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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 28, März-April 1960

Inhalt
Der schwedische Film
Die skandinavischen Filmarchive
Porträt eines Regisseurs: Ingmar Bergman
Ausblicke auf den finnischen Film
Rückschau
Das Dach (Il tetto)
Ein Mädel zum Küssen (Kispus)
Hundert Jahre Liebe (Cento anni d' amore)
Zwei in Paris (Antoine et Antoinette)
Abend der Gaukler (Gycklarnas afton)
Englische Legende (Passport to Pimlico)
Fräulein Julie (Fröken Julie)
Träume in der Schublade (I sogni nel cassetto)
Das Lächeln einer Sommernacht.
Wilde Erdbeeren
Die schwarze Akte
Greed


Der schwedische Film - der klassische Hintergrund und die streitbare Avantgarde

Ein Überblick, den Edouard Laurot an Ort und Stelle machte.

Aus einem Gästebuch: am 2. September

_...Der Nachmittag war kühl, aber sonnig. In Gesellschaft von schwedischen Studenten bei- derlei Geschlechts ging ich in den kleinen Fjorden der Stockholmer Inselgruppe schwimmen. Die Bucht war von Felsen diskret geschützt, und Badeanzüge waren - darin stimmten die Männer bald überein - überflüssig. Dieser Entschluss rief unter den Mädchen ein Zögern hervor. Eine von ihnen murmelte, wir sollten zum öffentlichen Strand nach Saltsjöbaden gehen; eine andere sagte, das Wasser sei vielleicht doch ein wenig zu kalt. Aber ihre Unentschlossenheit dauerte nicht lange. Eine schlanke, wikingerblonde Diplompaleontologin zog sich aus und rief uns zu, als sie ins Wasser tauchte: »Warum nicht? - Lasst uns den Ausländern mal zeigen, dass wir unseren Filmen in nichts nachstehen.«

Heutzutage wird ein schwedischer Film - was immer sein künstlerischer Rang sein mag - sowohl von den Kritikern als auch von der Öffentlichkeit der Welt wahrscheinlich nicht in der historischen Perspektive der aus diesem Land stammenden klassischen Filme betrachtet werden, sondern unter dem Einfluss von Filmen, die es vor kurzem produziert hat. Man braucht nur das Wort »schwedisch« auszusprechen, um damit bei dem Durchschnitts-Kinobesucher ein verschämtes Lächeln hervorzurufen oder aber, falls es sich um einen eingeführten Kritiker handelt, begeisterte Hinweise auf die »meisterliche Photographie«, das »Einbeziehen der Landschaft in die Handlung«, die »Thematologie der Grundlagen« und so weiter.

Die Leichtigkeit, mit welcher die neueren schwedischen Filme im Ausland bekannt wurden, ist dafür verantwortlich, dass zu der Zeit, da »Hun dansar en sommar« (»Sie tanzte nur einen Sommer«) gedreht wurde, ein Südamerikaner sich weigerte, den Film in seinen Verleih aufzunehmen, wenn nicht Nacktszenen hinzugefügt würden. Ein Verleiher in Los Angeles liess in »Die Zeit mit Monika«, einem Film von Ingmar Bergman, zusätzlich nackte Mädchen in die Handlung einbauen. Molander, berühmt wegen seines Salonstils, wird von einem Produzenten gezwungen, in den Film »Lied der roten Blume« »etwas Natur« miteinzubeziehen. Die Schauspielerin Anita Björk, die wir aus »Fröken Julie« kennen, wird man in Kürze auf der Leinwand nackt beim Schwimmen zu sehen kriegen.

Wenn man von der geringen Zahl von Fachleuten absieht, so gibt es ausserhalb Schwedens nur wenige Leute, denen klar ist, dass die offene Erotik als filmisches Element nur eines jener herkömmlich schwedischen Elemente ist, die erst seit kurzem kommerziell ausgebeutet werden. Solche unverkennbare Charakteristika, wie der künstlerische Einsatz der Landschaft, die ausdrucksstarke Kameraführung, die Transparenz der Photographie, die Beschäftigung mit der umwandelbaren Wirklichkeit - um nur einige zu nennen - sowie die Kühnheit in der Behandlung intimer Themen und Szenen, werden von zeitgenössischen Produzenten bewusst und berechnend den Meisterwerken des frühen schwedischen Films entliehen.

Ein flüchtiger Rückblick wird es uns ermöglichen, diese echt schwedischen Merkmale in Filmen aufzudecken, die längst allgemein in Vergessenheit gerieten.

Die ersten schwedischen Filme von Rang erschienen schon 1917 als Werke von Sjöström und Stiller. »Herr Arnes Schatz«, nach einem Roman von Selma Lagerlöf, ist bedeutsam wegen seiner naturalistisch-lyrischen Grundstimmung. Er wurde, losgelöst von einschränkenden Studiobedingungen, im Freien, in natürlicher Umgebung, gedreht und ist erfüllt von der Atmosphäre der einheimischen schwedischen Landschaft. Bemerkenswert wegen seiner bezaubernd visionären Art ist Sjöströms »Die Geisterkutsche«; ein metaphysisches Thema erlangt seine Aussagekraft durch Anwendung wahrhaft avantgardistischer Techniken: Doppelbelichtungen, Überblendungen, Übergänge und Montagen, wie sie vor jener Zeit noch nie verwandt wurden. In diesem Film wurden sie jedoch so meisterhaft eingesetzt, dass er seither für so viele Filmschöpfer zur Quelle filmischer Inspiration wurde. Im Jahre 1924 drehte Stiller »Gösta Berling«, ein Epos nach dem gleichnamigen Roman von Selma Lagerlöf. Die Garbo bekam in diesem Film ihre erste Filmrolle. Der Film stand am Ende der sogenannten Goldenen Ära des schwedischen Films (1920-1925), eines Zeitraumes, gekennzeichnet durch eine ungewöhnlich realistische Darstellungskunst, durch hervorragende Photographie (sowohl technisch als auch ästhetisch), durch eine Durchdringung von Landschaft und Menschen und vor allem durch die Entdeckung rein filmischer Mittel, die es ermöglichten, die grundlegende Aussicht der schwedischen Volksseele aufzuzeigen - die Märchenwelt, wie sie uns in einer Literatur entgegentritt, die sich immer des Einflusses des Metaphysischen im Leben bewusst ist. Diese elementare Menschlichkeit, vermittelt durch verfeinerte Techniken, ist verantwortlich für die weltweite, unvergängliche Qualität, welche die besten der schwedischen Filme selbst heute noch besitzen.

Die Jahre zwischen 1930 und 1940 waren eine Zeit der Flaute, in der nur wenige und unbedeutende Filme produziert wurden. Am Anfang der vierziger Jahre erlangten verschiedene neue Namen Bedeutung: Alf Sjöberg, Ingmar Bergman, Hasse Ekman, Arne Matson und Arne Sucksdorff. Dieses Jahrzehnt ist bekannt wegen Sjöbergs »Himlaspelet« (»Das Himmelsspiel«), der Verfilmung eines schwedischen Volksstückes nach Rune Lindström, und wegen Sjöbergs bestem Film aus dieser Zeit »Rya - Rya«. Er behandelt den historischen Freiheitskampf der Leibeigenen gegen die reichen Landbesitzer. »Rya - Rya« zeigt eine Beherrschung der visuellen und rhythmischen Komposition und weist durch seine nachdrückliche Behandlung eines sozialen Problems dem schwedischen Film der Folgezeit einen Weg. Zur selben Zeit erwachten in Schweden Literatur und Dichtung, um sich vorwiegend mit den umfassenderen Fragen über »la condition humaine« zu beschäftigen, und langsam machte sich der schwedische Film vom Provinzialismus frei.

Aus dem Ausland übernommene Ideologien sozialer Verpflichtung und Vorstellungen von der sozialen Funktion des Films fanden nicht nur bei den begeisterten Filmschöpfern, sondern auch bei einigen Produzenten Verwendung.

Dieser Fortschritt ermöglichte es vielen Regisseuren, sich offen mit Ideen und Themen zu beschäftigen, die vorher vernachlässigt worden waren. Mehrere dieser Filme erinnern an französische Filme der dreissiger Jahre mit ihrem Nachdruck auf »düsterer Poesie« und ihrem kritischen Realismus. Bezeichnend für diese Zeit waren Bergmans »Durst und Gefängnis«; Ekmans »Mädchen mit Hyazinthe«; Sjöbergs »Wildvögel« und »Fröken Julie«; Matsons »Brot der Liebe«; Sucksdorffs »Die Stadt schläft«.

Parallel zu diesen Leistungen hat sich in Schweden (wie in anderen Teilen der Welt) ein Unterschied herausgeformt zwischen rein kommerziellen und unabhängig produzierten Filmen, deren Hauptanliegen es ist, den Film als künstlerisches Aussagemittel zu benutzen. »Arabeske« I und II von Haultermann erschienen schon 1920. Im Jahre 1930 drehte Gösta Hellstrom einen kurzen Experimentalfilm, »Tango«, der aufgebaut war nach einer Montagetechnik, die sich an die russische Schule anlehnte. Der Filmkritiker Gert Aosten machte einige kurze lyrische Film-Gedichte in einem Stil, der an »Menilmontant« erinnert. Ein weiches Grau durchdringt »November« (1939), einen der frühesten schwedischen Versuche eines Selbstausdrucks. 1945 wurde »Midvinterblot« gedreht, ein Film, der den Eindruck skandinavischer Kälte zwingend hervorruft. Die Handlung ist ins Mittelalter gelegt und besteht in der grimmigen Schilderung eines mitwinterlichen Blutopfers. Die entscheidenden Szenen vermitteln einen starken Eindruck uranfänglichen Elends und metaphysischer Angst, ein Eindruck, der verstärkt wird durch die düstere Grundstimmung und den scharfen Kontrast von Schwarz und Weiss. Das ständige Schlagen einer Trommel erreicht nicht das Stadium der Ekstase, aber verdeutlicht durch den gleichbleibenden Tonfall die erdrückende Furcht der Teilnehmer beim Opfer. Das Opferblut, wie es auf die nackten Brüste der Frauen spritzt, erscheint als Symbol des Verlangens nach dem warmen, pulsierenden Leben.

