Vorwort | Filmdaten bis 1920 | Filmdaten ab 1920 | Filmdaten noch nicht hier | Nicht-Filmdaten |
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Filmstudio Heft 13, März-April 1955
Inhalt
Der Reisser
Vom Machwerk zum Kunstwerk
Der Trickfilm
Filmkurs mit Übungen
Senza Pietà (Ohne Gnade)
The Lives of a Bengal Lancer (Bengali)
Epilog
An Outcast of the Islands (Der Verdammte der Inseln)
O Cangaceiro
Panic in the Streets (Unter Geheimbefehl)
La Salaire de la Peur (Lohn der Angst)
Sorry, Wrong Number (Du lebst noch 105 Minuten)
Duell mit dem Tod
The Yellow Balloon (Der gelbe Ballon)
Rashomon
Affaire Blum
Die Mörder sind unter uns
Vergeblich wird man in Wörterbüchern und Nachschlagewerken das Wort "Reisser" suchen; auch das Schweizer Film-Lexikon schweigt sich darüber aus. Dennoch gebrauchen wir immer wieder diesen Ausdruck, um Filme zu bezeichnen, die ein Maximum an Spannung enthalten, mit Überraschungen sensationeller Art vollgespickt sind und ständig an unseren Nerven "reissen". Meist erfährt das Wort Reisser eine abwertende Bedeutung, und gewöhnlich ist der Stab eines strengen Kunstkritikers über einen derart bezeichneten Film schon gebrochen.
Lange Zeit hindurch hielten Intellektuelle den Besuch eines Kinos, in dem ein Reisser gespielt wurde, für unvereinbar mit der eigenen gesellschaftlichen Stellung und mehr noch mit ihrer Bildung. In gewissem Sinne hatten sie auch recht, denn grösstenteils waren diese Filme raffiniert zurechtgemachter Schund.
In diesem Verhältnis eines kritischen und anspruchsvollen Publikums zu einer ganz bestimmten Filmgattung trat jedoch ein Wandel ein, als in den ersten Nachkriegsjahren; der englische Regisseur Carol Reed künstlerisch-bedeutsame Filme mit den Stilmitteln des Reissers inszenierte. Man wurde aufmerksam, und in den Diskussionen um Filme wie "Odd Man Out" und "The Third Man" erhitzten sich die Gemüter. Als dann schliesslich ein Reisser par excellence, nämlich "Lohn der Angst", den Grossen Preis der 6. Filmfestspiele in Cannes errang, war der Schlussstrich unter eine Entwicklung gezogen und eine, bislang geschmähte Filmgattung über Nacht salonfähig geworden. Das bestätigt auch, der 9-fache "Oskar"-Segen des Films "Die Faust im Nacken".
Das Film-Studio hat nun für sein Sommerprogramm eine Reihe solcher Filme zusammengestellt, die - obwohl das reisserische Element in ihnen überwiegt - dennoch zu den Spitzenfilmen gerechnet werden müssen. Es soll sich erweisen, dass es durchaus den "Reisser von Format" geben kann. Leider fehlt uns eine treffendere Bezeichnung, um diese von uns gemeinte Filmgattung von den gängigen publikums- und kassensicheren Reissern zu unterscheiden.
Wir wollen hoffen, dass diese Reihe, die so aufgebaut ist, dass jedes
Land sich mit einem oder mehreren Beispielen vorstellt, dazu beiträgt,
Vorurteile und Gemeinplätze zu beseitigen, die gerade auf dem Gebiete
der Filmkritik und des Filmverständnisses so häufig anzutreffen sind.
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I.
Es ist für einen Film keineswegs sehr schmeichelhaft, wenn er als Reisser bezeichnet wird; wer dieses Wort gebraucht, denkt nicht an die Offenbarungen subtiler Filmkunst. Er will die Verwendung anrüchiger, auf den blossen Effekt abgestellter Mittel rügen. Aber in die Ablehnung mischt sich eine Spur Achtung wie vor der ungebrochenen Kraft des Emporkömmlings, der seinen krummen, aber erfolgreicher! Weg ohne hemmende Skrupel gegangen ist.
Ja, mit konventioneller Verachtung sprechen wir das Wort-aus, aber im geheimen bewundern wir das Verachtete. Wir sehen es uns an und sind davon gefesselt; aber hinterher hat der Besuch nur dazu gedient, "unsere Kritikfähigkeit zu steigern".
