog wurde
weitgehend durch scharf präzisierte, "sprechende" Mimik der Darsteller
ersetzt, während die akustischen Ansprüche des Publikums durch ein
illustrierendes, impressionistisches "Tongemälde" erfüllt werden. Die
Musik von Georges Auric verbindet lyrische Ausdruckskraft und
beschwingte Heiterkeit, natürliche Grazie und kultivierten Charme.
Innerhalb des Films erfüllt sie eine dreifache Funktion: sie liefert den
Rhythmus für die tänzerisch-pantomimische Bewegung und für die Montage,
sie fördert und trägt jene beglückend leichte, frühlingshafte Atmosphäre
der Handlung, und sie erfüllt schliesslich durch ihren leitmotivischen
Einsatz wichtige dramaturgische Funktionen. Heinz J. Furian und
Rolf Stein in: "Cineáste"
Le Silence est d' or (Schweigen ist Gold)
1
Regie: René Clair
Produktion: Pathé-RKO (1947)
Drehbuch: René Clair
Darsteller: Maurice Chevalier; Francois Perier; M. Derrien
Dieser erste Film, den René Clair nach seiner Rückkehr aus USA wieder
in Frankreich drehte, stellt gewissermassen eine Liebeserklärung des
grossen Regisseurs an die stumme Epoche des Films dar.
"Schweigen ist Gold", das ist ein unüberhörbares Bekenntnis zu einer
Kunstform, die immer dann am grössten ist, wenn an die Stelle eines viel
zu häufig angewendeten Dialogs das reine optische Spiel tritt. Der Witz
des Films besteht nun darin, dass René Clair diese Zeit des stummen Films
nicht mit einer Aureole umgibt, sondern dass er uns diese Zeit des
seligen Kintopps in seiner ganzen Talmi-Herrlichkeit vor Augen führt. In
diesen primitiven Ateliers, die alles andere als ein Musentempel sind,
muss ja jeder ernsthafte Ansatz, zu einem wirklichen Kunstwerk zu
gelangen, sofort ins Lächerliche umschlagen.
Trotz allem aber erscheint uns diese Atmosphäre des Kintopps, die uns
so sehr an die "Schmiere" erinnert, liebenswürdiger als der gigantische
Betrieb einer modernen Traumfabrik. René Clair beweist uns, dass der Film
in seinen Anfangsjahren wohl ein Handwerk war - und ein höchst
belächelnswertes noch dazu -, dass aber dieses Handwerk, in dem er selbst
ja ein Meister ist, der Technik eines mit der Präzision einer Maschine
arbeitenden modernen Filmateliers haushoch überlegen ist. Die Handlung
des Films ist im Grunde genommen sehr konventionell. Aber das ist auch
unwichtig. Viel wichtiger ist, dass es gelingt, durch die Wahl des Ortes
und der Zeit, in denen sich diese Handlung abspielt, jene Dinge
abzustreifen, die gewöhnlich einem Film anhaften, der in einer
Traumfabrik entstanden ist: nämlich Politur und Konfektion.
Schweigen ist Gold, nicht nur das Schweigen der Stummfilmzeit, sondern
auch das Schweigen und die Stille einer nächtlichen Stadt. Nicht das
lärmende Paris aus "Le quatorze Juillet" ist es, das René Clair besingt,
sondern es sind die Beschaulichkeit des "Paris qui dort" und das beredte
Schweigen aller Liebespaare "Sous les toits de Paris", die den
poetischen Gehalt dieses Films ausmachen, der bei aller Persiflage noch
immer leicht und graziös bleibt. Ivar Rabeneck
La beauté du diable (Der Pakt mit dem Teufel)
Regie: René Clair
Produktion: Universalia-Franco London Film (1949)
Drehbuch und Dialoge: René Clair und Armand Salacrou
Bauten: Léon Barsacg
Kamera: Michel Kelber
Musik: Roman Vlad
Darsteller: Michel Simon; Gérard Philipe; Nicole Besnard; Simone
Valère; Carlo Ninchi; Raymond Cordy; Paola Stoppa; Gaston Modot
Seit über vierhundert Jahren nimmt die Legende vom Leben des Doktor
Faust im abendländischen Kunstschaffen einen bedeutenden Raum ein. In
den verschiedensten Bearbeitungen, als Volksbuch, Puppenspiel, Drama,
Bildwerk, Symphonie, Oper und Roman, erwies sich die Kraft ihrer
zeitlosen Gleichnishaftigkeit. Nach F. W. Murnau war es René Clair, der
sich der filmischen Gestaltung des Stoffes annahm. R.
"Dass ,Faust' von Goethe sei, ist ein Vorurteil. Von Goethe ist nur
einer unter den vielen Fäusten des Abendlandes: der gültigste und grösste
freilich. Doch der Schatten, den er wirft, verbarg immer wieder die
lange Reihe der Vor-, Nach- und Neben-Fäuste, unter denen sich immerhin
gewichtige Exemplare befinden: von Marlowe, von Lessing, von Lenau, von
Grabbe, von Heine, von Wedekind und Valéry, zuletzt von Thomas Mann und,
was den Film betrifft, von Murnau. Nun ist es René Clair, der aufs neue
faustisch filmt; und dass sein Film-Faust, der mit Goethe so gar nichts
zu tun hat, mithin gar kein richtiger Faust sei - wie gesagt, das ist
ein Vorurteil.
Bei Goethe gab es, auf höherer Ebene nach der schuldbeladenen
Erdenfahrt des ersten und der läuternden Seelen- und Himmelsreise des
zweiten Teils, das metaphysische Happy-End: _... den können wir
erlösen.' Auch bei Clair wird Faust erlöst, doch keineswegs auf
metaphysischer Ebene, sondern mit Hilfe der irdischen Liebe, der
allgewaltigen, die da stärker ist als Tod und Teufel und seit je der
Filmweisheit wirksamster Schluss. Faust mit Happy-End: nicht dies wäre
dem französischen Film vorzuwerfen - wohl aber die Tatsache, dass sein
glückliches Ende so ungenügend und unklar motiviert wird. Die Liebe
zwischen diesem Faust und diesem Gretchen wirkt nicht so gewaltig, dass
sie Himmel und Hölle rühren könnte. Ein faustischer Flirt.