Von einigem Interesse, obgleich weniger bedeutsam, sind einige Kurz- und Spielfilme, die mit finanzieller Unterstützung gedreht wurden: besonders »Der Zug« (1947) und »Ein Kind zu töten« (1952). Zur selben Zeitspanne gehören die ersten Kurzfilme von Sucksdorff: »Schatten auf dem Schnee« und »Das Traumtal«, die Geschichte einer jugendlichen Liebe, die in den Fjorden Norwegens verfilmt wurde. »Seemöwe« (1944) ist ein Antinazi-Film, in welchem der Vogel den Feind symbolisch darstellt, und »Geteilte Welt« (1948) ein Film über Tiere, der ausschliesslich im Studio gedreht wurde. Obwohl diese Filme weniger berühmt sind als »Das grosse Abenteuer«, sind sie doch von höherem künstlerischem Niveau, weil sie weniger bewusst »kunstvoll« sind, sondern mehr in sich geschlossen und, glücklicherweise, bar jedes »Tierpsychologismus«, mit dem »Das grosse Abenteuer« durchsetzt war. Man kann »Geteilte Welt«, in der Art, in der er die Phantasiewelt des Kindes behandelt, mit »Crin Blanc« vergleichen.

Eine hervorragende Leistung auf dem Gebiet des schwedischen Experimentalfilms ist Rune Hagbergs »Nach der Dämmerung kommt die Nacht« (1946). Dieser abendfüllende Film schildert die selbstmörderische Psychose des ungelösten »odi et amo«. Eine bemerkenswerte Verwendung von Geräuschen drückt die Raumangst eines Mannes aus, dem die Modernität des Hauses, in dem er eingeschlossen ist, zum Anlass seiner Bedrückung wird. Eine weitere unvergessliche Szene in dem Film ist die, in welcher die Hauptfigur hilflos weinend im Lehnstuhl sitzt, während eine sanfte, unpersönliche Stimme im Radio Miltons »Paradise Lost« liest. Das Ende des Erfolges typisierend, ging Hagberg zum kommerziellen Filmemachen über, wurde davon verschluckt und hat seitdem nichts Erwähnenswertes mehr geleistet. Obgleich die Vorläufer des zeitgenössischen schwedischen Films selbständig gearbeitet hatten, so spürten sie doch das Fehlen einer besser organisierten unabhängigen Produktion und einer Einrichtung, die experimentierenden Filmkünstlern Gelegenheiten bieten würde. Im Jahre 1949 wurde die bahnbrechende Organisation »Svensk Experimental Film Studio« gegründet. Sie setzte sich zusammen aus jungen Künstlern und beginnenden »cinéastes«, die es sich zur Aufgabe machten, Filme von vorwiegend künstlerischem - nicht so sehr kommerziellem - Wert zu machen. Um die Filmproduktion einfacher zu gestalten, ging die Gruppe zunächst eine praktische Aufgabe an: es wurde ein Plan entwickelt, nach dem man sich beim Drehen der Filme gegenseitig helfen sollte; auch die Benutzung der Geräte wurde darin geregelt.

Besondere ästhetische Richtlinien wurden damals nicht aufgestellt oder den Mitgliedern gar zugemutet. Es gab jedoch eine treibende Kraft: Mihail Livada, ein rumänischer Flüchtling, der zusammen mit einer Dichterin (Ruth Hillarp) einen 8-mm-Film drehte: »Die wunderbare Begegnung«, eine ironische, surrealistische Stellungnahme zur Sexualsymbolik. Ein anderes surrealistisches Gedicht, »Die weissen Hände«, bewegt sich um ein modernisiertes Tristanund-lsolde-Motiv und gewann 1950 im nationalen Wettbewerb um den »Film des Jahres« den ersten Preis. Diese offizielle Anerkennung bedeutete für die schwedische nichtkommerzielle Produktion den Beginn einer neuen Ära und das Ende einer Beschränkung, ziemlich amateurhafte »Familienfilme« zu drehen. Diesem wegbereitenden Ereignis folgten andere Filme wie »Hulle« (»Maske«), der auf trocken-intellektuelle Weise die bezwingende Konzentrierung erforscht, mit der sich ein Student in seine Studien vergräbt und langsam die Verbindung mit dem Leben verliert. »Herbst« (9,5 mm), ein sensibles, aber dünnes Film-Gedicht, weist eine romantische Eigenschaft auf, die schon zum Melancholischen tendiert. »Tema« (»Thema«) verwendet in einer Montage rhythmischer Muster Aufnahmen von Karussells und Zahnrädern; als Begleitmusik ist der »How Long Blues« unterlegt. Im selben Jahr drehte Livada noch zwei cineplastische Filme: »Farbstudie«, ein Film, der die Lichtreflektionen verschiedener Glasoberflächen untersucht, und »Der Dichter, die Spinne und die Hand«, ein surrealistisches Filmexperiment, wobei menschliche Gesichter mit verschiedenen Farben angestrahlt werden, um Stimmungen und Geisteszustände auszudrücken.

Während dieser Zeit nahm die Mitgliederzahl des »Svensk Experimental Film Studio« ständig zu. Regelmässig wurden Versammlungen abgehalten und Filmvorführungen veranstaltet. Ihre ersten experimentellen Anstrengungen waren oft von ganz geringer Qualität, aber halfen dabei, eine Reihe streng formulierter ästhetischer Kriterien herauszuarbeiten, mit deren Hilfe man künftig die Filme beurteilen und ihr Niveau erhöhen konnte.

Ein Forum für den Austausch von Informationen und kritischen Gedanken wurde nötig, und bald wuchs aus dem Kern der Gruppe die Einrichtung einer ständigen Zeitschrift. Ihre Bedeutung wurde erhöht durch die Tatsache, dass die erste und einzige schwedische Filmzeitschrift von Rang, »Biographbladet«, im selben Jahr wegen Mangel an Zuschüssen ihr Erscheinen einstellen musste. 1952 brachte das Studio die erste hektographierte Nummer seines offiziellen monatlichen Nachrichtenblattes »Tidningen S. E. F.« heraus. Die Herausgeber waren Rolund Hegbun, H. Hjarten und Arne Lindgren - die treibenden Kräfte der Gruppe. Von Anfang an enthielt ihre Zeitschrift Analysen von klassischen und neuen Filmen, Drehbücher für Kurzfilme, Essays über Filmtheorie und -ästhetik und fortgeschrittene filmwissenschaftliche Arbeiten. Die redaktionelle Grundhaltung war unnachgiebig kritisch, direkt auf einen Angriff gegen den gänzlich kommerziellen Film angelegt und ablehnend gegenüber dem journalistischen Missbrauch der Filmkritik. Die Zeitschrift enthielt keine Reklame und wurde sofort begeistert von den unabhängigen Filmschöpfern begrüsst und von der Presse anerkannt. Dank der ausdauernden Anstrengungen des Herausgebers Arne Lindgren konnte die Zeitschrift weiterbestehen und wurde vor kurzem zum koordinierenden Nachrichtenblatt für die Mehrzahl der schwedischen Filmschöpfer.

Durch diese Arbeit wurde es möglich, die notwendigen ästhetischen Richtlinien der Gruppe aufzustellen, und ihre Filme wurden zusehends besser. »Kartenhaus« von Niels Olsen ist eine unvoreingenommene psychologische Studie der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau. Er offenbart geringfügige Änderungen und Tönungen der Gefühle; seine Symbolik überzeugt und stimmt mit Ort und Handlung überein. Lindgren drehte 1952 »Dreiecksdrama«, einen Kurzfilm über Molines klassische schwedische Skulptur »Die Ringer«. Er schildert die Geschichte der Ringer - den Streit zweier Wikingerkämpen, ihren wilden Kampf und ihren Tod. Die Skulptur wird belebt mittels einer schnellen Montage, die zum Höhepunkt führt. Dieser Film gewann den ersten Preis als »Film des Jahres«.

Etwa um diese Zeit begann der Schriftsteller und Maler Peter Weiss sich ausschliesslich dem Film zu widmen. Sein kurzer Stummfilm »Studie I« sucht in dokumentarfilmähnlichem und surrealistischem Stil die wiederkehrende Stimmung des Morgens einzufangen, wie sie durch das allmorgendliche Alltagsleben hervorgerufen wird. Er hat schon die träumerische und komponiert erotische Atmosphäre seiner späteren Filme. »Studie II« besteht aus zwölf kurzen Bildbeschreibungen. An diesem Film zeichnet sich schon ein ganz persönlicher Stil ab. Die Bildbeschreibungen sind grösstenteils »photographisch«, wobei nackte Menschen und abstrakte Formen verwandt wurden. Wie in seinen Gemälden beschäftigt sich Weiss hierin hauptsächlich mit den Gliedmassen des Menschen: Köpfe, Füsse, Handteller. Die Bildkomposition ist im wesentlichen statisch. Bewegung wird in dem Film nur spärlich angewandt und verschafft den Bildern Leben und Bedeutung. Mittels der Langsamkeit in der Bewegung, der bizarren, surrealistischen Komposition und der latenten Symbolik der Gesten und Haltungen gelingt es diesem Film, eine Beschreibung der halluzinativen Zustände des Halbschlafs zu liefern. »Studie III«, stilistisch »Studie I« ähnlich, ist eine bedrückende Darstellung der Wanderschaft eines Mannes, der gefoltert wird durch die schwere Last seiner alten Persönlichkeit. Er unterscheidet sich jedoch - wenigstens thematisch - von der Mehrzahl der subjektiven surrealistischen Filmgedichte darin, dass er eine emotionale psychologische Erlösung bietet, indem er es der Hauptfigur ermöglicht, ihre Freiheit zu erlangen. Der neueste Film von Weiss, »Zwischenspiel«, ist auch semi-abstrakt. Körper und Gesichter von Menschen werden abstrakt eingesetzt, um die quälende Ambivalenz von sexuellen Vorstellungen zu vermitteln. Zur Zeit experimentiert Weiss mit Farben in einem cineplastischen Film, worin er Materialien von mehr oder minder lichtdurchlässiger Eigenschaft zu einer Art beweglicher »Kollage« zusammenfügt. Weiss ist jedoch nicht verhaftet am ausschliesslich subjektiven Ausdruck; vor kurzem hat er einen naturalistischen Dokumentarfilm fertiggestellt. Er berichtet über die traurige Lage alter Männer, die ein altmodisch isoliertes Leben führen auf dem Schrotthaufen der Gesellschaft, die sie unzufrieden gemacht hat.

