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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 33, Wintersemester 1961/62

Inhalt
Jubilate
Eine neue Heldin: Die Nongenue
Portrait eines Regisseurs: Alain Resnais
Filmkunst in der V. Republik
Die Verfälschung der Montagekunst
Buchbesprechungen
Schrei, wenn du kannst (Les Cousins)
Hiroshima, Mon Amour
Pantalaskas
Schiessen Sie auf den Pianisten (Tirez sur le Pianiste)
Die Katze lässt das Mausen nicht (L' Eau à la Bouche)
Die Unbefriedigten (Les Bonnes Femmes)
Die Glasmenagerie
The Kid
Das Scheusal (La Poison)
Orfeu Negro
Zazie (Zazie dans le Métro)
Sie küssten und sie schlugen ihn (Les Quatre Cents Coups)
Fahrstuhl zum Schafott (Ascenseur pour l' Echafaud)
Kinder des Olymp (Les Enfants du Paradis) (Besprechung siehe Heft 29)
Deutsche Retrospektive
Das Kabinett des Dr. Caligari
Die freudlose Gasse
Metropolis
Tartuffe
Faust


Jubilate,

_... zehn Jahre haben wir hinter uns gebracht! Auf die Idee, einen studentischen Filmklub zu gründen, kamen ein paar "junge Semester" zu einer Zeit, da neben den üblichen Studiensorgen die Sorge um den "plenus venter" das Jobben zur bitteren Lebensnotwendigkeit machte. Merkwürdig, zu dieser Zeit wurden an allen Universitäten mehr Filmklubs, Studententheater, Studentenzeitungen, Diskussionsgruppen und andere Vereinigungen ins Leben gerufen als zu jeder anderen Zeit. Und was uns angeht, steht jetzt zu fragen, ob sich die optimistischen Erwartungen der Gründer erfüllt haben. Im Gründungsprotokoll steht viel von studentischer Filmarbeit. Man dachte in erster Linie an Diskussionen, Seminare und Kurse. Was ist daraus geworden? Wenn wir ehrlich sein wollen, werden wir zugeben müssen, dass solche Veranstaltungen heute nur noch sporadisch durchgeführt werden. Der Grund? Es kostet eben viel Zeit und ehrenamtliche Arbeit, einen solchen Abend vorzubereiten. Ist niemand mehr da, der den Film nicht nur liebt, sondern auch bereit ist, ihm ein bisschen Zeit und Mühe zu opfern? Man dachte auch an die praktische Filmarbeit. Die Produktion von Dokumentarfilmen und Filmstudien steht noch heute in der Satzung als erklärte, selbstgestellte Aufgabe. Aber während aus den Anfangsjahren des Studios Hunderte von verdrehten Filmmetern in unserem Archiv Patina ansetzten, kommt heute hin und wieder nur noch mal ein Twen vorbei, der zwar erklärt, die Filmkunst von Grund auf erneuern zu wollen, dabei aber durchblicken lässt, dass Geiselgasteig schliesslich doch besser ausgerüstet sei, und dann nach den ersten misslungenen Filmmetern die Kamera wieder in die Ecke legt. Dabei ist unsere technische Einrichtung gar nicht einmal so schlecht. Dass man etwas damit anfangen kann, haben einige, wenige Streifen bewiesen. Sie reicht völlig aus, um einem "Neue-Welle"-Filmer auf die allerersten Sprünge zu helfen. Ist niemand da, der in der Lage ist, bei uns eine "Neue Welle" zu kreieren? Und dieses Heft? Wenn man sein Entstehen nüchtern betrachtet, wird es meist im allerletzten Moment zusammengeschrieben, wobei man mangels eigener, fundierter Gedanken auf Autoren zurückgreift, die längst ihre Qualifikation bewiesen haben, wo es doch eigentlich eine schöne Gelegenheit bietet, mit völlig neuen und jungen Äusserungen über den Film an die Öffentlichkeit zu treten. Ist niemand da, der ein paar gute Gedanken über den Film hat, für die er zusammen mit anderen an dieser Stelle einzutreten bereit ist? Aber wie gesagt, es kostet ein bisschen mühevolle, unbezahlte Arbeit. Bleibt noch die "regelmässige Vorführung ausgesuchter Filme in- und ausländischer Produktion". Lob sei dem Vorstandsmitglied, das in den Gründerjahren für die Erfüllung dieser Aufgabe ein Organisationsschema entwarf, das bis auf den heutigen Tag ziemlich reibungslos funktioniert. So kann man dann mit Recht behaupten, dass dieses die einzige Aufgabe ist, die das Filmstudio wahrscheinlich nicht viel besser hätte erfüllen können. Das aber nicht zuletzt dank der Treue unserer Mitglieder, die durch ihr immerwährendes Interesse der Arbeit des Studios ihre Berechtigung geben und durch ihre regelmässige Beitragszahlung den finanziellen Boden und unsere Unabhängigkeit garantieren. Apropos Unabhängigkeit! Da fällt mir ein Gespräch mit dem Organisator einer ähnlichen Einrichtung ein. Auf die Frage, wer uns denn finanziere (und sein Gesicht zeigte dabei einen Ausdruck, als käme jetzt die allergeheimste Organisation ans Tageslicht, die regelmässig unsere Spesenkonten auffüllt) antworteten wir wahrheitsgemäss, dass wir uns selber finanzieren. Er konnte es nicht glauben, er glaubt es auch heute noch nicht. Aber da wir Geld immer gebrauchen können (einige Projekte, die unserem Programm sehr zugute kämen, liegen seit Jahren auf Eis!), fragten wir nach ein paar Tips, wie man denn so an Zuschüsse herankäme. "Ihr müsst in staatsbürgerlicher Bildung machen", war die Antwort, "Stresemann, Canaris und so!" Wir dankten für den Tip und zeigen heute noch ein Programm, das zwar nicht immer offiziell "besonders wertvoll" ist, aber dafür einigen filmästhetischen Ansprüchen genügt.

Soll man nun dem Filmstudio wünschen, dass es noch weitere zehn Jahre bestehen möge? Sicher soll man das! Es gibt auch kaum einen plausiblen Grund dafür, dass es nicht weiter bestehen sollte. Aber vor allem sollte man ihm wünschen, dass es in der Zukunft sich erfolgreich zwischen der Scylla verkalkter Studentenfunktionäre und der Charybdis verklemmter Möchtegern-Avantgardisten hindurchlaviere und dass sich Vertreter unserer "jungen Intelligenz" finden, die ehrlich alle Möglichkeiten, die dem Filmstudio gegeben sind, bis zur Neige ausschöpfen.       Willy Wehrhahn
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A. J. Alexander: Eine neue Heldin: Die Nongenue

Ein - auf Treu und Glauben - moderner weiblicher Held ist beim Film erschienen. Ihr auffallendes Charakteristikum ist ihr Verlangen nach Liebe. In diesem Verlangen ist sie nicht nur Mitwirkende und Partnerin, sondern Hauptfigur. Wenn sie tragische Grösse annimmt, wird sie zur Heldin, nicht nach der eingeengten Definition: "_... die wichtigste weibliche Rolle einer Story," sondern im weiteren Sinne, "eine Frau heroischen Charakters, ein weiblicher Held." In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von allen Filmkonzeptionen der Frau, ihre Besonderheit könnte treffend mit der Aufschrift "Nongenue" fixiert werden. (wortschöpferische Kontraktion aus franz.: non-ingenue, die Nicht-Naive.) Sie unterscheidet sich von allen anderen Leinwand-Versionen der Frau dadurch, dass sie ganz von heute ist, eine "brave new woman".

Ihr Erscheinen auf dramatischer Szene ist aus einer Reihe von Gründen bezeichnend. Als moderne Heldin ist sie einzigartig als Faktum und Fiktion. In der Filmindustrie ist sie wahrscheinlich das ursprünglichste und echteste Produkt, das je hervorgebracht wurde.

Sieben Filme, die in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten innerhalb der letzten zwei Jahre gestartet wurden, fügten zu ihrem Porträt einige hervorragende Pinselstriche. Ihren vollkommensten Ausdruck fand sie in "Roomat the Top", "The Fugitive Kind", "Hiroshima Mon Amour". Aber frühe Stufen ihrer Entwicklung können in "Private Property", "The Savage Eye" und "Look Back in Anger" aufgespürt werden.

"Private Property" zeigt sie im rohen, unbewussten Zustand, einfältig und nach physischer Liebe hungernd. Typisch für die Nongenue ist Kate Manx unglücklich verheiratet. Sie entblösst ihre Schenkel, seufzt schwer, räkelt sich in gymnastischen Verrenkungen und macht so klar, was sie von ihrem Gatten will. Der Tölpel beisst nicht an und überlässt sie den Machenschaften zweier Verführer als leichte Beute. Wie es die Nongenue oft tut, stiehlt sie dem Film die Pointe, der zwar die Verführer zeichnet, aber nach dem ersten Seitenblick auf die Verführte prompt an ihr hängenbleibt. Die Story ist nicht überzeugend. Hart an der Grenze erscheint deus ex production code (Die Liste der von der amerikanischen Filmselbstkontrolle aufgestellten Verbote.) und unterbricht den unsauberen Vollzug. Entgegen ihrer selbstbetrügerischen Lüge, dass sie "allright" sei, wird sie genau an den Ausgangsort zurückgeführt, hochmütig bei ihrem sexuellen Einfaltspinsel und mit einer gesunden Libido. Nun hat Kate Manx nicht sehr viel von einer Schlüsselfigur und ist nicht besonders "brave", Teil des "Privatbesitzes", der der unkomplizierten "36 - 24 - 36 or better" Filmkönigin sehr ähnlich sieht. (Anspielung auf amerikanische Gepflogenheiten der Filmwerbung. Die Zahlen geben die Masse in Zoll der Filmschönheiten an: Brust, Taille, Hüfte.) Aber diese Hausfrau aus Los Angeles liegt jenseits jeder populären Filmdarstellung der Frau des 20. Jahrhunderts. Sie ist keine Nymphomanin, aber auf ihre passive, unbekümmerte Art nimmt sie die erotische Initiative lieber selbst in die Hand.

"The Savage Eye" ist das literarischste Vehikel der Nongenue. Hier verwirklicht sie das, was der Text den "Todeskampf der Einsicht" nennt. Barbara Baxley geht durch die Mühle und bejammert beides, die echte Liebe, die in einer Scheidung endet, und die "liebelose Liebe _... als Ersatz für Selbstbefriedigung", die im Ekel endet. Sie wartet auf das Ende ihres Scheidungsjahres und rührt dabei in den Tiefen der Einsamkeit und Enttäuschung. Ihr Gewissen - eine männliche Stimme - sagt ihr, dass sie auf dem falschen Wege ist, dass sie "schön, unempfindlich und glücklich" sein möchte, dass sie "Liebe ohne Schmerzen" erwartet. Ihre Erleuchtung kommt, zu passend, während der Katharsis eines fast tödlichen Autounfalls. Verzweiflung wird zum "Mut, nein zum Nichts zu sagen", und chronische Misanthropie verwandelt sich in indiskriminierende Brüderschaft zur Menschheit. Sie hat zwar keine Liebe gefunden, aber die Fähigkeit dazu erlangt. "Wo sind Sie?" wird sie gefragt, und sie antwortet: "Am Leben." Sie ist tatsächlich bei Bewusstsein. Wohin geht die Nongenue weiter? Ihre erotischen Sehnsüchte in "Private Property" eingestanden und artikuliert in "The Savage Eye", geht sie daran, sie zu erfüllen in "Les Amants". In dieser französischen Sicht aus romantischer Perspektive behauptet sie mutig ihre volle Autorität über ihr eigenes Schicksal. Sauer vor Enttäuschung gibt Jeanne Moreau ihren Ehemann auf, schwelgt im Pariser high life, und spielt erfolglos mit einem Polospieler. Dann wendet sich, durch die Alchemie lyrischer Liebe unter dem Vollmond, alles zum süssen Glück. Wir erfahren nicht, ob sie es als menschliches Wesen tut, dafür zeigt man uns, dass sie es mit einem menschlichen Wesen tut. Ein hinreichend angenehmer junger Mann, so der beste der Gefährten der Nongenue, wird er vage charakterisiert und uns nicht klar offenbart. Nichtsdestoweniger glaubt sie, dass es die wahre Liebe sei und entschliesst sich, diesem Mann ihre Rolle als Ehefrau, Mutter und Herrin zu opfern. Anders als Kate Manx, die auf die Ranch zurückgeht, verlässt Jeanne das Schloss. Aber wie kommt sie mit der Liebe zurecht, wenn das Brahms-Sextett ausblendet?

In "Look Back in Anger" beginnt die ernsthafte Behandlung der Liebesbedürfnisse, und die "brave new woman" springt ins volle Leben. Wie Jeanne Moreau hat Mary Ure teuer für die Gelegenheit zur Liebe bezahlt, indem sie sich mit einer traurigen Midlands-Wohnung abfindet und sich freiwillig ihrer Familie und dem trauten Heim entfremdet.

Die Herausforderung, der sich jede Nongenue gegenüber sieht, wird von dem Mann in "Look Back in Anger" ausgesprochen: "Es ist nicht gut, zu versuchen, sich wegen der Liebe lächerlich zu machen. Du kannst da nicht hineinfallen wie in einen gemütlichen Job, ohne die Hände schmutzig zu machen. Sie frisst Muskeln und Eingeweide. Und wenn du den Gedanken nicht ertragen kannst, deine hübsche, saubere Seele zu beschmutzen, gibst du am besten den ganzen Gedanken ans Leben auf und wirst eine Heilige. Weil du es niemals wie ein menschliches Wesen tun wirst." Sie nimmt die Herausforderung an: "Ich will nicht geschlechtslos sein, ich will keine Heilige sein!" Sie - nicht der Ehemann, um den herum die Handlung aufgebaut worden ist, noch die andere Frau, deren unveränderliche Ruhe seinen unveränderlichen Zorn auslöscht -, es ist Mary Ure, die im Laufe des Films geadelt wird. Erst kleinmütig, wächst sie auf der Leinwand, indem sie sich nicht der Leere noch dem bodenlosen Idealismus unterwirft, sondern der Aussicht auf einen zähen, aber lohnenden Kampf um Liebe, und dahinter erfährt sie mit der Totgeburt ihres Kindes ihre eigene Geburt als "brave new woman".

In "Room at the Top", "The Fugitive Kind" und "Hiroshima Mon Amour" realisiert sie sich völlig als moderne Heldin.