Das Wort ist nicht vom Film oder für den Film erfunden worden, es hat, über die Filmkritik des Tages hinaus, noch nicht einmal Eingang in die Fachliteratur gefunden. Es gibt Reisser auch z. B. in der Literatur und in der Musik, und sicher hat es sie dort schon gegeben, bevor der Film ins Licht und ins Leben trat. Seine unmittelbare Herkunft ist nicht ganz klar. Als richtige Verwandtschaft wird man vielleicht die Geschäftsleute anzusehen haben, die ihre Kundschaft von der Strasse weg ins Geschäft locken, sie "reissen" oder "anreissen", und die dann als "Reisser" oder "Anreisser" bezeichnet werden. Ein filmischer Reisser wäre also ein Film, der das Publikum ins Lichtspieltheater zu locken versteht, und zwar mit ungewöhnlichen Mitteln.
II.
Der Film scheint, vor allen anderen Ausdrucksfeldern künstlerischer Betätigung, eine starke natürliche Affinität zum Reisserischen zu besitzen. Die Gründe dafür liegen einmal in der besonders eindringlichen Wirkung des Reisserischen, wenn es optisch präsentiert wird, dann aber auch in der wirtschaftsmässigen Organisation der Filmherstellung, die einen sonst im Bereich des Kunstschaffens nicht üblichen Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Unternehmen zur Folge hat. Dieser Kampf kann zur Spekulation auf das führen, was leichthin als "die niederen Instinkte des Menschen" bezeichnet wird, was tatsächlich aber etwas ganz anderes ist. Von dieser Spekulation kann man sagen, dass sie das eigentliche Wesen des "gemeinen" Reissers bestimmt.
Diese Spekulation bedient sich bestimmter Effektmittel für das literarische Gebiet hat einmal ein ironischer Beobachter die vier Elemente genannt, die ein Buch enthalten müsse, um zum Bestseller zu werden: Erotik, Verbrechen, Kirche, "Gesellschaft". Es gibt hochgeachtete Romanciers, die nach diesem einfachen Rezept arbeiten. Auch der Reisser verwendet es.
Die Methode besteht darin, diese Elemente in eine Verbindung mit anderen, kontrastierenden zu bringen, die in der Erlebenswirklichkeit die Ausnahme bildet. So wird das Verbrechen mit Heldentum gepaart (Wildwestfilme), die Erotik mit dem Anstössigen (Dirnenfilme), das Kirchliche mit einer diesseitsbetonten Lebensauffassung (französische Filme), die arrivierte Gesellschaft mit der Dekadenz ("Gilda"). Von diesen Elementen ist die "Gesellschaft" als Vorwurf des Reissers gegenwärtig etwas aus der Mode gekommen.
Diesen Wirkungselementen entsprechend kann man vier Arten von Reissern
unterscheiden:
den erotischen (bzw. sexuellen) Reisser,
den Kriminalreisser,
den religiösen (bzw. pseudoreligiösen) Reisser,
den Gesellschaftsreisser.
Wenn man noch
den abenteuerlichen oder exotischen Reisser
als besondere Art dazunimmt, bleiben nur wenige Fälle, die nicht
kategorisierbar sind.
III.
Auf der Seite des Publikums finden wir eine bestimmte Ansprechbarkeit für, diese Elemente der Reisser rechnet mit der Empfänglichkeit des Menschen
- für, den Reiz des Aussergewöhnlichen und Gefährlichen: Ein Geschoss wird aus dem schlagenden Herzen entfernt ("Unter dem Himmel von Paris"); ein zerbrechliches Boot bahnt sich seinen Weg durch einen Hexenkessel von Krokodilen ("Kautschuk"); eine Zeitzünderbombe tickt an Bord einer Hochseejacht ("Epilog").
- für den Reiz des Scheusslichen und Abstossenden: Eine Injektionsnadel wird vier Zoll tief in die Wirbelsäule einer Frau gesenkt ("Die Hochmütigen"); menschliche Fackeln wälzen sich auf verbrannter Erde ("Das Leben beginnt morgen"); Gefangene werden gefoltert ("Bengali"); einem Menschen wird im Erdöltümpel ein Bein abgefahren ("Lohn der Angst").
- für den Reiz, des Verbotenen und Geheimnisvollen: Entblösste Frauenkörper, die Ausführung einer Brustplastik ("Geheimnis der Venus"), das vorbereitende Stadium des faire l' amour ("Zur Liebe verdammt"), die Geburt eines Kindes ("Eva und der Frauenarzt") werden gezeigt, das Sakrament der Ohrenbeichte zur Schau gestellt ("Verbotene Spiele", "Ich beichte").
In Situationen und Ereignissen wie den angeführten erschöpft sich das Reisserische nicht; in ihnen manifestiert es sich nur, und an ihnen kann man die reisserische Anlage eines Filmes besonders deutlich auf weisen, unabhängig davon, ob es sich um einen "gemeinen" oder um einen künstlerischen Reisser handelt?
