Anfang
Dies sind die Übersichtsseiten über die vorhandenen Dateien.
Vorwort       Filmdaten bis 1920       Filmdaten ab 1920       Filmdaten noch nicht hier       Nicht-Filmdaten

Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 26, März-Juli 1959

Inhalt
Der Stummfilm in Italien
Jonas
Ein Herz und eine Krone (Roman Holiday)
Wir sind alle Mörder (Nous sommes tous des assassins)
Ninotschka
Herr im Haus bin ich
Die zwölf Geschworenen
Lissy
Marty
Irgendwo in Europa
Das Mädchen und die Eiche (Djevojka i hrast)
Der Mann der sterben muss
Reporter des Satans
La Traverséee de Paris (Zwei Mann, ein Schwein und die Nacht von Paris
Stella
Entscheidung vor Morgengrauen (Decision before Dawn)
Früchte des Zorns
Der unbekannte Soldat (»Trommelfeuer in Karelien«;
Mr. Pickwick (The Pickwick Papers)
Hauptstrasse (Calle mayor)


»Am Film wird die Relativität besonders sinnfällig. Die Kinematografie wollte das Leben materialisieren und der Zeit trotzen; die Zeit aber rächte sich, indem sie sie zur flüchtigsten aller Erscheinungen macht.       René Clair, 1925


Der Stummfilm in Italien

In der ersten Juniwoche wird das Film-Studio eine Woche lang italienische Stummfilme zeigen, unter anderen CABIRIA, QUO VADIS und ROTAIE. Aus diesem Anlass wurde dieser Artikel geschrieben, um Ihnen eine Übersicht zu geben. Im Mai wird dann ein besonderes Heft zu dieser Woche erscheinen.       red.

Die Geschichte des Filmes beginnt in Italien mit der Patentierung des Kinetografen, wie ihn sein Erfinder Filoteo Alberini nennt, am 11. 11. 1895. Den ersten uns bekannten Streifen dreht aber Italo Pacchioni 1896. Erst 1904 hören wir wieder etwas vom italienischen Film. Omegna dreht seine ersten Dokumentarfilme (Autorennen, das Erdbeben von Messina u. a.), Alberini eröffnet das Kino »Cinema moderno« in Rom und gründet die Produktion »Cines«, für deren Filme er sowohl Autor wie Regisseur ist.

1906/07 entstehen viele neue Produktionsfirmen, deren bedeutendste »Tiber«, »Caesar«, »Pasquali«, »Italia« und »Lombardo« sind. Viele Angestellte der bisher vorherrschenden ausländischen Firmen (Gaumont, Pathé, Messter) gehen in die einheimischen über. Die italienische Produktion wächst sehr rasch; schon 1908 beginnt sie, fremde Märkte zu erobern. Es bilden sich mehrere Zentren, in denen man sich jeweils bestimmten Richtungen widmet, wenn auch nicht ausschliesslich. So wird in Turin das Lustspiel, in Rom der Monumentalfilm und in Neapel der realistische Film besonders gepflegt. Turin übernimmt, durch seine nahe Lage zu Frankreich begünstigt, die Tradition Méliès' und verpflichtet einige französische Schauspieler. Andre de Chapais alias André Deed (in Frankreich unter dem Namen Gribouille bekannt) nennt sich in Italien Cretinetti (etwa gleich Klein-Doofi) und dreht zwischen 1908 und 1912 eine ganze Serie Filme. Andere Komiker sind Marcel Fabre als Robinet, Fernando Guillaume als Tontolini und später als Polidor. Doch Deed ist der wichtigste Vorläufer Chaplins. Schon sein Kostüm verrät es: Ziehharmonikahosen, gestreifte Weste, abgeschabter, eleganter Rock, Zylinder, Stöckchen und eine stets freundliche Grimasse; allerdings ist er der Landessitte gemäss weiss gekleidet. Die Grotesken dieser frühen Zeit unterscheiden sich von denen anderer Länder, denn im Mittelpunkt steht natürlich das Bambino, daneben noch der Feuerwehrmann und die Bersaglieri.

In Rom beginnt Alberini 1905 mit der EROBERUNG ROMS. Der erste wichtige Film entstand 1907 DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI von Luigi Maggi. Der Film ist etwa 360 m lang, dauerte also etwas über 18 Minuten. In der Folge entstehen viele Geschichtsfilme. Da nach neuen Erkenntnissen die Regisseure es besser machen zu können glauben und auch der Konkurrenzneid der Stars mitspielt, werden über das gleiche Thema oft sehr viele Filme nacheinander und manchmal auch gleichzeitig gedreht. Urheberrechte kannte man damals ja noch nicht. Die Autoren der ganzen Welt von der Bibel und Homer über Dante und Tasso bis zu den lebenden müssen für den unersättlichen Magen der Filmproduktion Stoffe liefern. Da die Filme zuerst nur kurz sind, entstehen entsprechend mehr. Allerdings gibt es auch schon damals einige sehr lange, etwa Caserinis LETZTE TAGE VON POMPEJI (1911) mit 3000 m. Einige Regisseure dieser Zeit muss man besonders hervorheben. In Turin ist es Arturo Ambrosio, der als einer der ersten mit künstlichem Licht arbeitet. Früher baute man die bemalte Kulisse im Freien auf - er geht damit ins Atelier und ist so vom Wetter unabhängig.

In Rom kommt Enrico Guazzoni von der Malerei her. Seine Filme sind wegen ihrer Bildwirkung bemerkenswert. Er dreht 1909 die MAKKABÄER, 1913 einen Quo vadis? und 1924 Messalina. Als einer der wenigen »Alten« hat er noch in den dreissiger Jahren gefilmt.

Piero Fosco - Giovanni Pastrone debütiert 1909/10, dreht 1911 den FALL TROJAS, mit dem er bekannt wird. Er war vorher Ingenieur, was sich in seinen Filmen bemerkbar macht. Sie sind realistischer als die meisten anderen dieser Epoche. Sein grösstes Werk ist wohl die CABIRIA 1913, der mit Hilfe der karthagischen Abteilung des Louvre gedreht wurde. Pastrone sucht seine Darsteller auch unter dem einfachen Volke. Für die Rolle des Maciste in der CABIRIA findet er nach langem Suchen nur einen genuesischen Dockarbeiter passend. Bartolomeo Pagano kann zu dieser Zeit noch nicht einmal richtig schreiben und lesen. Unter dem Namen Maciste filmte er noch recht erfolgreich. CABIRIA, dessen Zwischentitel d' Annunzio schrieb, ist nicht ihretwegen wichtig - sie sind lang und rhetorisch hochtrabend -, sondern wegen der Regie, der Kulisse und der Kameraführung. Um die diesmal gebaute Kulisse plastischer erscheinen zu lassen, wendet der Kameramann, der Spanier Segundo Chomon zum ersten Male bewusst die Fahrtechnik an. Dies und die Führung der Massen haben auf den Amerikaner Griffith grossen Einfluss gehabt.

Nino Martoglio dreht 1914 in Neapel den Film IN DER DUNKELHEIT VERLOREN. In ihm erzählt er eine Geschichte mit zwei parallelen Handlungen. Oft wendet er bei der Schilderung des Reichen- bzw. Armenmilieus den Kontrastschnitt an. Durch besondere lokale Eigentümlichkeiten - etwa eine Prozession - verstärkt er die Echtheits-Wirkung. Die Personen sind natürlich gesehen und nicht in Schwarzweissmanier gemalt. Dieser Film wurde von dem Kritiker Umberto Barbaro wiederentdeckt und vor 1944, bevor die Kopie verschwand, oft vorgeführt. Der Neorealismus mag ihm viel verdanken. Unter den Nachfolgern sind die Turiner Vorstadtfilme, neben Martoglios eigenen, die wichtigsten, spielen aber meist in niederdrückendem Milieu.

Emilio Ghione, ihr Regisseur, hat als Darsteller weit grössere Wirkung. In dieser Zeit sind überhaupt die Darsteller oft wichtiger als die Regisseure. Ghione verdient im Jahr 1915 20 000 DM, 1919 bekommt die Bertini für acht Filme 400 000 DM - CABIRIA kostete zum Vergleich im Jahre 1913 200 000 DM. Den grössten Einfluss auf ihre Fans aber hat wohl Lyda Borelli - man prägt sogar den Ausdruck »borellismo«. Anfang der zehner Jahre entwickelt sich das Starwesen: Einzelne Darsteller bekommen durch ihre Beliebtheit beim Publikum eine grosse Macht, denn viele Leute gehen um ihretwillen ins Kino. Später merkt man dann auch noch, dass diese Beliebtheit bis zu einem gewissen Grade steuerbar ist (womit die Macht an die Manager übergeht). Die frühen Serienfilme sind die Vorgänger dieser Filme, in denen ein Star in verschiedenen Rollen auftritt. Vielleicht liegt es in einem unbewussten Unmut über den Massenbetrieb beim Film begründet, dass sich einzelne so hervortun. Das Startum hat viel zur Verbreitung des Filmes beigetragen, andererseits durch den Konkurrenzkampf der Stars auch zum rascheren Verfall.

Nach 1912 entsteht unter dem Einfluss der dänischen Filme das Salondrama und mit ihm der Typ des Vamps. Während aber der dänische Vamp unberührt und kalt sein Opfer wieder verlässt, geht der italienische an sich zugrunde. Die Entwicklung beginnt mit Mario Caserinis ABER MEINE LIEBE STIRBT NICHT mit der Borelli, 1912; der Hauptregisseur dieses Genres ist Nino Oxilia. Ambrosio dreht 1916 Cenere (Asche), einen Film mit der Düse. In all diesen Filmen ist nicht mehr so wichtig, was geschieht, sondern um vieles wichtiger ist es, wie es geschieht und gespielt wird.

Im Krieg beginnt der Abstieg des italienischen Filmes. Obwohl in der Nachfolge d' Annunzios auch andere Dichter für den Film arbeiten, so ist es doch schon zu spät. 1919 gründen Pirandello, Fratelli und Frecchia die Tespi. Hier wie anderswo erscheinen Remakes alter Filme, aber sie kurbeln die Zeit zurück wie die meisten Remakes. Die Monstrosität wird noch gesteigert. QUO VADIS? von Jacoby mit Jannings oder auch MESSALINA von Guazzoni bringen die italienische Produktion zum Erliegen; sie haben viel Geld gekostet, spielen aber nur wenig ein (trotz mancher Qualitäten sind sie eben schon vor ihrer Entstehung veraltet). Daher ist es nun für die Produzenten schwer, neues Geld zu finden. Die Machtübernahme durch Il Duce, der anfangs kein Interesse für den Film zeigt, die Abwanderung vieler Filmschaffender und schliesslich der starke Druck, den die amerikanische und deutsche Produktion auf den italienischen Markt ausübt, tun ihr übriges, so dass schliesslich pro Jahr nur 7 bis 8 Filme hergestellt werden, während in den Kinos weniger als 10 % aller Filme italienischer Herkunft sind.