Wenn Muskeln und Eingeweide alles ist, was zum Erfolg in der Liebe notwendig, dann mag es die Frau in "Room at the Top", gespielt von Simone Signoret, geschafft haben. Erich Fromm nennt es, nüchtern genug, "allerhöchste Angelegenheit", eine begabungsmässige Vorbedingung zur Praxis der Liebeskunst. Simone hat sie. Laurence Harvey, der typisch schwache Gefährte der unglücklichen Nongenue, hat sie nicht. Was ist Liebe? Eine dramatische Definition ist in den strahlenden Szenen ihrer Vereinigung mit dem Geliebten enthalten. Solche Augenblicke stehen im lebhaften Kontrast zu seinem Pyrrhussieg über ein hübsches, dummes, reiches Mädchen. Aber Simones couragiertes Verlangen nach Liebe bleibt unerwidert; es wird zerschlagen von seinem übermässigen Ehrgeiz, der sie von den göttlichen Höhen herabzieht. Typisch für die meisten Filme der Nongenue wird auch "Room at the Top" als die Geschichte eines Mannes präsentiert. Dabei ist es die Frau, die ihn über die soziologische Ebene erhebt, seine Kraft erhält er nicht vom pathetischen Schicksal des Mannes, sondern von ihrem tragischen Ende. Von allen Werken Tennessee Williams' gibt "The Fugitive Kind" (schärfer noch als die Bühnenversion "Orpheus Descending") äusserst klar die Botschaft weiter, die "Streetcar Named Desire" beigegeben wurde: "Wenn du nicht aufpasst, übernehmen die Affen." Den Kampf mit den Affen führt Anna Magnani, und das Resultat ist Liebe. Lange bevor ihre Geschichte beginnt, wurde ihr Vater lebendig verbrannt, zusammen mit seinem geliebten Weingarten, als Strafe des Mississippi-Mobs für den Ausschank von Schnaps an Neger. Das Ergebnis war, dass ihre Liebe zu einem Laurence-Harvey-Typ sowohl für sie beide als auch für das Kind mit einem Abortus endete, er liess sie, die Waise eines diskreditierten, italienischen Einwanderers, um Geld und der Position willen im Stich. Sie andererseits verkaufte sich aus in liebeloser Ehe: "Ich wollte den Tod danach, aber der Tod kommt nicht, wenn man ihn will." Er kommt viele Jahre später, als sie in der Person des Vagabunden Marlon Brando die Liebe wiederentdeckt. Sie pflegt diese Liebe in ungemilderter Dunkelheit, inmitten der Feindschaft einer vom Hass getriebenen Gemeinde und unter der Bedrohung ihres sterbenden Ehemanns, der sich als Teilnehmer am Morde ihres Vaters enthüllt. Als Bannfluch, der diese Liebe für die "Affen" des Zweistromlandes ist, muss sie getötet werden. Das "Gartenrestaurant", das sie als Symbol der Rache für das Unglück ihres Vaters aufbaute, wird am Abend der Eröffnung von ihrem Gatten in Flammen gesetzt. Das "Restaurant" nimmt den Aspekt einer unheimlichen, profanen Kathedrale an, die in Rauschgold, Elektrizität und Feuer zusammensinkt, und der gewaltsame Tod der Liebenden wird eine schreckliche Leichenhochzeit, pointiert durch die läutenden Alarmglocken. Die Affen übernehmen.

In "Hiroshima Mon Amour" hat Emmanuele Riva eine Affäre mit einem japanischen Architekten, während sie sich in Hiroshima aufhält, um in einem Film über den Frieden zu spielen. Angeregt durch sein Mitfühlen, erzählt sie von ihrer ersten Liebe zu einem Besatzungssoldaten im heimatlichen Frankreich. Eines Tages, gegen Ende des Krieges, kam sie an den gewohnten, ländlichen Treffpunkt, um ihren deutschen Geliebten von der Resistence ermordet zu finden. Noch verwirrt durch den Schock, wurde sie öffentlich gedemütigt, ihr Kopf zur Strafe für die "Collaboration" kahlgeschoren. Allmählich gewann sie ihre geistige Gesundheit zurück, aber Verzweiflung verfolgte ihr Leben.

Über diesen Erinnerungen schwebt der Schatten des Massenmordes einer Bombe, mystisch emporgetragen von geheimnisvollen Monologen, bartokianischer Musik und einer dämmrigen, ausgefallen körnigen Leinwand. Die Gegenwart der nationalen Tragödie ihres japanischen Geliebten beschwört und erschwert ihre persönliche Tragödie. Seine Zärtlichkeit belebt eine vergebliche Hoffnung, die in unauflösbarer Spannung mit unaufhörlicher Verzweiflung kämpft. Während die Liebe vollzogen wird, wird sie auch schon beklagt: Szenen der Frau in mädchenhafter Liebe werden poetisch montiert mit Szenen des Mädchens in fraulicher Liebe. Sie streift durch die Strassen von Hiroshima, folgend und fliehend der Liebe oder ihrer Illusion davon. Als komplexes Meisterwerk bewältigt "Hiroshima Mon Amour" die Sache der "brave new woman" nach Liebe in geographischem und moralischem Kontext mit dem Atomzeitalter. Ihr pathetischer Irrtum als moderne Frau wird ihr tragischer Bruch als moderne Heldin - der unüberwindliche Wunsch nach Liebe. Sie leidet heroisch an diesem Bruch in Szenen, die zart an Carl Dreyers "Jean d' Arc" erinnern, in denen sie eine leuchtende und niederschmetternde Ähnlichkeit zu Maria Falconettis Bild der Jungfrau trägt. Sie leidet allein, ihr erster Geliebter tot und der zweite sowohl dramatische Notwendigkeit als auch Interviewer; der Mann, der am "Ende ihres Regenbogens" steht, ist nicht der Held, sondern die Erfüllung ihrer eigenen Sehnsucht. Und ihre Kontur wird weiterhin zur modernheroischen Gestalt erhoben durch ihre Projektion gegen den gesamtmenschlichen Zustand 1960.

Wenn der Film als wert betrachtet würde, damit zu plädieren, dann würde diese Gruppe von Filmen die Art von Plädoyer für "fairer ladies" schelten, das Marya Mannes an die Broadway-Bühnen gerichtet hat. Es gibt nicht eine Komödie der Mannes in dieser Gruppe. Dass der leichteste "Look Back in Anger" ist, der die Frau einem britischen Beatnik übergibt, der ein Bonbongeschäft unterhält, ist ein Anzeichen für das magere Mass an Erhebung, das man von diesen Filmen erhalten kann. Aber seriöse Kritiker nehmen Filme nicht ernst. Geringere Kritiker haben einige von ihnen verurteilt. Die kritischsten dieser Filme sind von der Nouvelle Vague, und deshalb mag es entschuldigt werden, wenn sie hin und wieder nouveau risque sind. Doch die anstössigen Szenen, das Striptease, das wir in "The Savage Eye" mit Barbara Baxleys Augen sehen, und die Zeichnungen von Kate Manx' Sehnsüchten in "Private Property", sind reichlich, gemäss dem Ungemach ihrer Thesen. Die glückliche Freiheit, mit der alle diese Filme ihre Hauptthemen festsetzen, ist ein bemerkenswerter Kommentar zu der vielgefragten Breite des Mediums.

Alle sieben Filme kommen von freien Produktionen. Die amerikanischen von unserer "Neuen Welle" und von Tennessee Williams in Zusammenarbeit mit Sidney Lumet. Drei wurden von anderen Medien übernommen - "Look Back in Anger", "Room at the Top" und "The Fugitive Kind" -, und sie sind ihren Originalen überlegen. Sie sind alle in Schwarz-weiss und für das Normalformat gedreht, weiter den schleichenden Argwohn stärkend, dass mehr Leinwand und mehr Farbe nicht besonders bedeutungsvoll sind für einen bedeutungsvollen Film. Dies ist kein Blankoscheck für alle diese Filme: Sie unterscheiden sich in der Qualität in weiten Grenzen. Einige erfüllen mehr als die Exegese einschliesst, andere betasten ungeschickt die Vollendung, die man ihnen kreditiert hat. Aber über allen gravierenden Ähnlichkeiten und Unterschieden, ihren verschiedenen Verdiensten und Fehlern, sind sie alle wert, gefeiert zu werden, wenn aus keinem anderen Grunde, dann für die Entwicklung einer einzigen Kreatur: einer modernen Heldin.

Denn es ist nicht als Heroine, als die die Nongenue bemerkenswert ist, nicht als weibliche Hauptrolle in einer Story. Vielmehr ist es ihre Rolle als echte, moderne Heldin, die sie zum Meilenstein in der Geschichte des Films als dramatische Kunst macht.

Der moderne Held hat sich im Film so erfolgreich der Beschreibung entzogen wie in jeder anderen Kunstform, so dass seine Existenz ernsthaft angezweifelt wurde. Der Titel wurde gehalten durch dergleichen wie Chaplins pathetischen Clown, Citizen Kane und Stanley Kowalsky. Aber da sie komisch, beziehungsweise grausam und brutal sind, fehlt ihnen, selbst wenn wir das aristotelische Kriterium des angeborenen Edelmuts ausser acht lassen, der angeborene Edelmut, den man vernünftigerweise von einem Helden verlangen kann. Jack Palances Zeichnung des empfindsamen Schauspielers in der meisterhaften Filmversion von Clifford Odets' "The Big Knife" sticht als der einzige, authentische moderne Held hervor, den der Verfasser anführen kann _...

Versuche mit dem modernen Helden hat es zahlreiche gegeben, zu zahlreich, um sie in allen Formen und Grössen aufzuzählen. Wir haben den kleinen Mann (auf der Strasse) gesehen, den Vertreter, den Soldaten, den Verbrecher, den Priester, den Alkoholiker, den Mann mit dem goldenen Arm, den armen Mann (Pather Panchali) und den alten Mann (Umberto D.), das Kind (Les 400 Coups), den Eigenbrötler, den Unzufriedenen ("The Last Angry Man", eine Fehlbezeichnung), den jugendlichen Verbrecher (euphemistisch: Rebell ohne Grund). Wir haben den kleinen Mann en masse gehabt, von "Strike" zu "The Grapes of Wrath", von "Roma, città apperta" bis zu den polnischen Nachkriegsfilmen des Warschauer Widerstandes. Und wir hatten den mythischen Helden im modernen Gewand wie in Cocteaus "L' Eternel Retour" und jüngst in "He Who Must Die" und "Black Orpheus". In allen Fällen, ungeachtet der Qualität der Streifen und der Bewunderungswürdigkeit einiger der Darsteller, ist der Held weder von Natur aus modern noch von Natur aus heroisch.

Qualifiziert sich die Nongenue? Ihre heroische Gestalt wird untersucht werden. Nachsichtigerweise ist sie keine "fair lady". Kaum ein Schimmer lilienweisser Reinheit erhellt ihr Bild. Ihre Reife und Unabhängigkeit scheinen, ohne Zerknirschung, zu leicht zu Unkeuschheit und Untreue zu führen, selten zur Selbstverleugnung. Sie pflegt verurteilt zu werden als schlüpfrig (besonders Kate Manx), nachsichtig gegen sich selbst (Barbara Baxley), launenhaft (Jeanne Moreau), masochistisch (Mary Ure), mildtätig (Simone Signoret), hasserfüllt (Anna Magnani) und pflichtvergessen als Frau und Mutter (Emmanuele Riva). Sie wird unmoralisch genannt in einer Welt, die es ständig schwieriger und heroischer macht, moralisch zu sein. Ist sie edel oder unedel?

Die Substanz ihres Edelmuts, so scheint es dem Verfasser, hängt von der Natur ihrer Modernität ab. Ist sie wirklich eine moderne Frau oder die jüngste Version des ewigen Weibes?

Um klar zwischen den beiden zu unterscheiden, wollen wir einen Blick auf die Heroinen werfen, die unsere kommerziellen Filme heute popularisieren. Wir haben eine Auswahl in augenblicklicher Gunst - säugende Küken wie Debbie Reynolds, werdende Schrullen wie Anne Baxter, heiratsfähige Muttertypen wie Susan Hayward, Heerscharen von Amazonen wie Gina Lollobrigida. Seitdem ihre Tugenden anthropometrisch gemessen werden, sind sie in der Tat alle gut. Sogar wenn sie böse sind, sind sie gut, die Unterrock-Babies irgendwie bemäntelt mit diaphonischer Reinheit. Um ihre Güte zu schützen, ordnen unsere handelsüblichen Filme die Frauen unter, oder halten sie vom Kampf um jegliche Art zweigeschlechtlicher Liebe zurück. Beweisen die vier Filme, die im letzten Jahr für den Oskar vorgeschlagen wurden ("Room at the Top" war der fünfte): Die Hauptdarstellerin des einen ist eine Nonne, eines anderen eine junge Tagebuchschreiberin; in "Anatomy of a Murder" ist Lee Remick nur promiscil, und Eve Arden übergibt ruhig die Liebesangelegenheiten James Stewarts, einem trinkenden, alten Rechtsanwalt, mit dem er sich in den Sonnenuntergang zurückzieht. Cowboy-Stil. Und im Oskargewinner "Ben Hur" spielt die Hauptdarstellerin nur die letzte Flöte nach den vier Pferden, vier Männern, Mutter und Schwester des Helden.

Wenn die herkömmliche Heroine in eine Liebesaffäre verwickelt wird, ist sie ständig Siegerin und Besiegte eines viktorianischen Moralstücks. In "The Apartment", zum Beispiel, wird Shirley McLane von einem lüsternen Menschenfresser ausgenützt und erlangt einen guten Jungen, um den bösen Mann fallen zu lassen. Sie ist typisch als Doris Day in "Pillow Talk", schön auf Stromlinie gebracht, aber ebenso altmodisch wie Jedermanns Schwestern Julia und Cinderella, niemandes denkbare Geliebte. Ihr Ziel, wenn man es richtig betrachtet, ist nicht die Liebe, sondern ein Objekt der Liebe, Rock Hudson. Ihre Geschichte hört mit der Eroberung dieses Objekts auf, was nichts über die Erfüllung der Liebe sagt. Und ihr Ethos ist ebenso enggeschnürt wie die breiige Philosophie Abigal Van Burens, der sie eine innige Verehrerin ist.

Bestenfalls sind die herkömmlichen Heroinen verdrehte Reflektionen wirklicher Frauen im Übergang zwischen ihrer traditionellen Rolle als Privatbesitz und ihrer neuen Rollen als freie und verantwortliche Personen. Schlimmstenfalls sind sie Frauen, die von Männern erfunden wurden, wie Barbara Baxley, die Striptease-Tänzerinnen in ihrem Film bezeichnet, sie könnten hundert oder tausend Jahre vorher gelebt haben.