Einen solchen Makel also fände man an der menschlichen Psyche: Dass sie sich vom Aussergewöhnlichen, vom Scheusslichen und Verbotenen leichter fesseln liesse als vom rein Erfreulichen? Doch so ist es nicht; es ist nicht das Abstossende und Gefährliche an sich, was den Kinogänger in seinen Bann zieht, sondern die Begegnung mit ihm, dem Andersartigen; genauer: der Spannungs- und Erregungszustand, in den diese Begegnung den Menschen versetzt und die Erwartung, dass diese Spannung wieder gelöst wird. Diese Lösung, die durch die Lösung des Geschehenskonfliktes auf der Leinwand veranlasst wird, löst nicht nur, sondern er-löst, und diese Erlösung wird als um so befriedigender empfunden, je höher die Spannung zuvor angestaut worden war. Dieser Vorgang ist eine Bedingung für die Existenz des Reissers nicht nur, sondern des Films überhaupt. Aber der Reisser legt es bewusst darauf an, diese Vorgänge im Zuschauer zu provozieren. Auch beim "Verbotenen" ist es nicht nur das Objekt, sondern in betonter Weise der Vorgang des Bekanntwerdens mit dem bisher Unbekannten. Was den Reiz ausübt. »
Die "niederen Instinkte des Menschen" - sie sind tatsächlich nichts anderes als seine Bereitschaft, dem Andersartigen, dem seiner eigenen Existenz Entgegengerichteten zu begegnen und aus dieser Begegnung ein besonderes Erlebnis zu ziehen.
Die Komponente Masochismus, die speziell der Gruselfilm in seine Erfolgsrechnung einbezieht, ist daneben nicht zu verkennen. Aber der Gruselfilm oder "Gänsehäuter" bildet nur eine kleine Sonderklasse des Reissers und bestimmt nicht dessen allgemeines Bild. Klein wird diese Sonderklasse auch bleiben, schon deshalb, weil die Spannungszustände, die er vermittelt, über das Mass hinausgehen, das der durchschnittliche Kinobesucher zu seinem Vergnügen zu ertragen bereit ist. Damit bezeichnet de;1 Gruselfilm die äusserste (wirtschaftliche) Möglichkeit des Reissers.
IV.
Der Reisser kann dann beginnen, wenn in der Gestaltung des Films nicht mehr auf den künstlerischen Auftrag Bezug genommen wird: eine neue Wirklichkeit entstehen zu lassen. Der gemeine Reisser übergeht diesen Auftrag, weil seine spezifischen Mittel schon zum Erfolg führen. Er ist in eklatanter Weise inhuman, er verbildet das Wirklichkeits- und das Wertbewusstsein, verkörpert also die dem Film nachgesagten schlechten Eigenschaften in besonders reiner Form. In der Verbildung des guten Geschmacks lässt er allerdings einer anderen Filmkategorie den Vortritt: dem Kitschfilm.
Der Unterschied zwischen beiden ist bedeutend. Während der Reisser, jedenfalls der Kriminalreisser und der abenteuerliche Reisser, die Begegnung mit dem Andersartigen vermittelt, das überstanden werden muss, beruhigt der Kitsch durch die Begegnung mit dem Bild, das der Zuschauer von sich selbst hat, oder er rührt durch sentimentgeladenes Entsagen (Zarah-Leander-Filme). In jedem Fall geht er aber auf den Zuschauer ein durch Bestätigung oder durch Rührung. Darin liegt seine Unehrlichkeit.
Weil der Reisser diese Unehrlichkeit nicht kennt, haben wir den Rest Achtung für ihn übrig, von dem die Rede war. Er präsentiert uns sicher nicht das wahre Leben aber er bedient uns auch nicht mit der Lüge des Kitsches und er beruhigt nicht um jeden Preis. Er rüttelt auf, wenn er in seiner gemeinen Form auch nichts zu bieten hat, um dessentwillen es lohnte, sich aufrütteln zu lassen. Wenn er aber über Mittel verfügt, aufzurütteln dann steckt darin der Hinweis auf den Weg, den er gehen muss, um vom gemeinen Reisser zum Reisser von Format, zum künstlerischen Reisser zu werden.
V.