In der Ruhepause schaffen nur wenige Regisseure Filme von Bedeutung, u. a. Carmine Gallone, Amleto Palermi und Mario Almirante.

Wohl unter dem Einfluss von Murnau, Dupont und Griffith filmen einige amerikanische Regisseure in Italien. Henry King dreht 1926 einen BEN HUR, der zwar ein grosser Erfolg wird, aber wegen seiner hohen Kosten das amerikanische Kapital abschreckt. In dieser Lage sind die italienischen Regisseure zu grösster Sparsamkeit gezwungen. Sie gehen daher wieder ins Freie und filmen mit dem einfachen Volke. Zwischen 1926 und 1928 entsteht KIFF TEBBI, nach einer Novelle von Luciano Zuccoli. Mario Camerini gibt weitgehend dokumentarische Aufnahmen kolonialen Lebens.

Eine Gruppe um Alessandro Blasetti, Pirandello, Barbaro und Cesare Zavattini gründet 1927 die Zeitschrift »Cinematografo«. Ihr Tenor ist: Wiederaufgewärmte Remakes helfen nicht. Die Stoffe der neuen Filme müssen ursprünglich sein und aus der Gegenwart gegriffene, aktuelle Probleme behandeln. Es entspann sich eine rege Diskussion, in die auch die römische Revue »Solaria« mit einer Sondernummer über den Film eingreift. 1929 werden die erarbeiteten Theorien verwirklicht. Unter der Leitung Blasettis wird die »Augustus« gegründet. Ihr erster Film ist IL SOLE (Die Sonne). Er behandelt die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe. Nachträglich wird er vom inzwischen auf den Film aufmerksam gewordenen und ihn fördernden Staat zu Propagandazwecken benutzt. Man merkt ihm deutlich den Einfluss der russischen Schule an. Zur selben Zeit erscheint Camerinis ROTAIE (Räder; Kamera: Ubaldo Arata - Rom, offene Stadt). Er wurde noch als Stummfilm geplant und gedreht und erst nachträglich vertont. Der erste italienische Experimentalfilm wird im Jahre 1914 begonnen. Der Futurist Marinetti kann ihn aber des Krieges wegen nicht vollenden. Sein Schüler Giulio Bragaglia dreht 1916 PERFIDO INCANTO (Trügerischer Zauber) mit futuristischen Dekorationen. Im gleichen Jahr erscheint ein kombinierter Puppen- und Realfilm LA GUERRA E IL SOGNO DI MOMI (Momis Krieg und Traum) von S. Chomon.       Herbert Birett

Der Dokumentarfilm wird ebenfalls gepflegt; 1913 stellt Omegna einen Film über das Leben der Bienen her, Dr. G. Palazzolo LE MERAVOGLIE DEL MONDO MICROSCOPIO (Die Wunderwelt im Mikroskop). Verwendete Literatur:
Vernon Jarrat: The Italian Cinema
George Sadoul: Geschichte der Filmkunst
Enno Patalas: Geschichte des italienischen Filmes 1 und 2 in FILMFORUM I 7/8
Vinicio Marinucci: Tendenzen des italienischen Filmes in Unitalia-Film VIII 19
Knaurs Lexikon vom Film

Zurück zum Anfang


Über den Ton im Amateurfilm schreibt »Das Tonmagazin« (Nr. 2):
Wenn man aber erst einmal die Technik beherrscht, dann sollte der Tonfilm schleunigst wieder leiser werden.
  Wenn einmal - unvermutet - ein Kleidungsstück raschelt, ist es schöner, als wenn eine ganze akustische Entkleidungsszene durchgeführt wird.
  Wenn einmal eine Diele knarrt, ist die Szene glaubwürdiger, als wenn der ganze Bühnenboden geräuschmässig ausgewertet wird,
  Das Klingeln einer Schreibmaschine (Zeilenzeichen) kann bei einer Überleitung die nächste Szene bereits ankündigen. Das Schreibgeräusch des Bleistiftes ist sicher ein prächtiger Gag, schliesst aber jede naturalistische Glaubwürdigkeit aus, da der Hörer selbst in einer geräuschfreien Szenerie (Mönchszelle) das Gefühl ausser' gewöhnlicher Verstärkung nicht los wird.
  Ein halbverschluckter Satz im Rahmen einer bildmässig durchgestalteten Szene sagt mehr als ein ausgefeilter Dialog.
  Das thematische Niveau der Dialoge mag durchaus hoch sein, das stilistische soll dagegen - so oder so - der Eigenart des Films angepasst sein. Eindeutige grammatikalische oder Ausspracheschnitzer müssen beseitigt werden, da sie vom Laut-Sprecher hinter der Leinwand x-fach verstärkt herunterknallen. Das heisst aber nicht, dass Bühnendeutsch anzustreben ist. Ohne mehrjährige berufliche Ausbildung ist es nicht zu erreichen, und es hat auch jenseits der Bühnenrampe, also im Leben oder auf der Leinwand, nichts zu suchen. Die Worte eines Filmdialoges sollen ebenso zwanglos aus dem Munde der Darsteller purzeln, wie es im Leben auch wäre.
  Auch im Film soll der Regen dezenter rauschen als ein WC.


Der Kinobesucher ist daran gewöhnt, dass vor dem eigentlichen Programm Reklame gezeigt wird, die er gern in Kauf nimmt, wenn sie kurz und schmerzlos vorübergeht und den Ablauf der Spielfolge nicht beeinträchtigt. Seit einiger Zeit beobachte ich und andere mit mir, dass diese Filmreklame in einigen Theatern überhand nimmt. Es genügen nicht mehr kurze Hinweise dieser oder jener Firmen. Ganze Filmstreifen rollen vor dem Zuschauer ab. Die Zeit vergeht, und nun rasen Kulturfilm und Wochenschau an dem Kinobesucher vorüber, dass er die eigentlichen Aufnahmen kaum wahrnehmen und erfassen kann. Bezahlen wir die Reklame oder den Film?
      Leserbrief d. Fr. A. Weber, Frankfurt, in der FAZ, 25. November 1958


Bei allen Aufklärungsfilmen fehlt noch immer der Aufklärungsfilm: »Wie macht man einen guten Film?«
Fortschritt: Die alten Ägypter haben 100 Jahre lang an einem Tempel gebaut. Das macht heute ein guter Regisseur an einem Vormittag.
(Illustrierte Filmwoche Berlin, 1919)


Aus einem Werbefilm (Deutschland): Und glückliche Familien trinken Glücksklee von glücklichen Kühen.
Zurück zum Anfang


Jonas (Deutschland)
Regie und Buch: Dr. Ottomar Domnick, 1957
Kamera: Andor von Barsy
Musik: Duke Ellington und Winfried Zillig
Jonas (Robert Graf), dessen neuer Hut gestohlen wurde, entwendet einen anderen. Durch das darin befindliche Monogramm M. S. wird er an einen Kriegskameraden erinnert, den er verwundet im Stich gelassen hatte. Dieser Schuld versucht er zu entfliehen, was ihm aber nicht gelingt.
Will man den Film katalogisieren, so kann man ihn der Avantgarde zurechnen, da Dr. Domnick daran lag, »den Naturalismus zu überwinden, der in allen Gebieten der modernen Kunst ausgespielt hat, aber immer noch die Filme beherrscht«. Nach dem, was er erreicht hat, ist es aber die Avantgarde der zwanziger Jahre.
In seiner Einführungsrede, aus der alle hier aufgeführten Zitate stammen, sagte er, dass dieser Film, den er ohne kommerzielle Unterstützung hergestellt habe, ein guter Film geworden sei. Er führte ferner aus: »Ich wollte einen einfachen, sensitiven Durch-Schnittsmenschen zeigen, innerlich vereinsamt im Getriebe der Grossstadt, ohne tiefere menschliche oder religiöse Bindungen, _... der mit sich selbst nicht fertig wird. Aber das Wesentliche war mir das allgemein-menschliche Problem: Die Lebensangst des modernen Menschen.« »Die Zukunft ist dunkel, so wie der Film endet. Der Film zeigt den Weg nach innen.«
Ein Wunschbild; leider hat er nicht erreicht, was er beabsichtigt hat. So zeigt er Jonas meist als einsamen Menschen. Kontaktlosigkeit kann man bei einem Menschen nur beobachten, wenn er mit einem anderen Menschen zusammen ist - in diesem Falle nur in der Fabrik, auf der Polizei und im Gespräch mit Nanni (Elisabeth Bohaty), die ihn behütet hat. Dieses Wortspiel stammt übrigens von Dr. Domnick selbst. Er will den Hutkauf gleichgesetzt wissen mit dem Gewinn des »Behütetsein«. Mit dem Verlust des Hutes verliert Jonas dieses Gefühl, und er will es sich zurückstehlen. So etwas lässt sich aber nicht so einfach wiederholen.
Die Kameraführung zeigt vorwiegend bewegte Standfotos und ist recht veselyg und ruttman(n)isch; sie ist aber immer noch das Beste am Film. Die Sache krankt am Drehbuch, das Dr. Domnick von verschiedenen zuerst vorgesehenen Regisseuren nicht ändern lassen wollte und schliesslich in eigener Regie verfilmte. Er hat wahrscheinlich von allen seinen Fällen das für ihn als Arzt und Psychiater Interessanteste ausgewählt und daraus Jonas - ein anderer Frankenstein - zusammengestückt. Die anderen Figuren tragen zu dem Menschenbild, das Dr. Domnick zu entwerfen versucht, nichts bei: »Das Menschenbild, das ich zeichne, ist kein optimistisches. Ich finde, es ist aber auch kein pessimistisches.«       H. B.
Zurück zum Anfang