Um eine vollständige Auswertung des ästhetischen Beitrages zu liefern, den schwedische Filmkünstler zur Kunst des Films geliefert haben, ist es nötig, ihre Leistung im Hinblick auf ihre ökonomische und soziale Stellung zu sehen. Unter dem überwiegenden Einfluss des Kommerzialismus wird der Filmkünstler in Schweden, wie in den meisten Ländern, vom grossen Publikum abgetrennt und jeglicher moralischen Befriedigung und finanziellen Unterstützung beraubt. Andererseits trägt die Tatsache, dass so viele unabhängige Filmschöpfer aus den Reihen der Schriftsteller, Maler usw. kommen, dazu bei, die Themen in subjektivistischer Sicht zu behandeln. Durch die ökonomische Trennung von der Gesellschaft, dieser entfremdet, fällt es dem Künstler schwer, sie als Quelle seiner Inspiration zu verwenden, weil er weiss, dass seine Filme nur einer kleinen und der Gesellschaft unähnlichen Gruppe zugänglich sein wird. Und mehr noch trägt das Fehlen einer landeseigenen theoretischen Tradition dazu bei, die moralische und psychologische Entfremdung zu vertiefen. All dies führt zu einer Einengung des thematischen Bereichs zur Behandlung des persönlichen Stimmungsbereichs oder esoterischer Stoffe.

Das Fehlen einer eigenen Tradition schwedischer Filmästhetik und der Mangel an Verflechtung mit der gegenwärtigen Gesellschaft verbannt den Filmkünstler zu den stark ausgeschöpften Quellen der Weltavantgarde. Daher rührt es, dass eine Zahl von sogenannten Experimentalfilmen aus Schweden heute immer noch den Stempel ausländischer Einflüsse und fremder, alter Traditionen trägt. Es soll jedoch gesagt werden, dass nicht alle unabhängigen schwedischen Filme nachgeahmt haben. Einige davon haben Kühnheit, Originalität und technischen Scharfsinn gezeigt, überdies war die Leistung der unabhängigen Gruppe nicht nur auf die Filmherstellung beschränkt. In den vergangenen drei Jahren hat es diese Gruppe fertiggebracht, das weitverbreitete Vorurteil gegen die unabhängige Filmproduktion abzuschaffen, und hat eine Atmosphäre bereitet, in der man sich des genauen Wertes der eigenen Produktion bewusst ist. Wiederholt wurden Gesuche an die Regierung gerichtet, mit dem Erfolg, dass in diesem Jahr (1956) ein Zuschuss von 4000 Kronor für Studioausgaben bewilligt wurde. Man kann daher von dieser integrierten, aktiven Gruppe mit gutem Grund in ihrer schöpferischen Arbeit Leistungen von gleicher Bedeutung erwarten.

(Wir danken "Film-Culture" für die Abdruckerlaubnis des Artikels; übersetzt aus dem Amerikanischen von Alfred M. Schmitt)
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Die skandinavischen Filmarchive

Das dänische Filmarchiv in Kopenhagen, kurz nach dem Kriege gegründet, wurde dank des energischen Direktors Uwe Brusendorff zu einem der bedeutendsten Archive in Europa. Durch die enge Zusammenarbeit mit der Staatlichen Filmzentrale und der Kulturfilmgesellschaft ist der Bestand an Filmen rasch gewachsen. Er umfasst vor allem viele alte dänische und deutsche Filme. Das Archiv betreut die (etwa) 25 Filmklubs, die zusammen fast 1000 Filme im Jahr spielen. Die Bibliothek ist sehr gut bestückt. Bei einem Bestand von 6000 Büchern und etwa 70 Zeitschriften, die laufend bezogen werden, beträgt der Etatposten für Neuanschaffungen 6000 DM, das sind ungefähr 15 % des Gesamtetats (1957). Das Museum besitzt auch eine eigene Publikation »Kosmorama«. Daneben sind in einer Kartei 25 000 Filmuraufführungen in Dänemark seit 1906 verzeichnet. Der Stolz des Museums sind ein altes Edison-Kinetoscope, alte Laternae magicae mit handgemalten Bildern und andere Vorläufer des heutigen Kinos.

Das finnische Archiv ist viel jünger. Anfang 1957 auf der Grundlage des Studio-Filmklubs und der Finnischen Filmkammer (Zentralorganisation der finnischen Filmindustrie) gegründet, befindet es sich erst in der Phase des Aufbaus. Wie bei den anderen skandinavischen Archiven beteiligt sich auch hier die Filmindustrie in sehr starkem Masse (im Gegensatz zu Westdeutschland), so dass das Archiv schon viele alte und alle neuen finnischen Filme besitzt (die finnische Jahresproduktion beträgt etwas weniger als 10 abendfüllende Filme). Dabei kommt aber als Schwierigkeit hinzu, dass in Finnland nur eine Kopie während der fünfjährigen Laufzeit eines Filmes gezogen wird, so dass sie danach in sehr schlechtem Zustand ist. Ferner sammelt man auch hier alle wichtigen Filmpublikationen - die finnischen besitzt das Archiv vollständig -, Filmkritiken, Programme, Plakate, Musik und technische Apparate.

Auch das norwegische Archiv ist noch sehr jung (1956). Es steht unter der Leitung des Ministers für kirchliche Angelegenheiten und Erziehung. Vom Parlament wurde es 1955 genehmigt, und es wurde beschlossen, dass es als Zentralarchiv dienen solle, das alles, was mit dem Film zu tun hat, sammeln und bewahren soll. Alle Organisationen halfen mit, Filme ausfindig und dem Archiv zugänglich zu machen. Es braucht bei Anschaffungen und Filmeinfuhren keine Steuer zu bezahlen und verfügt (1959) über einen Etat von etwa 60000 DM. Ihm obliegt weiterhin die Einrichtung und Betreuung von Filmklubs.

Das älteste skandinavische Archiv ist das schwedische. 1933 gründete Bengt Idestam-Alquistein Mitglied der Schwedischen Filmakademie, zu der sich die bekanntesten Filmproduzenten und -Journalisten kurz vorher zusammengeschlossen hatten - das Archiv, da er überzeugt war, dass Filme und Zubehör aufgehoben werden müssten. Aus finanziellen Gründen wurde es 1938 dem Technischen Museum als selbständige Abteilung angeschlossen. Obwohl die Filmindustrie das Museum unterstützt, kämpft der jetzige Direktor (Einar Lauritzen) seit Jahren für ein Gesetz, dass von jedem Film - wie bei den Nationalbibliotheken - ein Exemplar an ein Archiv gesandt werden muss. Über 400 Zeitschriften und 2000 bis 3000 Bücher, eine grosse Plakatsammlung und die grösste Standbildersammlung (von jedem Film, der in Schweden läuft, erhält z.B. das Museum die Bilder) von etwa 12000 Filmen, daneben noch Porträts u.a. Obwohl sie von Anfang an geordnet werden konnte, ist ein Assistent nur mit dieser Sammlung beschäftigt. Apparate, Drehbücher und Kostüme vervollständigen die Sammlung. Auch dem schwedischen Archiv obliegt die Betreuung der Filmklubs - 1955 waren es rund 60 -, die allerdings höchstens 12 Filme im Jahr spielen dürfen.       Herbert Birett
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»Also gibt es keinen Ausweg _... « Porträt eines Regisseurs: Ingmar Bergman

Von Dieter Krusche (Wir danken "Frankfurter Neuen Presse" für die Genehmigung, den Artikel zu veröffentlichen.)

Der Versuch, in einem kurzen Artikel Leben und Werk des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman zu charakterisieren, muss notwendigerweise auf Stichworte und Andeutungen beschränkt bleiben. Und er wird sicherlich der Gefahr nicht entgehen, in Einzelheiten zu verallgemeinern und zu vereinfachen.

Angesichts dieser Schwierigkeiten wäre es verführerisch, sich auf eine Position zurückzuziehen, die Bergman selbst eingenommen hat. Jean Beranger zitiert in den »Cahiers du Cinema« folgendes Urteil Bergmans über sich selbst: »Ich bin nicht der, für den man mich hält. Ich bin aber noch weniger der, für den ich mich halte. Wenn jemand glaubt, er weiss, wer er ist, dann weiss man nur zu gut, dass er es in Wirklichkeit nicht weiss. Wenn aber das Publikum zu wissen glaubt, wer man ist, dann muss man es glauben lassen, was es weiss; denn wenn man es tatsächlich wissen liesse, was es zu wissen glaubt, dann wäre jedermann enttäuscht und aufgebracht.«

Das mag auf den ersten Blick als ein skurriles Wortspiel erscheinen, als ein ironischer Seitenhieb vielleicht gar auf Interviews und Analysen. Aber in Wirklichkeit umreisst Bergman mit dieser kompromisslosen Relativierung des Wissens, des Glaubens und der Erfahrung genau jene Einstellung, die die meisten seiner Filme bestimmt. Und er trifft damit die Situation einer Generation, deren Probleme er vorzugsweise behandelt hat. Es ist jene Generation, die - in Wohlstand und Sicherheit aufgewachsen, als neutraler Zaungast aber des blutigsten Krieges der Geschichte -vergeblich nach Idealen und nach Möglichkeiten zur Bewährung Ausschau hält. Ingmar Bergman kann ihr in seinen Filmen diese Ideale nicht zeigen. Aber vielleicht genügt es ihm auch schon, ihre Gleichgültigkeit gestört, diejenigen aufgeschreckt zu haben, denen Beharrung und Konventionen als Wert an sich gelten. So sind seine Worte sicherlich nicht als spekulative Auslassungen eines Spassmachers zu verstehen. Sie sind viel eher das bittere Fazit eines Skeptikers, der an der Welt leidet, weil er ihre Mängel erkennt und sie doch nicht zu bessern vermag.