Vorher, vor der optisch glanzvollen, doch stofflich verwirrten
Schlusskapriole, ist der ,Pakt mit dem Teufel' ein schöner und starker
Film. Er hat nicht ganz die nuancierte Leichtigkeit früherer
Clair-Filme, aber er ist auch frei von dem schwerfällig-prätentiösen
Tiefsinn und dem theatralisch-romantischen Pathos, in das der Faust-Film
Murnaus manchmal verfiel. Clairs Werk funkelt von Ironie, zeigt manche
Stilbrüche, aber auch mancherlei herrlich gelungene Passagen: die Szenen
von der magischen Goldfabrik etwa oder die Anspielung auf die
Atomspaltung und den technischen Satanismus, der primär (bei Faust)
fortschrittsgläubiger Optimismus ist und dann sogleich (in Mephistos
Händen) zerstörerisch und nihilistisch wird, sind Episoden von
hintergründigem Esprit.
Herrliche Schauspieler _... Michel Simon, der Mephisto: fülliges,
witziges, geniales Komödiantentum. Gérard Philipe, halb Märchenprinz,
halb Bohemien, fast zu jung, zu charmant und gefällig für den
suchend-versuchten Faust, ist am stärksten zu Beginn, nach dem
Körpertausch, als er Simons taumelnden Bewegungsstil nahezu parodistisch
aufnimmt und langsam verwandelt in seine eigene, federnd gespannte
Lebendigkeit.
Von Goethe-Fausts zwei Seelen, ach, von faustischer Gespaltenheit und
deutscher Polarität, ist hier wenig zu finden: dies ist ein
lateinischer, ein sehr französischer Faust, bei dem auch das Düstere
seinen Charm hat und das Zwiespältige seine Balance. Himmel und Hölle
bleiben beiderseits wohltemperiert. Des Stoffes Magie, sein
hierophantisches Bild von Erde, Unter- und Überwelt, entweicht. Es wird
gemütlich. Aber es waren ja auch im Grunde gemütliche Zeiten, in denen
dieser Film spielt - damals, als der Teufel, der die Menschen verwirrt
und verführt, noch deutlich nach Schwefel stank und jeder ihn gleich
erkannte." Gunter Groll in "Magie des Films"
Georges Sadoul schreibt in "L' Ecran Francais":
"Die heiter-groteske Behandlung des Stoffes wäre leichter gewesen als
jene, die daran das Drama des modernen Menschen deuten will. Für René
Clair und seinen Mitarbeiter Armand Salacrou ist Mephisto als Schicksal
nicht unbesiegbar. Faust kann ihn bezwingen und ihn in Feuer und Rauch
aufgehen lassen, in dem er der Resignation ein kraftvolles ,Nein'
entgegensetzt, und vor allem, in dem er die Hilfe des empörten Volkes
erhält. Das aussergewöhnliche Verdienst René Clairs besteht darin, in ,La
beauté du diable' die Grenzlinie gezeigt zu haben, die zwischen
Fortschritt und Wissenschaft besteht."
La vie en rose
Regie: Jean Faurez
Produktion: Raoul Plaquin (1947)
Drehbuch: René Wheeler; Henry Jeanson
Kamera: Louis Page
Musik: Georges van Parys
Darsteller: Louis Salou; François Périer; Colette Richard; Simone Valère
Preis des Festivals von Locarno 1948
für das beste Drehbuch
für den besten Charakterdarsteller (Salou).
Dieser Film ist eine psychologisch äusserst reizvolle Tragikomödie von
typisch französischem Gepränge, die auf dem filmisch sehr dankbaren
Einfall basiert, eine Handlung zweimal von zwei verschiedenen
Gesichtspunkten aus abrollen zu lassen. Ihr "Held" ist der
ausgezeichnete (1948 verstorbene) Schauspieler Louis Salou, der den
Freunden des französischen Filmes hauptsächlich aus den "Kindern des
Olymp" bekannt ist.
Hier ist er ein Ritter von der traurigen Gestalt, Professor in einem
Internat, der zu Beginn der Handlung von seinem Kollegen Périer bei
einem Selbstmordversuch überrascht wird. Aus dem Tagebuch, das Périer in
die Hände fällt, entwickelt sich das Idealbild des Unglücklichen. In
seiner Phantasie sieht er sich als Don Juan, Hahn im Korb bei allen
hübschen Mädchen und verehrt von Schülern und Direktor, dessen schönes
Töchterlein ihm reizende Liebesbriefe schreibt. - Die Wirklichkeit
überrascht uns im zweiten Teil.
"Die nuancierte Darstellung des Professors durch Louis Salou ist eine
komödiantische Meisterleistung. Ohne jede Chargierung gelingt es ihm,
Ideal und Wirklichkeit zu verkörpern. Francois Périers Temperament sind
bei der Charakterisierung des Draufgängers keine Grenzen gesetzt. Ein
von feiner Ironie durchfunkelter Film für Liebhaber französischer
Delikatessen, deren Sinn für subtile Dialoge und originale
Handlungskonstruktionen gross genug ist, um ihre Urteilkskraft nicht von
einem unsympathischen Helden beeinträchtigen zu lassen." W.