Verständlicherweise trifft die Nongenue nicht den moralischen Standard der Leinwandheldin, mit der sie wenig Ähnlichkeit hat. Sie ist keine Up-to-date-Fassade einer immerwährenden Gestalt. Sie ist eine gänzlich neue Art Frau. Liebe und Libido entstehen in ihr und finden Befreiung vor, in und ausserhalb der Ehe, und werden weder eingedämmt noch verdammt. Ihr Ziel ist nicht ein Objekt der Liebe, mit dem ihre Geschichte anfängt, sondern die Liebe selbst. Sie hat entfernte Vorgängerinnen in Ibsens Nora Helmer und Hedda Gabler, aber keinen gegenwärtigen oder vergangenen Prototyp. Sie fängt an, wo Cinderella aufhört - nach dem "sie trifft ihn", nach dem "sie liebt ihn", nach dem "sie heiratet ihn". Und sie fängt dort an, wo Durchschnittsstars aufgeben. Am Ende von "Strangers When we Meet", ein Film von 1960, der 1900 geschrieben sein könnte, sagt Kim Nowak zu Kirk Douglas "ich liebe dich", und Kirk sagt zu Kim "ich liebe dich". Und dann gehen sie wegen älterer ehelicher Verpflichtungen für immer auseinander. Das ist genau da, wo die Liebenden von "Hiroshima Mon Amour" in Beziehung treten, indem sie ähnliche Verpflichtungen suspendieren, um-sich der Sache zuzuwenden, die sie für wesentlicher halten, der Liebe.

Wie die Standardheldinnen der Liebe hat die Nongenue den Übergang zu ihrer neuen Rolle nicht vollendet. Aber anders als diese hat sie schon ihrem früheren Status abgeschworen, in dem sie aus der Enge seiner Konventionen ausbricht. Mary Ure sagt, dass sie "schon lange aufgegeben habe, an die göttlichen Rechte der Ehe zu glauben", und sie fährt fort, Liebe von ihrem Gatten zu empfangen, auf eine Weise, die ernster zu sein scheint als die frühere.

Seit sie sich emanzipiert hat, hat die Nongenue entschieden, dass Liebe keine Sünde und Sex ein wesentlicher Bestandteil davon ist, niemals als Ende, sondern als Erfüllung. So fühlt sie keinen Zwang, periodisch peccavis zu murmeln für die eine oder andere. Sie lässt Immoralität nur in dem Sinne zu, wie es Emmanuele Riva tut: "zweifelnd an der Moralität der anderen". Sie gibt nicht einer alten Moralität nach, sie formt eine neue, übereinstimmend mit ihrer neuen Rolle und neuer Verantwortung. Liebe ist ihr sine qua non, ihre Motivation und die Quelle ihrer Moral. Wenn sie irgendwelche Bibeln hat, sind es Bertrand Russells "Ethik der Liebe" und" Erich Fromms "Ästhetik der Liebe". Indem sie "Ehe und Moral" und "Die Kunst zu Lieben" als Manuskripte benutzt, erreichen ihre Filme, dass sie, weit entfernt von Unmoral, emphatisch nobel ist.

Dass diese notwendigerweise die Entmännlichung ihres Partners einschliesst, wird von diesen Filmen nicht unterstellt. Die relative Schwäche der Männer in diesen sieben Filmen ist eine dramatische Erscheinung, ein struktureller Begleitumstand der Kraft der Nongenue. Gewiss sind die Begleiter der Nongenue eine bessere Partie als die Leinwandhelden, die zu sehr damit beschäftigt sind, sich um Liebe zu kümmern, und als die Rock Hudson und all die anderen hübschen, kleinen, boshaften Wüstlinge, die Züchtigung, wenn nicht Kastration als Bedingungen des Love-and-marriage akzeptieren. Wenigstens einige der Nongenues - Jeanne Moreau, Mary Ure, Anna Magnani und Emmanuele Riva - finden ihren Meister. Auf jeden Fall sind diese Filme polemisch, und es erscheint völlig natürlich, dass Liebe, das einzige Gebiet, auf dem der Frau jederzeit gestattet war, Erfolg zu haben, ihr Genius werden sollte. Ashley Montagu nennt den Gebrauch dieses Genius "den wichtigsten Job der Welt". Aber diese Filme sagen, dass ihr grösstes Metier nicht das ist, Mutter zu sein, wie es Montagu haben will. Nur zwei der Nongenues sind Mutter, und keine von beiden ist übermässig von dieser Rolle eingenommen. Ihre grosse Funktion ist - nach diesen Filmen - nicht zeugend, sondern schöpferisch, nicht Matrix, sondern Cynosure - Geliebte.

Sie bekennen weiterhin, dass, da das Primat der Liebe nicht fest in der Welt etabliert ist, die Liebe ein Feuerofen und die Frau die Märtyrerin ist. Das, sagen sie, ist die Tragödie, die diesem Jahrhundert eigen ist, die Tragödie der Liebe, die kämpft, um zu gedeihen in einer feindlichen Welt. So schenkt man ihr den Lorbeer des Helden, indem man ihr den Liebesbecher der romantischen Heldin gewährt.

Man wird anführen, dass sie kein Gegenstück in der Wirklichkeit besitzt. Vielleicht ist sie nur die Galatea der Filmregisseure, und vielleicht wird sie in der Geschichte untergehen wie eine sinkende Karyatide. Die Hoffnung, die sich aus den sieben Filmen der Nongenue ergibt, ist, dass sie lebendig sei und dass sie als "brave new woman" ans Ruder kommt. Sie schlagen vor, dass die Welt sie gebrauchen kann. Sie sagt uns nicht, dass Liebe alles besiegt, sondern, dass Liebe alles ist.       (Erschienen in Film Culture, New York)
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Portrait eines Regisseurs: Alain Resnais

"_... Es gibt keine Anekdoten um Alain Resnais. Er kleidet sich unauffällig und fährt Strassenbahn statt Auto, meist geht er zu Fuss. Er spricht leise, ist zu jedermann höflich, sagt nicht, was er denkt und fühlt _... Von den Dreharbeiten ist kein Zornesausbruch zu erzählen und nichts von genialem Künstlerbetragen zu berichten. _... Es herrscht vollständige Ruhe um ihn, und das änderte sich auch nicht, als eine Woche später tatsächlich gedreht wurde. Selbst die Bühnenmeister und Beleuchter, die sich anfangs wie üblich ihre Anweisungen laut zuriefen, flüsterten bald nurmehr _... Das Spiel der Darsteller wurde seit langem im Hotel geprobt, und doch wurde kaum eine Einstellung seltener als zehnmal gedreht. Ein nicht gewollter Augenaufschlag, eine Unregelmässigkeit in der Kamerafahrt, das Verrutschen einer Haarsträhne genügten, um die Aufnahme wiederholen zu lassen. Es geschah nicht selten, dass Resnais nach fünf oder sechs Proben die Kameraschienen um fünf Zentimeter verschieben liess - der Schienenweg war oft 60 Meter lang! -, und sie dann doch wieder an den alten Platz zurücklegen liess und uns in aller Ruhe versicherte: ,Es ist doch besser so.'" So schreibt Volker Schloendorff von den Dreharbeiten zu Resnais letztem Film "L' Annee derniere à Marienbad", bei dem er assistierte.

Weil Resnais erster Spielfilmerfolg "Hiroshima Mon Amour" zeitlich mit den ersten Hervorbringungen der "Neuen Welle" zusammenfiel, zählt man ihn automatisch zu dieser Bewegung. Aber es sind eine ganze Reihe von Dingen, die Resnais von der "Neuen Welle" trennen. Resnais hat sein Handwerk von Grund auf gelernt, und man vermisst bei ihm vor allem die genialische Unsauberkeit in der Technik, mit der so viele junge französische Regisseure bravourös manipulieren. Seine Überlegenheit als Regisseur bestätigten ihm diese selbst, als sie nach "Hiroshima Mon Amour" begeistert ausriefen: "Er ist uns allen um zehn Jahre voraus!"

Alain Resnais wurde 1922 in der Bretagne geboren und ging nach seiner Schulzeit nach Paris, wo er sich zuerst als Schauspieler versuchte, dann aber bald vom Film fasziniert wurde und sich als Student an der IDHEC, der bekannten Pariser Filmhochschule, einschrieb. Er spezialisierte sich auf das Studium des Filmschnitts, was für seine späteren Arbeiten nicht ohne Bedeutung sein sollte; seine sämtlichen Filme, auch "Hiroshima Mon Amour", beziehen einen wesentlichen Teil ihrer Wirksamkeit und ihrer künstlerischen Kraft aus einer virtuosen und höchst unorthodoxen Handhabung des Schnitts, der Montage - und die souveräne Herrschaft über die Technik hat die bezeichnende Eigenart seines geistigen Schaffenskonzeptes überhaupt erst möglich gemacht: Dekomposition - Komposition. Er zerlegt die Materie, die er sich vorgenommen hat, in einer Art von brutalem und dabei sehr sublimem Zerstörungsakt in ihre einzelnen Bestandteile und komponiert aus diesen Teilen dann die Materie neu.

Seine Lehrzeit als Cutter absolvierte er bei der in Frankreich sehr prominenten Regisseurin Nicole Védrès, mit der er vornehmlich bei dem Film "Paris 1900" zusammenarbeitete. Gleich seine erste eigene Arbeit, der Kurzfilm "Van Gogh", brachte ihm dann hohe Ehrungen (Oscar 1950, CIDALC - Preis); der Film, der mit seiner leidenschaftlichen Anwendung filmischer Mittel eine ganz neue Art filmischer Kunstinterpretation schuf, hat zahlreiche spätere Kurzfilme entscheidend beeinflusst. Mit seinem nächsten Kurzfilm liess Resnais es nicht mehr bei der reinen Interpretation der Kunst bewenden, sondern engagierte sich den Problemen der Zeit. Der Gegenstand seiner filmischen Betrachtung war dennoch ein Kunstwerk: Picassos "Guernica"-Fries. Picassos Kompositionen wurden dekomponiert und zusammen mit anderen Elementen - einer von Maria Casares gesprochenen Ode Paul Eluards, Zeitungsfetzen, Tonpartien - zu einer Komposition von überwältigender Kraft und Klarheit neugeformt (Grand Prix für Kurzfilme, Kulturfilmpreis Punta del Este 1952). Mit seinem nächsten Film "Auch Statuen sterben" prangerte er die Kolonialpolitik an (Prix Jean Vigo 1954), mit "Nacht und Nebel" die Unmenschlichkeit der deutschen Konzentrationslager (Prix Jean Vigo 1956).

"Hiroshima Mon Amour" sollte eigentlich ein Kurzfilm im Gefolge von "Nacht und Nebel" werden. Die Produzenten waren an ihn herangetreten, einen Film über die Atombombe zu drehen. Aber da Resnais fürchtete, dieses Projekt könnte entweder ein Aufguss von "Nacht und Nebel" oder auch nur eine neue Fassung der vielen Filme über die Atombombe werden, entschied er sich für die Form, die uns heute vorliegt, und die er bescheiden einen langen Kurzfilm nennt.

Man rechnet Resnais, wie viele andere "Neue Welle"-Regisseure, zu den Vertretern des "cinéma impur", des "cinéma des auteurs", für die im Deutschen die Vokabeln "Kino der Autoren" und "literarischer Film" im Umlauf sind. Aber man sollte die Beziehungen zum roman nouveau nicht überschätzen und eher als Einfluss, denn als erklärtes Formprinzip werten. Der Schlüssel zur Interpretation mag in einer Äusserung liegen, die Resnais in einem Interview machte: "Auf den Zuschauer sollen diese Themen vor allem durch die Verbindung der Bilder und Töne in ihrer spontanen Assoziationskraft wirken _..." Was macht Resnais? Er erweitert die Assoziationskraft, die von der Montage mehrerer Bilder ausgeht, auf den Tonstreifen, er bezieht Musik, Geräusche und gesprochene Worte in die Bildmontage mit ein. Er demonstriert in überraschend neuartiger Weise, dass Tonfilm nicht "Bildfolge mit Tonkulisse" ist, sondern dass Bild und Ton als gleichberechtigte Partner im Gesamtwerk neue Emotionen hervorrufen können.

Filmographie a) als Cutter
1952 Devoir de vacances (von Paul Paviot)
1955 La Pointe court (von Agnes Varda)
1956 Aux Frontières de l' homme (von Nicole Védrès)
1957 L' Oeil du maître (von Jacques Doniol-Valcroze)
1959 Paris à l' automne (von Francois Reichenbach)

b) als Regisseur
1945-1948 verschiedene 16-mm-Filme
1948 Van Gogh
1948 Malfray
1950 Gauguin
1950 L' Alcool Tue
1950 Guernica
1951 Les Statues meurent aussi (Auch Statuen sterben)
1955 Nuit et Brouillard (Nacht und Nebel)
1956 Toute la Memoire du Monde
1957 Le Mystère de l' Atelier 15
1958 Le Chant du Styrene
1959 Hiroshima Mon Amour
1960 L' Année dernière à Marienbad
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Wilfried Berghahn: Filmkunst in der V. Republik

Wilfried Berghahn ist aus der studentischen Filmklubbewegung hervorgegangen. Er promovierte in Bonn und zählt heute als Redaktionsmitglied der "Filmkritik" zu den profiliertesten Vertretern der jungen Filmkritiker in Deutschland. Neben Enno Patalas ("Von Caligari bis Canaris - Autorität und Revolte im deutschen Film") erregte er schon vor dem Abschluss seiner Hochschulausbildung auf den "Internationalen Filmtagen" 1955 in Bad Ems beträchtliches Aufsehen mit seinem Referat "Nationale Leitbilder im amerikanischen Film und ihre politische Bedeutung". In den grösseren Zusammenhang dieser Arbeiten, die auf Siegfried Kracauers Werk "From Caligari to Hitler" zurückzuführen sind, gehört dieser Aufsatz, (d. R.)

Die englische Filmzeitschrift "Sight and Sound" wagte eine Prognose-, Der Film in den sechziger Jahren, meinte die englische Zeitschrift, wird bestimmt werden durch Themen und Probleme, in deren Mittelpunkt sehr private Schicksale stehen. Eine Wendung nach innen habe sich ereignet und könne nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir würden wenig Filme über Rassenkonflikte, Ost-West-Probleme, über Wohnungssorgen und den Alltag sehen. Stattdessen werde die grösste Aufmerksamkeit des Films in den sechziger Jahren dem einsamen, isolierten Individuum gelten, das sich selbst zum Problem geworden ist. Und wenn wir diese Voraussage weiterspinnen, müssen wir hinzufügen, der Stil der Filme wird artistisch sein und eklektisch, eher literarisch und maniriert jedenfalls als realistisch.

Der Kronzeuge für diese Prognose ist natürlich die sogenannte Neue Welle aus Frankreich. Es ist inzwischen allgemein bekannt, was sich dort ereignet hat. Eine erstaunlich grosse Gruppe von jungen Regisseuren, die dem breiten Publikum vor zwei Jahren noch unbekannt war, hat sich in kürzester Zeit an die Spitze der französischen Filmproduktion gesetzt. Neue Gesichter auf der Leinwand und eine geschickte Pressepolitik haben weit über die Kreise hinaus, die sich normalerweise für den künstlerischen Film interessieren, Titel und Begriffe ins öffentliche Bewusstsein eingeprägt, die vielen heute als einzige Garantie für eine Erneuerung der Filmkunst gelten. Zum erstenmal seit dem italienischen Neoverismus spricht man wieder von einer Bewegung im Film, nicht nur von einzelnen Namen und zufällig gelungenen Filmen hier und da.