Der Lebenslauf Ingmar Bergmans ist leicht skizziert: 1918 als Sohn eines Pfarrers geboren. Während der Schulzeit und des Studiums bereits Tätigkeit in Laienspielgruppen; Regieassistent an der Stockholmer Oper, Regisseur in Helsingborg und Stockholm. 1944 kam er mit dem Film in Berührung, als er für den Regisseur Alf Sjöberg das Drehbuch zu dem Film »Hetze« schrieb. Und bereits ein Jahr später inszenierte er den ersten eigenen Film, den er ahnungsvoll »Krise« nannte. Der Titel erwies sich als durchaus treffend gewählt; denn sein filmischer Erstling war finanziell ein glatter Versager. Trotzdem gab ihm die schwedische Filmindustrie eine neue Chance. Und nun drehte der nicht einmal Dreissigjährige in relativ schneller Folge die Filme, die ihn in aller Welt bekannt machten. Um nur einige Titel zu nennen: »Hafenstadt«, »Gefängnis«, »An die Freude«, »Durst«, »Einen Sommer lang«, »Ein Sommer mit Monika«, »Abend der Gaukler«, »Das Lächeln einer Sommernacht«, »Das siebente Siegel« und »An der Schwelle des Lebens«. Zu den weitaus meisten dieser Filme hat Bergman auch selbst das Drehbuch geschrieben. Und das wiederum ist typisch; denn bei aller Vielfalt seiner Ausdrucksmöglichkeiten geht es Ingmar Bergman doch niemals um blosse interessante Stilexperimente. Inhalt und Aussage sind ihm zuletzt wichtiger als die Form _... Im Mittelpunkt dieser Aussage stehen zunächst einmal die Probleme der Jugend, die ratlos das Leben zu bewältigen sucht, der die Erwachsenen als Funktionäre einer festgefügten gesellschaftlichen Ordnung erscheinen, von denen der Weg zu einer eigenen, individuellen Entwicklung verstellt wird. Und immer wieder ist da die Liebe im Spiel als der privateste Bereich eines Menschen; immer wieder versuchen zwei junge Leute, ihre Liebe und ihr eigenes Leben gegen Missgunst und Unverständnis der Umwelt zu verteidigen. Sie wollen sich eine Oase im schmutzigen Alltag bewahren für ihre Empfindungen, wie in »Hafenstadt«, oder sie fliehen hinaus aus der Stadt in die Einsamkeit der Natur für einen »Sommer mit Monika«. Aber stets lauert irgendwo die Wirklichkeit, der sie nicht zu entfliehen vermögen, die sie einholt, sie verwundet oder - symbolisch gesprochen - gar tötet.

Die Jugendlichen in den Filmen Bergmans wachsen heran, sie werden älter, werden erwachsen. Doch sie haben sich alle ihre Eigenheiten bewahrt, ihre Skepsis, ihre Träume und ihre leichte Verwundbarkeit. Und jetzt geht es für sie darum, ihren Platz im Leben und in der Gesellschaft zu behaupten. In »Durst« findet ein Ehepaar während einer langen D-Zug-Fahrt durch die Ruinen des zerstörten Deutschlands wieder zusammen. »An die Freude« schildert das Schicksal einer Ehe, die schliesslich an einem dummen Zufall zerbricht.

Alle diese frühen Filme, die etwa zwischen 1945 und 1950 entstanden, zeigen bereits die formale Meisterschaft des Regisseurs Ingmar Bergman, der seine Kamera nicht wie einen Zeichenstift, sondern eher wie ein Seziermesser handhabt. Die geheimsten Gedanken und Sehnsüchte der Menschen legt er in suggestiven Bildern bloss. Er schildert in knappen Andeutungen das Milieu, rafft die Ereignisse zu zwingenden Kontrasten und baut sie überzeugend in einen grossen dramaturgischen Spannungsbogen ein.

Aber bei diesen mannigfachen Vorzügen gerät ihm in der Handlungsführung doch auch manches überspitzt. »Auch das Letzte« will er nach eigenen Angaben sagen; und dabei sagt er manchmal ein wenig zuviel. Immer wieder treibt es ihn, seine Ansichten in höchstmöglicher Steigerung zu verdeutlichen; so übertreibt er stellenweise und überfordert seine Effekte. Er versucht selbst da noch, uns zu überzeugen, wo wir längst seiner Meinung sind. Und das Bemühen, seine Probleme an Grenzfällen zu exemplifizieren, führt gelegentlich dazu, dass die allgemeine Bedeutsamkeit des Geschehens vom Zuschauer übersehen oder nicht akzeptiert wird.

1952 schlug dann Ingmar Bergman in seinem Film »Erwartung der Frauen« unversehens andere Töne, die der Komödie, an. Es folgte 1953 die tragische Variation eines Liebes- und Ehethemas in dem grossartigen »Abend der Gaukler«. Dann erschienen »Eine Liebeslektion«, »Frauenträume« und »Das Lächeln einer Sommernacht« - wiederum Komödien.

Nun wäre es jedoch grundfalsch, wollte man diese Komödien als beziehungslos heitere Lustspiele missverstehen, wollte man glauben, Ingmar Bergman habe sich auf die Seite der hurtigen Zelluloidkonfektionäre geschlagen, denen der Kassenrapport höchstes Gesetz ist. Auch in diesen Filmen geht es wiederum um das Problem der Stellung des Menschen zur Welt und zu seinem Leben. Und nicht einmal im Scherz, im entwirklichenden Spiel des Humors, vermag Ingmar Bergman uns eine Lösung dieser Konflikte anzubieten.

Denn in all seinen Filmen ist Hauptakteur immer wieder die Verzweiflung, die Einsamkeit; jene Einsamkeit, die sehr wohl zwei Menschen aneinanderketten kann, wie im »Abend der Gaukler«, wo der Zirkusdirektor und seine Geliebte aus der Welt der fahrenden Leute auszubrechen suchen und nach vergeblichem Bemühen doch hinter den schäbigen Wagen des Zirkus miteinander weiterziehen. Vereint und trotzdem einsam. Und genauso darf der vergleichsweise optimistische Schluss in »Durst« nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese beiden Menschen sich nicht in Liebe gefunden haben, sondern in Angst und Verzweiflung zueinander geflüchtet sind. Fast möchte man sagen, dass die Menschen in Bergmans Filmen nicht glücklich, sondern nur mehr oder weniger unglücklich sein können.

Wesentlich scheint dabei aber, dass nicht flinke Spekulation, sondern echte Sorge um den Menschen, zornige Anteilnahme an seiner Schwäche und seinem Versagen dem Drehbuchautor Bergman die Feder geführt haben. Zornige Anteilnahme und echte Inbrunst, Masslosigkeit sogar oftmals bestimmen den Charakter seiner Filme. Sie verschulden manche Übersteigerung der Gestaltung, die niemals blosser Effekthascherei dient; aber ihnen dankt er gleichzeitig auch die Intensität echten Miterlebens, die den Zuschauern in seinen Filmen selten versagt - oder erspart - bleibt. Allerdings steht der Masslosigkeit der Verzweiflung kein echter Widerpart gegenüber. Denn für die Krankheit dieser Welt, die Ingmar Bergman diagnostiziert, gibt es keine Therapie. Eine einzige Möglichkeit deutet er an, wenn er in »Gefängnis« sagen lässt: »Man kann ihr Buch nicht verfilmen; denn es hört mit einer Frage auf, auf die es keine Antwort mehr gibt. Es würde eine geben, wenn man an Gott glaubte. Aber das tut man nicht mehr, also gibt es keinen Ausweg.«

Der dies sagt, ist ein Filmregisseur. Und es könnte sehr wohl Ingmar Bergman selbst gewesen sein, von dem man weiss, dass etwa die Frage der Existenz Gottes ihm ein quälendes Problem ist.
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Ausblicke auf den finnischen Film von Jean Béranger

Wer sich in Europa mit dem finnischen Film beschäftigen möchte, hat es einigermassen schwer, denn aus dem Land der tausend Seen ist bis heute nur eine geringe Anzahl filmischer Erzeugnisse an eine breitere Öffentlichkeit gelangt. Der finnische Film führt ein Schattendasein, stets scheint er sich hinter dem grossen schwedischen Bruder zu verstecken, dessen filmische Kunstwerke für uns gemeinhin den Massstab angeben, wenn wir vom skandinavischen Film sprechen. Wenn meine Erkundigungen stimmen, so ist die Zahl der finnischen Streifen, die bis heute das grosse Glück gehabt haben, in unseren Filmtheatern gezeigt worden zu sein, in der Tat sehr gering.

Der erste finnische Film, den unsere Importeure wieder aus der Versenkung holten, betitelt »Die Dirne«, war, um die Wahrheit zu sagen, ein Schauerstück, das Roland af Hällström gedreht hatte. Dieses Erzeugnis wurde 1951 in einem der grossen Boulevardkinos, das sich auf Belustigungen spezialisiert hatte, die mehr oder weniger »sexy« waren, gezeigt, obwohl es sich diese Gunst nur durch eine ganz kurze Szene, in der die Heldin nackt in einer Sauna zu sehen war, erkauft hatte.

Der zweite Film, der den Stempel des ausgezeichneten Regisseurs Erik Blomberg trug, gab den Beweis eines viel lobenswerteren Strebens. Er trug den Titel »Valkoinnen peura« (»Das weisse Rentier«) und zeichnete mit sehr schönen plastischen Mitteln eine seltsame Lappenlegende, nach der sich eine junge Frau in ein Rentier verwandelt, um die Jäger zu einem Seitensprung zu verführen, und die diese dann in eisiger Einsamkeit an Erschöpfung zugrunde gehen lässt. Dieser vampireske Inhalt, der die Kindlichkeiten der Psychoanalyse hinter einer kaum scholastisch zu nennenden Behexung der Mythologie verbarg, brachte 1953 einen Preis in Cannes ein, bevor er noch andere internationale Ehren in Karlsbad und Hollywood einsammelte.

Der dritte finnische Film, der nach Frankreich kam, war: »Tuntematon sotilas« (»Der unbekannte Soldat«, 1955) von Edvin Laine. Trotz bedauerlicher Einschnitte - man hatte ihn um mehr als ein Viertel gekürzt -, die gewisse obskure und mangelhafte Passagen beseitigten, bewahrte er seinen Wert als ein Zeugnis über den russisch-finnischen Konflikt 1939-45 und als eine unparteiische Anklage gegen die Schrecken und die Absurdität des Krieges. Durch eine Folge von kleinen, aneinandergereihten Szenen, wo schwachsinniger Dünkel und rein mechanischer Diensteifer gewisser Unteroffiziere, Kameradschaft und das Unbestimmte in der Seele des Mannes der Truppe, Heftigkeit und Brutalität, Edelmut und Verwirrung, sich einander abwechselten, fühlte der Zuschauer sich zutiefst mit dem Los des kleinen Infanteriehaufens verbunden, der zwischen dem Vor und dem Zurück der Operationen hin und her geworfen wurde.

Wenn auch die drei letzten Filme mehr als nur eine allgemeine Würdigung verdienen, so kann man sie doch kaum als stellvertretend für die Gesamtheit der finnischen Produktion ansehen. Um mehr Einzelheiten zu erfahren, müssen wir uns dorthin wenden, wo diese kleine mustergültige Industrie gewachsen ist, reich durch ihre aufbrausende Vitalität und durch die Verschiedenheit ihrer Talente. Man trifft dort, ähnlich wie in Schweden, auf starke Neigungen zum bildlichen Lyrismus, die gleiche passionierte Vorliebe für alles, was zur Natur hinzieht und die Elemente zum Eingreifen veranlasst. Der Ton ist deshalb sehr herb, vielleicht auch wegen des weniger grossen materiellen Komforts und des grossen Einflusses, den die wenig liberale lutherische Kirche in Finnland hat.