Man kann nicht daran vorbeisehen, dass das Reisserische in den Jahren seit dem Krieg eine machtvolle Realität im Film gewonnen hat, die nicht mehr fortzudenken ist. Wir sind "zum Reisser verdammt". Besonders deutlich ist dies beim realistischen Film, in dessen Zeichen die letzten zehn, fünfzehn Jahre des Filmemachens weitgehend gestanden haben. Die heutige Form des Realismus führt; mit ihrer Eigentümlichkeit des Brutalen direkt in den Bereich des Reisserischen. Wenn Gunter Groll die "Faust im Nacken" einen "Sozialreisser" nennt, dann ist damit ausgedrückt, dass die Mittel des Reissers, wenn sie in den richtigen Händen liegen, zu einem legitimen Aussagemittel auch des hochwertigen Films werden können. Das heisst nicht etwa: Aus der Not eine Tugend machen oder bestimmten Methoden, nur weil sie gerade Mode sind, eine fadenscheinige Dignität verleihen. Wenn man etwa durch Shakespeares Stücke geht, wird man vieles von den hier aufgezählten Wirkungsmitteln des Reissers wiederfinden, wenn auch nicht in der Massierung, an die sich der heutige Kinogänger schon gewöhnt hat.
Wenn der Reisser sein Gesicht verwandeln will, wenn, er sich aus den
Niederungen erheben und zu Filmkunst werden will, dann ist es nötig, dass
er sich, wieder auf seinen Auftrag besinnt, Wirklichkeit auf einer
anderen Ebene zu gestalten. Wenn er ihn wieder übernimmt, dann wird er
keine reisserischen Episoden mehr kennen, die um des Effektes willen da
sind und weder aus der Handlung zwingend entspringen noch die Handlung
weiterführen dann kann die "Kunst des Reissers" entstehen, für die es
bereits eine lange Reihe von Beispielen gibt.
Kraft Bretschneider
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Im Beiprogramm zeigt das Film-Studio einen Querschnitt durch die internationale Trickfilm Produktion. Wir veröffentlichen dazu im folgenden eine Einführung in die Geschichte des Trickfilms von unserem Mitarbeiter Knut von Eggersdorf.
Der gezeichnete Film war bereits geboren, ehe es überhaupt eine Filmkamera und perforierte Zelluloidbänder gab. Bei allen technischen Geräten zur Erzeugung "bewegter Bilder" (Lebensrad, Wundertrommel usw.) den Vorläufern des Kinos mussten ja die in Einzelbilder zerlegten Bewegungsphasen gezeichnet werden. Allerdings kann man die Ergebnisse dieser frühen Versuche noch nicht als Filme bezeichnen, denn es fehlte ein entscheidendes Moment: die Projektion. Erst als es gelang, die Laterna magica (Projektion eines stehenden Bildes) mit dem Lebensrad zu kombinieren, konnte man von echten Filmvorführungen sprechen. Nach dieser Methode projizierte der Wiener Artillerie-Offizier Franz von Uchatius schon im Jahre 1853 "lebende" Bilder, deren Bewegungen sich jedoch nach wenigen Sekunden wiederholten.
Die ersten wirklichen gezeichneten, besser gesagt: gemalten Filme von mehreren Minuten Dauer stellte Emile Reynaud, Professor der Naturwissenschaften in Le Puy, in den Jahren 1888 bis 1898 her. Für seine Pantomimes Lumineuses benutzte er bemalte Glasplatten, die zu einem bandwurmähnlichen Gebilde zusammengesetzt und in sehr rascher Folge auf eine Leinwand projiziert wurden. Damit vermittelte er den Zuschauern seines Optischen Theaters in Paris fast dasselbe Erlebnis, das wir bei der Betrachtung eines modernen Farbtrickfilms haben.
Als dann die Filmkamera erfunden war, dachte kein Mensch mehr daran, in mühsamer Arbeit Bild für Bild einzeln zu malen. Die Kamera tat dies ja im Bruchteil einer Sekunde, und sie zerlegte mathematisch-exakt jede Bewegung in einzelne Phasenbilder. Elf Jahre lang wurden alle bewegten Bilder, gleichgültig ob im Kino, Kinetoskop, Guckkasten oder Westentaschenkino, auf photographischem Wege erzeugt.
Erst 1906 kam in Chicago der Filmregisseur J. Stuart Blackton auf die Idee, gezeichnete Phasenbilder mit Blackton der Kamera aufzunehmen, um sie erst bei der Projektion zu einem kontinuierlichen Bewegungsvorgang zu verschmelzen. Seine in den Jahren 1906/07 entstandenen Filme Humorous Phases of Funny Faces und The Magie Fountain Pen dauerten allerdings nur wenige Sekunden. Nach diesen ersten Versuchen wandte sich Blackton, der das Ganze für eine unbedeutende Spielerei hielt, wieder dem Realfilm zu.