Das Erstaunliche ist nun, dass diese Bewegung, die doch offenbar ein kollektives Ereignis ist, im Zeichen einer Privatisierung der Filmthemen stehen soll. Eine Wendung nach innen wird konstatiert, gerade wenn eine ganze Generation in die Öffentlichkeit drängt. Hier scheint ein Widerspruch vorzuliegen. Aber es hat sich inzwischen, seit jener englischen Prognose, gezeigt, dass öffentliche Wirkung und Abkehr von sozialem Engagement sich durchaus nicht auszuschliessen brauchen. Gerade im bewussten Rückzug auf die Positionen des isolierten Individuums in einer fremd und gleichgültig erscheinenden Umwelt liegt die politische Stellungnahme des neuen Films verborgen. Die Filme der Neuen Welle sind Variationen über die Entfremdung zwischen Ich und Gesellschaft.

Bezeichnend ist der stark autobiographische Zug in den ersten Werken der neuen Regisseure. François Truffaut, der mit 15 Jahren von zu Hause weglief und Bekanntschaft mit Jugendgefängnissen und Erziehungsanstalten machte, hat die Erlebnisse später in "Quatre cents coups" ("Sie küssten und sie schlugen ihn") als Paradigma für den bereits im Ansatz frustierten Versuch dieser Jugend, sich der Welt der Erwachsenen einzupassen, ausgewertet. Chabrol machte die trostlosen Verhältnisse des Dorfes, in dem er aufwuchs, vor allem aber die Unmöglichkeit, einander zu verstehen, zum Gegenstand seines ersten Films "Le Beau Serge". Auch sein zweiter Film, "Les Cousins" ("Schrei wenn du kannst"), spiegelt offensichtlich seine eigene erste Begegnung mit Paris wider: unverständliche Riten in den Studentenzirkeln, Unverbindlichkeit der Gefühle und das Walten eines unberechenbaren Schicksals sind die beherrschenden Eindrücke. Godards "Ausser Atem" oder die Werke von Eric Rohmer und Doniol-Valcroze siedeln in der gleichen Gefühlswelt.

In den ersten Werken dieser Regisseure ist Filmregie eine Sache des persönlichen Bekenntnisses. Hier wird Rechenschaft abgelegt über individuelle Sympathien und Ängste. Probleme, denen man im persönlichen Leben gegenübersteht oder gestanden hat, sollen auf der Leinwand ihre Deutung erfahren. Der Film war für seine Schöpfer wieder ein Mittel der Selbsterkenntnis geworden. Man arrangierte nicht mehr, wie es die Starregisseure der fünfziger Jahre getan hatten, beliebige Stoffe zu beliebigen Filmen, sondern erzählte bewusst seine eigene Geschichte. Man mass und interpretierte die Welt an dem Gefühl der Ohnmacht, das man ihr gegenüber empfand.

Diese zunächst nur private Ausgangsposition allein hätte freilich wohl kaum ausgereicht, den neuen Regisseuren Geltung zu verschaffen, wenn die Betonung des persönlichen Erlebnishorizontes nicht im selben Moment eingesetzt hätte, in dem Frankreich die Parteiendemokratie suspendierte und sich eine Präsidialregierung schuf. In der V. Republik des Generals de Gaulle, in der die politische Verantwortung weitgehend an die oberste Führung delegiert worden ist, kann der Staatsbürger sich nur noch in die Rolle des Zuschauers fügen. In dieser Situation muss sich der Glaube, durch eigenes Zutun die Geschicke des Landes mitbestimmen zu können, zwangsläufig in Resignation verwandeln. Die öffentlichen Probleme werden von nun an in einer Sphäre weit über den Köpfen des kleinen Mannes entschieden, was alle seine Befürchtungen bestätigt, dass die Welt undurchsichtig ist. Das gibt ihm die Legitimation, sich von Stund an nur noch seinen persönlichen Vergnügungen und Kümmernissen zu widmen. (Man denke daran, wie Godard den "Staatsbesuch" auf den Champs Elysées als ironische Kulisse für die persönliche Bedrängnis seines Helden einsetzt.) Zwar kann bei dieser Rollenverteilung der Bürger sein schlechtes Gewissen nicht ganz unterdrücken, aber er wird bestrebt sein, das Unbehagen zu verinnerlichen und es eher in symbolischen als in realistischen Figuren auszusprechen. Die Neue Welle des französischen Films bietet ihm diese Möglichkeit. Sie offeriert ihm Konflikte, die zwar an das Ganze des gesellschaftlichen Zustandes nicht rühren, aber mit spürbarer innerer Beteiligung die Symptome der menschlichen Isolierung abbilden.

Fast alle Filme der neuen Welle handeln von Menschen, die sich so tief in ihre Wunschträume oder in ihre Angstvorstellungen eingelassen haben, dass die Realität ihnen als Chimäre erscheinen muss. Das alte Motiv des französischen Films, das Marcel Carné in den dreissiger Jahren immer wieder umkreist hat: die tragische Vereinsamung des Menschen vor dem Hintergrund einer entfremdeten Umwelt nimmt in diesen Filmen neue Gestalt an. Es sind Variationen über das Thema Ohnmacht und Hoffnung, die Welt wie sie ist, gegen die Welt, wie sie sein könnte, sein sollte. Meist sind es Filme über Menschen, deren Glücksverlangen sich in der Gesellschaft, in der sie leben, nicht verwirklichen lässt, deren Liebe unmöglich wird durch die Unbeständigkeit des menschlichen Herzens oder durch die Feindseligkeit ihrer Mitmenschen, und deren Vergnügen deshalb leicht einen Stich ins Unwirkliche, ins überspannte bekommen muss. Louis Malle hat das in den "Liebenden" gezeigt. Der romantische Glückstraum im nächtlichen Garten ist eine Metapher für die Unerfüllbarkeit, die Jenseitigkeit des absoluten Verlangens. Chabrol erfindet in "Schritte ohne Spur" ein raffiniert ausgeklügeltes Labyrinth der Affekte und Perversionen, in dem jeder Versuch, das Freie zu gewinnen, von vornherein restlos kompromittiert erscheinen muss. Eine ähnliche Situation kehrt bei Godard wieder, der seinen jugendlichen Autoräuber eigentlich nicht an der Polizei, sondern an der Brüchigkeit der Beziehungen in seinem Freundeskreis scheitern lässt. De Broca hingegen wendet die Situation ganz ins Spielerische. Bei ihm sieht es zunächst so aus, als könnte aus dem Nichtverstehen der Menschen eine Komödie werden. Aber am Ende denunziert das Spiel sich selbst als Unmenschlichkeit. Wenn am Ende des "Farceur" ("Wo bleibt da die Moral, mein Herr?") Anouk Aimée enttäuscht von ihrem "Spassmacher" frierend auf dem Bett sitzt, alleingelassen, hat sich der Witz als Aberwitz erwiesen. In de Brocas jüngstem Film "Liebhaber für fünf Tage" mischt sich schon von Anfang an ins Lachen die Beklemmung. Der bisher einzige Film, der die Träume aufgehen lässt und dem gegen alle Erfahrung auf das Glück hoffenden Menschen recht gibt, ist Jacques Demys "Lola" - eine Art Märchen von bewusster Irrealität, das als Ausnahme die Regel bestätigt. Abgesehen von den surrealistischen Werken der zwanziger Jahre war der französische Film noch nie so bewusst anti-realistisch wie heute. Die neuen Regisseure haben das Vertrauen, die Welt im direkten Abbilde durchsichtig machen zu können, von dem die Filmkunst lange gelebt hat, aufgekündigt. Ähnlich wie im Roman Nouveau der Robbe-Grillet, Butor, Sarraute hat auch im Film die Kritik an den vertrauten Erzählprinzipien, mit denen die Realität als übersichtliche und auf den Menschen hin geordnete dargestellt wurde, eingesetzt. Alain Resnais neuer Film "Letztes Jahr in Marienbad", der nach einem Entwurf von Robbe-Grillet gedreht wurde, lässt alle Gewissheiten über seine Personen und ihr Zueinander hinter sich. (Und das erscheint im Film weit legitimer, bemerkenswerterweise, als in Robbe-Grillets Büchern!) Truffaut treibt in "Schiessen Sie auf den Pianisten!" ein ironisches Spiel mit den Regeln und Erwartungen des Kriminalfilms. Louis Malle verschrieb sich Raymond Queneau, dem Demystifikator der französischen Sprache und krempelte mit seiner Hilfe die Syntax der Filmsprache um.

Dennoch würde sich täuschen, wer in solchen Bemühungen nur formale Experimente sehen wollte, die ein fehlendes Interesse an "Aussagen" retuschieren sollen. Die Schwierigkeiten liegen tiefer: Als die neuen Regisseure ihre Autobiographie abgetan hatten, als sie ausgesprochen hatten, was über ihre persönliche Lage zu sagen war, fanden sie eine übrigbleibende Aussenwelt vor, die ihnen mit den Kategorien ihrer privaten Erfahrung unbeschreibbar erschien. Sie spürten, was selten eine Emigration nach innen begreift, dass die Seele des isolierten Individuums nichts spiegelt ausser sich selbst. Und da sie ehrlich genug waren, sich nicht darüber hinwegzutäuschen und nicht - wie es üblich ist - die andrängende Aussenwelt als unbedeutenden Erdenrest verdrängen konnten, mussten sie versuchen, sie zur Selbstaussage zu provozieren. Sie taten das, indem sie ihr ver-rückte Abbilder ihrer selbst vorhielten.

Der "Formalismus" der neuen französischen Filme entsteht nicht aus mangelndem Interesse am Inhalt, sondern aus der Erfahrung, dass unsere Denkgewohnheiten uns für die Inhalte unseres Lebens blind gemacht haben. Wir wissen nicht, was unser Leben in Wahrheit enthält und können es erst erfahren, wenn Zerrbilder der Gewohnheit uns eine Folie geben, vor der sich das "Wirkliche" neu profilieren kann. Louis Malle hat dafür in "Zazie" die konsequenteste Lösung gefunden. Indem er den Alltag in einer babylonischen Verwirrung der Perspektiven untergehen liess, erlaubte er dem Zuschauer, Abstand zu gewinnen und aus dem Abstand zum erstenmal Einsicht. Am Schluss sagt seine kleine Göre auf die Frage, was sie getan habe, mit Recht: "Ich bin älter geworden." Das meint: Sie hat wirklich etwas erlebt, etwas Wirkliches; sie hat nicht nur etwas mitgemacht, wie wir es tagtäglich tun.
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Henri Colpi: Die Verfälschung der Montagekunst

Es ist eine weit bekannte Tatsache, dass die Montage das grundlegende und alleinige Mittel ist, durch das der Film seinen hohen Grad an Aussagekraft erlangt hat.

Das Eisenstein - Alexandrow - Pudowkin Manifest von 1929 wurde durch die Erfindung des Tonfilms provoziert und es versuchte die Montage mit der Theorie vom Kontrapunkt zu retten. Der Ton hatte die Montagekunst schwer erschüttert.

Als die Gebrüder Lumière ihren ersten Film aufnahmen, stellten sie einfach ihre Kamera vor den Eingang einer Fabrik in Lyon oder auf den Bahnhof vor einen einrollenden Zug. Die Kurbel hielt an, wenn das Filmband abgelaufen war. Genauso beim "Füttern des Babys". Aber bald entstand Bedarf an umfassenderen Szenarios. Die Handlung musste an zwei oder mehreren Schauplätzen aufgenommen und die Kamera frisch gefüllt werden. Das führte zum ersten Gebrauch des "Editing": Es war notwendig geworden, die beiden Stücke aneinanderzufügen, die an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Filmrollen aufgenommen worden waren.

Die Montage erschien mit der Entdeckung der Grossaufnahme und der Möglichkeit, die Kamera näher oder weiter entfernt von den Schauspielern aufzustellen. Es bestand nicht nur mehr das Problem, zwei verschiedene Szenen zu filmen. Man hatte auch über die Länge jeder Szene zu entscheiden entsprechend ihrem Inhalt und der Handlung des ganzen Films. Rhythmus: Ein neues Wort war geboren. Das Zauberwort, das Sesam-öffne-dich sowohl für den "künstlerischen" als auch für den "kommerziellen" Film. Wenn ein Film misslang, lag es am fehlerhaften Rhythmus. Wenn ein Film zu lang erschien - wiederum fehlte ihm der Rhythmus. Und umgekehrt: ein guter Film hatte einen guten Rhythmus, ein rascher und schnell voranschreitender Film war auch ein Film mit gutem Rhythmus. Es gab den schnellen Rhythmus der Komödie, den mittleren Rhythmus eines Carné oder eines Ford und den langsamen Rhythmus eines Dreyer.

Um zu definieren, was Rhythmus bedeutete, halfen Wörterbücher nicht weiter. Es kam dem griechischen Wort näher, was "Zahl" oder "Kadenz" bedeutet. Der Rhythmus eines Films war seine "Kadenz", sein Allegro, sein Maderato, sein Andante. Aber obwohl jeder Film seinen ihm eigentümlichen Rhythmus verlangt, existieren die exakten Gesetzmässigkeiten der Kadenz nicht. Wissenschaftliche Analyse und mathematische Exaktheit versagten, wenn sie mit dem Empfinden für Rhythmus konfrontiert wurden. Es war eine Sache der Impression, des Gefühls. Der Begriff Rhythmus hatte sich am selben Tage der Siebenten Kunst bemächtigt, an dem sich diese den Gedanken der Bewegung aneignete: die Bewegungen der Kamera, Parallelhandlungen riefen Emotionen hervor. Und das ganz besonders seit dem Tag, an dem sie den Begriff der Musik übernahm. Im Jahre 1920 fuhr ein Zug auf seinen eisernen Schienen. Plötzlich wurde der Lokomotivführer wahnsinnig. Die Geschwindigkeit stieg. Die tolle Fahrt begann. Die Schienen. Der Mann. Die Maschine. Die Bilder wurden immer kürzer. Das Crescendo wuchs an zum Höhepunkt der Intensität. Die Einstellungen schrumpften auf wenige Einzelbilder zusammen, Bruchteile einer Sekunde. Dann wurden die Einstellungen langsam wieder länger. Decrescendo. Der Zug hielt.