Der finnische Film entwickelte sich viel langsamer als sein Stockholmer Rivale. Agenten der Gebrüder Lumière begaben sich im Juli 1896 nach Helsinki und veranstalteten dort einige Vorführungen, aber die ersten wirklichen Kinos öffneten erst 1903 ihre Pforten, und die ersten Filme wurden nicht vor Beginn des Jahres 1904 gedreht. Meistens handelte es sich bei diesen l ersten Filmproduktionen um aktuelle Reportagen und um einfache Dokumentarfilme. Den Anfang der Spielfilmproduktion machte der 1907 gedrehte Streifen »Lönnbrännarna«. 1912 unternahm es die Firma »Aktebolaget Finlandia«, das Pathérepertoire zu zeigen, und andere Pioniere des Films drehten »Sylvie« nach einem Stück von Minna Canth.

1915 gab Conrad Tallrodt sein Debüt als Filmregisseur durch »När lyckan skiver«. Aber in den nächsten Jahren ging er nach Schweden, wo er bald Film auf Film drehte: »Millionarvet« (»Das Erbe einer Million«), »Millers dokument« (»Millers Dokument«), »Vem sköt« (»Das traurige Lied«), »Skuugan av ett brott« (»Im Schatten eines Verbrechens«), »Sin egen slav« (»Jeder ist sein eigener Sklave«) und »Allt hämmnar sig« (»Alles zahlt sich aus«).

Bis zu Beginn der russischen Revolution war die Produktion finnischer Filme, gemessen an der anderer Länder, sehr gering, doch nach dem Sturz der Romanows gab es so etwas wie einen nationalen Aufschwung in Finnland, der das Filmschaffen schnell vergrösserte und verbesserte. 1919 fanden sich zwei Schauspieler, Erkki Kam und Teuvo Puro, zusammen, um die Gesellschaft »Suomi Filmi« zu gründen, die niemand Geringeren als Ruth Snellmann, die Tochter des berühmten finnischen Komponisten Jean Sibelius, zu ihren Gesellschaftern zählte. Die Gesellschaft drehte zunächst einige kleinere, nicht bedeutende Filme, wie »Wer zuletzt lacht« oder »Das Abenteuer von Olle«, Karu und Puro zeigten dann aber guten Geschmack, als sie die Komödie »Die Verlobten« (»Förlovningen«) von Alexis Kivi und das Drama von Minna Canth »Ana-Lisa« aufgriffen. Beide Streifen wurden im Jahre 1921 gedreht. In »Ana-Lisa«, einer Geschichte, die mit der Thematik von Gerhart Hauptmanns »Rose Bernd« in engem Zusammenhang steht, verkörperte Helmi Lindelöf, eine der besten Schauspielerinnen des finnischen Staatstheaters, die Gestalt einer kindlichen Mutter, die von Gewissensbissen verfolgt wird, nachdem sie die Abtreibung ihres Kindes zugelassen hatte.

Im Jahr 1922 kam Tallrodt nach Helsinki zurück, und unter seiner Regie entstand dort: »Kärlekens allmakt« (»Die Allmacht der Liebe«), in dem unter anderen Ida Brander mitspielte. Mit Ida Brander drehte er noch »Der alte Baron von Rautakkyla« nach einer Vorlage von Zacharias Topelius und »Bröllopet pa Suursalo« (»Die Hochzeit aus Suursalo«). Die charmante Heidi Korhonem sah man in einem der besten Filme von Erkki Karu: »Forfarens brud«, der nach einem Roman von Kataja entstand. Mit »Sockenskoma Karna« (»Die Schuhmacher aus der Provinz«) gelang es der Suomi, in diesem Jahr eine gewisse Reife des Stils zu erreichen, an der der Autor Alexis Kivi sicher einen nicht unbeträchtlichen Anteil hat. Das Jahr 1924 bezeichnet den Eintritt des technisch sehr begabten Jalmaris Ladensuo in die Reihe der Filmschaffenden. Ladensuo erreichte sehr schnell die Kunstfertigkeit seiner Vorgänger, und seine Filme »Fiskaren pa Störmskär« (»Die Fischer von Störmskär«) und »Osterbottningar« (»Die Leute von Osterbotten«) sind denen eines Karu oder eines Puro ebenbürtig.

Tuevo Puro inszenierte 1926 noch »Inbrottet« nach einem Werk von Minna Canth.

Es ist sicher, dass keiner dieser Filme eine geniale Konzeption aufwies, aber man findet in jedem dieser Werke eine sehr gewissenhafte Zeichnung des ländlichen Lebens und einige bukolische Ansätze, die sich mit dem schweren und unbeweglichen Naturalismus die Waage hielten, der im nordischen Filmschaffen jener Jahre gang und gäbe war.

1934 wurde die »Suomen Filmiteollismus« gegründet, die sehr schnell eine Jahresproduktion von 12 Filmen erreichte. Die bedeutendsten Regisseure, die dem finnischen Film bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges das Gesicht gaben, waren Nyrkii Tapiovaara (1912-40), Risto Orko (* 1899) und Valentin Vaala (* 1909). Das erste wirklich gute filmische Werk Tapiovaaras »Juha« (1935) wurde nach einem Roman von Juhani Aho geschaffen. Die Geschichte spielt in Karelien und schildert uns das einfache und monotone Leben einer jungen Bauernfamilie. Während der Mann die Felder bestellt und im nahegelegenen Fluss Fische fängt, versieht die junge Hausfrau den Hof. Doch tödliche Langeweile hält ihr Leben gefangen, über die sie auch die Schönheiten der karelischen Landschaft nicht hinwegtrösten kann. Eines Tages kommt der Verführer, das Ende nimmt seinen Lauf: Die junge Frau verlässt mit ihm Mann und Hof. Die Langeweile schlägt in eine schwermütige Stimmung um, der junge Bauer besteigt sein Boot und lässt sich auf die nahen Wasserfälle hintreiben, von denen noch niemand zurückgekehrt ist. Nach »Juha« inszenierte Tapiovaara noch »Varastettu kuolema« (»Ein mysteriöser Tod«, 1937) und »Miehen tä« (»Die Bestimmung des Menschen«, 1939) nach einem Roman des Nobelpreisträgers Frans E.Sillanpää. Von Risto Orko, der 1936 »VMV 6« und das mittelmässige antisowjetische Pamphlet »Jääkarin morsian« (»Der rote Spion«, 1937) schuf, muss man sich des wundervollen, an ein historisches Fresko gemahnenden Filmes »Aktivistit« (»Die Aktivisten«, 1940) erinnern.

Nachdem er zunächst einige kleinere unbedeutende Komödien gedreht hatte, verhalf Valentin Vaala mit »Koslenkasijan morsian« (»Die Verlobte des Holzfällers«, 1936) und »Kvinnorna pa Niskavnori« (»Die Frauen von Niskavnori«, 1937) dem naturalistischen, im ländlichen Milieu spielenden Film zu einer gewissen Grösse, die erst sehr spät erkannt wurde.

Der Krieg brachte einen tiefen Einschnitt in das Filmschaffen Finnlands. Hatte man kurz vor Ausbruch und während des Krieges das Publikum mit mehr oder minder patriotischen Machwerken gefüttert, die aufzuzählen hier nicht der Platz ist, so ging man am Morgen der Niederlage daran, mit »Vai vasuko morsian« (»Das Denkmal der Verlobten«, 1945) eine der fruchtbarsten und brillantesten Perioden der finnischen Filmgeschichte einzuleiten. Im selben Jahr drehte Teuvo Tulio, ein junger Regisseur baltischer Herkunft, eine neue Version von »Laula, tulipunaisesta kukasta« und danach »Sellaisena kinn sinä minut halusit« (»Alles, was du mir wünschtest«), eine klinische Studie über den seltsamen Fall einer Prostituierten, die von Marie-Louise Fock dargestellt wurde. Nach zwei Filmen folkloristischen Inhalts: »Loviisa« (»Luise«, 1946) und »Maaretfjällens dotter« (»Das Mädchen aus dem grossen Norden«, 1947) inszenierte Valentin Vaala 1948 »Ihmiset suviyössä« (»Das Geschehen einer Sommernacht«) nach einem Roman von Sillanpää. Dieser Film, getragen von fast poetischer Bitternis, ist wohl Vaalas Hauptwerk. Interessante Farbwirkungen und Stilisierungen zeigte er uns in der schönen Komödie »Nimmisuutarit« (»Die Schuhmacher«). Der Regisseur Ilmari Unho (* 1906) schuf nach kurzen Gastspielen in den Studios 1946 eine ausgezeichnete filmische Biographie des Dichters Alexis Kivi (»Minna elän«).

Gegen 1950 setzte eine neue Ära des finnischen Nachkriegsfilms ein, die man gerne mit dem Wort Avantgardismus umschreiben möchte: Der Weg war jetzt frei für die kühnsten Unternehmungen, und spontan traten die Regisseure in Erscheinung, die man als die härtesten des finnischen Films bezeichnet: Matti Kassila (* 1924), Edvin Laine (* 1905), Erik Blomberg (*1913) und Ville Salminen (* 1908).

Matti Kassila hatte 1946 den Schauspielerberuf aufgegeben und war Regieassistent geworden. Nach mehreren Kurzfilmen drehte er seinen ersten grossen Film 1949: »Professor Massa«, der vom Thema her sozialkritisch war. Nach diesem Streifen wandte er sich mit »Majia lötyää sävelen« (»Majia findet eine Melodie«, 1950), »Radio tekee murron«, 1951, und »Tyttö kuunsillalta«, 1953, mehr der Komödie zu. Aber sein erstes, wirklich gelungenes Werk wurde »Sininen Vüko« (»Die blaue Woche«, 1953), in dem sich ein junger Arbeiter in eine Bürgerstochter verliebt, die nicht fähig ist, aus ihrer Umgebung auszubrechen.