Der eigentliche "Vater des Trickfilms" ist der französische Karikaturist Emile Cohl, der in den Jahren 1908-1918 insgesamt 100 dessins animés herstellte. Sein erster Film Fantasmagorie, in dem sich ein Elefant in eine Tänzerin verwandelt, bestand aus rund 1870 Einzelbildern, die er alle mit eigener Hand gezeichnet hatte. Dieser 36 m lange Streifen benötigte zu seiner Vorführung fast zwei Minuten. In seinem zweiten Film Le Cauchemar du Fantoche, der schon die beachtliche Länge von 80 m hatte, schuf Cohl die erste Trickfilmfigur der Welt: Fantoche. Dieses in kindlicher Manier gezeichnete Strichmännchen wurde der Held einer ganzen Filmserie und Vorbild aller späteren Trickfilmzeichner. Von 1912 an arbeitete Emile Cohl in Amerika, das zur Domäne des gezeichneten Films werden sollte.
Eine völlig neue Filmgattung war plötzlich entstanden, die ihre Existenz nur einem einzigen Trick verdankt, dass man nämlich eine künstliche Bewegung durch kontinuierliche Wiedergabe von einzeln aufgenommenen Bewegungsphasen herstellt. Mit Hilfe der Filmkamera war es gelungen, eine Zauberei in höchster Vollendung zu vollführen: man konnte alle toten Dinge (Spielzeuge, Figuren, Puppen, Silhouetten, Zeichnungen u. a. m.) lebendig werden lassen.
Den ersten grossen Publikumserfolg in Amerika hatte Winsor McCay; 1909 liess er in einem Varietés einen Dompteur auftreten, der einen dressierten Dinosaurier zeigte. "Gertie, a Trained Dinosaur" war aber zur Verblüffung aller Zuschauer nur als Trickfilm auf der Leinwand zu sehen. Von da an war der animated cartoon in Amerika populär, und ist es bis heute geblieben.
Während in Amerika hauptsächlich der groteske Zeichentrickfilm gepflegt wurde, entwickelten die Filmkünstler in Europa die verschiedenartigsten Techniken. Den ersten Puppenfilm stellte bereits im Jahre 1910 Emile Cohl her: "Le tout petit Faust". Aber erst der Russe Ladislas Starewitsch gelegentlich als Erfinder des Marionettenfilms bezeichnet erreichte in dieser Technik die höchste Perfektion. In Kowno und später in Paris (seit 1918) verfilmte er zahlreiche Märchen und Fabeln. Sein wichtigstes Werk ist der in zehnjähriger Arbeit entstandene Film "Le Roman de Renart" (1938), der erste abendfüllende Puppenfilm der Welt.
Einen interessanten Versuch unternahm der russische Regisseur "Alexander L. Ptuschko", als er im Jahre 1935 mit lebenden Darstellern und Puppen den Film "Der neue Gulliver" drehte.
Der Ungar George Pal heute in Hollywood als Spezialist für utopische Filme tätig stellte in Holland und in den USA eine ganze Reihe von Puppenfilmen her: "Sky Pirates" (1934), "The Magie Atlas" (1935), "Ali Baba" (1936), "Southsea-Sweetheart" (1939).
In Deutschland, dessen Trickfilmproduktion um 1912 mit dem Film Exzelsior von Julius Pinschewer eingesetzt hatte, wurden in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg der abstrakte Film und der Silhouettenfilm geboren. Eine Gruppe von Kunstmalern benutzte die Technik des Trickfilms, um sogenannte graphische Ballette aus geometrischen Figuren und Schwarz-Weiss-Flächen aufzuführen: Hans Richter: Film ist Rhythmus (1921), Walter Ruttmann: Photodram Nr. 1 (1921), Viking Eggeling: Diagonal-Symphonie (1922), Oskar Fischinger: "Tanzende Linien" und mehrere Studien (1929). Den Höhepunkt bildeten die abstrakten Farbtonfilme von Oskar Fischinger: "Kreise" (1931), "Komposition in Blau" (1933) und Hans Fischinger: "Tanz der Farben" (1939).
Die Berliner Malerin Lotte Reiniger konstruierte Silhouetten, die in den Gelenken beweglich waren, und benutzte sie für ihre Scherenschnittfilme: "Abenteuer des Prinzen Achmed" (1926), "Aladin und die Wunderlampe", "Dr. Doolittle und die Tiere" und viele andere.
Der Russe Alexander Alexeieff, der sich in Paris als Werbefilmproduzent niedergelassen hatte, entwickelte eine weitere Technik auf dem Gebiete des Trickfilms: die sogenannte cinégravure (Eisenstifttechnik). In einer Platte (1_m x 1,30_m gross) waren 500_000 bewegliche Eisenstifte angebracht, die von oben gesehen wie ein riesiger Raster wirkten. Je nach Art der Beleuchtung und der eingestellten Höhe der einzelnen Stifte konnte man aus den Licht- und Schattenpartien Bilder zusammensetzen, die dann der Kamera als Bewegungsphasen dienten; Bisher sind nur zwei Filme nach dieser Technik gedreht worden: "Une Nuit sur le Mont Chauve" nach der Musik von Modest Mussorgskij (1933) und der Kurzfilm "En Passant".