Ein Herz und eine Krone (USA) (Roman Holiday)
Regie: William Wyler, 1953
Buch: Jan McLellan Hunter und John Dighton
Kamera: Frank Planer und Henri Alekan
Musik: Georges Auric
Darsteller: Audrey Hepburn; Gregory Peck; Eddie Albert
Die alte Geschichte von der Prinzessin und dem armen Zivilisten, die zusammen nicht kommen können. Da der Regisseur William Wyler genial ist, darf er, was andern zum Verhängnis würde, er mischt Dokumentares mit Operette; seine Bühnenfiguren vor den echten Ruinen Roms ergeben einen Schwebezustand zwischen Parfüm und Ruch, der reizend ist und das Publikum zu Beifall auf offener Leinwand hinreisst.
Worauf hinzuweisen ist: Wenn der Filmamerikaner naiv ist, ist er 's poetischer als wir. Dieser amerikanische Film hat mehr Herzlichkeit als alle Filme Austrias zusammen, mehr taktvolle Ironie als die deutschen Lustspielfilme. Der Krampfhaftigkeit des heitern Films unseres Kontinents gelingt der Ton des verhaltenen Humors nicht mehr. Wir bilden uns auf die Haute Couture unseres Ernstes so viel ein, dass wir in der Konfektion des Heitern wursteln zu dürfen glauben _... während die Amerikaner, die auf Tiefe nicht spezialisiert sind, das Heitere dafür um so ernster nehmen. Sie haben im Spasshaften Distinktion. Sie sind von aparter Lustigkeit. Ihr Lächeln hat eine vornehme Melancholie. In diesem Film gibt es eine Kussszene, zwischen Träne und Lachen; sie ist mehr keusche Entarmung als gierige Umarmung. Die Nachtszene, man zeige uns einen Film mit spröderer und sauberer Erotik. Der amerikanische Journalist verbringt mit der ihrer Hofetikette entlaufenen Thronerbin zwei römische Tage und Nächte. Er wird darüber einen guthonorierten Artikel schreiben. Aber die Liebe ist stärker als die journalistische Sensation. Dieser Wechsel vom Honorar zur Liebe hat Zwischentöne, die nur einem Darsteller vom Nuancenreichtum Gregory Pecks gelingen.
Aber den Film trägt Audrey Hepburn. Während auf der Bühne eine gute Darstellerin die Rolle ausfüllt, trägt in diesem Film die Darstellerin einen Charme in die Rolle hinein, der grösser ist als der vom Autor vorgesehene. Die Hepburn bringt nicht nur Talent, sondern sich selber mit, das heisst ein Girl mit Melancholie, ein Frauenmädchen, eine Mädchenfrau, eine Spitzbubenwehmut. Eine Frigidität von unendlicher Wärme. Die Unverbrauchtheit einer Darstellerin kann an nichts besser abgelesen werden als an den Augen. Auf der Bühne kann Mimik über Parkett und Orchester hinweg nach allen Kanten bluffen, vor der Kamera, der unerbittlich nahen, aber sehen wir mitten ins Auge hinein. Und dieses Auge der Hepburn hat Zwischentöne und Doppelschichten. Rom bleibt zwar Hintergrund, sogar das Volk, in das die Prinzessin untertaucht, ist eher Statisterie als Operette. Aber man zerstörte die heitere Schwebung der Operette, wenn man sie mit römischer Wirklichkeit tränkte. Wyler gehört zu den Regisseuren, die ihre Atmosphäre in die Wirklichkeit hineintragen und die sich nicht ihre Atmosphäre von der Wirklichkeit diktieren lassen.
Man betrachte das Publikum nach der Aufführung dieses süperben Films: das Tränentüchlein am lachenden Auge.       Edwin Arnet in der »Neuen Zürcher Zeitung«
Zurück zum Anfang


Wir sind alle Mörder (Frankreich) (Nous sommes tous des assassins)
Regie: Andre Cayatte, 1952
Kamera: Louis Stein
Buch: Charles Spaak; Andre Cayatte
Darsteller: Mouloudji; Antoine Balpêtre; Raymond Pélégrin, Verdier; Claude Laydu
Das Gericht hat entschieden.
Vier Mörder warten in der Todeszelle auf ihre Hinrichtung.
Der eine geriet als Jugendlicher in die Widerstandsbewegung und lernte als gefeierter Held dort das Töten. Nun findet er sich verwirrt als Mörder wieder.
Der andere war Arzt, der auf Grund von Indizien verurteilt wurde, aber bis zu seinem grauenvollen Ende glaubwürdig beteuert, er habe seine Frau nicht vergiftet. Der dritte ist Korse, der zum Mörder wurde, als er das alte Gesetz der Blutrache befolgte.
Der vierte erschlug sein siebentes Kind mit einer Feuerzange, weil er das Gebrüll nicht mehr ertragen konnte.
Der ehemalige Widerstandskämpfer erlebt nun dreimal, wie seine Zellengenossen aus dem Schlaf ans Schafott gerissen werden: Der Arzt verzeiht seinen Henkern, nimmt seine Richter aber davon aus. Er stirbt voll Hass. Auch der Korse beichtet dem Gefängnisgeistlichen und weiss zu sterben. Der letzte der Unglücklichen hält es nicht aus. Unter furchtbarem Schreien wird er unters Beil gezerrt. In allen Einzelheiten erlebt der Zuschauer, wie diese gesetzliche Tötung - das erschreckend bagatellisierende Fremdwort »Exekution« verbietet sich von selbst - vonstatten geht. Ein furchtbarer Realismus und grauenhafte Erbarmungslosigkeit werden wie nur selten in diesem Film gezeigt. Für Cayatte, den Regisseur, rechtfertigen sich diese schrecklichen Bilder aus seinem unbedingten Willen zur Wahrheit, aus der künstlerischen Gesamtkonzeption und der Grösse des Zieles.
Er will nichts Geringeres beweisen als: Die Todesstrafe ist Unrecht! So sieht es Cayatte: Die vier in der Todeszelle sind die eigentlichen Opfer, die wochenlang in der grauenvollsten Angst, der Angst vor dem auf die Sekunde pünktlichen Beil, Nacht um Nacht verbringen. Kein Mörder quält seine Opfer so grausam. Und dann tötet man sie. Man? Der Staatsanwalt, der Richter, der Amtsarzt, der Wärter, der Geistliehe und wir alle, die wir den Widerstandskämpfer das Morden lehrten und dem Arzt keinen Glauben schenkten. Und warum? Was gibt der Todesstrafe ihre Berechtigung? Rache? Deswegen geht ja der Korse zum Schafott. Abschreckung? Die Todesstrafe schreckte den Mörder nicht ab, sein Kind zu erschlagen und wird auch nie abschrecken. Schutz der Gesellschaft? Durch Galgen, elektrischen Stuhl, Guillotine? Was für eine Gesellschaft, die keinen anderen Schutz kennt.
Cayatte macht es sich nicht einfach. Zeigte er nur den ersten Fall, so könnte man sagen, die Widerstandszeit sei anomal, das kann vermieden werden, die Todesstrafe aber nicht. Der unschuldig Verurteilte allein genommen, wäre dem Vorwurf einer billigen Polemik gegen die Todesstrafe ausgesetzt, und schliesslich sind auch nicht alle Menschen an Blutrache gewöhnte Korsen. Trotzdem, wer will, solange der Mensch nicht sicher Recht von Unrecht scheiden kann, ein irreparables Urteil über Leben und Tod eines Menschen fällen? Aber auch den Fall des bestialischen Mörders zeigt Cayatte. Und auch hier besteht er darauf: Die Todesstrafe ist keine Lösung. Wem nützt der Tod des Verbrechers, wen bessert er?
Dieser Film wendet sich an das Gewissen jedes einzelnen, und er macht uns dabei eindringlich klar: »Du sollst nicht töten« gilt nicht nur für die auf der Anklagebank.
André Cayatte wurde am 3. 2.1909 in Carcassone geboren. Ursprünglich Rechtsanwalt, wechselte er jedoch bald ins Filmfach über. Auch hier war er weiter der Anwalt der Gerechtigkeit. Er befasste sich in seinen Filmen fast ausschliesslich mit juristischen Themen, durch die die Unzulänglichkeit menschlicher Rechtsprechung dargetan werden soll. Seine in diesem Zusammenhang interessierenden Filme sind:
»Justice est faite«, 1950; »Nous sommes tous des assassins«, 1952; »Avant le deluge«, 1954; »Le dossier noir«, 1955.       H. K.
Zurück zum Anfang


Ninotschka (USA)
Regie: Ernst Lubitsch, 1939
Buch: Charles Brackett; Billy Wilder; Walter Reisch (nach Melchior Lengyel)
Darsteller: Greta Garbo; Melwyn Douglas
Einmal in einer guten Komödie spielen zu dürfen, war stets einer der grössten Wünsche Greta Garbos gewesen. Als ihr dann 1939 Lubitsch die Rolle der russischen Agentin, die sich vom geschlechtlosen Parteiwesen zur Frau entwickelt, anbot, ging dieser Wunsch endlich in Erfüllung. Bisher hatte sie vor allem in ernsten Filmen die »femme fatale« oder die »göttliche« Rolle verkörpert, und erst in ihrem vorletzten Film konnte sie beweisen, dass sie auch lachen konnte. So ist dieser Film heute vor allem ihrer» wegen noch sehenswert. Hätte sie nur diesen einen Film gedreht, wir müssten sie zu den besten Filmschauspielern zählen.
Lubitsch kommt von der Reinhardt-Bühne, von der er aber weniger die Beleuchtungs» technik als die feinfühlige Führung der Schauspieler gelernt hat. Während seine ersten Filme vor allem den Kostümfundus bemühten, entdeckt er später das Lustspiel. Aber in allen seinen Filmen spürt man die zuweilen sehr scharfe Ironie.
Mit NINOTSCHKA begab er sich zum erstenmal auf das Gebiet der politischen Komödie. Hier kritisierte er das kommunistische System und nahm Stellung für die Freiheit des einzelnen Menschen und die freie Entscheidung über das eigene Tun. Noch schärfer war seine Kritik am Nationalsozialismus in SEIN ODER NICHTSEIN (1942), dem fast einzigen Lustspielfilm über diese Zeit. Sein Mittel, die Lächerlichkeit dieser Leute darzustellen, war wirksamer als der klagevolle Ernst vieler anderer Produktionen.       H.B.
Zurück zum Anfang