Durch »Kirschgarten« von Anton Tschechow und »Antigone« von Jean Anouilh wird Kassilas Zug zur psychologischen Studie deutlich, das gleiche Kennzeichen weisen die Filme »Pastori Jussilänen«, 1955, »Isän vanha ja uusi«, 1955, und »Elokuu«, 1956 nach einem Roman von Silianpää gedreht, auf. Kassila selbst sagt von Sillanpää: »Sillanpää erinnert ein wenig an Tschechow: Unter der sich aus bescheidenen Ereignissen zusammensetzenden Oberfläche verbirgt sich fast unkenntlich ein mächtiger dramatischer Zug, der kaum erraten werden kann.«

Ähnlich wie bei Kassila erschöpft sich die Tätigkeit Edvin Laines nicht in der Filmregie, sondern er inszeniert und spielt auch auf dem Theater. Seine Landsleute verdanken ihm unter anderem die Kenntnis der Schauspiele Tennessee Williams' und Arthur Millers. Laines filmisches Werk begann mit »Das Brot der Passion«, 1952, einem ländlichen Drama, und setzte sich in »Niskavuoren Heta« (»Heta von Niskavuoren«, 1953) und in dem schon erwähnten Opus »Der unbekannte Soldat« fort. Die intime Milieustudie »Musta rakkaus« (»Dunkle Liebe«, 1957) wurde nach einem Roman von Vaino Linna gestaltet, der auch die Vorlage zu »Der unbekannte Soldat« geliefert hatte.

Als ehemaliger Kameramann Tapiovaaras legt Blomberg bis heute grossen Wert auf die photographische Gestaltung seiner Filme, die er meist für eine eigene Gesellschaft mit seiner Frau Mirjiam Kuosmanen als Hauptdarstellerin dreht. Die Gemeinschaftsarbeit mit seiner Frau brachte einige schöne Filme: »Das weisse Rentier«, »Kun on tuntet« (»Wenn man sich verliebt«, 1954) und »Khilaus«, 1955, nach einer Komödie von Alexis Kivi.

Ebenso bedeutend als Schauspieler wie als Filmdekorateur zeigte Ville Salminen auf liebenswerte Weise die Atmosphäre der Romantik in »Sakkijarven polkka« (»Das Lied von Sakkijarvi«, 1955) und wurde mit »Evakko« (»Exodus«, 1956), der die Austreibung und Flucht der karelischen Bevölkerung in den letzten Kriegstagen beschreibt, einer der grossen Meister des tragischen Films.

Der Ertrag des finnischen Films ist, gemessen an dem Amerikas oder Frankreichs, nicht sehr gross, aber, wenn man die Grösse des Landes und die Bevölkerungszahl dazu in Beziehung setzt, von durchaus bemerkenswertem Niveau.

(Wir danken "Cinéma 60" für die Überlassung des Beitrages von Béranger. Aus dem Französischen von Wolfgang Vogel)

Anmerkung der Redaktion

Es ist nicht die Aufgabe dieses Heftes, einen Gesamtüberblick über den skandinavischen Film zu geben. Das filmische Schaffen der skandinavischen Länder ist zu komplex und vielseitig, um auf so kleinem Raum umfassend behandelt zu werden. Wir haben deshalb versucht, durch unsere Beiträge einige Aspekte des skandinavischen Films zu zeigen, die den Leser anregen sollen, sich mehr mit dem Filmschaffen Schwedens, Finnlands und Dänemarks zu beschäftigen. Interessierten steht die Bibliothek des Filmstudios zur Verfügung, die über eine grosse Anzahl Fachliteratur, die sich mit dem Phänomen des skandinavischen Films auseinandersetzt, verfügt.


»Man gibt in Produzentenkreisen zwar zu, dass man unsicher über die Beschaffenheit eines erfolgreichen Filmes ist, aber man begründet es mit der angeblichen Unzuverlässigkeit des Publikumsgeschmacks. In Wirklichkeit liegt der Grund für diese Unsicherheit darin, dass die Bedeutung der filmischen Eigengesetzlichkeit in Produzentenkreisen unterschätzt und das Nur praktische überschätzt wird.« (Ernst Iros in »Wesen und Dramaturgie des Films«)


»Ich glaube, dass in dem grossen Spielfilm der Zukunft das Ding eine ebenso wichtige Rolle spielen wird wie der Mensch. Der Schauspieler wird nicht mehr in einem Raum stehen, in den er durch Zufall geraten scheint, sondern der Raum wird so gestaltet sein, dass das Erleben des Menschen nur in ihm möglich, nur in ihm logisch erscheint. Ein Expressionismus subtilster Art wird Umgebung, Requisit und Handlung aufeinander abstimmen.«       (Fritz Lang, 1927)


»Wirkliche Kunst ist einfach. Aber Einfachheit verlangt die grösste Kunst. Die Kamera ist des Regisseurs Zeichenstift. Sie sollte so beweglich wie möglich sein, um jede flüchtige Stimmung einzufangen, und es ist wichtig, dass die Mechanik des Films nicht zwischen den Zuschauer und den Film gebracht wird. Der Filmregisseur muss sich von jeder Tradition lösen, sei sie vom Theater oder von der Literatur her, um das Bestmögliche aus seinem neuen Medium zu machen.«       (F. W. Murnau, 1930)