Talmon-Gros in: "studio«
Der Regisseur:
Jean Faurez ist ohne jeden Zweifel der junge Regisseur, der die
konstantesten Qualitäten bewiesen hat: von den fünf Filmen, die er seit
1946 drehte, ist "La vie en rose" sicher der fesselndste, weil ihm ein
wirklich originelles Drehbuch von René Wheeler zugrunde liegt. Aber ein
ausgesprochener Sinn für richtige Dosierung der Effekte zeichnete
"Contre-Enquête" und "La Fille aux yeux gris" aus; das Lächeln des
"Vire-Vent" verklärte, wurde beschwert durch ein Drama, an das man nicht
glauben konnte und das das Werk erstickte. Dagegen hatten die "Histoires
extraordinaires" nach Poe, obwohl ungleich in ihrer Interessantheit,
wirkliche Verdienste und suchten in ihren besten Stellen den
dramatischen Ausdruck durch Mittel, die frei waren von der Konvention
der Gattung. Jean-Pierre Barrot, künstlerischer Leiter des
französischen Filmclubverbandes
Sein Engel mit den zwei Pistolen (Paleface)
Regie: Norman Z. McLeod
Produktion: Paramount (1948)
Darsteller: Bob Hope; Jane Russel; R. Armstrong; I. Adrian
Farbe: Technicolor
Während der sich ernsthaft gebende Wildwest-Film noch uneingeschränkte
Geltung besitzt, mehren sich die Filme, die den Wilden Westen als
dankbares Gebiet für Parodien ausbeuten. Hier ist einer der gelungensten
und natürlich-unbekümmertsten dieser Gattung.
Die Geschichte eines Zahnarztes, der seine rauhen Patienten mit Lachgas
behandelt, um deren Schmerzen zu verscheuchen, und seiner wehrhaften
Ehefrau, die sich aus einer Revolverheldin von dunklem Vorleben zur
liebenden Gattin entwickelt, bringt von Hause aus so viel Komik mit, dass
der ganze Film wie Lachgas wirken muss. Und wenn zudem Bob Hope
unverschuldet in den Ruf eines unbesiegbaren Helden gerät und diese
Rolle in geschmeichelter Eitelkeit bereitwillig weiterspielt, kommt zu
der Fülle der übermütigsten Gags sogar so etwas wie eine kleine
Charakterstudie hinzu. Dies alles in kräftige Farben getaucht, ergibt
einen Spielfilm von ausgelassener Heiterkeit. KFD
L' Auberge rouge (Die unheimliche Herberge)
Regie: Claude Autant-Lara
Produktion: Memnon (1953)
Drehbuch: Jean Aurenche; Pierre Bost; Claude Autant-Lara
Kamera: André Bac
Musik: René Cloerec
Darsteller: Fernandel; Françoise Rosay; Carette; Marie-Claire Olivia
L' auberge rouge ist eine Farce. Die Handlung wird eingeleitet durch
eine Moritat, gesungen von Yves Montand:
" _... Chretiens, venez tous écouter une complainte véritable. C' est de
trois misérables inhumains, leurs crimes sont épouvantables, il y a de
cela cent vingt ans ils assassinaient les passants _..."
1833. Eine Herberge auf der Hochebene von Ardèche. Eine Postkutsche
kommt an, bald darauf ein Mönch mit seinem Novizen. Wo aber haben diese
guten Leute ihre Unterkunft gefunden? Der Wirt, seine Frau, ihre Tochter
Mathilde und der dunkle Hausdiener töten gewissenshaft alle Reisenden -
ein lohnendes Geschäft. Die Wirtin hat jedoch "Religion": Bei ihr werden
keine Priester umgebracht. In einer Beichte bekennt sie dem Mönch ihre
Sünden. Als Mitwisser, aber durch das Beichtgeheimnis gebunden, grübelt
der Pater nun die ganze Nacht darüber, wie er seine Mitreisenden retten
könnte.
"Der Film besteht aus sehr komplexen und sogar kontradiktorischen
Elementen, die jedoch zu einer stilistischen Einheit verschmolzen sind.
Folgende Elemente sind zu unterscheiden:
Die Elemente der Farce (das Gebet zwischen Mönch und Novize);
die Elemente der Satire (die Hochzeit);
poetische Elemente (die Liebe zwischen Mathilde und dem Novizen);
grausiger Humor (die Leiche im Schneemann).
Die Farce ist das von Autant-Lara gewählte Gestaltungsmittel, das jenes
doppelte Spiel erlaubt: einmal alle Zuschauer durch mehr oder weniger
leichtfertige Situationen und Scherze zum Lachen zu bringen und zum
anderen, um in possenhafter Weise gewisse Wahrheiten auszusprechen, die
in einem anderen Ton nicht zu ertragen wären.
Für den Regisseur ist "L' auberge rouge" eine sehr eigenwillige Satire.
Nach seiner eigenen Aussage wollte er keinen antichristlichen Film
schaffen; er leugnet jedoch nicht, einen gewissen Antiklerikalismus
bewiesen zu haben. Dieser Antiklerikalismus ist jedoch begleitet von
einer Kritik der Dummheit und bourgoisen Bosheit der Reisenden, einer
Kritik an der Ehe mit der Predigt in der Hochzeitsszene und einer Kritik
an der Armee mit der sehr vielsagenden Grossaufnahme des Affen zwischen
den beiden Gendarmen.
Im Werk des Regisseurs ist eine fortschreitende Entwicklung seit seinem
Film "Douce" ("Irrwege der Herzen", 1943) festzustellen, die zunächst
mit einer Kritik der Gesellschaft - spiessbürgerliche Ehrsamkeit -
beginnt und dann zu einer Kritik an den überlieferten Institutionen
führt. Er brandmarkt jeden Zustand der Altersschwäche, dem selbst die
edelsten Werte durch die bürgerliche Konvention verfallen sind. Das
pharisäische Spiessertum in allen seinen Formen ist der Feind, den
Autant-Lara aufspürt und von Film zu Film verfolgt. Nach seinem "Douce"
schuf er: "Le diable au Corps" ("Teufel im Leib", 1946), "Occupe-toi d'
Amélie" (1949), "Le bon dieu sans confession" (1952), "Le blé en herbe"
("Erwachende Herzen", 1954)." Paule Sengissen in "Tele-Cine",
Paris
Julius Caesar
Regie: David Bradley
Produktion: Avon Production (1952)
Buch: Das Bühnenwerk von William Shakespeare
Musik: John Becker
Darsteller: Harold Tasker (Cäsar); Robert Holt (Octavius); Charlton
Heston (Marcus Antonius); David Bradley (Brutus); Grosvenor Glenn
(Cassius); Helen Ross (Calpurnia); Mary Darr (Portia)
Uraufführung: 24. November 1952 im Bareonet Theater, New York.