Herr im Haus bin ich (England) (Hobson's Choice)
Regie: David Lean, 1954
Buch: Harold Brighouse
Kamera: Jack Hildyard
Musik: Malcolm Arnold
Darsteller: Charles Laughton; John Mills; Brenda de Banzie; Daphne Anderson; Prunella Scales; Helen Haye
David Lean hat sich mit »Brief Encounter« den Ruf eines meisterlichen Gestalters leiser Tragödien des Gefühls erworben. Seine Adaptionen von Romanen Charles Dickens' holen mit subtiler Könnerschaft Atmosphäre, Charakterwelt und Moralität des grossen englischen Erzählers ein. Es mag David Lean gelockt haben, einmal auch zu zeigen, dass er den Ton beherrscht, der das vielgelobte englische Lustspiel auszeichnet. So hat er »Hobson's Choice« gedreht. Vorweg sei's gesagt: eine Komödie von hohem Rang der Köstlichkeit. (Inhalt folgt.)
Ein Lustspiel, so englisch wie nur eines. Eine witzige, aber menschlich anrührende Parodie auf die englische Kleinbürgerlichkeit, auch auf den angestammten, so gesunden und doch so unvertrauten Konservativismus, ein Seitenhieb auf die Emanzipation der Frau, voll Verschmitztheit, und eine Gardinenpredigt an alle Männer, die ihre Selbstherrlichkeit für einen Ausweis ihrer Überlegenheit erachten. Es sprüht nach allen Seiten, die Heiterkeit ist voller Melancholie, die Ironie von liebenswürdiger Boshaftigkeit; es quirlt von Witz, der Kalauer fehlt nicht, und wird auch gestichelt, so ist die Stichelei nie böser Art. Es ist ein so recht fröhlicher Film, seine Ironie und seine Heiterkeit kommen ganz aus dem Optischen; er hat den Zauber der uns heutige Leute belustigenden Krinolinenatmosphäre, er hat den Timbre des Liebenswert-Menschlichen und unterhält aufs vergnüglichste dabei. Er hält sich der Grenze des absichtsvollen Ernstes einer dem Lustspiel ungemässen Aussage ebenso fern wie der Posse. Und seine Darsteller spielen zum Herzensgaudium der Zuschauer. Charles Laughton als Schuhmachermeister ist gewaltig in seiner Gegenwärtigkeit; er trägt seine imponierende Körperfülle in fast verspielter Beweglichkeit daher, breitet Gebärden aus, die jeden Widerspruch hinwegschwemmen, lässt die Rede stürzen wie einen Wasserfall, und wenn er trunken ist, orgelt Pan in den Strassen unter dem Mondlicht - er ist ein Virtuose des Rülpsens. Neben ihm John Mills als Geselle: Auch er ein Darsteller von Format; er gibt eine vollendete Charakterstudie der Linkischheit. Dem mächtigen Laughton ist er, obwohl so schmächtig, durchaus gewachsen, weil er dort zurückhält, wo jener davonschiesst. Als dritte im Bunde Brenda de Banzie, eine Schauspielerin, die nicht nur schön ist, die das Talent hat, nicht schön zu sein, wo die Rolle es verlangt.       Neue Zürcher Zeitung
Zurück zum Anfang


Die zwölf Geschworenen (USA) (Twelve Angry Men)
Regie: Sidney Lumet, 1957
Buch: Reginald Rose
Kamera: Boris Kaufmann
Musik: Kenyon Hopkins
Darsteller: Henry Fonda; Lee J. Cobb; Ed Begley; E. G. Marshall; Jack Warden; Martin Balsam; John Fiedler; Jack Klugman
Twelve Angry Men als ein Lehrstück der Demokratie zu bezeichnen, darf allein unter der Voraussetzung geschehen, dass es sich dabei um einen Film gegen den Antisemitismus handelt. - Das ist leicht erkennbar; in Sonderheit aber daran, dass die zentrale Figur des Films ein kleiner jüdischer Junge ist (er wird dem Publikum in einer einleitenden Sequenz vorgestellt).
Dieser Junge - des Mordes angeklagt - ist durch eine scheinbar lückenlose Indizienkette der Tat überführt, und augenscheinlich ist die Evidenz der Beweise so erdrückend, dass die Konklave der Geschworenen über die Frage »schuldig oder nicht« kaum in einen Streit geraten könnte.
Gerade damit beginnt jedoch der Film; und nichts anderes wird nun versucht, als das Bild jener Geschworenen zu entwerfen, die mit ihren mörderischen Schwächen über das Leben des kleinen jüdischen Jungen zu befinden haben - und die, mit solchen Schwächen behaftet, möglicherweise auch das Leben einer rassischen Minderheit unter ihrer Skrupellosigkeit zu ersticken bereit sind _... einer Minderheit, für die der Junge selbst nur Symbol sein soll. Diese Männer setzen dem schmächtigen Zufall - der Erkenntnis nämlich, dass die Indizienkette lückenhaft ist - eine Welle des Zorns, der Wut, der zynischen, rachgierigen und widerlichen Verantwortungslosigkeit entgegen. Ihr einmal gefasstes Vorurteil gilt. Sie bieten alle ihre Kräfte auf, es sich nicht entreissen zu lassen.
Der Zufall, die mangelhafte Schlüssigkeit der Beweise aufzudecken, personifiziert sich in H. Fonda, dessen Denkübungen dem Publikum zwar nicht treffend genug sein mögen, die Geschworenen hingegen zwingen, schliesslich doch Gerechtigkeit vor Vorurteil walten zu lassen. Die Folge solcher Gerechtigkeit: Der Junge wird für nicht schuldig befunden!
Dass darauf schliesslich erkannt wird, kann für den geschilderten Fall als tröstlich bezeichnet werden; für das aber, was er symbolisiert, muss ein derartiges Happy-End mit seinen Zufälligkeiten Nachdenklichkeit und Skepsis auslösen. So wenig der Film nun die Frage berührt, ob semitische Minderheiten der Verfolgung durch fadenscheinige Argumente ausgesetzt sind oder nicht, so wenig gibt er auch eine Antwort darauf, ob die Existenz dieser Minderheiten tatsächlich nur eine Frage des Zufalls - der Gutwilligkeit, der Gerechtigkeit ist oder nicht. Was er allerdings zeigt und zeigen will, sind jene »twelve angry men«, die nur unter Aufbietung aller Kräfte davon abgehalten werden können, unter dem Mantel bürgerlicher Reputierlichkeit einen Mord zu begehen.
Diese zwölf Männer charakterisieren sich dem deutschen Titel nach wesentlich durch ihre Funktion als Geschworene, und ihre Reaktionen erhalten so leicht den Anschein einer »Berufskrankheit«. Der amerikanische Vorspann spricht hingegen nur von zwölf zornigen Männern _... ein Titel, der - wie es scheint - den konkreten Vorfall nicht allein für die Geschworenen im Publikum als Anlass zu mehr als blosser Nachdenklichkeit verstanden wissen will.       U. N.
Zurück zum Anfang


Lissy (Deutschland/Ost)
Regie: Konrad Wolf, 1957
Drehbuch: Alex Wedding und Konrad Wolf nach dem gleichnamigen Roman von C. F. Weiskopf
Musik: Joachim Werzlau
Kamera: Werner Bergmann
Darsteller: Sonja Sutter; Horst Drinda; Hans-Peter Minetti; Kurt Oligmiiller
»Lissy« war der erste Defa-Film seit Staudtes »Untertan«, den wir in der Bundesrepublik sehen konnten. Das war in doppelter Hinsicht erfreulich: Der Film ist nicht nur gut, im Westen ist auch nichts Gleichwertiges geschaffen worden; Kurt Hoffmanns »Wir Wunderkinder« ist jedenfalls kein Äquivalent.
Die Art, in der Konrad Wolf (Sohn des Dramatikers Friedrich Wolf und Absolvent der Moskauer Filmakademie) einige typische Schicksale aus den Jahren 1932/33 darstellt, zwingt jeden, in der Geschichte der kleinen Verkäuferin Lissy mehr zu sehen als die Beschwörung einer traurigen und tragischen, von Zweifeln, Irrtümern und Verbrechen erfüllten - aber schliesslich doch vergangenen Zeit: Es geht hier um das Verhalten des Kleinbürgertums beim Aufkommen des Nazismus.
Fromeyer, der Prototyp dieser kleinen Bürger, hat viel Ähnlichkeit mit dem »Helden« aus Hans Falladas »Kleiner Mann, was nun?«. Er ist mit all seinen Vorurteilen - seinem Streben nach »Höherkommen«, seiner Abneigung gegen den »Proletarier« - prädestiniert, Nazi zu werden, sobald die Umstände ihn dazu veranlassen: Er verliert seine Stellung, wird Vertreter (ohne viel Erfolg) und fällt schliesslich einem ehemaligen Freund, der es inzwischen zu einem SA-Führer gebracht hat, in die Hände. Seine Frau Lissy aus dem Berliner Wedding bleibt zwar stets misstrauisch, aber sie lehnt es nicht ab, dass Fromeyer zur SA geht und ihnen damit ein Auskommen und später sogar Wohlstand verschafft. Ihren kommunistischen Freunden sagt sie: »Wir können doch nicht einfach vor die Hunde gehen _...«. Erst als sie erfährt, dass ihr Bruder, der als unzufriedener Rotfront-Kämpfer zur SA ging und nun wieder mit der SA unzufrieden ist, von den Nazis »beseitigt« wurde, erkennt sie die grosse Kluft zwischen ihrem Verhalten und ihrem Denken.
Mit den letzten Sätzen aus C. F. Weiskopfs Roman schliesst auch der Film: »Lissy wusste jetzt: man kann einsam sein und dennoch nicht verlassen. Sie wusste: es gibt einen Weg - jeder geht ihn für sich, und doch geht keiner allein.«
Das erscheint uns - anders als im Roman, wo es im Zusammenhang seinen Sinn hat - im Film sentimental und unecht; aber das könnte auch an uns liegen.
Dass die roten Kolonnen allzu sanft dargestellt werden, ist gewiss ein Schönheitsfehler (ostzonale Zeitungen haben dagegen das »allzu passive Verhalten« der Kommunisten kritisiert). Dass der Film ausgerechnet aus einem Land der Unfreiheit kommt, mindert jedoch nicht seinen Wahrheitsgehalt.       H. M.
Zurück zum Anfang