Das Dach (Il tetto)
Produktion: Vittorio de Sica, Italien 1956; Regie: Vittorio de Sica; Buch: Cesare Zavattini; Kamera: Carlo Montuori; Musik: Alessandro Cicognini; Schnitt: Eraldo da Roma; Darsteller: Gabriella Palotta, Giorgio Listuzzi, Gastone Renzelli, Maria di Rollo.
Ein junges, mittelloses Paar heiratet und sucht verzweifelt nach einer Wohnung. Schliesslich versuchen sie, nachts auf städtischem Gelände heimlich eine kleine Hütte zu bauen. Nun gibt es in Italien ein Gesetz, dass kein »schwarz« gebautes Haus mehr abgerissen werden darf, sobald das Dach fertig ist. Als die Sonne aufgeht und die Gesetzeshüter ihre Runde machen, ist es geschafft, und obwohl noch eine kleine Lücke im Dach ist, drückt die Polizei ein Auge zu. Eine einfache, »banale« Geschichte.
»Heute haben wir nicht mehr das Recht, die Kamera, dieses herrliche Ausdrucksmittel, an Banalitäten zu verschwenden.« Kennt man diese Worte de Sicas, erhält die Geschichte ein anderes Gesicht. Dann ist es kein Zufall mehr, dass Natale, der junge Ehemann, von Beruf Bauarbeiter ist und prächtige Wohnblocks baut, ohne selbst ein Dach über dem Kopf zu haben; Dann ist es kein Zufall mehr, dass in der Schlusseinstellung im Hintergrund der eilig gebauten Hütte grossartige Appartementshäuser erscheinen. Durch diese These de Sicas wird die banale Geschichte zur zeitkritischen Ballade.
Man kann nicht von de Sicas Filmen sprechen, ohne auch von Zavattini zu reden, dem Autor aller seiner bedeutenden Filme. Beide sind in den Jahren ihrer Zusammenarbeit zu einem echten Team zusammengewachsen, so dass es nicht immer leicht ist zu erkennen, welchen Anteil jeder von ihnen am Gesamtwerk hat. Aber man hat Grund anzunehmen, dass Zavattini der Sozialkritiker ist, der Schöpfer der einfachen und überzeugenden Grundidee, der »Vater des Realismus«, während de Sica mit seinem Sinn für Optik, mit seiner Liebe zur Leichtigkeit, zum Detail, zur - oft bitteren - Ironie dem Ganzen Poesie verleiht. Das Neue und überraschende an diesem Film ist, dass Leichtigkeit und Optimismus überwiegen. »Keinen seiner bisherigen grossen Filme hat de Sica in einer so tröstlichen Stimmung ausklingen lassen«, schreibt der evangelische Filmbeobachter, »noch in keinem hat er derart entschieden ja zum Leben gesagt. Fürwahr, ein berechtigtes Ja, um das wir ihm Dank wissen!« Zwölf Wochen wurde an diesem Film gearbeitet, davon allein acht Wochen an den Aussenaufnahmen. Aber noch länger dauerte die Suche nach geeigneten Darstellern. Wie immer bevorzugte de Sica auch hier Laiendarsteller. Tausende von jungen Leuten wurden interviewt, bis endlich nach monatelangem Suchen die Gesichter gefunden waren, die de Sicas Vorstellung entsprachen. Auch die Geschichte selbst stammt sozusagen »von der Strasse«: Sie beruht auf Begebenheiten, die sich in Zavattinis engerer Nachbarschaft zugetragen haben.
Seit nunmehr fünfzehn Jahren besteht in Italien die Schule des Neoverismus. In regelmässigen Abständen wird sie von den Filmjournalisten der Welt für endgültig tot erklärt. Nach diesem Film aber werden wir wohl doch für längere Zeit auf neue Filme dieser Gattung warten müssen. Auch für de Sica und Zavattini wird die Produktion künstlerischer Filme immer schwieriger. Einerseits finden sich keine Geldgeber mehr, was verständlich ist, wenn man bedenkt, dass sein grösster künstlerischer Erfolg, »Fahrraddiebe«, in Deutschland nicht einmal die Synchronisationskosten eingebracht hat (und in Italien nicht viel mehr), andrerseits hat die Gewerkschaft der Schauspieler, die nach de Sicas Meinung zu sehr in Bürgerlichkeit verhaftet sind, um einen einfachen Menschen darstellen zu können, mit Erfolg gegen die Verwendung von Laien in seinen Filmen protestiert.       we.
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Ein Mädel zum Küssen (Kispus)
Regie und Buch: Erik Balling 1956; Musik: Svend Asmussen, Ulrik Neumann; Kamera: Paul Pedersen; Darsteller: Helle Virkner, Henning Moritzen, Nina Pens, Gunnar Lauring u.a.
In welchem Lande, ausser Dänemark, mag es wohl sonst noch möglich sein, dass die Gattin des Aussenministers als Filmschauspielerin aufträte. Hier ist sie sogar nur ein armes Nähmädchen, das in einem Modellkleid einen Märchenprinzen kennenlernt, einen Studenten mit geliehenem Auto und Smoking. Beide gaukeln sich gegenseitig grossen, materiellen Reichtum vor, und die daraus folgenden Verwicklungen erfreuen und unterhalten ein Publikum, das noch nicht auf knallige Effekte geeicht ist, für zu kurze 90 Minuten.
Zu dieser fast bittersüssen und fast traurig ausgehenden Liebeserzählung passen natürlich keine Technicolor-Farben, die pastellblassen Töne sind viel angemessener. Auch die Musik bleibt stets dezent. Die Einstellungen wirken nie ausgeklügelt, ja, sie sind meist sogar sehr konventionell, versetzen uns aber an einigen Stellen - etwa bei der Modenschau - genau in die dem Milieu angepasste Stimmung, weniger durch effektvolle Aufnahmetechnik als durch genaue Auswahl und Aneinanderreihung der Aufnahmen, also massgeblich auch durch den Schnitt.
In diesem ersten Lustspielfilm, mit dem uns die Dänen überraschten - inzwischen sind noch zwei weitere gefolgt: »Goldene Berge« und (mit demselben Filmliebespaar) »Einesteils der Liebe wegen« -, lehnen sie sich mehr als an die amerikanischen Vorbilder an den englischen Stil an: Weniger die Augenblickssituationskomik als die schon vorher angelegte Milieusituationskomik bildet die Grundlage.       HBi.
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Hundert Jahre Liebe (Cento anni d' amore)
Produktion: Cines-Pathé, Italien-Frankreich 1955; Regie: Lionello de Feiice; Kamera: Aldo Tonti; Darsteller: Aldo Fabrizi, Irene Galter, Vittorio de Sica, Nadja Gray, Myriam Bru, Gabrielle Ferzetti, Maurice Chevalier, Eduardo und Titina de Filippo, Guiletta Masina.
Hierin sind Impressionen des Lebens gegeben, aus denen man Beachtliches auch über die Zeit erfährt, die ihr Kolorit hergeliehen hat. Da ist (1) die kurze Begegnung zwischen dem blutjungen Soldaten Garibaldis und der Nichte eines Pfarrers. Der Geistliche aber, ein herrlicher, lebenskräftiger, humorvoller Diener der Kirche, entdeckt seine Liebe zu Italien, zu den Menschen, die durch die sinnlosen Grenzen kleinstaatlicher Gebilde voneinander abgesperrt sind. Wie da echte Empfindung wirksam wird durch eine selbstverständliche Natürlichkeit des Verhaltens, durch überzeugende Bemühung des Herzens, das ist köstlicher Beweis einer lebensnahen und gleichwohl poetischen Bildschilderung. Als filmische Leistung und als Ausdruck menschlicher Gesinnung zugleich ist diese erste Episode von hohem Reiz. (2) Das frühe 20. Jahrhundert präsentiert sich mit einer einigermassen frivolen Ehebruchsgeschichte, in der sich das morbide Klima einer absinkenden Zeit durch eingebildete Grazie ausdrückt. Hier kann sich die Neigung Vittorio de Sicas für müde Ironie ungehemmt ausspielen. Dann (3) der Weltkrieg. Menschliche Erschütterung wird ganz intensiv in einer scheinbar nebensächlichen Episode sichtbar. Ein Frontsoldat will einer Frau mit durchaus leichtfertiger Lebensauffassung den letzten Brief seines gefallenen Leutnants überbringen. Er sieht, wie sie mit der nationalen Phrase paradiert - in einem patriotischen Stück soll sie die Italia spielen - und dabei missachtet, dass Menschen aus lauterem Gefühl ihr Leben opfern. Und er nimmt den Brief ungeöffnet wieder mit. (4) Die Jahre des Faschismus kommen ins Bild. Da will ein altes Ehepaar die Heimat wiedersehen, und beide können sich nicht mehr zurechtfinden. Im hilflosen Staunen dieser rührenden Alten wird der Faschismus als Gegensatz der Menschlichkeit überlegen abgefertigt. Und zuletzt (5) werden die Scheidungsabsichten von sehr »aufgeklärten« Eheleuten unserer Tage etwas kräftig parodiert. Im Ausspielen des Effekts fehlt eigentlich der geheime Lebenssinn, wie er unmöglich bis dahin diese in höchstem Masse poetischen Kurzberichte über das Phänomen Liebe, das sich nur vom empfindenden Menschen her definieren lässt und also nichts mit leichtfertigen Abstechern in erotische Gefilde zu tun hat, zu bedeutenden Äusserungen des Lebens selber verwandelt. Die Leichtfertigkeit widerlegt sich selbst durch Ironie (zweite Episode), das menschliche Gefühl aber findet auf wunderbare Weise seine Bestätigung. Das ist Realismus als schöne Frucht geistiger und seelischer Bemühung: Beweis überzeugender künstlerischer Möglichkeiten des Films.       Film-Dienst, 21.6.56
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Zwei in Paris (Antoine et Antoinette)
Produktion: C. F. Tanavo (Gaumont) 1948; Regie: Jacques Becker; Buch: J. Becker, M. Griffe, F. Girond; Kamera: Pierre Montazel; Musik: J. J. Grunwald; Darsteller: Roger Pigant, Claire Maffeï, Noël Roquevert, Annette Poivre.
Während der Besetzung Frankreichs im Kriege hatte das französische Filmschaffen durch symbolische und märchenhafte Ausdrucksweise die bestehenden Zustände kritisiert. Nach dem Abzug der Deutschen war durch die Wirren und Verluste finanziell eine sehr ungünstige Zeit gekommen; trotzdem - oder wie manche behaupten, gerade deswegen - entstanden einige der besten Filme, die Frankreich uns je geschenkt hat. Alle Grossen des Films von René Clair bis Jacques Becker trugen dazu bei, wobei der Neorealismus aus Italien starken Einfluss auf sie ausübte. Während aber z.B. in »Farrébique« das Leben einer Bauernfamilie zwar mit äusserst realistischen Kameramitteln gedreht wurde, aber in seiner gesamten Gestaltung gar nicht realistisch wirkte, gelang Becker etwa gerade das Gegenteil.
Mit einer einfachen Handlung zeigt er uns, dass im Grunde die Probleme überall die gleichen sind und dass gerade sie in ihrer scheinbaren Bedeutungslosigkeit für die Bildung des Mensch - seins wichtig sind. Jene kleinen Ehestreitigkeiten, bei denen die Versöhnung wichtiger als der Streit ist, jenes Zusammenhalten trotz mancher Unstimmigkeiten. Durch die bewusste Beschränkung des Problemumfanges, die für die Deutschen anscheinend fast unmöglich ist, erreicht er die Geschlossenheit, die besonders für solche Filme von Bedeutung ist. In Frankreich war es übrigens das erstemal, dass die neorealistischen Stilprinzipien auf einen ausgesprochenen Spielfilm angewandt wurden.       H.Bi.
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Abend der Gaukler (Gycklarnas afton) (Zurück zu )
Produktion: Sandrew, Schweden 1953; Regie: Ingmar Bergman; Buch: Ingmar Bergman; Kamera: Sven Nykwist und Hilding Bladh; Musik: Karl Birger Blomdahl; Darsteller: Ake Grönberg, Harriet Anderson, Hasse Ekman, Anders Ek, Gudrun Brost.
Ein Zirkus zieht über die verregneten Strassen Schwedens, ein armseliger kleiner Wanderzirkus, mit dreckigen Wagen, abgetakelten Gäulen und zerrütteten, sich an diese letzte Form ihres Daseins klammernden Menschen: der Clown, dessen hageres, dünnes Gesicht gezeichnet ist von Hoffnungslosigkeit, der Zirkusdirektor, der aus dem bürgerlichen Leben ausgebrochen war, der Zwerg, die Artisten, die Kunstreiterin. Und da liegt eine kleine Stadt, auf die der Zirkus zuhält, eine Kleinstadt mit muffigen und langweiligen Häusern, mit Menschen, denen die Eintönigkeit ihrer gesicherten Existenz auf die verkniffenen Gesichter geprägt ist.
Das Thema dieser an die expressionistischen Vorbilder des Stummfilms gemahnenden Ballade leuchtet auf: Die satte Gleichförmigkeit bürgerlichen Daseins prallt auf die von Armseligkeit, Härte, aber auch von der Freiheit getragene Sphäre eines Vagabundenlebens. Die Beziehungen beider Welten bahnen sich an, und der Zirkus, um seine etwas schmale Kasse aufzufüllen, plant eine grosse Galavorstellung für die Städter. Alles scheint sich bis auf den Zwischenfall mit der Polizei aufs beste zu gestalten, aber der Schein trügt, der Anfang des Endes beginnt sich abzuzeichnen.
Bevor der Abend kommt, versucht der Direktor, ein verzweifelter Koloss der Armseligkeit, der das Vagabundenleben der Gaukler nicht mehr ertragen kann, in die bürgerliche Welt zurückzukehren, zu seiner Frau und zu seinen Kindern, die er vor Jahren verliess, und er scheitert. Mit diesem Scheitern verknüpft sich das seiner Geliebten, die sich von einem Schauspieler verführen lässt, um eines angeblich besseren Lebens willen, das sie durch diese Tat zu gewinnen hoffte. Beide werden zurückgeworfen in die elende Umgebung des Zirkus, niemand kann die ihm gesetzten Grenzen überspringen, und mit Zänkereien, Anschuldigungen und Verzweiflung gehen sie in den Abend, der nur der Beginn einer Nacht ist, deren Traurigkeit kein Ende zu kennen scheint.
Doch auf die äusserste Erniedrigung folgt der Umschlag in der Erkenntnis, dass der Mensch in den ihm gesetzten Grenzen leben muss, sie zu ertragen hat. Die Trostlosigkeit der Existenz schlägt in ein Dennoch zum Leben um. Der Zirkus bricht auf und zieht weiter über dreckige Wege, ein Aufbruch zu jener Stunde des Tages, in der sich vom Horizont der Nacht bereits der neue Schimmer des Lichts abhebt.
Dieses Werk Ingmar Bergmans ist getragen von einer Inbrunst, die den Betrachter erschüttert. Der Rhythmus der Bildfolgen, deren Komposition man fast mit Bildpoesie umschreiben möchte, der genaue dramatische Aufbau der Handlung vermittelt etwas von dem weiten Atem, den ein wirklich grosses Kunstwerk besitzt. Eine expressionistisch geführte Kamera, die Schauspieler, die Kulissen, die diesem Spiel von Strindbergscher Härte den wahrheitsgetreuen Hintergrund liefern, vereinen sich zu einer Darstellung, »die die Beziehungen der Geschlechter und die Bereiche menschlicher Schwächen und Schuld auf die eindringlichste Weise deutlich macht«.       (Martin Ruppert in der FAZ.)       wv
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Englische Legende (Passport to Pimlico)
Produktion: Ealing, Grossbritannien 1950; Buch: T.E.B. Clarke; Regie: Henry Cornelius; Kamera: Lionel Barnes; Darsteller: Stanley Holloway, Margaret Rutherford, Paul Dupuis, John Slater, Betty Warren.
Ein wolkenloser Sonntag im Londoner Stadtteil Pimlico. Plötzlich zerstört eine Detonation die Stille. Eine Bombe, die aus dem letzten Weltkrieg übriggeblieben ist, explodiert und legt ein Gewölbe frei, dessen Inhalt, der Staatsschatz des Herzogs Karl von Burgund, Anlass zu dem seltsamen, unrealen Treiben wird, das uns in diesem Film dargeboten wird. Eine Urkunde, die bei dem Schatz gefunden wird, beweist, dass die Häuser am Miramondplatz seit eh und je burgundisches Eigentum sind, und da diese Urkunde bisher nicht widerrufen ist, sind die Anwohner des Platzes - man höre und staune - neuburgundische Staatsangehörige! Alsbald wird von den neugebackenen Burgundern an der U-Bahn-Station eine Pass- und Zollstelle eingerichtet, Stacheldrahtverhaue sichern die Grenzen des Miniaturreiches, und es dauert nicht lange, bis innerhalb des noch rationierten Englands munter und offen ein fröhlicher Schwarzhandel blüht.
Erfrischend sind die selbstironischen Streiflichter auf den englischen Nationalcharakter, herrlich auch die Parodie auf die Kleinstaaterei oder, man kann es auch so auffassen, auf den übertriebenen Nationalismus der europäischen Staaten: »Wir waren, sind und bleiben Engländer«, sagt eine Neu-Burgunderin, »und eben deshalb behaupten wir unser Recht auf Souveränität.« Die Neue Zürcher Zeitung schreibt: »Alle die Einfälle verraten, die das Feuer des Konfliktes schüren, und die Lösung preisgeben, die von hundstäglicher Genialität ist, hiesse, dem Regisseur Henry Cornelius die verschmitzte Freude rauben, die ironiegesegnete Geschichte in seiner eigenen witzechten Art zu erzählen.«       Bl.
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Fräulein Julie (Fröken Julie)
Produktion: Sandrew-Baumann, Schweden 1951; Regie und Drehbuch: Alf Sjöberg; Kamera: Göran Strindberg; Musik: Dag Wiren; Darsteiler: Anita Björk, Ulf Palma, Märta Dorff, Inger Nordberg, Jan Hagermann, Anders Kenrikson, Lissi Alandh, Inga Gill.
Dieser schwedische Film, der schon 1951 auf den Berliner Filmfestspielen gezeigt wurde, ist nach August Strindbergs berühmtem Einakter gedreht worden. Es ist die Geschichte der Aristokratentochter Julie, die von ihrer Mutter zum Knaben umgebildet werden soll und somit zu einem seltsamen Zwittergeschöpf heranwächst, das die Peitsche schwingt, sich aber gleichzeitig danach sehnt, sie selbst zu spüren.
Bei dem Zusammentreffen des Kutschers Jean mit der Aristokratentochter Julie bricht deren Stolz und Hochmut zusammen. Sie erzählt ihm ihre Jugenderlebnisse und spricht zu ihm wie zu einem Psychiater, aber der Kutscher reagiert auf diese Bekenntnisse, wie es seiner Natur entspricht, grob, ängstlich und ohne jedes Verständnis. An diesem Missverstehen zerbricht dann auch die herrische Julie.