Wenn man "La Roue" betrachtete, konnte man leicht die Ähnlichkeit mit einem Musikstück feststellen. Wurde nicht Honneggers "Pacific 231" in dieser Weise konstruiert? In einer glanzvollen Demonstration festigte Abel Gance nur mit einer Schere auf seine Weise die Idee der Montage, die die Sowjets später zu den Höhen einer Institution erhoben. Die Stufen von Odessa oder die Sequenzen mit der Milchzentrifuge bestanden aus wohlabgemessenen Einstellungen und deren Bruchstücken. Chronometer und Metronom etablierten sich in den Schneideräumen, die als wahre Laboratorien berühmt wurden, in denen der Stummfilm sein "Goldenes Zeitalter" produzierte.

Die Stimme eines Flüstertenors, AI Jolson, stürzte Kunst und Kommerzialismus des Films in eine Panik. Neue Stilarten und Methoden entfalteten sich. Wegen der Schwierigkeiten der Tonaufnahme wurde die Montage bald aus den Händen des Regisseurs genommen und fand sich in den Händen des Schnitt-Technikers, des Schnitt-Spezialisten wieder. Der Ton bezwang das Bild.

Im Anfang der Tonfilmära wurden Bild und Ton auf demselben Filmband aufgezeichnet. Das bewirkte die Rückkehr zu der Technik Lumières, in einer Einstellung zu drehen. Diese Rückkehr wurde weiterhin erzwungen durch die Beschränkungen, die das Mikrofon den Bewegungen der Kamera auferlegte. Die Probleme der Montage wurden plötzlich auf ein Minimum herabgesetzt. Erst nach der Erfindung des separaten Tonstreifens und der Befreiung der Kamera vom Ton bekam sie ihre Bewegungsfreiheit wieder. Langsam erhielt die Montage ihre Daseinsberechtigung zurück. Jedoch nicht ihre schöpferische Funktion.

Wie wir wissen wurde die schöpferische Funktion der Montage deutlich sichtbar gemacht durch das berühmt gewordene Kuleschow-Experiment. Er benutzte dieselbe Grossaufnahme von Ivan Mosjukin, um drei verschiedene Eindrücke zu erhalten: Begierde, Hass und Hunger. Das erreichte er dadurch, dass er zuerst eine der Grossaufnahmen auf die Aufnahme einer unbekleideten Frau folgen liess, dann auf die Einstellung von einem Ermordeten und schliesslich auf die eines gedeckten Tisches. Es war die Beziehung der beiden Bilder zueinander, ihr gemeinsamer Rapport, der ihren Sinn und ihre emotionelle Bedeutung herausstellte. So konnte die Montage Effekte schaffen. Heute hat die Montage praktisch diese Kraft verloren. Das Wort erklärt alles, es verlangsamt das Fortschreiten der Handlung, es verwässert die emotionelle Erschütterung durch das Bild. Die Kamera wird nicht mehr dafür eingesetzt, die Gegenstände oder die Gesichter sprechen zu lassen: heute bleibt die Kamera am Schauspieler, der sich innerhalb der Markierungen bewegt, sie klebt an ihm. Der sakrosankte Rhythmus wird nicht mehr durch äusserliche Mittel geschaffen, durch das Montieren von Filmstücken, sondern von innen heraus, aus dem Rhythmus des Spiels und des "mise en scène". Innerer Rhythmus hat den äusseren Rhythmus ersetzt. Der Schnittmeister hat nur den Stil und Rhythmus der Regie zu lesen und zu beobachten und seine Schnitte entsprechend einzurichten. Wenn ein Film ein langsames Tempo hat, schneidet er ihn in grosse Stücke. Wenn ein Film schnell angelegt ist, zum Beispiel Orson Welles - Mr. Arkadin - ein Film mit einem ziemlich verrückten und überraschenden Aufbau -, schneidet er ihn in kleine Stücke. Nicht weil er eine Montage macht, sondern weil er dem Tempo des Regisseurs folgt.

Kurz: Seit dem Erscheinen des Tons wird der Film nicht mehr mit den Mitteln der Montage konstruiert. Die Schere verharrt jetzt vor einer Grenze, die ihr Handlung und Dialog gesetzt haben. Die Technik des "Editing" ist die der Rohmontage geworden. Die Länge der Einstellung wird nicht vom notwendigen Rhythmus bestimmt, sondern durch den Text.

Um etwas "Abwechslung" hineinzubringen, damit die Sache besser "läuft", wie man sagt, nehmen Schnittmeister und Regisseure zu Aktions-Reaktions-Schüssen Zuflucht, sie zerhacken den Film in kürzere Enden. Das Jahr 1940 hat mit der Entdeckung der grossen Schärfentiefe die Totale wiedergebracht, die die Anzahl der Einstellungen und damit die Rolle der Montage wiederum vermindert. Das Aufkommen der Farbe half nicht die Szenen zu kürzen. Als die Leinwand sich vergrösserte, brachte Cinemascope die Vorliebe für weite Einstellungen mit sich. Was "Das Gewand" anbetrifft, es wurde als eine einzige Einstellung konzipiert _...

Was wird aus der Montage? Bald wird es keinen Platz für Schneidetisch und Klebepresse mehr geben. Die Logik der Erzählung und der Imperativ des gesprochenen Wortes kontrollieren und entscheiden die Reihenfolge und Länge der Einstellungen. Sie verhüten jeden anderen Aspekt des schöpferischen Gebrauchs der Montage. Die Möglichkeiten der Montage sind weiterhin beschränkt durch den Gebrauch mehrfacher Tonstreifen. Der stereophonische Ton mit seinen drei oder vier getrennten Tonspuren erfordert vom Schnittmeister äusserste Sorgfalt bei der Anwendung von Schere und Kitt.

Was ist der Schnittmeister anderes als ein Klebespezialist? Wir übertreiben nicht. Noch hören wir oft die Phrase: "_...es wird alles beim Schnitt festgelegt." Und wir sprechen immer noch von schlecht und gut geschnittenen Filmen. Was machen die Cutter? Sie gehen Millionen von Filmmetern durch, die ihnen ein vielleicht wählerischer Regisseur - einer, der noch über seine Cutter nachdenkt, zum Beispiel Chaplin - zur Auswahl gibt, eine Serie von verschiedenen Aufnahmen, und dann suchen sie die brauchbaren Meter davon aus. Sie stehen einer Auswahl verschiedener Konstruktionsmöglichkeiten für dieselbe Szene gegenüber. Dann wird die Montage zum Problem der passenden Klassifikation und Länge und der angemessenen Auswahl der besten Einstellung und der besten Aufnahme. Klassifikation und Auswahl. Aber was die Kunst der Montage angeht - darüber gibt es weiter keine Frage mehr.

Nicht, dass sie völlig verschwunden sei. Sie hat ihr Refugium im Kurzfilm gefunden. Hier wird der Film noch im Schneideraum gemacht. Hier ist das Bild nicht zum Sklaven des Tonstreifens geworden. Hier regiert das Bild den Ton, es bestimmt die Dauer der Musik, der Geräusche und des Textes.

So überlebt die schöpferische Funktion der Montage und existiert weiter im Kurzfilm. Alain Resnais' "Nacht und Nebel" zum Beispiel ist einer der besten Beweise lebendiger Montagekunst.       (Erschienen in "Cahiers du Cinéma", Paris)


"_... im Film der Gegenwart ist die Kamera zu einer Art Gott geworden. Man hat eine Kamera, befestigt auf dem Stativ oder dem Kran, der einem heidnischen Altar nicht unähnlich ist; um sie herum sind die Hohepriester - Regisseur, Kameramann, Assistenten, die die Opfer vor die Kamera schleppen, ähnlich rauchenden Gaben, und sie in die Flammen werfen. Und die Kamera steht dort, unbeweglich - oder fast so - und wenn sie sich bewegt, folgt sie den Vorschriften, die von den Hohepriestern verfügt werden, nicht von den Opfern _..."       (Jean Renoir, 1961)
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Buchbesprechungen

Le dessin animé apres Walt Disney
Da wir in unserem Jubiläumsprogramm ausser unseren üblichen Veranstaltungen einen Überblick über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand des Zeichentrickfilms geben werden, möchten wir auf eine französische Buchneuerscheinung aufmerksam machen. Es handelt sich um das Buch "Le dessin animé apres Walt Disney" von Robert Bernayoun, das über den Dokumente Verlag Offenburg zum Preise von 29,- DM zu beziehen ist.

Für die Mehrzahl des Kinopublikums ist Zeichentrickfilm wahrscheinlich einfach gleichbedeutend mit den Filmen von Disney. Dieser Band nun zeigt das, was es ausser - ich würde nicht sagen "nach", wie der Titel - ausser Disneys Produktionen noch auf dem Gebiet des Zeichentrickfilms gibt. Die Schilderung zeugt von unbedingter Kenntnis nicht nur dieser speziellen Materie, sondern der Kunst allgemein. Das ist das Hervorragende an diesem Buch, dass ständig Vergleiche gezogen werden. So wird Bosustow in Zusammenhang mit dem deutschen Expressionismus gebracht. Seine Filme werden mit Bildern von Miro oder Klee oder mit französischen Wandteppichen verglichen. Trnkas Filme erinnern hier an slowakische und südböhmische Volkskunst, die von UPA an den Stil von Max Ernst, Jackson Pollock, Raoul Dufy oder an den Struwwelpeter.

Das Ganze bringt Bernayoun in einer zwar nicht ganz einfach zu lesenden, aber wunderschönen Sprache. Vor allem bei seinen ausgesprochenen Lieblingen wie dem Zauberer MacLaren sind seine Konstruktionen von hinreissender Bildhaftigkeit, Komik und Einprägsamkeit. Lediglich das Schlusskapitel geriet etwas verwirrend, weil zuviel Namen genannt, zuviel Zusammenhänge aufgezeigt werden. Und noch ein Einwand: Der Autor sieht die Fülle dieses Schaffens ausschliesslich als Gegenreaktion auf Disneys Filme an. Damit nimmt er dem Gesagten leider selbst wieder einen Teil der Stärke. Schade, dass er einen so grossen Teil seiner Kraft und seines Papiers auf die ständigen geradezu wütenden Angriffe gegen Disney verwendet ("der Mann, der den faustischen Trieb verloren und dafür einen Pakt mit dem Erfolg geschlossen hat").

Graphisch und satztechnisch ist das Buch ausserordentlich ästhetisch aufgemacht. Das Format erinnert an ein Bilderbuch, die Seiten des Textteils sind dreispaltig beschrieben und mit kleinen Zeichnungen aufgelockert, und an dem grossen Bildteil kann man sich überhaupt nicht sattsehen. Und weil der Herausgeber wohl ahnte, dass man immer wieder in dem Band blättern wird, gab er ihm einen Glanzumschlag, der so schnell nicht schmutzig wird.       re.

Spectaculum - Texte moderner Filme. Herausgeber: Enno Patalas. Suhrkamp-Verlag. 17,80 DM.
Eine prinzipielle Neuheit in der Literatur um den Film herum ist der Spectaculum Band "Filmdrehbücher", der gewiss einige Diskussionen auslösen wird. Wir werden in unseren "Notizen" eine ausführliche Besprechung des Buches bringen. Hier nur die ersten Eindrücke, die wir beim Durchblättern und probeweisen Anlesen hatten.

Die Frage, die der Band offensichtlich selbst gestellt sehen will, die nämlich, ob man Drehbücher lesen könne, lässt sich wohl ohne weiteres positiv beantworten. Sofern sie literarisch sind, lesen sie sich fast wie Theaterstücke. Aber die Frage scheint uns falsch gestellt. Sie müsste unserer Meinung nach eher lauten: Soll man Drehbücher lesen?

In der Hauptsache wird dies Buch gekauft werden, weil man den Text der Erfolgsfilme, den er enthält, noch einmal in Ruhe nachlesen will, ohne durch die Bilder "abgelenkt" zu werden. Aber man wird feststellen, dass eine Vertiefung des ersten Eindrucks nicht erfolgt, denn bei einem guten Film "sitzt" alles schon beim erstenmal.

Die Chance dieser Art von Büchern scheint uns daher nicht so sehr in der Wiedergabe der Drehbücher zu liegen als vielmehr in der Veröffentlichung der Exposées, die noch Neues über die Zielsetzung des Films, über die Charaktere der Personen aussagen, die sowohl erklären als auch erweitern. Unter diesem Gesichtspunkt gehören die Erläuterungen, die Marguerite Duras, neben dem Drehbuch zu "Hiroshima mon amour" gegeben hat, zu dem Schönsten in diesem Buch. Sie sind literarische Miniaturen, die unserer Phantasie und unseren Empfindungen viel Raum geben und daneben wie durch einen Schleier an Bilder des Films erinnern.       re.

Joe Hembus: Der deutsche Film kann gar nicht besser sein. Carl Schünemann Verlag, Bremen. 168 Seiten. 9,80 DM.
Da ist die längst fällige Streitschrift wider den Ungeist des deutschen Films! In einer sorgfältigen Analyse untersucht der Autor die Gründe für das katastrophale geistige und finanzielle Dilemma unserer Filmproduktion. Was Hembus sagt, ist eigentlich längst bekannt, und die Folgerungen, die er zieht, sind bei vernünftiger Überlegung die einzig richtigen. Das besondere Verdienst dieser Schrift liegt aber darin, dass er seine Ergebnisse sorgfältig belegt hat, um von vornherein den Einwänden zu begegnen, die deutsche Filmproduzenten in schier unerschöpflichem Vorrat als Entschuldigung für ihr Versagen ständig parat halten. Ein weiterer Umstand, der der Wirksamkeit dieses Buches zugute kommt, ist der, dass der Autor "selbst sein Büro in der Traumfabrik" hat. Das lässt ihn ständig die wirtschaftlichen Gegebenheiten im Auge behalten und es tritt dem Einwand entgegen, dass diese Gedanken über den deutschen Film möglicherweise in der düsteren Stube eine wirklichkeitsfremden Filmklubfunktionärs entstanden seien. Der Autor beruft sich zunächst auf die grosse Tradition des deutschen Stummfilms und beginnt dann mit seiner Analyse der Gegenwart. Dabei schiesst er praktisch gegen alle: angefangen bei den Produzenten über die Autoren und Stars bis zu den Regisseuren, und macht selbst vor den "grössten Regisseuren Deutschlands" (Käutner, Hoffmann, Staudte und Thiele) nicht halt. Die einzigen, die relativ ungeschoren bleiben, sind die Verleiher, obwohl auch hier einige Haare in der Suppe zu finden wären.