Dieser Film ist in mancher Hinsicht aussergewöhnlich für amerikanische
Verhältnisse. Es handelt sich um den ersten Film eines begabten jungen
Regisseurs, der sein eigener Produzent war und einen abendfüllenden
Spielfilm drehte, der ihm gleich einen Regieauftrag der
Metro-Goldwyn-Mayer eintrug. Der Film ist in 16 mm und mit einem Minimum
an materiellem Aufwand gedreht. Er kostete den für amerikanische
Verhältnisse lächerlich geringen Betrag von weniger als 15 000 Dollar
und beanspruchte selbst für die grössten Massenszenen nie mehr als
siebzig Darsteller. Bei den Schauspielern handelte es sich beinahe
ausschliesslich um Studenten der Northwestern University, die sich mit
jugendlicher Begeisterung und restloser Hingabe für ihre Sache
einsetzten.
Was macht dieses Erstlingswerk zu einem derart ungewöhnlichen Film, dass
er in der New-Yorker Presse lebhaft diskutiert wurde? Es ist die
Kompromisslosigkeit, mit der sein Hersteller die dichterische Vorlage in
eine filmische Sprache, in die "language cinematographique" zu
übersetzen versuchte, ohne dem Original untreu zu werden. Es handelt
sich tatsächlich um einen in seltenem Masse "filmischen" Film, der einen
Gehalt durch Mittel zum Ausdruck bringt, die nur der Kamera eigen sind.
Eines dieser Mittel ist die indirekte Aussage. Was der Dichter
ausspricht, wird in ein Bild übertragen, dessen Symbolgehalt das durch
die Sprache Ausgesagte schaubar macht. Bradley konzentrierte
ausführliche Beschreibungen Shakespeares in ein einziges Bild, fasste
ganze Szenen zusammen in eine knappe Folge von Bildern. Die wortreiche
Vision von Caesars Gemahlin Calpurnia, die den bevorstehenden Tod des
Kaisers ahnt, wird beispielsweise stichbildartig so gestaltet: Ein in
Nahaufnahme gezeigtes regennasses Strassenpflaster leuchtet auf im Schein
eines Blitzstrahls. Unmittelbar darauf erblicken wir eine marmorne Büste
Caesars, von deren Stirne Blut rieselt, und in sofortigem Wechsel sehen
wir wieder das Pflaster, zwischen dessen Ritzen ein Bächlein
verwässerten Blutes versickert. Diese Konzentrierung im Bildsymbol setzt
sich durch den ganzen Film fort: Eine Säulenfolge des "Soldier's Field"
in Chikago (wo der Film gedreht wurde), steht stellvertretend für das
Kolosseum, der Aufgang zum "Rosenwald Museum" wurde zum Forum Romanum.
Flackernde Fackeln und Feuerbrand symbolisieren den Aufstand,
zusammenprallende Schilder deuten zwei zusammenstossende Schlachtlinien
an, statt eines Heerlagers sehen wir nur einen Ausschnitt aus dem
Feldherrnzelt.
Bradley erweist sich als ein Meister der Andeutung. Es gelingt ihm,
durch die Mimik der Dinge Handlungsvorgänge spürbar zu machen. Im
Wechsel von Grossaufnahme und Totale und in der fortgesetzten
Verschiebung der Perspektiven, vor allem der Vogel- und
Froschperspektiven, ist er ein Schüler Eisensteins. Ein besonderes
Merkmal von Bradleys Stil ist die Verwendung der Nahaufnahme von
Gesichtern vor einem völlig dunklen Hintergrund; er erreicht dadurch
neue Möglichkeiten der Charakterzeichnung und verzichtet gleichzeitig
auf allen unnötigen Ballast von Kostümen und Requisiten. Der szenische
Aufwand ist auf ein Minimum beschränkt, aber durch die kunstvoll
durchdachte Anwendung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel gelingt es
Bradley, ein Höchstmass an Wirkung hervorzurufen. Mit seinen nur siebzig
Statisten vermag er packendere Massenszenen zu gestalten, als es die
Millionenfilme aus Hollywood fertigbrachten. Sein Film ist völlig auf
das Bild gestellt und arbeitet mit minutiösen Lichteffekten, der Ton
wird äusserst sparsam und nur dort verwendet, wo er unbedingt nötig ist.
Dagegen wird die Sprache Shakespeares beibehalten; hier zeigt sich der
Einfluss Laurence Oliviers (dessen stummen inneren Monolog Bradley
übernommen hat). In der Handhabung der Sprache macht sich übrigens das
Laientum der Schauspieler negativ bemerkbar, manches bleibt noch zu
deklamatorisch. Glänzend wird dagegen die Landschaft als weiteres
tragendes Element in das Geschehnis einbezogen. Bradley lässt
beispielsweise die Schlacht von Philippi in einer Dünenlandschaft
spielen (gedreht in den Sanddünen von Chikago), in deren trostlosen
Einöde sich verkrüppelte Sträucher und Bäume wie Wesen aus einer
vorsintflutlichen Welt ausnehmen. (Hier fühlen wir uns manchmal an Orson
Welles' "Macbeth" erinnert.) Aber trotz verschiedener Reminiszenzen an
frühere Shakespeare-Filme stellt dieses Werk eine geschlossene eigene
Leistung dar. David Bradley gab mit seinem "Julius Caesar" nicht nur
eine neue Möglichkeit einer filmischen Interpretierung Shakespeares -
sein Film zeigt, dass wichtiger als grosse finanzielle Mittel das
Vorhandensein von Initiative, Phantasie und Formwille ist. "Neue
Zürcher Zeitung"
Boulevard der Dämmerung (Sunset Boulevard)
Regie: Billy Wilder
Produktion: Paramount (1950)
Drehbuch: Charles Brackett; Billy Wilder; D. M. Marshman jr.