Marty (USA)
Produktion: Harold Hecht und Burt Lancaster
Regie: Delbert Mann, 1955
Buch: Paddy Chayefsky
Kamera: Joseph LaShelle, A. S.C.
Musik: Roy Webb
Darsteller: Ernest Borgnine; Betsy Blair; Esther Minciotti; Augusta Ciolli; Joe Mantell; Karen Steele; Jerry Paris; Frank Sutton
Vor dem zweiten Weltkrieg hatte Paddy Chayefsky noch keine Zeile geschrieben, während seines Lazarettaufenthaltes begann er aus Langeweile mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, und heute ist er einer der meistbeschäftigten Fernsehautoren Amerikas. »Marty« war bis dahin sein grösster Fernseherfolg.
Als Zeichen einer neuen Ära der guten Zusammenarbeit von Film und Fernsehen wurde es von manchen voreiligen Propheten angesehen, als die Hecht-Lancaster-Produktion diese erfolgreiche Fernsehstory aufgriff. Es ist die einfache Geschichte eines hässlichen Metzgergesellen, der schon über dreissig und noch immer nicht verheiratet ist, und von einer ebenso unansehnlichen, sitzengebliebenen Lehrerin. Sie lernen sich kennen und lieben.
Der Stoff ist unter drei Aspekten interessant: Amerika befindet sich in einer Phase des sozialen Konformismus. Vorbild für die Verhaltensweise des einzelnen ist nicht mehr eine überragende Persönlichkeit, sondern das Idealbild des normalen Durchschnittsbürgers. Es ist aber anomal, nicht verheiratet zu sein und keine Familie zu haben. Deshalb übt Martys Umwelt - seine Mutter, seine Freunde und seine Kunden - einen Druck auf ihn aus.
Zweitens gehört Marty einer traditionsgeleiteten Minderheit an: Er stammt aus einer katholischen, italienischen Einwandererfamilie. Martys Eheschliessung ist in erster Linie ein Symbol für die feierliche Aufnahme eines Aussenseiters in den Kreis des »Americanway-of-life«.
Drittens ist der Stoff charakteristisch für die Aufgabe der Massenkommunikationsmittel in der modernen Gesellschaft. Der Durchschnittsmensch ist unsicher in der Wahl der Massstäbe für sein Verhalten. Deshalb sind Geschichten, die im engsten Kreise der Familie spielen, besonders »telegen«. Mit ihrer Hilfe korrigiert er die Verhaltensweise seiner eigenen Familie gegenüber.
Delbert Mann, der bis dahin nur für das Fernsehen gearbeitet hatte, inszenierte diesen Film mit überraschender Schlichtheit. Dabei ist jede Situation, jede Einstellung neu und einmalig. Der Film ist kino-unkonventionell, ohne jedoch von irgendwelchen Stil-Ambitionen getragen zu sein. Diese saubere und ehrliche Regie, vor allem die klare Zeichnung des deprimierenden Alltags des New Yorker Mittelstandes ist der Grund für die grosse Begeisterung, die der Film bei Publikum und Presse ausgelöst hat.
Trotz der grossen schauspielerischen Leistung der Hauptdarsteller erscheinen sie unter manchen Aspekten fehlbesetzt. Ernest Borgnine wirkt trotz allem zu männlich, als dass man ihm den Junggesellen wider Willen glauben möchte. Und auch Betsy Blair besitzt solch eine liebenswürdige Ausstrahlung, dass man ihr die sitzengebliebene Jungfrau nicht ganz abnimmt. Hierdurch gerät der Schwerpunkt aus dem Bereich des Menschliehen heraus, und die Tendenz schimmert deutlich durch.
Ernest Borgnine, ein Italiener, diente erst bei der Marine, ging dann auf eine Schauspielschule und filmte in »From Here to Eternity« und »Vera Cruz«. Marty ist seine erste sympathische Rolle.
Betsy Blair, Gattin Gene Kelleys, begann als Fotomodell. Ihre erste Hauptrolle spielte sie in Sayorans »Beautiful People«.       W.W.
Zurück zum Anfang


Irgendwo in Europa (Ungarn)
Produktion: Mafyrt-Radványi, Ungarn 1947
Verleih: Transocean-Film KG
Buch und Regie: Béla Bálàsz und Géza von Radványi
Kamera: Barnabas Hegyi
Musik: Denes Buday
Darsteller: Arthur Somlay; Miclos Gabor
Der Film spielt in den letzten Tagen des Krieges und zeigt uns eine Welt, von der man heute nichts mehr wissen will, eine Welt, in der zu Waisen gewordene Kinder Räuber, Brandstifter und Mörder werden, gejagt vom Hunger und Selbsterhaltungstrieb. Wenn die Kinder sich begegnen, prügeln sie einander, - »sie lernen sich kennen« und ziehen gemeinsam weiter. Ein älterer Junge spielt den Anführer. Sie fallen auf Felder und in Bauernhöfe ein, stehlen Lebensmittel, während Polizisten und Bauern auf sie schiessen.
Die Kinder finden schliesslich eine Schlossruine und in ihr einen politisch verfemten Dirigenten, den sie fesseln und aufhängen wollen. Warum? Nur so zum Spass. So haben sie es gesehen, und so haben sie es gelernt. In der Nacht zerschneidet ein Kind die Fesseln des Erwachsenen. Doch dieser flieht nicht, sondern gewinnt in mühsamer Arbeit das Zutrauen der Kinder. Er ist es dann auch, der in der Gerichtsverhandlung die Anklage gegen die Erwachsenen erhebt.
Radványis Filmwerk benutzt stark veristische Elemente der italienischen Schule (der Film wurde zum Beispiel nur mit Laiendarstellern gedreht). Besonders im ersten Drittel zeigt er ausdrucksstarke Bilder.
Der Film kam erst 1951 nach Deutschland, wurde zuerst von der Freiwilligen Film-Selbstkontrolle in Wiesbaden-Biebrich nicht zugelassen und lief auch dann nur in Nachtvorstellungen und Matineen. Erst durch die Filmclubarbeit wurde er einem grösseren Kreise bekannt. Im normalen Kinoprogramm wurde er jedoch nie eingesetzt. Dies ist um so weniger zu verstehen, als der Film von Papst Pius XII., Harry S. Truman und dem französischen Staatspräsidenten Vincent Auriol empfohlen und von der Filmbewertungsstelle der Länder mit dem Prädikat »Wertvoll« ausgezeichnet wurde. - Oder sollte das der Grund sein?       Bl.
Zurück zum Anfang


Das Mädchen und die Eiche (Jugoslawien) (Djevojka i hrast)
Buch: Mirko Bozik
Regie: Kreso Golik, 1954
Kamera: Frano Vodopivec
Musik: Branimir Sakacs
Darsteller: TamaraMarkovic; LjubivojeTadic; Andrej Kurent; Miodrag Popovic
Film-Balladen von solch schwermütigem Tonfall sind heute in Europa nur in den Randgebieten des kontinentalen Zivilisationsbetriebes möglich: in monumentalen Gebirgen, auf gottverlassenen Inseln im Ozean, unter den letzten Hirten und Bauern, unter den letzten Fischern. Dort wo Berg und Meer überwältigen, wo Natur und Mensch nicht auf billig-realistische Dutzendweise zu konterfeien sind, wird die Kamera gezwungen, sich dem Ursprünglichen in einer Bildsprache der Symbole zu nähern. Sie tut es hier im Karst von Dalmatien. Eine furchterregende Welt der Steine tut sich auf. Soweit der Blick schweift: baumlose Öde, felsige Mondkratereinsamkeit unter glühender Sonne. Wer hierhin geht, in den Karst, um einen Film zu drehen, will Kunst, nicht Konsum. Diese dalmatinische Weise von Liebe, Eifersucht und Tod ist ungewöhnlich in ihrer künstlerischen Absicht. Sie ist ganz auf die Wirkungen der Kamera gestellt. Das Ausgedorrte, Steinige, Felsenhafte einer urtümlichen Natur ist so suggestiv photographiert, dass es Mitspieler des Geschehens ist. Das Wort tritt zurück, die Film-Ballade spricht in Bildern, wir treffen auf jenen Stil, der - nicht ohne Vorbilder freilich gerade bei den nichtkommerzialisierten Produktionen - Legendenton, einfache Gefühle, grossflächige Holzschnittmanier vereinigt.
Die kleine Smilja, noch ganz im Spiel der Kindheit befangen, findet die Mutter tot an einer trotzig zwischen Steinen aufwachsenden Eiche. Der Baum wird der einzige Freund des Mädchens, heimlich bringt es in irdener Schüssel das kostbare Wasser, um ihn zu giessen. Zur Eiche flüchtet die Einsame, wenn sie das Leben in dem kleinen Felsendorf ausstösst. Dieser Auftakt des Films ist grossartig. Die Symbolik trifft das Einfache überzeugend, etwa das szenische Sinnbild für die Kostbarkeit des Wassers, für die Scheu des Kindes und die Lieblosigkeit der Erwachsenen. Was die Kamera an eigenwilligen Einstellungen poetisch fertigbringt, das prägt sich ein. Wie malerisch ist gerade hier ihr hartes Schwarz-Weiss! Später, wenn die Liebe zwischen Smilja und Ivan erzählt wird, wenn Leidenschaft, Eifersucht, Mord und Blutrache den Inhalt der Ballade bilden, bleibt zwar der schwermütige Tonfall erhalten, aber im Stoff breitet sich die auf den Holzschnitt zielende Herrichtung aus. Das Balladeske wird allzu bewusst stilisiert: in Gebärde, in der Tracht, im Bild.
Freilich: Karst ist keine Heide, und zwischen den Felsen Jugoslawiens blüht keine Erika. Selbst wenn der Regisseur den Film gelegentlich auf den Volksballadenton hin zurechtstilisiert - welch himmelweiter Abstand noch zum kontinentalen »Heimatfilm«, welch treffliches Beispiel dafür, wieviel Kräfte und künstlerische Wirkungen von der Leinwand ausstrahlen können, wenn man sich den einfachen Bildern und den schlichten Gesängen aus der nationalen Volkstradition zuwendet! Und wieviel ungekünstelte Natürlichkeit in den Gesichtern und im Spiel der Hauptdarsteller.       Frankfurter Allgemeine, 27. 2.56
Zurück zum Anfang


Der Mann der sterben muss (Italien-Frankreich)
Regie: Jules Dassin, 1957
Buch: Ben Barzmann und J. Dassin nach dem Roman »Christus wird immer wieder gekreuzigt« von Nikos Kazantzaki
Kamera: Jacques Natteau; Gilbert Chain
Musik: Georges Auric
Darsteller: Pierre Vaneck; Jean Servais; Fernand Ledoux; Melina Mercouri; Gert Fröbe
In einem der griechischen Streudörfer Anatoliens verteilt der Pope an seine versammelte Gemeinde die Rollen des österlichen Passionsspieles.
So eröffnet Jules Dassin seine Filmversion des »wiedergekreuzigten Christus«, seine Busspredigt in Bildern. Denn damit werden diese Menschen unter ein anderes Gesetz gestellt. Der Hirt Manolios, dem die Rolle des Christus übertragen wird, Michelis, der den Johannes, Katharina, die die Maria Magdalena, Kostandis, der den Jacobus, der Sattler Pannayotaros, der den Judas, und jener Yannakos, der den Petrus spielen soll - sie alle stellen sich unter das Gesetz der Liebe.
Als griechische Flüchtlinge aus einem anderen Dorf eintreffen, vertrieben durch türkische Truppen, die sich für griechische Angriffe nach dem ersten Weltkrieg rächen - der geschichtliche Hintergrund des Films -, da versagt der Pope, der Bürgermeister und das ganze reiche Dorf, bedacht auf ihr ruhiges und sicheres Leben, diesen die Hilfe.
Aber die wenigen Auserwählten des Passionsspieles werden ihre Rolle leben. Sie werden leiden, sie werden Vater und Mutter verlassen, um sich auf die Seite der Verfolgten zu stellen, und Christus wird sterben. Aber auch der Opfertod des Christus bringt keine Erlösung: Gewehre richten sich gegeneinander.
»Denn Gnade ist nicht Glückseligkeit, sondern äusserstes Leid, und des Menschen Seele ist bös von Grund auf.« H. K.