(Wenn auch vom Verlag versichert wird: "Seine Arbeitgeber werden Joe Hembus für dieses Buch nicht besonders dankbar sein", entsteht doch der Eindruck, als wolle er es sich wenigstens mit seinen unmittelbaren Arbeitgebern nicht völlig verderben. Sei's ihm verziehen!) Der wichtigste Punkt seiner Argumentation: Für die Pflege des Nachwuchses, für die jeder andere moderne Industriezweig die grössten Anstrengungen unternimmt, geschieht in der Filmindustrie gar nichts. Damit nennt er die Filmindustrie "die unmodernste Industrie Deutschlands". Unsere Produzenten befinden sich in völliger Verkennung des Ausgangsorts filmschöpferischer Initiative zwar auf dauernder Suche nach frischen Starlets, überlassen aber mit dem ruhigsten Gewissen das "bisschen Gestaltung" unserer bewährten "alten Woge". Hembus macht dann Vorschläge zur Erneuerung der deutschen Filmkunst, die eigentlich direkt auf die Kreation einer "Neuen Welle" in Deutschland abzielen. Man fragt sich zunächst skeptisch: Muss es unbedingt eine "Neue Welle" sein? Geht es nicht auf normalem Wege? Aber was heisst jetzt noch normal? Wer kommt als Regienachwuchs infrage? Die Regieassistenten? Wer jahrelang in diesem "Sklavenberuf" die Ateliers bevölkert hat, dürfte für grundsätzlich neue, eigenschöpferische Tätigkeit verdorben sein. Die Fernseh- und Theaterregisseure? Der Unterschied zwischen Fernsehen und Theater einerseits und Film andererseits wird immer wieder unterschätzt, trotzdem liegen in dieser Richtung einige, wenn auch geringe Chancen. Mit Recht misstraut der Autor auch den Kurzfilmregisseuren der Münchner "Petit Vague", die in einem gewissen Formalismus erstarrten, bevor sie recht lebendig wurden, dennoch räumt er ihnen nicht unbeträchtliche Chancen ein. Jedenfalls schlägt der Autor vor, aus der "jungen Intelligenz" gestalterische Talente zu rekrutieren unter der Devise "Macht die Ateliertore auf!" Das finanzielle und künstlerische Risiko schätzt Hembus nicht grösser ein, als wenn jeder Regieauftrag an einen Altmeister vergeben wird, und er hält es für besser, "_... mit der unsicheren Zukunft zu spekulieren, als mit der noch unsicheren Gegenwart etwas zu riskieren." Im letzten Kapitel unterstreicht der Autor die konstruktive Funktion der Filmkritik. Mühelos gibt er die unqualifizierten Ergüsse unserer etablierten Kulturkritiker der Lächerlichkeit preis und engagiert sich kräftig mit dem Kreis um Patalas, Berghahn und den anderen Autoren der einzigen deutschen Zeitschrift, die sich ausschliesslich und in ernst zu nehmender Weise mit dem Film beschäftigt, der "Filmkritik". Alles in allem ist dieses neue Buch ein aktueller Beitrag zur Situation des deutschen Films, ein Beitrag, der vor allem von gutem Willen und klarem Urteilsvermögen getragen wird und dem man wünscht, dass ihn nicht nur die lesen, die schon immer auf dieser Seite stehen, sondern auch die, an die das Buch gerichtet ist.       We.

Foto- und Filmtechnik in der Medizin, von M. Boy, H. Lühmann und J. Schweinitz, unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Priv.-Dozent Dr. med. D. Müller. 401 Seiten, 328 Abbildungen. VEB Fotokinoverlag Halle, Halle (Saale). Preis DM 35,-.
Inhalt: Theoretische Einführung und technische Voraussetzungen für die Fotografie in der Medizin (Allgemeine Patientenfotografie - Operationsfotografie - Kolpofotografie - Endoskopische Fotografie - Grundzüge der Mikrofotografie - Stereofotografie - Bearbeitung von Röntgenaufnahmen - Fotografie in der Gerichtsmedizin und Patologie - Infrarotfotografie - Reproduktion). Anwendungsgebiete und Grundlagen der Kinematografie in der Medizin (Aufgaben und Anwendungsgebiete - Filmformate und Filme - Kamera und Zubehör - Vor Drehbeginn - Aufnahme - Filmaufnahmen bei Operationen - Nahaufnahmen - Hochfrequenzkinematografie - Zeitrafferaufnahmen - Röntgenkinematografie - Mikrokinematografie - Trickfilmteile - Endfertigung - Neue Wege - Anhang).

Das Foto als exaktes Dokument eines Krankheitssymptomes und der Film zur Darstellung von Krankheits- und besonders von Operationsabläufen sind heute in der medizinischen Wissenschaft zum unentbehrlichen Hilfsmittel geworden. Dieses Buch soll nun den Ärzten und dem medizinisch-technischen Personal die Möglichkeit geben, die in den meisten Kliniken und Instituten vorhandenen modernen Geräte richtig und mit grösstmöglichem Erfolg einzusetzen. Dass es dabei, trotz der Spezialisierung auf die Anwendung in der Medizin, durch die ausführliche Darstellung der Grundlagen der wissenschaftlichen Foto- und Kinematografie auch in anderen Disziplinen mit sicher gleichem Erfolg als Arbeitsunterlage benutzt werden kann, ist besonders erfreulich. Auch haben sich die Verfasser der Mühe unterzogen, wirklich nur die modernsten zur Zeit erhältlichen Geräte zur Aufnahme, Bearbeitung und Wiedergabe von Fotos und Filmen als Beispiele anzuführen. Für jeden, der sich mit wissenschaftlicher Fotografie beschäftigen muss, bildet es durch die Ausführlichkeit und die Geduld, mit der auch die kleinsten Einzelheiten der praktischen Arbeit beschrieben werden, ein fast unentbehrliches Hilfsmittel.       Web.


Schrei, wenn du kannst (Les Cousins)
Produktion: Frankreich 1959; Regie: Claude Chabrol; Buch: Claude Chabrol und Paul Guégoff; Darsteller: Jean Claude Brialy, Gérard Blain, Juliette Mayniel.
"Jeder Beliebige kann Regisseur sein, Drehbuchschreiber, Schauspieler - nur die Funktion des Kameramanns verlangt einige technische Kenntnisse." So schrieb einst Truffaut, damals noch Kritiker, in der Zeitschrift "Arts". Und an anderer Stelle erklärte er, dass ihm der Film von morgen noch persönlicher als ein Roman erscheine, "individuell und autobiographisch wie eine Konfession", Ebenso Astruc, getreu seiner Theorie des "camera-stylo": Filme sind "Bekenntnis und Schöpfung eines Einzelnen".
Man forderte das "cinéma des auteurs".
Mit eben diesen Vorstellungen ging auch der Kollege Truffauts, Exkritiker der Cahiers du Cinéma, ehemaliger Pharmaziestudent, Verleih-Presseagent und Hitchcock-Biograph Claude Chabrol, versehen mit einer respektablen Erbschaft, an seinen ersten Film, an "Le beau Serge". Nach anfänglichen Misserfolgen brachte dieser Film dann internationale Preise und Mittel für das zweite Projekt, nämlich "Les Cousins". Ohne eigentliches Drehbuch und mit schmalem Budget hergestellt, ausgerüstet nur mit den Erfahrungen des ersten Films und einer jahrelangen Ausbildung vor der Leinwand der "Cinémathèque", gelang Chabrol in "Les Cousins" der Film, der nicht nur den Ruhm der nouvelle vague begründen sollte, sondern der auch Szenen und Einstellungen enthielt, die in ihrer Eindringlichkeit unvergesslich bleiben sollten: auf der Party das "Isch bin eine arme deuttsche Soldatt. Muttärr, wo bist Du? Isch bin allain, ganz allain _..." des wagnerbegeisterten Paul (Brialy) unter der deutschen Soldatenmütze, die Strassenszene nach der Party, das erschreckte Aufwachen des Juden nach Pauls "Aufstehen, Gestapo!", das Gesicht der jungen Florence (Juliette Mayniel), die Revolverszene.
Chabrol hatte mit "Les Cousins" seinen Höhepunkt erreicht. "A double tour" (1959), "Les bonnes femmes" (1960) und ganz besonders "Les godelureaux" (1961) bewiesen, dass Chabrol bei weitem nicht das zu geben vermochte, was man sich nach "Les Cousins" von ihm versprochen hatte,
Übrigens: über den deutschen Titel schreie, wer kann _... - so ein Münchner Kritiker.       Vö.
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Hiroshima, Mon Amour
Produktion: Pathé Overseas, Argos Films, Como Films, Daiei Motion Picture Company; Frankreich, Japan, 1958; Regie: Alain Resnais; Buch: Marguerite Duras und A. Resnais; Kamera: Sacha Vierny und Takahashi Michio; Musik: Georges Delerue und Giovanni Fusco; Darsteller: Emmanuele Riva, Eiji Okada, Stella Dallas, Pierre Barbaud.
Als wir den Film erdachten, haben wir weder patriotische noch antipatriotische Gedanken verfolgt. Wir wollten ganz einfach einen Film über die Liebe gestalten, in dem verschiedenes ausgedrückt werden sollte, was über die Liebe in unserer Zeit noch nicht auf der Leinwand gesagt worden ist. Deshalb liegt kein Zufall darin, dass wir als Heldin ein Mädchen gewählt haben, das nach der Befreiung Frankreichs in Nevers kahlgeschoren wurde. Denn wir wollten ja gerade die schlimmsten, die verabscheuungswürdigsten, die gemeinsten Bedingungen nachzeichnen, denen die Liebe unterworfen sein kann. Die Menschen, die die Atombombe über Hiroshima explodieren liessen, die Menschen von Hiroshima selbst, jene, die die Apothekerstochter von Nevers kahlgeschoren und das Mädchen selbst, sie alle sind durch den Krieg ihrer Freiheit beraubt worden.
Es ist die gleiche Art der Verblendung, die der Krieg über Hiroshima und Nevers gebracht hat. Und was die einen von den anderen, die Helden des Augenblicks von den Opfern und Feinden des Augenblicks zu trennen scheint, ist nichts als eine aus den Umständen geschaffene Unterscheidung oberflächlichster Art. Denn alle, die Bombenwerfer und ihre Hintermänner, die 110 000 Toten von Hiroshima, die Kahlgeschorenen und ihre Verfolger, sie alle sind Opfer. Opfer des Krieges und der völkervergiftenden Heuchelei, die er heraufführt. Ein Mädchen kahlzuscheren, weil es einen angeblichen Feind des Vaterlandes geliebt hat, obwohl die Liebe seit Jahrhunderten als das einzige Gefühl anerkannt ist, für das es keine Grenzen gibt, ist ein schrecklicher Ausdruck abgrundtiefer Verblendung. Die Heuchelei ist stets verdammenswert. Aber welch gemeinsames Mass besteht zwischen der Heuchelei, ein Mädchen verfolgt zu haben, das einen Feind geliebt hat, und der Heuchelei, den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima zugelassen zu haben? Darauf wollen wir hier eine Antwort zu geben versuchen.       (Marguerite Duras)

Eines hatten wir jedoch von vornherein beschlossen: Den Versuch eines Films zu wagen, in dem die Figuren nicht direkt an der tragischen Handlung teilnehmen, sondern sich ihrer nur erinnern oder sie mitempfinden _...
Wir wollten in ihnen so etwas wie ,Antihelden' schaffen, wenn man dieses Wort gebrauchen kann. Das gilt vor allem auch für den Japaner. Er hat die Katastrophe von Hiroshima damals nicht selbst miterlebt. Aber er kennt sie, und sie ist ihm bewusst wie allen Zuschauern - denn jeder von uns kann in seinem Innern das Drama, das sich dort vor Jahren ereignete, nachempfinden, wir alle können es gemeinsam fühlen, ohne je einen Schritt auf den Boden dieser Stadt gesetzt zu haben. Um die Erweckung des Ungeheuren und trotz aller Realität so Phantastischen in dieser Vision von Hiroshima ging es hier besonders. Denn erst durch sie gewinnt die kleine, so winzig private Geschichte von Nevers ihre Erinnerungsmacht, wie das Glimmen einer Kerze durch die Linse verkehrt und zu einem riesigen Strahl des Lichts vergrössert wird. Das tragische Ereignis von Hiroshima selbst erscheint nicht im Bild. Es wird nur durch einige Details in Erinnerung gerufen, wie es der Romanschriftsteller tut, der ja auch nicht alle Einzelheiten einer Landschaft oder eines
Ereignisses aufzählt, um deren Gesamtheit dem Leser zum Eindruck werden zu lassen. Der ganze Film ist so zu einem Abenteuer für uns alle geworden, zumal auch seine Herstellung mancherlei finanzielle Engpässe zu überwinden hatte. Ich selbst hatte auf dem eingeschlagenen Weg einige Unsicherheit zu überwinden. Wie oft habe ich mich gefragt, ob ich nicht in die Irre ginge. Dann habe ich das Handlungsmässige bestimmter Szenen verstärkt, um mich nicht zu weit vom üblichen zu entfernen. Aber am Ende musste ich bei der Montage des Films feststellen, dass all diese Arabesken scheinbarer Realität seiner Gesamtform unzuträglich waren. So habe ich sie alle wieder schneiden müssen _...       (Alain Resnais)