Kamera: John F. Seitz
Musik: Franz Waxmann
Darsteller: Gloria Swanson; William Holden; Erich von Stroheim; Nancy
Olson; Cecile B. DeMille; Hedda Hopper; Buster Keaton; H. B. Warner
In der Villa der einst gefeierten Schauspielerin Norma Desmond (Los
Angeles, Sunset Boulevard, Grundstücksnummer 10 086) surren die Kameras
der Wochenschau, blitzen die Apparate der Photoreporter, gaffen die
Neugierigen und Sensationslüsternen. Der ehemals berühmte Stummfilmstar
schreitet in königlicher Pose die breite Treppe hinab, kostümiert und
geschminkt wie in einem Filmatelier. Angestrahlt von den Scheinwerfern
und von den Herumstehenden bewundert, geniesst Norma Desmond in vollen
Zügen ihre grosse Szene, in der der alte Glanz des einstigen Hollywood
noch ein letztes Mal für sie aufleuchtet. In Wirklichkeit jedoch weiss
jeder, dass diese Frau wahnsinnig ist, dass vor dem Hause die
Mordkommission wartet, um Norma Desmond wegen des Mordes an ihrem
Geliebten zu verhaften und dass ihr Selbstbewusstsein, wieder Mittelpunkt
eines neuen Filmes zu sein, nur ein eingebildetes ist.
Erich v. Stroheim und William Holden in dem Paramountfilm "Sunset
Boulevard". Mit diesem grauenhaften Schlussbild beendet Billy Wilder
seinen Film "Sunset Boulevard", der eine der erbarmungslosesten
Demaskierungen des menschenmörderischen Hollywooder Filmbetriebes
darstellt. Der altgewordene Star aus der Stummfilmzeit wird nicht mehr
benötigt und daher achtlos beiseite geschoben. Kein Mensch kümmert sich
um das weitere Schicksal dieser Frau, deren einziger Lebensinhalt der
Film war und immer bleiben wird. Ihr Leben ist sinnlos geworden, wenn
sie ihre künstlerische Tätigkeit nicht mehr ausüben darf, und so
flüchtet sie sich in eine Welt der Illusionen und des Wahns.
Billy Wilder unternimmt es nun, diese Welt in einem Film zu schildern.
Eine höchst makabre Welt, in der nur noch der Selbstbetrug und die
hemmungslose Gier nach Ruhm herrschen. Er versucht zu zeigen, wie der
alternde Star sich an jede, auch die kleinste Hoffnung klammert, die das
begehrte "come back" zu bringen verspricht.
Die Handlung beginnt damit, dass in diese Welt ein abgerissener
unbekannter Drehbuchautor eintritt. Norma Desmond, die auf diesen jungen
Autoren alle Hoffnung auf neuen Ruhm setzt, zwingt ihn, ein Drehbuch zu
schreiben, das ihr endlich die ersehnte Filmrolle bescheren soll. An
diesen Faden hängt Billy Wilder alle Szenen auf, die nacheinander sowohl
die guten, als auch die schlechten Seiten eines in jeder Beziehung
besessenen Menschen enthüllen sollen.
Mit dieser Enthüllung wird aber auch gleichzeitig der ins Virtuose
gesteigerte, aber seelenlose Hollywood-Betrieb blossgelegt. Da wird eine
Frau gezeigt, die in ihrer Liebe wie in ihrem Hass kein Mass und keine
Grenzen kennt. Da wird ihre grossartige Schauspielkunst (eine brillante
Chaplin-Parodie) genau so minutiös geschildert wie ihre perverse Neigung
zu einem Gorilla.
Aber diese Enthüllungen dienen nur der gesellschaftskritischen Absicht
Billy Wilders, wie wir sie aus seinen anderen Filmen ("Das verlorene
Wochenende", "Reporter des Satans") bereits kennen. Das Schicksal der
Schauspielerin Norma Desmond wird zum Gleichnis für jenes
hypertrophierte Hollywood, in dem Genialität und Irrsinn so dicht
beieinander liegen.
In dieser gesellschaftskritischen Absicht wird der Drehbuchautor und
Regisseur Billy Wilder vom ausgezeichneten Spiel seiner Darsteller
unterstützt. Dem enthüllenden Charakter des Films entsprechend arbeitet
auch die Kamera. Sie schleicht im wahrsten Sinne des Wortes (symbolhaft
für die sich durch den ganzen Film hinziehende schleichende Paralyse)
und entlarvt durch langsames Schwenken oder durch die Grossaufnahme den
Zauber und den Nimbus eines krankhaften Starkultes. Nicht zu vergessen
die Bauten und die Ausstattung, die die Welt einer Wahnsinnigen ins
Sichtbare zu transponieren haben.
Alles in allem ein Film von schonungslosem Realismus und grotesker
Morbidität, der es dennoch fertigbringt, die unglaublichsten Dinge durch
seine grossartige künstlerische Gestaltung überzeugend darzustellen.
Ivar Rabeneck
Rotation
Regie: Wolfgang Staudte
Produktion: DEFA (1949)
Kamera: K.H. Deickert
Darsteller: P. Esser; I. Korb; B. Krause
Der Film schildert den Schicksalsweg eines unpolitischen Arbeiters, der
nach der Arbeitslosigkeit von 1929 Drucker beim Völkischen Beobachter
wird, später aber wegen Beteiligung an einer Untergrundbewegung ins KZ
kommt. Die Handlung schliesst nach dem Kriege ab. Der Film will mit dem
Nationalsozialismus abrechnen und legt dar, dass auch der politisch
uninteressierte Mensch nicht an den Ereignissen seiner Umwelt
vorübergehen kann, ohne sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Einzelne tendenziöse Allgemein platze mindern nicht den Wert dieses
künstlerisch faszinierenden Filmes von überdurchschnittlichem Niveau.