Reporter des Satans (USA) (The Big Carnival)
Regie: Billy Wilder, 1951
Buch: Billy Wilder; Lesser Samuels; Walter Newman
Kamera: B. Lang jr.
Darsteller: Kirk Douglas; Richard Benedict; Jan Sterling; John Berkes; Ray Teal; Porter Hall
»Tausend Chinesen sterben Hungers - wen regt das auf? Aber ein einziger Mann in Todesgefahr, das interessiert jeden.« Oder: »Man müsste fünfzig Giftschlangen in einer Stadt aussetzen und eine gewaltige Panik entfesseln. Neunundvierzig Schlangen würden bald gefunden, aber die fünfzigste läge als Reserve in meinem Schreibtisch, so lange, bis ich die Sensation genügend ausgeschlachtet habe.« Das sind zwei Kostproben aus dem Erfahrungsschatz des verkrachten Boulevard-Journalisten Charles Tatum. Der Zufall kommt ihm zu Hilfe, um mit diesen Faustregeln der Massenpsychologie den »Big Carnival«, den grossen Rummel, zu starten.
In den Felsenhöhlen Neumexikos wird ein Mann verschüttet. Er liesse sich in wenig mehr als zehn Stunden befreien, aber es gelingt dem Reporter mit Hilfe des korrupten Sheriffs, die Rettungsarbeiten über eine ganze Woche auszudehnen. In der Tankstelle, die dem Verschütteten gehört, richtet er sein Hauptquartier ein und leitet von hier aus den grossen Rummel. Autobusse und Sonderzüge speien die sensationshungrigen Massen aus. Würstchenbuden und Karussells werden aufgebaut, Fernschreiber ticken, ein Leo-Minosa-Rettungsschlager wird in aller Eile verfasst, Familien kommen mit Camping-Anhängern, Rundfunkreporter stellen alberne Interviews, Lautsprecher und Polizeisirenen übertönen das Ganze.
Und über allem steht Charles Tatum als Reporter-Star.
Aber die Rechnung geht nicht auf. Am fünften Tage stirbt der Eingeschlossene an einer Lungenentzündung.
Billy Wilder drehte diesen Film sicher nicht, um den brutalen Ehrgeiz eines Einzelgängers aufzuzeigen. Er beabsichtigt vielmehr, den wahren Schuldigen dieses Dramas anzuklagen: den harmlosen kleinen Mann auf der Strasse, der in scheinheiligem Mitgefühl nicht zufrieden ist, wenn er nicht täglich in seinem Groschenblatt wenigstens eine gut aufgemachte Leiche vorfindet; der jegliche Bedenken verliert und seine Meinung und sein Handeln von heute auf morgen auf den Kopf stellt, sobald er nur durch die Massenkommunikationsmittel in geeigneter Weise dazu animiert wird; der letzten Endes die Sensationsreporter züchtet.
Wenn einmal gesagt wurde, die europäischen Filme wirken handgemacht, die amerikanischen dagegen zeigen die Merkmale der fabrikmässigen Produktion, so zeigt dieses Beispiel, welche »Qualitätserzeugnisse« diese »Fabrik« hervorbringen kann, sobald ein fähiger Regisseur die Gestaltung in die Hand nimmt. Die Auswahl der Schauplätze, die Besetzung der Rollen, bis zu den kleinsten Chargen, »stimmt« bis aufs I-Tüpfelchen, ist überzeugend und wahr.
Aber dieser Film zeigt auch, wie mächtig der kleine Mann auf der Strasse ist. Er kann sogar seinen Einfluss auf dieses industrielle Edelprodukt geltend machen. Eine kritische Darstellung der Psyche des modernen Durchschnittsmenschen hätte sich an der Kinokasse bitter gerächt. So wurde der Schluss verfälscht. Der Reporter erkennt seine Schuld und wird von der Frau des Verschütteten mit der Papierschere erstochen. Der kleine Mann, der täglich seine Mordgeschichte lesen will, macht mit dem Eintrittsgeld ganz energisch den Anspruch geltend, dass auf der Leinwand alles so verläuft, wie er es sich wünscht.       W. W.
Zurück zum Anfang


La Traverséee de Paris (Frankreich) (Zwei Mann, ein Schwein und die Nacht von Paris)
Regie: Claude Autant-Lara, 1956
Drehbuch: Jean Aurenche; Pierre Bost nach einer Novelle von M. Aymé
Musik: René Cloerec
Kamera: Jacques Natteau
Darsteller: Jean Gabin; Bourvil; Louis de Funès; Jeannette Batti; Georgette Anys; Anouk Ferjac; Harald Wolff
Der Film beginnt wie eine harmlose, gefällig in Szene gesetzte Komödie: Paris 1942, zur deutschen Besatzungszeit, unter der Diktatur von Hunger, Angst und Alarm. Der Schwarzhandel blüht. Den Inhalt enthält bereits der deutsche und französische Titel: Zwei Männer tragen in vier Reisekoffern ein schwarzgeschlachtetes Schwein quer durch das nächtliche Paris. Amüsant und kurzweilig erzählt der Film die unvermittelt aus dem Luftschutzdunkel auftauchenden Überraschungen.
Aber er bleibt hierbei nicht im Episodischen stehen. Gemäss der Novelle von Marcel Aymé erhebt ihn der Regisseur Autant-Lara, unterstützt von dem meisterlichen Können der beiden Hauptdarsteller Gabin und Bourvil, zu einer sauberen psychologischen Studie von einer geistigen Überlegenheit, die Anerkennung verdient: aus kleinen Gesten, knappen Reden und unbedeutenden Situationen erwachsen die Charaktere zu fest geprägten Erscheinungen von haftender Wirkung.
Die beiden Männer, die diesen Weg gemeinsam gehen, sind ein sehr ungleiches Paar. Erst unmittelbar vor diesem Gang hat sie der Zufall zusammengeführt. Der arbeitslose Taxichauffeur Martin (von Bourvil herrlich und mit tragikomischer Tiefe gespielt) ist ein einfacher Typ, der im Herzensgrunde ehrliche, biedere kleine Franzose. Er hat sich gegen geringes Entgelt als Handlanger im Schwarzhandel zur Verfügung gestellt. Während andere in dieser Branche zu Reichtum gelangen, kommt er, von Skrupeln geplagt, trotz grosser Anstrengungen zu nichts. Verschüchterte Instinkte, die die menschliche Natur verderben (Aymé), verwehren ihm den Aufstieg. Sein Gefährte ist der begüterte und einflussreiche Kunstmaler Grandgil (Gabin), ein Spieler des Lebens. Er sucht das Abenteuer, um die Grenze zu erfahren, bis zu welcher er spielen darf. Martin hält ihn irrtümlich für einen Flachmaler und bittet ihn, für einen ertappten Kollegen einzuspringen. Der Reiz unbekannter dunkler Grösse bewegt Grandgil zu seiner Zusage. Doch schnell erkennt er die erbärmliche Natur dieser kleinen Schieber und Gesetzesübertreter. Durch seine von Souveränität getragenen und mit grösster Selbstverständlichkeit ausgeführten Handlungen meistert er das Glück. Die ängstliche Bewunderung Martins verwandelt sich in Wut, als dieser im Atelier des Malers seinen Irrtum einsehen muss. Was für ihn bitterer Ernst, war für den anderen nur Spiel. In der Novelle von Aymé tötet Martin seinen hochstaplerisch grosszügigen Kameraden. Die moralische Ordnung ist wiederhergestellt, das Spiel ist aus.
Aber die Drehbuchautoren (Aurenche und Bost) wollen es anders: Nach ihrer Verhaftung durch die Deutschen wird der bekannte Maler freigelassen, während der unbekannte Martin ins Arbeitslager gesteckt wird. Im Epilog erscheint nach dem Kriege der stark gealterte Martin, immer noch fremde Koffer schleppend - und Grandgil unverändert, gepflegt, auf dem Wege in seine Villa an der Riviera.

Weitere Filme des Regisseurs Autant-Lara: Diable au corps, L' auberge rouge, Marguerite de la nuit, Le rouge et le noir, Le blé en herbe.       C. G.
Zurück zum Anfang


Stella (Griechenland)
Buch und Regie: Michael Cacoyannis, 1955
Kamera: Costa Theodovides
Musik: Manos Haddjidakis
Darsteller: Melina Mercouri; George Foundas; Aleko Alexandrakis
Auf den Filmfestspielen in Cannes 1956 erregte dieser Film aus dem als Filmland sonst unbekannten Griechenland einiges Aufsehen. Es ist ein Aussenseiter auf der ganzen Linie. Schon der Stoff erscheint dem modernen Filmbetrachter reichlich verstaubt. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt:
»Fast ein Wedekind-Stoff: Die Geschichte einer Sängerin, die den Erdgeist in sich hat, die der Männer bedarf und an den Männern zugrunde geht. Sie ist eine Männerverzehrende, aber keine Blutsaugerin. Ein dunkler Trieb treibt sie voran, und ihm erliegt sie, so oft sie bei einem Manne liegt (und das ist oft). Sie liebt nicht, sie begehrt. Ihre Liebhaber aber verfallen ihr mit Leib und Seele, wollen sie zähmen, wollen sie ganz besitzen, und dagegen lehnt sie sich mit der Wildheit ihres Blutes auf. Bis einer, dem sie das Heiratsversprechen gebrochen, sie umbringt für ihre Treulosigkeit.« So elementar wie der Stoff erscheint auch der Film als Ganzes elementar und unausgegoren. Manchmal zeigt die Regie besten künstlerischen Gestaltungswillen, manchmal rutscht er ins Vulgäre und Ordinäre ab. Der Regisseur Michael Cacoyannis kennt die Gesetze der Filmkunst. Er kennt Eisenstein und Pudovkin und liefert faszinierende Montagen. Er kennt auch die neoveristische Schule. Die Schlusssequenzen zeigen ganz die Stilelemente de Sicas und Rosselinis. Dazwischen sind wieder dokumentarische Szenen aus dem Leben des griechischen Volkes.
Melina Mercouri ist zwar keine Kinoschönheit, aber eine Darstellerin, der man die femme fatale glaubt. Sie gibt der Triebhaftigkeit nichts Schwüles, ihr Trieb ist Lebens-Wildheit. Dadurch entstehen Liebesszenen, wie man sie selten auf der Leinwand gesehen hat. Sie ist weder dämonisch noch vampirhaft. Sie verführt ohne Augenaufschlag und die übrigen Requisiten der Leinwandkurtisanen.
Dieser Film macht ganz den Eindruck, als sei er von einem hochbegabten Anfänger inszeniert worden. Er ist manchmal etwas schulbuchhaft, unbefriedigend und unbequem, dabei vital und lebensecht. »Man betrachtet ihn, wie man eine zoologische Rarität, ein Kuriosum der Natur betrachtet - mit merkwürdiger Faszination.«       W.W.
Anlässlich des 17. Juni zeigen wir ASYLRECHT, einen von der britischen Militärregierung 1949 in Auftrag gegebenen Dokumentarfilm über Ostflüchtlinge.       red.
Zurück zum Anfang