Man muss diesen Film wohl mehrere Male gesehen haben, um seinen ganzen revolutionierenden Reichtum voll ermessen zu können. Bild und Text sind hier zu einer rhythmischen Wechselwirkung geformt, dass man sie nicht mehr getrennt beurteilen kann. Die Komposition, die Resnais daraus geschaffen hat, ist von solcher Schönheit und unerhörter Neuartigkeit, dass all die jungen Regisseure der "Neuen Welle" nur mit Recht sagen können, dass Resnais hier etwas geschaffen hat, das sie selbst und das ganze heutige Filmschaffen um viele Längen hinter sich lässt _... Was diesem Film von seiner Thematik her einzigartigen Wert verleiht, besteht für mich in der Tatsache, dass es sich hier um das erste authentische und ungeschminkte Zeugnis einer Frau unserer Epoche über die Liebe handelt. Und in diesem Bezirk gewinnt "Hiroshima, Mon Amour" eine Aussagekraft über das Problem von Erinnerung und Vergessen, die Faulkner und Proust ebenbürtig ist. Alain Resnais hat hier tatsächlich die "Verlorene Zeit" gesucht und wiedergefunden.       (Claude Maurica in "Le Figaro Littéraire")
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Pantalaskas
Frankreich 1960; Regie: Paul Paviot; Buch: Paul Paviot, nach "Les Compères de miséricorde" von René Masson; Kamera: Marc Fossard; Darsteller: Carl Studer, Jacques Marin, Albert Rèmy, Bernard Lajarrige.
Von "Terreur en Oklahoma" bis "Django Reinhardt" (seinen Kurzfilmen) hat sich Paviot anscheinend niemals dem unterworfen, was eine grosse Zahl unserer Freunde ironisch, gleichgültig oder verzweifelt einen Auftrag nennen. Sein erster abendfüllender Film, dessen Verwirklichung ihm mehrere Jahre lang am Herzen lag und den er schliesslich dank des Windes "Neue Welle", der durch die Champs-Elysées weht, machen konnte, ist also sehr wohl sein eigenes Werk und darf danach beurteilt werden _...
Pantalaskas, ein litauischer Riese, der Selbstmord begehen will, weil er zu klein ist, um allein gegen Paris zu kämpfen, ist weniger die Hauptperson des Films als eine Gelegenheit, die einfachen, selbst mittelmässigen und keines Interesses würdigen Menschen gegeben wird, eine Gelegenheit zum Handeln, das heisst, sich in der Aktion zu wählen, sich zu engagieren, genau nach den Theorien Sartres. Wer sind diese Menschen? Tropmann, der Vermieter, Besitzer einer elenden Bruchbude im 11. Arrondissement, die er sich erackert hat, die er verteidigt und schamlos ausbeutet. Der Polizist Battistini, der in seiner abgeschlossenen kleinen Welt lebt und den Neckereien des Wachtmeisters Rabinot ausgesetzt ist und keine Hoffnung hat, selbst einmal Wachtmeister zu werden _... Schliesslich Clergeon, der dritte Mann, ein Lehrer, voll weiter und grosszügiger Gedanken über die Menschlichkeit, der sich aber in der Praxis, nachdem er die anderen mitgerissen hat, zurückhält, ganz im Widerspruch zu seinem Glaubensbekenntnis _...
Nichts in diesem Film ist einer zweifelhaften und tränenreichen Mitleidsmoral vergleichbar, und man versteht, dass Paviot lieber den von vornherein spröden Titel gewählt hat, als den des Romans von Masson beizubehalten, nach dem das Drehbuch geschrieben wurde: "Die Brüder des Elends" _...
Es sind wahrhaftig keine grossen Gefühle, die sie dazu veranlassen, sich in Schutzengel für den litauischen Eindringling zu verwandeln, sondern ihr eigenes Interesse, die Angst, Schwierigkeiten zu kriegen; der Vermieter, weil er ihn auf die Strasse gesetzt hat, und der Polizist, weil er vergessen hat, seinen Bericht über den ersten Selbstmordversuch weiterzuleiten. Aber, sagt Sartre, "das Gefühl bildet sich durch die Handlungen, die man vollbringt", und weil sie für sein Leben gekämpft haben, wird Pantalaskas für drei Menschen wertvoll und bringt ihren Egoismus zum Schmelzen _...       (Michèle Firk in "Cinéma 60", Paris)
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Schiessen Sie auf den Pianisten (Tirez sur le Pianiste)
Produktion: Pléiade, Frankreich, 1959; Regie: François Truffaut; Buch: Marcel Moussy, François Truffaut, nach einem Roman von David Goodis; Kamera: Raoul Coutard; Musik: Jean Constatin; Darsteller: Charles Aznavour, Albert Remy, Serge Davri, Marie Dubois.
Der "Neue-Welle"-Regisseur François Truffaut ("Sie küssten und sie schlugen ihn", Autor von "Ausser Atem") bietet hier ein Muster der "schwarzen" Serie. Es ist ästhetisch hervorragend, moralisch aber entnervend und verführerisch in beider Hinsicht. Mit einem bitter menschenkundigen Drehbuch, dem ideal geeigneten Hauptdarsteller Charles Aznavour, mit einfallsprühender Regie und betörender Kamerakunst wird an einem exemplarischen Einzelfall im Grunde die These erhärtet, das Leben sei eine in sich böse Last, die man jedoch weitertragen müsse, was auch geschehe. Dem Pianisten des Titels widerfährt ein Schicksal wie aus einem verdichteten Reisser. Er war ein gefeierter Künstler gewesen, als seine junge Frau gestand, sie habe seinen Vertrag durch Ehebruch mit dem Manager erkauft. Dann sprang sie aus dem 5. Stock des Hotels - und er tauchte unter, wurde Klavierspieler in einer schäbigen Vorstadt-Tanzkneipe. Dort sehen wir ihn scheinbar gefühllos und unansprechbar. Zu Hause hat er eine junge Prostituierte im Bett und einen kleinen Bruder, den er recht und schlecht versorgt. Ausserdem erscheinen nacheinander zwei erwachsene Brüder: Gauner, verfolgt von anderen Ganoven, und dies just, als die nette Kellnerin der Kneipe den scheuen Pianisten gekapert hat. Der Rest ist "Krimi", mit Eifersucht und Mord in Notwehr, mit Entführung des Jungen, mit Autojagd und Schiesserei, der die neue Gefährtin zum Opfer fällt, in einem Durchschnittsfilm wäre das uninteressant, hier aber schaut Bewegendes durch: schicksalhafte Belastung, denn alle Brüder sind, wiewohl anständiger Herkunft, dem Verkommen geweiht; und persönliche Belastung, indem Charlie, der Pianist, in seinem Gefühlsleben rettungslos verklemmt. Er ist völlig amoralisch, dabei melancholisch und schüchtern, illusionslos in menschlichen Beziehungen und heimlich sensibel, doch die bewegenden Dinge, Liebe und Tod, rinnen einfach an ihm ab. Man gewahrt etwas wie ein inneres Gestorbensein, hinter dem nur ein sinnloses, äusseres Weitermachen hergeht. Truffaut lässt immer wieder den Schauspieler einfach dastehen und macht seine richtigen Gedanken hörbar; dann lässt er ihn völlig unrichtig handeln: Verhaltensweise der toten Seele. Ein entsprechender schwarzer Humor umspukt die verbrecherischen Brüder ebenso wie ihre Mörder, eine vertrackte Klaviermusik tut das übrige, um mit dem Problemträger alles in ein hoffnungsloses Zwielicht zu tauchen, in dem es statt Gnade nur Resignation gibt _...       (Filmdienst der Katholischen Filmkommission)
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Die Katze lässt das Mausen nicht (L' Eau à la Bouche)
Produktion: Pleiade, Frankreich, 1959; Regie und Buch: Jacques Doniol-Valcroze; Kamera: Roger Fellous; Darsteller: Bernadette Lafont, Alexandra Stewart, Michel Galabru, Françoise Brion.
_... Im Liebesspiel regiert zuerst der Zufall, und weil die plötzlich erschienene Schönheit von Héléna (Brion) ihn festnagelt, gibt sich ein Jüngling für den anderen aus, der erst in drei Tagen kommen kann. Er geht durch die Arme der Sérafina, der charmanten Kameradin, die man ohne Konsequenz liebt - so behauptet und glaubt man -, durch die der Miléna, entkommt der Gerechtigkeit in den Armen des sehr jungen Zimmermädchens (Lafont), aber nicht ihrer kleinen Rache, und das Mädchen entkommt nicht - nach wilden und faunischen Verfolgungen - den Armen des Hausdieners. Sérafina wird dem Zauber des Jungen verfallen, den Miléna im vorigen Sommer liebte. Liebesspiel - wo beginnt der Ernst, wo beginnt die Komödie? Keiner entgeht indessen dem Augenblick der Einsicht: Sérafina - Fifine - wird weinen. Es wird einen Augenblick voll wirklicher Unruhe geben. Hatte nicht jemand in die nächtliche Konversation eingeworfen: "Man spielt nicht mit der Liebe"? _...
Man hätte vorausschicken müssen, dass die Komödie in einem unwahrscheinlichen Schloss spielt, das um 1900 ein Mann gebaut haben könnte, der ein Vermögen, erworben hat, ohne den Geschmack sich anzueignen, der ihm das Lob eines Gebildeten von 1960 eintragen würde. Gesegnet sei der "Mangel an Geschmack" des glücklichen Besitzers dieses Schlosses von Roussillon, des Schlosses, das heute zum Rang der Hauptpersonen dieses liebenswerten Films erhoben wurde. Man versteht die Lust, einen Film zu drehen, der die Orte und Objekte als Darsteller hat - und besonders ein Schloss, um darin mit aufmerksamer und beweglicher Neugier die Kamera spazieren zu führen, die sich im geeigneten Moment der Betrachtung der Frauen hingibt, die den Zauber des Daseins von 1900 ausmachten, die mit glücklichem Zartgefühl den Schritten und Bewegungen folgt, den Blicken, den Gesten, dem Lächeln, der Gesetztheit, den Gefühlen, den Aufregungen, der von der einen zur anderen so verschiedenen Schönheit der beiden hübschesten Mädchen des neuen französischen Films _...     (Réné Gilson in Cinéma 60, Paris)
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Die Unbefriedigten (Les Bonnes Femmes)
Produktion: Hakim, Frankreich, 1959; Regie: Claude Chabrol; Buch: Paul Gegauff und Claude Chabrol; Kamera: Henri Decae; Musik: Paul Misraki; Darsteller: Stephane Audran, Clothilde Joano, Bernadette Lafont, Ave Ninchi, Lucile Saint Simon, Sacha Briquet, Mario David.
Vier junge Verkäuferinnen und eine ältliche Kassiererin in einem Pariser Elektrogeschäft. Ritas Profil rechts gross im Vordergrund. Im Hintergrund, über den Laden verteilt, Jane, Ginette, Jacqueline und Madame Louise. Keine Kunden. Zähes Warten auf die Mittagspause. Rita stellt die Frage: "Was erwartet ihr vom Leben?" Der schwermütige Tenor sehnsüchtiger Antworten: "einen Mann".

Natürlich haben oder machen sie ihre Erfahrungen. Aber bei welcher von ihnen wird der Traum Wirklichkeit? Madame Louise (Ninchi) versinkt von Zeit zu Zeit in den verstohlenen Anblick eines "Talismans", den sie nie aus ihrer Handtasche herausholt, und der, wie man vermuten darf, eine zerbrochene Liebe symbolisiert. Jane (Lafont) hat einen gleichaltrigen Freund, der seine Militärzeit abdient; nebenher aber scheut sie nicht vor Abenteuern mit gleich zwei älteren Geschäftsmännern zurück. Der blässliche Freund (Briquet) von Rita (Saint Simon) ist Sohn mittlerer Geschäftsleute; vor ihnen hat sie ihren Vater vom kleinen Angestellten zum Bürovorsteher zu befördern und muss so tun, als sei sie Expertin in Renaissance-Malerei. Ginette (Audran) verbirgt ihr Privatleben ängstlich vor ihren Freundinnen, bis diese doch dahinterkommen - Jane: "Mich laust der Affe!" -, dass sie als Römerin verkleidet in einem Kabarett für Kleinbürger italienische Schnulzen singt. Jacqueline (Joano) wird vom schüchternen Botenjungen des Grosshändlers verehrt; sie aber sieht ihre grosse Liebe in einem mysteriösen Motorradfahrer (David), der sie seit Wochen verfolgt. Ihr, die dem Glück am nächsten scheint, widerfährt ein teuflisches Geschick: dieser Mann, Ernest, ist ein Sexualmörder _...
_... Chabrols Film ist das Plädoyer eines mitfühlenden Mannes für die gleichsam als naturgegeben vorausgesetzte Bereitschaft der Frau, reinen Herzens zu lieben und eine Anklage gegen die rohe Gier und Liebesunfähigkeit der Männer. Noch in jener Orgie zu dritt wird die naive Lebenslust Janes freigesprochen vor den faunischen Verrenkungen der beiden Lüstlinge. Die Frau verliert auch im Schmutz ihre idealen Züge nicht. Als Gegenbild zu ihr erscheint der Mann in Porträts, die sich bewegen im Stil von Karikaturen aus Balzacs "Contes drolatiques" oder orientiert sind am Typ pathologischer Triebmenschen aus dem Reservoir des frühen Fritz Lang oder Hitchcocks. In der Zeichnung der beiden Geschäftsleute ist Chabrol seinem Idol Balzac tatsächlich nähergekommen, als er es bisher vermochte; sei es auch unversehens und "nur" dem burlesken Balzac. In der Charakterisierung Ernests und der poetischen Relevanz der Mordszene hat er ausserdem die Grenzen seiner Vorbilder Lang und Hitchcock zum konkret Humanen hin entschieden transzendiert _...
_...In dieser Idealisierung des weiblichen Charakters auf Kosten des männlichen spiegelt sich fraglos gesellschaftliche Realität. Mit anderen Konsequenzen allerdings, als Chabrol es wahrhaben möchte. Er meint, dass seine Männer und seine Frauen quasi von Natur aus so seien, wie er sie schildert. Indes ist diese seine Meinung nichts anderes als ideologisches Spiegelbild der Wirklichkeit und somit wahr und falsch zugleich. Chabrol vermag erzählerisch überzeugend sinnfällig zu machen, wie die Dialektik der gesellschaftlichen Scheidung in Mächtige und Unterdrückte, in "Geist" und "Körper", sich auf der Ebene der Geschlechterbeziehung wiederholt. Der Körper wird als das zugleich Verbotene und Begehrte angebetet oder geschändet, wie es dem Mann gerade passt. Die sinnliche Pracht der Striptease-Tänzerin wird, unter dem Schutz idiotischer Karnevalsmasken, atemlos und entzückt angehimmelt; dieselben Männer aber tauchen, unter dem blöden Vorwand kameradschaftlicher Faxen, später im Hallenbad die ihnen erreichbaren Mädchen erbarmungslos unter Wasser (einer Szene, deren Grausamkeit die des Mordes im Effekt nahezu übertrifft). Ob als Göttin oder als Sklavin: die Frau ist das Opfer; ihr Bild bleibt, so oder so, Produkt einer patriarchalen Gesellschaft. Chabrol läuft so empört Sturm gegen deren Ungerechtigkeiten, dass er ihren Kategorien blinden Auges anheimfällt. Sein Engagement ist aufrichtig und bewegend, aber er durchschaut nicht, dass, wie Adorno vermerkt, "die Glorifizierung des weiblichen Charakters die Demütigung aller einschliesst, die ihn tragen."       (Theodor Kotulla in "Filmkritik", Frankfurt)
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Die Glasmenagerie
Produktion: USA 1950; Regie: Irving Rapper; Drehbuch nach einem Stück von Tennessee Williams; Darsteller: Jane Wyman, Gertrude Lawrence, Arthur Kennedy, Kirk Douglas.
Schillernd und kunstvoll geformt sind die Figuren der Glasmenagerie. Und zerbrechlich, ein Stoss beraubt sie ihrer Schönheit und Faszination, macht sie zu "ganz gewöhnlichen" Glasfiguren. Diesen schillernden, kunstvollen Glasfiguren gilt die Liebe des verkrüppelten und empfindsamen Mädchens, sie geben ihrem eintönigen Leben Inhalt. Einem Leben mit der immer liebevollen Mutter, die den Kindern durch all ihre Fürsorge zur Qual wird, mit dem immer unzufriedenen Bruder, der die Sehnsucht des nicht zurückgekehrten Vaters nach einem ungebundenen, abenteuerlichen Leben geerbt zu haben scheint.
Aber auch diese Welt der Sehnsucht und Träume hat ihre ganz konkrete Hoffnung, die Hoffnung auf einen Freier für das Mädchen. Er kommt als unkomplizierter, sympathischer junger Mann und verwandelt die Bewohner der trostlosen Mietswohnung in wenigen Minuten: die Mutter fühlt sich an ihre Jugendzeit erinnert, dem Mädchen hilft der Besucher mit seinen freundlichen und teilnehmenden Worten über sein Schicksal hinweg, wenn auch der grosse Wunsch nicht in Erfüllung geht - der Besucher ist bereits verlobt.
Die Verbindung zu einem anderen Stück Tennessee Williams' ist nicht zu übersehen. Wurde in "Endstation Sehnsucht" der sensiblen, neurotischen Blanche Du Bois der selbstbewusste, sich im Leben behauptende Stanley Kowalski gegenübergestellt, so werden hier die alle auf ihre Weise eigenartigen Bewohner der Mietswohnung mit einem unproblematischen Besucher (Kirk Douglas, und zwar ein anderer als der oft präsentierte) konfrontiert. Sowohl Stanley Kowalski als auch der sympathische Besucher meistern den Alltag, die menschliche Überlegenheit jedoch gibt Tennessee Williams den Träumern mit ihrer Sehnsucht, denen der Alltag nicht genügt.
Unter der Regie Irving Rappers kommen Jane Wyman, Gertrude Lawrence und Kirk Douglas zu grossen schauspielerischen Leistungen und vermitteln jene Atmosphäre, die Tennessee-Williams-Filmen eigen ist - die ihm viele Bewunderer, aber auch viele Verächter gebracht hat.       Vö.
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The Kid
Produktion: First National, USA, 1920; Buch und Regie: Charles S. Chaplin; Kamera: Rollie Totheroh; Darsteller: Charles S. Chaplin, Jackie Coogan, Edna Purviance.
Charlie, der Grossstadtvagabund, findet ein kleines Kind. Was soll er damit anfangen? Er versucht, es wieder loszuwerden. Eine alte Lumpensammlerin, der er es in den Wagen legen will, bedankt sich heftigst für dieses Geschenk. Bei dem Versuch, es in einen Gully zu werfen, siegt in seinem Gewissenskonflikt sein gutes Herz, und er nimmt es mit in seine armselige Junggesellenbehausung. Jahrelang leben die beiden zusammen. Charlie erzieht es nach gutbürgerlichen Spielregeln, und der heranwachsende Junge hilft ihm beim Broterwerb, in dem er Scheiben einwirft, die Charlie als Glaser wieder einsetzt. Doch dann meldet sich die Mutter wieder, die inzwischen reich geworden ist, und dem Happy-End steht nichts mehr im Wege. Eine hintergründige, autobiographische Beziehung besteht zwischen Charlie und dem Kind: Die Mansarde, die die beiden bewohnen, ist bis aufs Detail derjenigen nachgebildet, die Chaplin als Kind mit seiner Mutter in Lambell (London), Pownhall Terrace Nr. 3, bewohnte.
"Es gibt keinen zweiten Schauspieler, dessen Bewegungen auf der Leinwand so wahr, so überzeugend wirken wie die von Chaplin; nicht für einen Augenblick wird in ihnen der Bruch sichtbar zwischen Natürlichkeit, dem Gesetz des Lebens, und Unnatürlichkeit, dem Gesetz des Films. Der Grund dafür liegt darin, dass Chaplin aus der Not des Films (des Films seiner Zeit) die Tugend eines Filmspiels zu machen verstand. Seine Bewegungen wirken darum so natürlich, weil er auf ihre Natürlichkeit verzichtet. Schon beim ersten Erscheinen sehen wir die Sprunghaftigkeit, die von naturalistisch gesinnten Feinden gerügt und von den naturalistisch gesinnten Filmfreunden geleugnet wird. Der Körper Chaplins redet seine geniale Bewegungssprache wie ein Stotterer. Man bekommt beinahe den Eindruck, als ob es Chaplins bewusste Absicht sei, den Zuschauer auf diejenigen analytischen Momentaufnahmen aufmerksam zu machen, aus denen die Bewegungssynthese im Film entsteht. Chaplin ist der ganz seltene, überzeugende Beweis dafür, dass die Wahrheit jeder Art Kunst nur auf dem Wege völliger Unterwerfung des Künstlers unter ihre technischen Gestaltungsmittel erreichbar ist."       (Fedor Stepun)
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Das Scheusal (La Poison)
Produktion: Gaumont, Frankreich, 1951; Buch und Regie: Sacha Guitry; Kamera: Jean Buchelet; Musik: Louiguy; Darsteller: Michel Simon, Germane Reuver, Jean Debucourt, Jacques Varennes, Pauline Carton, Jean Fusier-Gir.
"_... ich habe festgestellt, dass ein Kunstwerk nie jemand zum Weinen bringt, ich gehe vom Prinzip aus, dass der Kummer anderer uns gleichgültig lässt - und wenn wir diesen anderen nicht kennen, werden wir empfindlich für die schauerliche Komik, die gewöhnlich aus den tragischen Situationen strahlt.
Das ist die Grundidee, das Thema des Films "La Poison". Ich wollte - ich habe es wenigstens gewünscht -, dass dieses niederträchtige Verbrechen so inszeniert und gespielt wird, dass sich das Publikum ergötzt. In dieser Absicht habe ich nicht gelogen.
Wie es zu dem Film kam? Im Verlauf einer Unterredung, die ich eines Abends - vor langer Zeit mit einem sehr berühmten Schwurgerichtsadvokaten hatte, der damals seinen hundertvierzigsten Freispruch zählte, sagte ich ihm:
,Wenn ich je jemand töten sollte, würde ich Sie als Verteidiger nehmen, und ich würde Sie am Vorabend aufsuchen und Ihnen sagen, dass ich morgen kommen werde.'
Er antwortete: ,Oh!'
Und ich, ich habe den Film gemacht!"       (Sacha Guitry)