Der Regisseur Wolfgang Staudte hat durch die eigenwillige, künstlerische
Gestaltung seiner Nachkriegsfilme besonders im Ausland Anerkennung
gefunden. R.
Seine bisherigen Filme sind:
"Ich hob' von Dir geträumt" (1943); "Die Mörder sind unter uns" (1946);
"Die seltsamen Abenteuer des Fridolin B." (1948); "Rotation" (1949);
"Schicksal aus zweiter Hand" (1949); "Der Untertan" (1951); "Der kleine
Muck" (1953); "Strandgut" (1954).
Mutter Krausens Fahrt ins Glück
Regie: Phil Jutzi
Drehbuch: Nach Erzählungen von Heinrich Zille, für den Film bearbeitet
von Dr. Dröll und J. Fethke in Gemeinschaft mit dem Prometheus-Kollektiv
Kamera: Phil Jutzi
Darsteller: Alexandra Schmidt; Holmes Zimmermann; Ilse Trautschold;
Ernst Bienert
Zwei Handlungen mischen sich hier: Die eine, in unerhört echtem
Naturalismus gesehene Geschichte der Mutter Krause, die mit ihren zwei
erwachsenen Kindern Erna und Paul in einer Wohnküche im Berliner Wedding
wohnt und von den Nöten des Alltags und den Sorgen um ihre Kinder
überhäuft wird. Und die andere, optimistischere Geschichte, in deren
Mittelpunkt Erna und der junge, klassenbewusste Arbeiter Max stehen. Max
war mit Erna befreundet, bis er von ihrem Verhältnis mit dem Untermieter
bei Krausens erfährt. Er zieht sich zurück, lässt sich aber von einem
Kollegen überzeugen, dass sein Verhalten spiessig und kleinbürgerlich sei
und kehrt nun zu Erna zurück.
"Der Film, in dem sich Tendenzen des literarischen Naturalismus der
Vorkriegszeit mit klassenkämpferischen Ideen mischen, steht eher in der
Tradition des russischen als in der des deutschen Films; besonders das
Beispiel Pudowkins wird in mehr als in einer Einstellung deutlich. Doch
verzichtet Jutzi fast völlig darauf, Ideen durch optische Assoziationen
- Montagen oder Überblendungen - sichtbar zu machen, sondern er lässt die
Wirklichkeit direkt (ohne Übersetzung) den Zuschauer ,anspringen'. Man
spürt den heissen Atem der Wirklichkeit - der Armut, des Elends, der
Verzweiflung, aber auch der Liebe, der Lebensfreude, des sozialen
Optimismus - wie erst viel später wieder bei Rossellini."
"Die Problematik des Geschehens kann heute nicht mehr aktuell
erscheinen, den sozialen Lösungen wird man mit Skepsis begegnen - und
dennoch sieht man den Film nicht wie ein historisches Dokument, sondern
erlebt ihn frisch und unmittelbar. Das ist das Verdienst der Gestaltung.
Der Film beginnt zunächst mit einigen photographischen Formspielereien
im Stil von Ruttmanns ,Berlin-Symphonie einer Grossstadt', dann aber
werden die Bewegungen der Kamera sachlich und berichtend und bleiben
immer auf das Objekt bezogen. Es scheint ihr einziges Bestreben zu sein,
sich selbst zu verleugnen, um dem Zuschauer die völlige
Wirklichkeitsillusion zu vermitteln."
"Neben der Kamera, die auch in den Spielszenen ihren lapidaren
Reportagestil beibehält, tragen dazu besonders die Auswahl der
Darsteller, deren Gesichter nie schön, aber immer charakteristisch sind,
und ihr frisches und ungekünsteltes Spiel bei, das nur dort forciert
wird, wo Gestik und Mimik die Wortaussage ersetzen müssen. Auch Dekor
und Kostüm sind nicht künstlerisch arrangiert, sondern tragen den
Stempel dokumentarischer Echtheit." filmforum
Metropolis
Regie: Fritz Lang
Produktion: Ufa (1926)
Drehbuch: Thea von Harbou nach dem Roman von Thea von Harbou
Kamera: Karl Freund; Günther Rittau
Musik: G. Huppertz
Darsteller: Heinrich George; Brigitte Helm; Gustav Fröhlich; Rudolf
Klein-Rogge; Theodor Loos; Fritz Rasp; Alfred Abel
Dieser Grossfilm (Ausstattungsfilm mit einem Marktwert von 5 bis 6
Millionen Goldmark), eine filmische Utopie von beklemmender Wirkung,
modernisiert das biblische Gleichnis vom Turmbau zu Babel und schafft
eine imaginäre Welt gigantischer Maschinen. Die Erschaffung des
künstlichen Menschen, die vernichtende Überschwemmung einer
unterirdischen Stadt und der Aufstand der Arbeitermassen sind
dramatische Höhepunkte dieses Filmes, dessen Regisseur auch hier, wie in
den "Nibelungen", einen spezifisch architektonisch-malerischen Stil
angewendet hat.