In London stellte Len Lye, der für das englische GPO (General Post Office) tätig war, die ersten abstrakten Filme ohne Kamera her. Er bearbeitete die Farbemulsion eines Filmstreifens mit Chemikalien und erzielte damit ein sehr reizvolles Spiel von farbigen Linien und Punkten, das in seiner Zufälligkeit an Feuerwerk oder Kaleidoskop erinnert. "Colour Box" (Werbefilm für den verbilligten Paketposttarif), "Rainbow Dance" (1935), "Trade Tattoo" (1937), "Swinging the Lambeth Walk" (1940).
Seine grösste Ausbreitung erfuhr der Zeichentrickfilm"' jedoch in Amerika. Schon im Jahre 1914 führte Earl Hurd für seinen Film "Bobby Bump" ein Aufnahmeverfahren ein, das sich transparenter Folien bediente. Dies bedeutete eine enorme Einsparung an Zeichnungen, da der Hintergrund nur ein einziges Mal gezeichnet zu werden brauchte. Der erste farbige Trickfilm wurde bereits 1917 von John R. Bray hergestellt.
Die Blütezeit des animated cartoon begann, als der Serienfilm grosse Mode wurde, Filme also, in denen eine populäre Trickfilmfigur immer wieder neue Abenteuer zu bestehen hatte. Den Reigen dieser Tiere und Fabelwesen, die von nun an die Leinwand bevölkern sollten, eröffnete "Felix the Cat" (1917), eine Schöpfung von Pat Sullivan. Weitere Figuren solcher Serienfilme folgten bald: "Flip the Frog" von Ub Iwerks und "Crazy Kat" von Ben Harrison und Manny Gould. Sie alle waren die direkten Vorläufer der Mickey Mouse, die dann später an Berühmtheit alle übrigen Tiere übertreffen sollte. Häufig waren diese Figuren den comicstrips amerikanischer Zeitungen entlehnt. So entwickelte der aus Österreich stammende Max Fleischer zusammen mit seinem Bruder Dave aus einer Karikatur des Pressezeichners O. Segar eine der beliebtesten Gestalten des grotesken Zeichenfilms: Popeye the Sailor.
Den grössten Erfolg jedoch hatte der Reklamezeichner und Karikaturist Walt Disney, der mit seiner Mickey Mouse-Serie, die er kurz vor der Erfindung des Tonfilms begonnen hatte, alle seine Vorgänger aus dem Felde schlug. Aber erst mit dem Beginn der Tonfilmzeit konnte sich das Talent dieses Meisters des Zeichentrickfilms voll entfalten. Wie kein zweiter beherrscht Disney vom ersten Moment an alle Möglichkeiten des tönenden Films; er erfindet den Tongag und bereichert damit den animated cartoon um ein neues Element des Grotesken. Seine "Silly Symphonies" stellen einen ganz neuartigen Typ des Trickfilms dar. Nach seiner Erfindung des Multiplane-Tricktisches produziert Disney den ersten abendfüllenden Zeichentrickfilm Snow White and the seven Dwarfs (1937), dem eine stattliche Reihe weiterer abendfüllender Filme gefolgt ist. Pinocchio (1939), Fantasia (1940), Dumbo (1941), Bambi (1942), Saludos Amigos (1942), Three Caballeros (1944), Cinderella (1950), Alice in Wonderland (1951), Peter Pan (1953). Damit wird dieser produktivste und erfolgreichste aller Trickfilmzeichner zu einem der berühmtesten Filmkünstler der Welt.
Neben Disney konnten sich noch behaupten: Paul H. Terry mit seinen "Terrytoons" (Hauptfigur: The Mighty Mouse) und Fred C. Quimby mit seiner Serie Tom and Jerry.
In der gleichen Art wie die amerikanischen Trickfilmgrotesken stellte in England Budd Fisher die Serie Mutt and Jeff her.
In Deutschland konnte der gezeichnete Film nur in der Form des Reklamefilms gedeihen. Die bedeutendsten Zeichner auf diesem Gebiet sind Hans Fischerkösen und Wolfgang Kaskeline. Während des zweiten Weltkrieges wurde mit staatlicher Unterstützung die Deutsche Zeichenfilm GmbH gegründet. Von den Filmen dieser nur kurze Zeit existierenden Produktionsgesellschaft seien hier erwähnt: Der Schneemann (1943) von Fischerkösen und Hochzeit im Korallenmeer (1945) von Horst von Möllendorf.