Entscheidung vor Morgengrauen (USA) (Decision before Dawn)
Regie: Anatole Litvak, 1951
Buch: Peter Viertel
Deutsche Dialoge: Carl Zuckmayer
Kamera: Frank Planer
Musik: Franz Waxman
Darsteller: Oscar Werner; Gary Merrill; Richard Basehart; Dominique Blanchar; Hildegard Knef; O. E. Hasse; Wilfried Seyfert
Die Story dieses Films ist eine erfundene Story. Sie hat sich nie und nirgendwo so abgespielt. Aber sie ist in dem Sinne eine wahre Geschichte, dass sie sich durchaus so hätte abspielen können. Ihr Autor heisst George Howe, und das Buch, dem sie entnommen ist, heisst »Call it treason« - »Nennt es immerhin Verrat!« Carl Zuckmayer gibt zu Anfang einen Kommentar zu der Geschichte, der an einen Leitartikel erinnert. Aber es ist ein guter Leitartikel. Der Inhalt der Geschichte ist dieser: ein junger deutscher Sanitätsgefreiter gerät nach der Ardennenschlacht im Spätwinter 1944/45 in amerikanische Gefangenschaft. Dort wird ein Kamerad von ihm von der Lagerfeme ermordet, weil er am Endsieg zweifelt. Das bringt den jungen Gefreiten zu dem Entschluss, als Spion für die Amerikaner hinter die deutschen Linien zu gehen, um das Ende des wahnsinnigen Weiterkämpfens beschleunigen zu helfen. Sein Weg durch das von den entsetzlichen Zuckungen der Agonie gepeinigte deutsche Land ist der eigentliehe Inhalt des Films. Der junge Mann wird gefasst und erschossen. Der amerikanische Oberleutnant, mit dem er zusammen ging, entkommt über den Rhein, der die Kampflinie bildet, zu seinen eigenen Leuten.
Der Film ist von Anatole Litvak, dem Regisseur der »Schlangengrube«, 1950 in Deutschland gedreht worden. Es ist ein wahrhaft erschütternder Film, erschütternd deshalb, weil er ein echtes Problem in einem echten Rahmen gespannt wirklich echt und leidenschaftlich in Bilder umzusetzen versteht. Diese Bilder sind Zeugnisse einer virtuosen Beherrschung aller filmischen Mittel und Möglichkeiten. Sie sind von einer Eindringlichkeit, die oft kaum zu überbieten ist. Es ist erstaunlich, wie ein Regisseur von draussen das, was hier bei uns vorging, bis in die Einzelheiten der Lebensatmosphäre hinein nachzubilden vermag.
Man geht voller Fragen aus dem Film heraus. Die erste ist die, warum Schauspieler wie Wilfried Seyfert oder die Knef unter solcher Regie so viel besser sind, als wir es sonst von ihnen gewohnt sind. Die zweite Frage ist die, warum unsere eigenen Regisseure überwiegend mit »Hochzeit im Heu« oder »Captain bay-bay« beschäftigt sind und Gegenstände wie diesen, der unser eigenstes brennendstes Thema ist, ein echtes Durchdenken und Verarbeiten unserer Vergangenheit nämlich, den Amerikanern überlassen. Und die dritte Frage ist die, die im Anschluss an diesen Film überall leidenschaftlich von denen diskutiert wird, die ihn gesehen haben: Was war es mit dem Widerstand, was war es mit einem »Verrat« wie diesem, damals im Frühjahr 1945, als der Rhein von den Amerikanern stellenweise schon überschritten war?
Und das ist nun in der Tat die dringlichste Frage, die sich hier stellt. Ob und inwieweit sie sich zu Recht stellt, ob und inwieweit gerade diese Geschichte echten und logischen Anlass bietet, zu einer klaren Meinung und einem begründeten Urteil in der Frage des Widerstandes zu kommen, das steht sehr dahin.       Christ und Welt
Zurück zum Anfang


Früchte des Zorns (USA)
Regie: John Ford, 1940
Buch: Nunnally Johnson nach John Steinbeck
Musik: Alfred Newman
Kamera: GreggToland
Darsteller: Henry Fonda; Jane Darwell; Dorris Bowdon; John Carradine
Als John Steinbeck seinen Roman an Hollywood verkaufte, setzte er durch, dass Wesen, Sinn und Absichten seines Buches nicht verfälscht werden dürften. Um eine kleine Nuance wurde der Film am Ende jedoch optimistischer als der Roman, denn 1939 waren die Missstände, die hier angeprangert werden, durch den New Deal und die Regierung Roosevelt weitgehend behoben.
Der Anlass zu Steinbecks zeitkritischem Roman waren die Zustände in der Dustbowle, jener landschaftlich bedrohten Gegend des Mittelwestens. Dort war am Waldbestand Raubbau getrieben worden, ganze Landstriche versandeten. Als die Farmer ihre Pacht nicht mehr zahlen konnten, jagte man sie von den Höfen und versuchte das Land durch grob mechanisierte, rationelle Methoden doch noch auszunutzen.
So gehen die Farmer auf die Landstrasse und wandern nach Westen, nach Kalifornien. Auf der Suche nach Arbeit geraten sie in Konflikt mit unverständigen, anonymen Mächten, mit Managertum, Organisation, Gewerkschaften und Polizei. Die Einzel-Schicksale entwickeln sich.
Dieser Film ist realistisch, aber er ist nicht von jenem Realismus intellektueller Prägung, der sich oft darin gefällt, im Schmutz zu wühlen. Er ist auch nicht von jenem dokumentarischen Realismus, wie ihn die Italiener erfanden. Er ist nicht deshalb realistisch, weil er die Forderungen einer bestimmten Schule erfüllen will, sondern weil er die schlichte Forderung nach Besserung unhaltbarer Zustände erhebt. John Ford zeigt Schmutz, wo Schmutz ist, und zeigt Gefühl, wo Gefühl am Platze ist.
Dieser Film ist aussergewöhnlich, da er in so vielen Dingen aus dem Rahmen selbst hervorragender Hollywood-Produktionen fällt. Der geringe technische Aufwand, die häufige Verwendung von Gross- und Nahaufnahmen, bei einer gewissen Vernachlässigung der Umwelt - wodurch das Geschehen vom dokumentarischen Bericht zur individuell menschlichen Angelegenheit wird -lässt den Film eher europäisch erscheinen.
Er ist jedoch auch von extremen amerikanischen Instanzen wiederholt als »unamerikanisch« bezeichnet worden, allerdings nicht wegen seiner Form, sondern weil er sich über die in Amerika recht häufige und auch gern gesehene Sozialkritik hinweghebt und schon die Prinzipien amerikanischen Lebens antastet.       W. W.
Zurück zum Anfang


Der unbekannte Soldat (Finnland) (»Trommelfeuer in Karelien«; »Tuntematon Sotilas«)
Regie: Edvin Laine, 1956
Buch: Väinö Linna und Juha Nevalainen nach dem Roman »Kreuze in Karelien« von Väinö Linna
Kamera: Pentti Unho; Osma Harkimo; Olvai Tuomi; Antero Ruuhonen
Musik: Jan Sibelius; Ahti Sonninen
Darsteller: Kosti Klemlae; Jussi Jarkka; Matti Ranin; Haikki Salvolainen
Väinö Linna, ein unbekannter Mechaniker aus der Industriestadt Tampere, schrieb in seiner Freizeit seine Erlebnisse aus dem zweiten finnisch-russischen Kriege nieder. Durch Zufall wurde das Manuskript von einem Verleger entdeckt, und beinahe über Nacht wurde »Kreuze in Karelien« zur literarischen Sensation Skandinaviens. Dass dieser grosse Erfolg des Buches zur Verfilmung reizte, ist verständlich. Dabei ist der Roman im konventionellen Sinne »unfilmisch«. Er schildert Vormarsch und Rückzug einer finnischen MG-Kompanie. Ohne einen durchlaufenden Handlungsfaden reiht sich Szene an Szene, Einzelerlebnis an Einzelerlebnis. Aber jede dieser Einzelszenen ist filmisch im besten Sinne, ist optisch-dramatisch.
Regisseur Edvin Laine hat sich bei der Verarbeitung des Stoffes streng an den Roman gehalten. Daraus erklärt sich auch die Überlänge der Originalfassung. Die deutsche Fassung ist auf ein normales Mass gekürzt worden; ein Eingriff, der sicherlich aus vielen Gründen berechtigt erscheint, der aber dem Rhythmus des Films geschadet hat. Grösstes Verdienst der Regie ist es, dass sie es unterlassen hat, Einzelpersönlichkeiten herauszustellen. Die Darsteller sind zum grössten Teil Laien, finnische Bauernsöhne, die den Krieg aus eigener Anschauung kennen.
Frappierend an diesem Film ist der Abstand, den die Kamera vor den eigentlichen Höhepunkten bewahrt. Kein Regisseur hätte es sich entgehen lassen, dramatische Szenen zu montieren, d. h. jede Szene in Einzelbilder und Ausschnitte zu zerlegen und dann aneinanderzufügen. Hier aber wird auf dieses einfachste und grundlegende Mittel der Filmkunst verzichtet und grosse Szenen in einer oder zwei Einstellungen abgedreht. Hierdurch entsteht der Eindruck, »es sei tatsächlich passiert, und ein Kameramann sei zufällig dabeigewesen«. Dadurch werden manche Szenen äusserst glaubhaft. Man hat nicht das Gefühl, hier sei etwas »gemacht« worden. Deshalb fügen sich auch einige Wochenschaustreifen so gut in das Ganze ein, dass man sie kaum von den gestellten Szenen unterscheiden kann.
Am eindrucksvollsten wirkt sich diese Technik in zwei Szenen aus:
1. Ein Krankenwagen, voll mit Verwundeten, wird in Brand geschossen. Die Verletzten, mit Gipsbandagen, blutdurchtränkten Verbänden, verstümmelten Gliedern, kriechen aus dem Wagen, ziehen sich gegenseitig heraus. Die letzten, die Schwerverwundeten, verbrennen.
2. Der erste Angriff. Keine Grossaufnahme hätte deutlicher die Atmosphäre der Angst vor dem Tode zeigen können, als in diesen wenigen Totalen geschieht.
In anderen Szenen wiederum versagt diese Technik, und die Bildfolgen wirken etwas grob und unbeholfen.
So präsentiert sich uns dieser finnische Beitrag zum Thema »Antikriegsfilm«. Etwas unperfektioniert vielleicht, aber in seiner naiven Ausdrucksweise eindringlicher und überzeugender als viele gutrenommierte Kriegsfilme europäischer oder amerikanischer Herkunft.       W.
Zurück zum Anfang