" _... diese Art expressionistischer Inszenierung eignete sich besonders
für die Masse der Sklaven in "Metropolis", für jene unpersönlichen
Gestalten mit hängenden Schultern in zeitlosem Gewand, die gewohnt sind,
ihren Kopf zu beugen und sich in ihr Geschick zu ergeben. Lang hatte
vielleicht eine Vorahnung der Zukunft, als er diese Masse ihre monotone
und gleichmässige Bewegung gab, diesen Trauermarsch, der gleichsam den
Gang zum Schlachthaus zu begleiten scheint. Diese düsteren Bewohner
einer unterirdischen Welt sind noch mehr Automaten, als der Robot der
falschen Maria; sie sind dem Rhythmus komplizierter Maschinen angepasst,
und ihre Arme werden zu Speichen eines riesigen Rades. Der Körper, mit
anderen Gestalten zum Dreieck oder zum Halbkreis erstarrt, -wird in
steigendem Masse zu einem Teil der Architektur selbst _... Durch die
geometrische Stilisierung, 'diese letzte Spur der expressionistischen
Ästhetik, hat Lang sich jedoch niemals in eine mechanische Routine
zwingen lassen. Die Masse bleibt auch in der architektonischen
Gruppierung voll Leben und wird zu integrierenden Elementen der Handlung
_..." Lotte H. Eisner-Escoffier in: La Revue du Cinema, Paris 1947
Der Regisseur des Films, Fritz Lang, ist einer der bedeutensten
deutschen Stummfilmregisseure. In Deutschland schuf er bis 1933 folgende
Filme: "Halbblut", "Der Herr der Liebe", "Die Spinnen", "Harakiri"
(1919); "Das wandernde Bild" (1920); "Vier um die Frau" (1921); "Der
müde Tod", "Dr. Mabuse, der Spieler" (1922); "Die Nibelungen" (1923/24);
"Metropolis" (1926); "Spione" (1927); "Frau im Mond" (1928); "M" (1932);
"Das Testament des Dr. Mabuse" (1933).
Nach dem Film "Liliom" nach Franz Molnar, den er 1933 in Frankreich
drehte, ging Lang nach Amerika, wo er bis heute eine grosse Anzahl Filme
drehte, die jedoch nicht über den Durchschnitt hinausragen. R.
Die steinerne Blume
Regie: A. Ptuschko
Produktion: Mosfilm (1946)
Drehbuch: P. Bashow und I. Keller
Kamera: F. Proworow
Bauten: H. Uger
Musik: L. Schwarz
Darsteller: Tamara Makarowa; W. Drushnikow; E. Derewschtschikowa;
A. Kelberer
1. Preis für den besten Farbfilm der Internationalen Filmfestspiele in
Cannes 1947.
Der Film stellt in einer Rahmenhandlung das russische Volksmärchen von
der steinernen Blume dar, die im Reiche der sagenhaften Herrscherin über
den Kupferberg blühen soll. Wer diese Blume erblickt, dem offenbart sich
das verborgenste Geheimnis der Kunst, doch darf er niemals zu den
Menschen zurückkehren, sondern muss für immer als Meister bei der Königin
des Berges bleiben.
Dem jugendlichen Helden des Films, Danilo, geht der Wunsch nach der
steinernen Blume in Erfüllung. Die Macht der Liebe und die Treue zu
seiner Braut schenken ihm aber noch einen zweiten Sieg: Die Besitzerin
des Kupferberges gibt ihm die Freiheit wieder, und er kehrt zu den
Menschen zurück.
Revolutionär ist in diesem Film die Farbe angewendet- worden. Wie oft
hat uns in Farbfilmen aus der realen Welt die unnatürliche Buntheit der
Farbe gestört, an der der Entwicklungszustand der Farbfilmtechnik die
Schuld trägt. Der Regisseur des Films, A. Ptuschko, hat bewusst auf eine
farbige "Nachahmung" der Natur verzichtet. Vielmehr benutzt er die Farbe
als Mittel freier künstlerischer Gestaltung. Aus dem
nichtnaturalistischen Charakter der Farben zaubert er eine Überhöhung
der Wirklichkeit hervor, in der das Wunderbare zu gedeihen vermag. In
einem schwierigen Aufnahmeverfahren hat Ptuschko seine langjährigen
Erfahrungen und seinen Erfindergeist auf diesem Gebiet der kombinierten
Trickfilmaufnahmetechnik verwertet. Manche Szenen erforderten z. B.
zwölf und mehr Aufnahmen für einen Bildstreifen. Zeichnung, Modell,
Natur, Dekorationen und Schauspieler mussten zusammenkopiert werden. Aber
die sorgfältige und präzise Arbeitsweise macht dieses äusserst
komplizierte Verfahren für den Betrachter völlig unsichtbar. Ihm ist der
Film allein hoher künstlerischer und ethischer Gewinn. R.
Nach der Premiere 1948 schrieb ein Berliner Filmkritiker:
"Kaukasische Märchenstoffe wurden (mit einer leicht angedeuteten
sozialistischen Tendenz) so herrlich komponiert, wie dergleichen bisher
nur in einigen Szenen von Ranks "Roten Schuhen" zu sehen war. Es war ein
einziges Lied auf die Schönheit der Natur. Bunte Knospen entfalteten
sich, Eidechsen und Salamander liessen auf ihren bunten Leibern die
Sonnenstrahlen spielen. In Felsen und Höhlen, von Feenhand geöffnet,
funkelten Edelsteine, Kristalle, brachen gespensterhaft weisses Licht in
die Farbvarianten des Regenbogens. Hier war der Film zu dem, was wir
immer von ihm fordern, geworden: Lichtspiel -, und was es noch nicht
gab: harmonisches Farbenspiel. Mit Ausnahme einer Szene, einem allzu
bäuerlichen Hochzeitsball, erschien die Farbe als
Selbstverständlichkeit; die Farbfilmkinderkrankheit (der rostroten Töne)
war überwunden."
Paris plein ciel (Über den Dächern von Paris)
Regie: J.-P. Alphen
Produktion: Films Alphen
Musik: J. Wiener
Kommentar: C.-J. Odie
Eine wahre Symphonie von Dachluken und Rundfenstern, Dächern aus Zink
oder Schiefer, aus Holz oder Ziegeln entrückt uns in eine poesievolle,
die ungewöhnliche Welt. Wir sehen die Terrassen luxuriöser Villenviertel
und winziger Fensterbänke, auf denen der kleine Mann ein paar Töpfchen
mit Blumen liebevoll pflegt; die schiefgesackte Mütze der
jahrhundertealten Häuser; wir sehen den edlen Dom, die gläsernen Dächer
der Künstlerateliers, die baufällige Mansarde der armen Teufel, die
mannigfaltige, polyphonale Poesie einer Stadt, die ihresgleichen auf der
Welt nicht hat: Paris.