Der Tagesspiegel (Berlin) schreibt zu diesem Film:
»Die eigentliche Tat dieses entschieden denkwürdigen Films ist es, dem Kunstmittel der Rückblendung neue Möglichkeiten gewiesen zu haben. Schon bisher war es das Vorrecht des Films, jedes epische Nacheinander in ein Nebeneinander zu verwandeln. Sjöberg demonstriert, wie gross noch immer die unentdeckten Welten des Films sind, wenn er eine Mehrzahl von Handlungsebenen in der optischen Gleichzeitigkeit zusammenfasst: da ist wider alle Wahrscheinlichkeit alles zugleich im bewegten Bild, und man ist angesichts einer filmischen Surrealistik, die jeden Einspruch der Vernunft zuschanden macht, gebannt und verzaubert.«       Bl.
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Träume in der Schublade (I sogni nel cassetto)
Produktion: Rizzoli-Francine, Italien-Frankreich 1956; Regie: Renato Castellani; Buch: Renato Castellani und A. Chiaramonte; Kamera: Leonida Barboni; Musik: Roman Vlad; Darsteller: Lea Massari, Enrico Pagani, Cosetta Greco, Lilla Brignone.
Das ist eine heitere, harmlose, liebenswürdige Geschichte. In ihrer äusseren Belanglosigkeit erinnert sie etwa an »Das Dach«. Ein junges Studentenpaar lernt sich kennen, verliebt sich, heiratet, kämpft mit Geldsorgen, Examensnöten und drei altjüngferlichen Zimmervermieterinnen. Und dann, als alles geschafft ist, da schlägt ganz plötzlich und ohne jede Vorbereitung das Schicksal zu. So hart, so grausam, so unerbittlich, dass man selbst als unbeteiligter Zuschauer wie vor den Kopf geschlagen ist. Da wird aus einem Lustspiel plötzlich eine Tragödie.
Diese plötzliche Wendung hat die Kritiker veranlasst, von Stilbruch zu sprechen und dramaturgische Grundregeln zu zitieren. Aber dieser Film ist ein Beweis dafür, dass die Dramaturgie des Films noch nicht geschrieben ist. Er ist ferner ein Beweis für die dokumentarische Grundkonzeption der Filmkunst überhaupt. Hier scheint die Kamera objektiv ein reales, unmanipuliertes Geschehen zu registrieren. Der Schluss reibt sich nicht mit dem Ganzen. Eins ist so glaubwürdig wie das andere. Ja, durch diese unvorbereitete Wendung erhält der Film erst sein eigentliches Effet, wird aus einem guten Film ein Kunstwerk. Verwundernd allerdings ist, dass dieser Film nicht von einem jungen Regisseur kommt, sondern von Renato Castellani, der zwar in Italien als Regisseur einen sehr guten Namen hat, aber bisher als Blasetti-Schüler in formalen Dingen in durchaus eingefahrenen Gleisen fuhr. Sollte von diesem erfahrenen Regisseur noch eine kleine Revolution zu erwarten sein?       we.

»Es war zu erwarten, dass Castellani bittere und scharfe Beobachtungen aus gewissen studentischen Schichten von heute schildern würde. Er hat sie auch in seinem Film nicht ignoriert; aber er hat seine ganze Liebe und Sorgfalt seinen zwei Hauptgestalten gewidmet, die auf diese Bitterkeit mit ihrer fast immer spontanen Unbefangenheit und ihrem jugendlichen Leichtsinn reagieren. Die auch hier zutage tretende Bravour Castellanis weiss seiner Schilderung leichte und glückhafte Seiten zu geben. Er behandelt mit viel Scharfsinn einige Aspekte des herbstlichen und winterlichen Pavia, es gelingen ihm anmutige und ergreifende Szenen. Seine beiden Hauptrollen hat er einem Anfänger und einer Quasi-Anfängerin anvertraut, beide bilden ein immer gut aufeinander abgestimmtes, unfehlbares Paar.«       (Mario Gromo in »Stampa Sera«)
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Rückschau

Das Filmstudio zeigte im letzten Semester im ausserordentlichen Programm:

Das Lächeln einer Sommernacht. Eine heiter-frivole Liebesgeschichte aus Schweden, in Szene gesetzt von Ingmar Bergman. Man liebt sich ein bisschen über Kreuz, gewagte Dialoge treiben das Geschehen vorwärts, aber als die Sommernacht zum dritten Male gelächelt hat, haben die, die zueinander gehören, sich gefunden.

Wilde Erdbeeren zeigte die eigentliche Stärke dieses schwedischen Regisseurs. Auf der Fahrt zu einer hohen akademischen Ehrung macht ein alter Professor mit sich und der Welt seinen Frieden. Reale Ereignisse, Träume und Erinnerungen erweisen sich von einer »seltsamen Kausalität«. Obwohl handlungsmässig wenig geschieht, verfolgt man gebannt diese atmosphärisch drückende Erzählung. In seinen realen Szenen erweist sich Ingmar Bergman als ein Meister, in seinen surrealen Sequenzen ist er gleichwie im »Abend der Gaukler« faszinierend.

Die schwarze Akte von André Cayatte. Dieser Regisseur, der von Beruf selbst Jurist ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, in seinen Filmen auf die Probleme unserer Rechtsprechung kritisch hinzuweisen. Hier greift er die Verhörmethoden der Kriminalpolizei an, die dem Untersuchungsrichter gleich zwei Täter liefert für einen Mord, der nie begangen wurde.

Mit Greed gelang es, eins der seltenen Standardwerke amerikanischer Stummfilmkunst wieder aufzuführen. Man mag sich an jene Szene aus Sunset Boulevard erinnern, jener makabren Mischung aus »Dichtung« und »Wahrheit«, als Erich von Stroheim in seiner Rolle als Diener - Chauffeur - Ehegatte sagt: »In der guten, alten Zeit gab es in Hollywood drei grosse Regisseure: Griffith, de Mille und ich.« Erich von Stroheim galt in den frühen zwanziger Jahren in Hollywood als Fanatiker des Naturalismus. So verlangte er einmal von seinem Architekten, dass in einer Hoteldekoration (im Stummfilm!) die Klingelanlagen funktionierten. Neun Monate lang arbeitete er ununterbrochen an »Greed«. Die Aussenaufnahmen wurden in dem Stadtteil San Franziskus gedreht, in dem die Romanhandlung spielte. Vier Wochen lang lebte er mit seinem Team im Death Valley, um die elementare Trostlosigkeit dieser Landschaft in sich aufzunehmen. »Das breite, kraftvolle Werk stellt einen Wendepunkt oder vielmehr den Beginn einer Tradition dar. Es ist klassisch geworden.«       (G. Sadoul)
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Das Filmstudio vermittelte auch in diesem Semester wieder innerhalb einer Schmalfilmarbeitsgemeinschaft interessierten Studenten die Grundkenntnisse der Schmalfilmtechnik. Es zeigte sich, dass zwei Wochenstunden zuwenig sind, um das umfangreiche Gebiet auch nur annähernd zu besprechen. Man wird im nächsten Semester diese Arbeitsgemeinschaft bedeutend erweitern müssen.

Das Filmstudio lud ein zu einem Vortrag mit Diskussion zu dem Thema »Die Wacht am Film«. Herr Gerd Albrecht, Assistent am evangelisch-theologischen Seminar der Universität Bonn und Vorsitzender der Film- und Fernseharbeitsgemeinschaften an den deutschen Hochschulen, setzte sich in einem soziologisch fundierten Referat mit den Praktiken und Richtlinien der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft kritisch auseinander. Herr Max Lippmann, Leiter des Deutschen Instituts für Filmkunde und langjähriges Ausschussmitglied der Selbstkontrolle, gab als Korreferent wertvolle Einzelheiten aus der Bewertungspraxis. Der gute Besuch dieser Veranstaltung ermutigt das Filmstudio, weitere profilierte Persönlichkeiten zu aktuellen Filmthemen in Frankfurt sprechen zu lassen.
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