Daneben gab es einige unabhängige Produzenten, die sich damit beschäftigten, Trickfilme für Kinder herzustellen. Am bekanntesten sind die Gebrüder Diehl mit ihren Puppenfilmen Das Märchen von einem, der aus--zog, das Gruseln zu lernen, Die Stadtmaus und die Feldmaus, Der Wettläuf zwischen dem Hasen und dem Igel (Hauptfigur: Der Igel Mecki). Kurt Stordel schuf die Zeichenfilme Der Zwerg Purzel und Brumm und Quack. Einen farbigen Puppenfilm drehten unter Verwendung von Figuren und Spielzeug Hubert Schonger und Gerda Otto: "Das Wunderfenster" (1953).
Frankreichs Zeichentrickfilme sind durch einen eigenwilligen Stil gekennzeichnet. Sie sind eher poetisch als grotesk. Der Architekt Berthold Bartosch gestaltete nach Holzschnitten von Frans Masereel den Film L'Idee (1932): es ist dies der erste Zeichentrickfilm mit einem ernsten Thema. Hector Hoppin und Anthony Gross zeichnen den Film "La Joie de Vivre" (1934), ein modernes Schäferspiel. Nach Drehbüchern von Jacques Prevert malen Paul Grimault und André Sarrut, die sich "Les Gémeaux" (Zwillinge) nennen, das bitter-süsse Märchen "Le Petit Soldat" (1947) und den Film "La Bergère et le Ramoneur" (1953). Andere bedeutende Trickfilmschöpfer sind Jean Image: "Jeannot l' Intrepide" (1951), "Bonjour Paris" (1953) und Omer Boucquey: "Le Troubadour de la joie" (1951).
In Amerika konnte man in den letzten Jahren eine interessante Entwicklung beobachten. Fast 20 Jahre lang schien Disneys Monopolstellung ungebrochen, bis sich plötzlich aus dem Heer von Zeichnern, die in seiner Mammutgesellschaft beschäftigt waren, eine Gruppe unter der Leitung von Stephen Bosustow absonderte, um eine eigene Produktionsfirma zu gründen und zu einem ernsthaften Konkurrenten für Disney zu werden. Diese Gruppe, die sich UFA (United Productions of America) nennt, überraschte die Kinobesucher mit völlig neuartigen Zeichentrickfilmen, die in gewissem Sinne das ? filmische Gegenstück zum modernen surrealistischen Witz darstellen. Der Held einer komischen Zeichenfilmserie von Bosustow ist Mr. Magoo, eine Figur von chaplinesker Hintergründigkeit, die sich in einem ständigen Konflikt mit den technischen Geräten einer supermodernen Welt befindet. Aus der sogenannten Bosustow-Schule sind als originelle Trickfilmzeichner noch zu nennen: John Hubley und Art Babbitt. Die wichtigsten Filme der UPA: "Rooty Toot Toot", "Gerald Mac Boing Boing", "Madeline", "Fuddy Duddy Buddy", "Sloppy Jalopy", "Christopher Crumpet".
Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ist in der Tschechoslowakei eine ganze Reihe beachtlicher Trickfilme (hauptsächlich mit Puppen) entstanden. Der erfolgreichste Künstler auf diesem Gebiet ist Jiri Trnka, der mit seinen abendfüllenden Filmen "Das tschechische Jahr" (1947), "Der Kaiser und die Nachtigall" (1949), "Alte tschechische Sagen" (1952), "Der brave Soldat Schweijk" (1954) und mit mehreren Kurzfilmen (Arie der Prärie, Prinz Bayaya, Zirkus, Der Goldfisch) die Gattung des Puppenfilms um einige bedeutende Werke bereichert hat. In allen Techniken zu Hause ist Karel Zeman, der nicht nur den herkömmlichen Puppen-, Zeichen- und Scherenschnittfilm beherrscht (Der Schatz auf der Vogelinsel, Ein Weihnachtstraum, König Lavra), sondern auch neue Möglichkeiten des Trickfilms ausprobiert. So hat er beispielsweise in seinem Film Inspiration (1949) Glasfiguren verwendet, die sich in einer Landschaft aus Kristall und Eis bewegen, um auf diese Art und Weise den Traum eines Glasbläsers darzustellen. Puppenfilme für Kinder stellt Hermina Tyrlová her: "Ferda, die Ameise", "Das Wiegenlied", "Das misslungene Püppchen".