Mr. Pickwick (England) (The Pickwick Papers)
Regie: Noel Langley, 1953
Buch: Noel Langley nach dem Roman von Charles Dickens
Kamera: Wilkie Cooper
Musik: Anthony Hopkins
Darsteller: James Hayter; James Donald; Nigel Patrick; Kathleen Harrison; Joyce Grenfell
Jede Dickens-Verfilmung steht vor einer Entscheidung: der zwischen dem Naturalisten Dickens und dem Karikaturisten. Denn der grosse englische Romancier war »nicht nur ein Vertreter der Naturtreue in der Kunst, nicht nur ein vollendeter Meister der »petits faits vrais«: er überspitzte die Züge der beobachteten Wirklichkeit so stark, dass diese »zu einem phantastischen Schatten- und Puppenspiel« geriet (Hauser: Sozialgesch. d. Kunst u. Liter.). David Lean optierte in seinen »klassischen« Dickens-Filmen, »Great Expectations« (1946) und »Oliver Twist« (1947), für den »Zolai'sten« in Dickens - Noel Langleys Adaption der »Pickwickier« hingegen entschied sich mit Freimut für den Karikaturisten Dickens, bei dem noch »die liebenswürdigsten Gestalten ausgemachte Narren« sind, die »harmlosesten Kleinbürger unmögliche Sonderlinge, Monomanen, Kobolde« (Hauser). Sein Film entbehrt wohl des philantropischen Pathos und der Schärfe der Kritik (die naturalistische Beschreibung des Schuldturms wirkt hier peinlich deplaciert), dafür ist das Vergnügen an dem »Puppenspielhaften« reiner als bei der Lektüre der Vorlage selbst. Langleys Regie hat diesen Zug durch fast choreographische Stilisierung der Bewegung und Rhythmisierung der Dialoge, die streckenweise den Eindruck von Versen erzeugen, unterstrichen.       E. P. in Filmkritik 10/58
Zurück zum Anfang


Hauptstrasse (Spanien) (Calle mayor)
Regie: Juan A. Bardem, 1956
Buch: Juan A. Bardem
Kamera: Midiel Kelber
Musik: Joseph Kosma
Darsteller: Betsy Blair; José Suarez
CALLE MAYOR ist die Hauptstrasse einer kleinen spanischen Provinzstadt. Auf ihr geht man spazieren, um zu sehen und gesehen zu werden. Hier wird geklatscht und getratscht, hier erfährt jeder alles über jeden.
Isabella, Tochter eines Offiziers und schon über Dreissig, ist noch nicht verheiratet, und das ist in dieser engen, spiessbürgerlichen Welt eine Schande.
In dieser Stadt lebt auch eine Gruppe junger Männer, Erwachsene mit dem Horizont mässig entwickelter Halbstarker. Ihr Lebensinhalt ist der Kampf gegen die Langeweile, den sie zwischen Billard, Bar und Bordell austragen. Diese erwachsenen Kälber hecken nun einen bösen Streich aus: Einer von ihnen soll sich zum Schein mit Isabella verloben. Auf einem Ball soll ihr dann eröffnet werden, dass alles nur ein Scherz war.
Vor der reinen leidenschaftlichen Liebe Isabellas gerät der junge Mann allerdings in einen schweren Gewissenskonflikt. Er ist zu feige, ihr die Wahrheit zu sagen, noch kann er den Plan bis zum Ende durchführen. Ein Freund erzählt Isabella von dem Streich, eine Welt bricht für sie zusammen.
Der Regisseur J. E. Bardem, der sich selbst sein Drehbuch schrieb, ist trotz seiner Jugend ein Meister in der Realisation eines präzisen, trockenen Handlungsablaufs. Konsequent baut er die Handlung um die Zentralfigur der Isabella. Mit Sorgfalt zeichnet er ihre intimsten psychologischen Regungen und verborgenen Reaktionen. Alle anderen Figuren treten neben ihr zurück.
Während die Rolle der Betsy Blair in »Marty« typisch amerikanisch ist, zeigt sie sich hier als Ur-Europäerin, voll verhaltener Romantik und Würde. Unter Bardems Regie bringt sie den Beweis, dass sie eine starke, von innen strahlende Persönlichkeit ist.
Man hat Bardem oft den Vorwurf gemacht, dass er zu wenig eigenschöpferisch sei, und man wird in seinen Filmen viele Motive aus den »Vitelloni«, den »Grandes Manoeuvres« oder manchen Filmen von Orson Welles finden. Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, dass diese Motive ureigen und »urspanisch« verarbeitet worden sind. Wer sich beeinflussen lässt, ist schliesslich kein Plagiator!
Diesen Film sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Er ist eine Rarität, weil er durch und durch von europäischem Geiste ist. Trotz allen Pessimismus', trotz allen Modernismus', trotz allen »Zornes« durchströmt ihn eine starke ethische Kraft.

---

Wer etwas vom spanischen Film hört, denkt sofort an Zensur und mangelhafte Technik, an Espagnoladen mit Stieren, Kastagnetten und viel »Olé«. Seit einigen Jahren aber sind uns auch zwei Namen geläufig: Luis Garcia Berlanga und Juan Emanuel Bardem, zwei Regisseure, die dem spanischen Filmschaffen internationale Geltung verschafften.
Es gibt in Spanien - die kleinsten mitgerechnet - etwa zehn Filmstudios. Die Produktion dieser Studios wird zum grössten Teil aus privaten Mitteln finanziert. Staatliche Kredite werden nach Vorlage des Drehbuches in Höhe von 20 bis 40 Prozent der Produktionskosten gewährt. Die Banken zeigen sich am Filmgeschäft uninteressiert. Eine Kommission des Ministeriums für Handel und Industrie stuft die Filme in Kategorien ein. Erhält ein Film z. B. die Kategorie A, bekommt der Verleiher drei Importlizenzen für ausländische Filme. Hauptfilmexporteure nach Spanien sind die USA und die lateinamerikanischen Staaten.
Die spanische Filmzensur ist härter als in anderen westlichen Ländern. Besondere Sorgfalt müssen die Produzenten bei der Behandlung von Themen über die Religion, die Moral und die Armee walten lassen. Das Drehbuch muss zur Vorzensur eingereicht werden.
Die Zahl qualifizierter Filmschaffender in Spanien ist klein. Es gibt in Madrid ein staatliches Institut für Filmkunde, das die Ausbildung des künstlerischen und technischen Nachwuchses übernommen hat. Viele Techniker und Regisseure bilden sich auch selbst heran.
Im Gegensatz zu Luis G. Berlanga, der aus der Schule des Madrider Filminstituts hervorgegangen ist, ist Juan E. Bardem Autodidakt.
Er wurde 1923 als Sohn eines Schauspielerehepaares geboren. Nach dem Gymnasium besuchte er eine landwirtschaftliche Ingenieurschule, wo er bei der Produktion von Unterrichtsfilmen erstmals mit dem Film in Berührung kam. Durch intensives Selbst-Studium der verfügbaren Filmliteratur und der Geschichte des spanischen Theaters verschaffte er sich grundlegende theoretische Kenntnisse. Unter grossen finanziellen Schwierigkeiten drehte er experimentelle Kurzfilme. Nach einer längeren Zusammenarbeit mit Luis G. Berlanga stellte er sich mit seinen Filmen »La muerte de un ciclista« und »Calle mayor« in die Reihe der fähigsten Regisseure der jungen Generation.
Seine Filme verraten eine genaue Kenntnis der Theorien Eisensteins und Pudovkins. Sie verraten aber auch die Einflüsse René Clairs, de Sicas und vor allem Fellinis. Sein Anliegen, die Beobachtung und kritische Durchleuchtung der politischen, Wirtschaftliehen und sozialen Verhältnisse des heutigen Spanien, steht in engstem Zusammenhang mit seinem künstlerischen Anliegen: der filmisch-poetischen Gestaltung menschlicher Schicksale. Seine dezente, aber treffende Kritik an Klerus und Gesellschaft mag dem um das Ansehen der Nation so sehr bemühten offiziellen Spanien verdächtig erschienen sein, so dass er während der Dreharbeiten an »Calle mayor« vorübergehend in Haft genommen wurde. Erst der energische Protest ausländischer Intellektueller führte zu seiner Freilassung. Seltsames Land, das die Männer verhaften lässt, die ihm durch ihre Leistung internationales Ansehen verschaffen!       W.W.
Zurück zum Anfang


Ich denke oft an Piroschka (Deutschland)
Regie: Kurt Hoffmann, 1955
Buch: Per Schwenzen; Joachim Wedekind; Hugo Härtung
Musik: Franz Grothe
Kamera: Richard Angst
Darsteller: Liselotte Pulver; Gunnar Möller; Wera Frydtberg; Gustav Knuth; Margit Symo; Rudolf Vogel u. a.
Wenn einem Regisseur ein sauberer, recht ansehnlicher Spielfilm gelingt, so ist das wahrlich noch lange kein Grund, sich intensiv mit ihm zu beschäftigen. Was aber diesen Kurt Hoffmann so ungewöhnlich macht, ist seine bestaunenswerte Beharrlichkeit, mit der er immer wieder um Qualität bemüht ist. Seine Anfänge waren keineswegs sensationell; wie viele andere Regisseure drehte zunächst auch er, was ihm gerade angeboten wurde. Dann aber muss er seine Begabung für das Lustspiel mit Tiefgang erkannt haben, für die Fröhlichkeit ohne Klamauk, für die Heiterkeit, die ganz ohne billige Sexualfreuden auskommt. Und wenn er auch, trotz »Feuerwerk«, niemals einen alle gängigen Kassenrapporte übertrumpfenden Paukenschlagfilm gedreht hat, wofür alle Geschäftsleute des Films ihr Leben lassen - also ihre Brieftaschen zücken -, so ist er doch »wertbeständig« wie kein zweiter: er lieferte noch niemals Versager oder Blindgänger; was er gestaltet hatte, enttäuschte nie - nicht einmal die Kritik, was viel heissen will.
Denn die Kritik sieht in Kurt Hoffmann, der zu ihren heimlichen Lieblingen zählt, weit mehr als einen meisterlichen Beherrscher seines Handwerks - Kurt Hoffmanns Arbeiten sind nahezu zum inoffiziellen Wertmesser der deutschen Filmindustrie geworden. Das Beispiel, das er gibt, ist nachahmenswert: Er weiss um seine Grenzen genauso wie um seinen Wert; der Erfolg machte ihn vorsichtig; er dreht nicht wahllos einen Film nach dem anderen herunter, was er zweifellos könnte, sondern er wählt klug aus, bereitet sorgfältig vor und leidet dann, in den entscheidenden Wochen der Gestaltung, keinen Augenblick unter Missmut oder gar Minderwertigkeitsgefühlen. Er ist von seinen Filmen überzeugt, und deshalb überzeugen sie auch. PIROSCHKA ist ein Beispiel dafür.       Pressenotiz des IX. Int. Filmtreffens der Filmclubs
Zurück zum Anfang