Eine bald zarte, bald prickelnde Musik von Jean Wiener untermalt
ausgezeichnet diesen sehr aparten, sehr gelungenen Streifen.
Rêverie de Claude Debussy (Träumerei von Debussy)
En bateau (im Boot)
Regie: Jean Mitry
Produktion: Argos Films (1951)
Durch die Filme wird versucht, plastische und rhythmische Naturvorgänge
kontrapunktisch Musikstücken von Claude Debussy zuzuordnen:
"Mouvements", "Cloches à travers les Feuilles", Rêverie" und "Clair de
Lune"; im zweiten Film "En bateau".
Jean Mitry, der mit seinem Schaffen an die avantgardistische Tradition
anknüpft, geht von konkreten Bildeindrücken aus - Bäume, Blätter, Flüsse
- und versucht dann mit abstrakten Gebilden wie Schatten, Wellenschlag,
Lichtreflexen, eine neue Formung von Licht, Linie und plastischer
Gestalt zu geben, die der Musik Debussys entspricht. R.
Auf offener Bühne
Das Gesicht einer Residenz
Regie und Produktion: Bernhard Dörries und Stefan Meuschel
(München 1953/54)
Kamera: Stefan Meuchel
Musik: Hanno König
Zwei filmbesessene Studenten drehten in den Ruinen der Münchener
Residenz und des Hoftheaters im Frühjahr 1953 zwei Filme mit dem Ziel,
das tote Gestein zu beleben, es also so darzustellen, als spiele es
selbst. In dem zweiten Film gerät ein kleines Kind beim Spielen in die
Ruinen, verirrt sich und wird von einem Gewitter überrascht. Dörries und
Meuschel versuchen, die Erlebnisse des Kindes zu gestalten und sichtbar
werden zu lassen.
Trotz zahlreicher Schwierigkeiten und chronischen Geldmangels sowie der
technischen Unzulänglichkeiten stellten die Studenten diese Filme
fertig. Vom Drehbuch bis zum Schnitt machten sie alles in eigener Regie.
Für die extrem modernen musikalischen Kompositionen zeichnet Hanno König
verantwortlich.
Vor den Stufen
Bild: Frans Haacken
Wort: Franc Rovelle
Musik: Boris Blacher
Nach dem Vorbild des französischen Films "Guernica" wurde vor einiger
Zeit in Berlin der Versuch gemacht, bildende Kunst, Musik und Dichtung
durch das Medium des Films zu einer Einheit zu verschmelzen. Als Vorlage
diente ein Holzschnitt von Frans Haacken, der das Grauen und die Gnade
zugleich darstellen will, die uns auf dem Wege zwischen Tod und Jüngstem
Gericht erwarten. Holzschnittartig sind auch die Verse von Franc
Rovelle, die sich - übrigens ausgezeichnet gesprochen - eng an das Bild
anlehnen und sehr einprägsam sind. Dadurch wird eine starke
Intensivierung des bildmässigen Erlebens erreicht, zu dem nun noch als
drittes Element die Musik von Boris Blacher tritt. Der Kamera und dem
Schnitt gelingt es, diese drei Elemente zu einer Einheit zu
verschmelzen, so dass man mit Recht sagen kann, dass dieser in Deutschland
erstmalig unternommene Versuch geglückt ist. Drei Künstler schaffen im
Zusammenwirken - jeder mit seinen eigenen Mitteln - ein völlig neues
Kunstwerk, das mehr ist als die Summe von Vers, Bild, Film und Musik.
Vente en encheres (Die Versteigerung)
Regie: Jean Mouselle
Produktion: Cady-Films (1947)
Der Film erhielt den Grossen Internationalen Kulturfilmpreis der Biennale
in Venedig 1948.
An einem Sonntagnachmittag wird das Vermögen der verstorbenen Elise
Grandet in einem kleinen Provinzstädtchen versteigert. Durch die
empfindsam geführte Kamera wird eine Atmosphäre verträumter Erinnerungen
eingefangen - Jugendzeit, erste Liebe, Verzicht eines jungen Mädchens -
die von einem Balzacschen Hauch des französischen provinzlerischen
Lebensstils beseelt ist.
Sehr gut ist der Aufbau des Films: Sechs mit dem Staub alter
Erinnerungen bedeckte Gegenstände - Wiege, Spieluhr, Fahrrad, Klavier,
Kleidergruppe, Standuhr - führen in sich abgeschlossenen Vorgängen das
Leben der Verstorbenen nochmals vor Augen. R.
Pantha rhei
Regie: Bert Haanstra
Musik: Max Vredenburg
Der Film ist ein perfektes Beispiel des reinen Feuilletons, fast eine
kleine Filmdichtung. Wie schon der "Spiegel von Holland", vom gleichen
Regisseur, zeichnet sich dieser Film durch die hervorragende
Bildkomposition aus. Wolken und Wellen, Regentropfen, Eiskristalle,
Gräser, Weiden, Blätter fliessen, schweben, rinnen über die Leinwand,
formieren sich zu phantastischen Gebilden und lösen sich wieder auf,
gehen ineinander über und stossen sich ab, eine meisterlich erdachte
Komposition. R.
Der Griff nach dem Atom
Regie: Erich Menzel (1949)
Produktion: Institut für wissenschaftliche Filme, Erlangen
Angst, Grauen und gelegentlich sogar Panik ruft heute der Gedanke an
die Atombombe hervor. Diese Wirkungen können vermindert und die
Lebenssicherheit der Menschen kann gestärkt werden, wenn die
Zusammensetzung, die Entstehung und die Wirkungsweise der Atomkräfte von
jedem einzelnen verstanden werden. Dieser Film soll ein Beitrag dazu
sein. B.
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