"Dollywood" nennt der Holländer Joop Geesink seine Puppenfilmproduktion, in der einige ganz entzückende Werbefilme entstanden sind. Alle Werbefilme aber überragt der durch seine hervorragende Farbregie künstlerisch ausgezeichnete Film "Kermesse fantastique" (1952). Im National Film Board of Canada entwickelte Norman McLaren die Technik seines Lehrers Len Lye weiter: Herstellung von Trickfilmen ohne Kamera, McLaren malt seine Phasenbilder direkt auf den Filmstreifen. In der Hauptsache sind es abstrakte Filme, die er auf diese Weise herstellt: "Stars and Stripes" (1946), "Fiddle Dee Dee" (1947), "Begone Dull Care" (1949). Seine "Chants populaires" sind Illustrationen zu kanadischen Volksweisen in der Art der üblichen Zeichentrickfilme. Der unermüdlich tätige McLaren liebt das filmische Experiment und ist ständig auf der Suche nach, neuen Wegen. In seinen Filmen "Dots und Loops" wendet er zum erstenmal die Technik des gezeichneten Tones (synthetische Musik) an, die er später virtuos zu handhaben versteht. Die Verwendung von lebenden Darstellern als Trickfiguren wird in den Filmskizzen "Two Bagatelles" ausprobiert und in dem 1952 entstandenen Film "Neighbours" konsequent angewandt. Weitere Filme, die von McLaren bekannt geworden sind: "Hen Hop", "Hopity Pop", "Pen Point Percussion", "A Phantasy" und der erste abstrakte 3-D-Film "Around is Around".
Die Technik des direkten Zeichnens auf den Filmstreifen wurde in
Deutsehland von einigen Malern aufgegriffen. Herbert Seggelke malte
lediglich mit roten und blauen Fettstiften den Film
"Strich-Punkt-Ballett", während Haro Senft zu seinem Film "XY" (1954)
schon eine weitreichendere Farbenskala benutzte. Knut von
Eggersdorf
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Im Sommersemester soll der zweite Teil des im November gestarteten Kurses abrollen.
In den Vorlesungen werden zunächst die Probleme von Bild und Ton beim Filmschnitt und bei der Synchronisation ausführlich behandelt und bei der Fertigstellung der ersten Produktion wird versucht werden, sie praktisch zu lösen.
Der Besuch eines Filmateliers oder eines Fernsehstudios soll den Teilnehmern die Möglichkeit geben, sich die Praxis im Grossen anzusehen.
An Hand von Filmbeispielen, filmgeschichtlichen Daten und eigene Experimenten sollen die bisher erlangten Kenntnisse vertieft werden, und zwar unter Berücksichtigung künstlerischer Probleme und der neuesten technischen Errungenschaften.
Das Programm der Vorträge:
A. Filmschnitt und Ton
1. Filmschnitt.
2. Tonaufnahme und Wiedergabe beim Film,
3. Die Filmwiedergabe.
B. Vom Bioskop zum CinemaScope?
4. Vor dem Drehen.
Das Bild als 1. Grundstoff des Films.
Filmgeschichtliches von den Anfängen bis etwa 1910.
5. Während des Drehens.
Kulisse, Beleuchtung, Regie.
Filmgeschichtliches von 1910 bis 1920.
6. Nach dem Drehen.
Der Schnitt als 2. Grundstoff des Films, das Kopieren, der
Cutter.
Filmgeschichtliches von 1920 bis etwa 1930.
Besuch eines Filmateliers oder eines Fernsehstudios.
1. Filmmusik.
Verhältnis von Bild und Ton.
Filmgeschichtliches von 1930 bis 1940.
8. Dramaturgie des Films.
9. Die Farbe im Film.
Filmgeschichtliches von 1940 bis 1950.
10. 3 D-Film Fernsehen
Der Schauspieler.
Filmgeschichtliches von 1950 bis heute.
11. Der Superfilm.
CinemaScope, Vistavision, Stereophonie, farbiges Fernsehen.
Vergessenes und Wiederentdecktes.
Von dem im Wintersemester fertiggestellten Drehbuch ist bereits ein grosser Teil abgedreht. Es wurde das Thema gestellt, mit filmischen Mitteln einen Traum zu gestalten, wobei die irreale Atmosphäre lediglich durch den Schnitt der realen Bilder der den Traum begleitenden Handlung erzeugt werden soll.
Dieser Film soll kein vollendetes Kunstwerk sein; an ihm haben die Kursteilnehmer ihre ersten Schritte getan und gelernt.
Für den Sommer sind schon verschiedene andere Experimente geplant, u. a. ein Dokumentarfilm. Günter P. Schölzel
Filmkurs:
Zeit: Mo., 18.30 s. t.
Ort: Studentenhaus, Zimmer 13
Dreharbeiten: Kleiner Klubraum
Beginn: Mo., den 9. Mai 1955
Gebühr: DM 3.- pro Semester
Leitung: Günter P. Schölzel
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