Es ist gut, dass es vorneweg gesagt wird: eine Komödie. Man käme von selbst sobald nicht drauf. Da veranstalten zwei Scheusale, Ausbünde an Hässlichkeit, die in einer wahrhaft höllischen Ehe zusammenleben, ein Wettrennen, ein jedes nach dem Tode des anderen. Und dann liegt schliesslich sie, ein Küchenmesser im Bauch, tot auf dem Boden, während er, dem schon gemischten Giftbecher zufällig entronnen, sich wohlgemut der Polizei stellt. Dem perfekten Mörder kann ja nichts passieren. Er hat nicht nur den listenreichsten Anwalt, sondern auch alle nur erdenklichen mildernden Umstände. Der Verteidiger muss ihm vor der Tat eine Lektion über aussichtsreiches Morden halten und die Richter müssen ihm ihre Gesetze opfern, die anscheinend nur für die Dummen gelten. Der perfekte Mörder kehrt auf den Schultern seiner jubelnden Mitmenschen in die Freiheit zurück.
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Orfeu Negro
Produktion: Dispatfilm/Gamma Cinematografica/Tupan Filmes, Frankreich, Italien, Brasilien, 1959; Regie: Marcel Camus; Buch: Jacques Viof; Kamera: Jean Bourgoin; Musik: Antonio Carlos Jobim und Luis Bonfa; Darsteller: Breno Mello, Marpessa Dawn, Lourdes de Oliviera.
as Motiv von Orpheus und Eurydike in der Welt der Schwarzen von Rio de Janeiro zur Zeit des Karnevals.
Das ist erstens einmal ein Rausch von Bildern und von Farben, ein Fest des Auges. Das Eigentliche, was der Kinobesucher vom Film erwarten darf. Das Allerselbstverständlichste und das Wichtigste. Eine unermüdliche Kamera ist mit dem Karnevalszug mitgelaufen, hat die sich produzierenden Gruppen und ihre Masken und Spiele von allen Seiten betrachtet, hat mit den unermüdlichen Tänzern mitgetanzt, bei Tag und lange in die Nacht hinein. Ein grosser Teil der Bilder hebt Farben, Kostüme, Schleier, leuchtende Sprünge gegen Schwarz ab. In die Dunkelheit hinein zischt und wogt die Lebensfreude. Die Bilder wirken lebensecht, nicht nachkoloriert, von der handwerklichen Sauberkeit ganz zu schweigen. Auch in den Tagesaufnahmen ist das nackte und pralle Leben zu sehen. Jeder Effekt ist vermieden.
Das ist ferner über weite Strecken ein grossartiger Dokumentarfilm. Viele Schichten versunkenen und versinkenden Kulturgutes werden wie bei einem geologischen Aufriss sichtbar. Afrikanisches, indianisches, christliches, historisches. Die Schönheit vieler Neger! Die animalische Pracht der Leiber! All dies eingebettet in vitalste Gegenwart. (Die rustikalen Liebesspiele des natürlich-triebhaften zweiten Paares!) Gesehen ist diese Vielfältigkeit des Menschen und seiner Umgebung von einem wachen und klugen Verstand, der es verhindert, dass der Intellekt das Spiel distanziert. Der Zuschauer wird aus dem beglückenden Dabeisein nicht vertrieben. Obwohl nichts beschönigt oder frisiert ist, greift eine behagliche und legitim entstandene Mitmenschlichkeit um sich _...
Vor diesem Hintergrund sieht man drittens, wie sich das Erleben des Karnevals und das Vergnügen, bei ihm mitzumachen, bei einzelnen uns bekannt werdenden Menschen abspielt. In einer natürlichen, durchaus wahrscheinlichen und ganz realistisch dargebotenen Spielhandlung zeigt sich das Ungeniert-Menschliche, gleichwohl fern jeder Peinlichkeit.
Unter diesen Hauptakteuren entwickelt sich viertens und deutlich aus dem Bereiche des Dokumentarischen heraustretend die dem Orpheusmotive nachgebildete Liebesgeschichte zwischen dem Strassenbahnfahrer und Frauenliebling Orfeu und dem vom Lande hereinkommenden, noch unberührten Mädchen Eurydike. Es wird eine Geschichte von Liebe und Tod, die nur mehr ganz entfernt dem griechischen Mythos verwandt ist. An wichtigen Punkten aber gelingt es Camus hervorragend, das Spiel des Paares so ins Archaische zu stilisieren, dass man geradezu beglückt wahrnimmt, wie aus dem Mimus, aus dem Tanz die Sage erblüht. Von diesen Höhen gerät er leider verschiedentlich ins Theatralische. Und was Bildsymbol hätte werden und bleiben können (das viele Papier im Fundamt, die Gestalt des Hermes) wird durch zu viele und keineswegs immer glückliche Begleitworte nicht selten zerredet. (Ach, die deutsche Synchronisation!) Auf die Szenen im Schauhaus und in der Versammlung der Ekstatiker fällt dadurch gleichfalls manche Belastung, während gleichzeitig die Symbolkraft schon beträchtlich nachgelassen hat. (Man vergleiche dazu etwa Cocteaus Orphée!) Betrachtet man das im Tod anmutig hingelagerte Paar, wird man sich vielleicht des Stilbruches bewusst. Es empfiehlt sich, nicht den eigentlichen Schluss, sondern das hinreissende Bild der Grossstadtmorgenfrühe im Auge zu behalten, wo Orfeu über die stahlgraue Asphaltstrasse die weissverschleierte Leiche in ein schwefliges Gelb hineinträgt.       (Evangelischer Film-Beobachter)
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Zazie (Zazie dans le Métro)
Produktion: Nouvelles Editions/Documento, Frankreich/Italien, 1960; Regie: Louis Malle; Buch: Louis Malle und Jean-Paul Rappeneau nach dem Roman von Raymond Queneau; Kamera: Henri Raichi; Darsteller: Cathérine Demongeot, Philippe Noiret, Hubert Deschamps, Jean-Paul Rappeneau, Vittorio Caprioli, Carla Marlier.
_...Sprechen wir zuerst von Zazie, der Hauptfigur! Diese frühreife Heldin literarisch zu erfinden ist eine besondere, ihrem philosophischen Gegenstand nach sehr amüsante Sache. Dieser kleinen Pest, die gleichzeitig den "fortschrittlichen" Geist eines Mitglieds der Academie Goncourt und die Pariser Schnoddrigkeit, den Nonkonformismus in seiner aggressivsten, ja gröbsten Form symbolisierte, dieser Gestalt also konkrete Form zu geben, schien schwer. Das Ergebnis dieser realistischen Interpretation entspricht allen Befürchtungen. Es ist einem gar nicht wohl mit der unschuldigen kleinen Darstellerin: Die Filmleute genierten sich nicht, diese Göre in eine triviale Welt zu verpflanzen und sie monatelang darin zu üben, wie man überzeugend Worte von sich gibt, die die kleinen Mädchen zu lehren man sich aus selbstverständlichen Gründen immer verboten hat.
Der Film präsentiert sich wie ein Basar komischer Effekte und mehr oder weniger gelungener nicht zusammenpassender Absichten. Jede Szene zeigt eine verblüffende Folge von Gags aller Arten. Eine solche Fülle gewollter Wirkungen, Sekunde um Sekunde, verdient sicher Anerkennung. Aber die Gags kommen hintereinander und sind sich nicht gleich, d. h., sie zerfallen in zwei unterschiedliche Teile. Eine grosse Zahl der komischen Erfindungen müssen wegen ihrer extremen Originalität bewundert werden. Die anderen erregen Bestürzung: sei es, dass ihre Kinderei das Mass überschreitet, sei es, dass sie übertrieben willkürlich erscheinen, sei es, dass sie dürftig und überflüssig sind.
Da der Regisseur Louis Malle dem Film häufig Erklärungen vorausschickte, wissen wir, dass er die Sprache des Films so "desintegrieren" wollte wie Queneau die Schriftsprache. Das ist ihm fast total misslungen. Die Marx Brothers, auf die der Regisseur mit seiner Technik oft zurückgreift, desintegrierten viel besser. Louis Malle versucht auch einige Imitationen Jaques Tatis (leider ohne den Zauber Tatis zu finden). Die von Mack Sennett inspirierten Tricks (Zeitlupe, Zeitraffer) schliesslich verraten Leichtfertigkeit. Zudem werden sie masslos wiederholt oder verlängert und dadurch monoton.
Ein hervorragendes humoristisches und satirisches Bravourstück ist die Fahrt durch die verstopften Pariser Strassen mit einem Auto, das seine Mucken hat. Das ist komisch, auch wenn es einige Male wiederholt wird. Eine gute Zeit lang sehen wir das Ziel, das Louis Malle erreichen möchte. Er kommt ihm sehr nahe. Und hinter den Verrücktheiten, die zudem aus der Wirklichkeit entwickelt werden, hebt sich das grausame Bild einer sogenannten Zivilisation ab.
Ich sage nicht, derart gelungene Stellen seien rar. Aber sie wechseln mit so flagrant mediokren Sequenzen, dass es zum Verzweifeln ist. Das Werk offenbart bizarre Ambitionen, die zu erfüllen, die Reife des Autors noch nicht auszureichen scheint. Diese Ambitionen treten manchmal in einem lebhaften, faszinierenden Licht zutage. Aber meistens führen sie zu einem kunterbunten Durcheinander.       Louis Chauvet in "Le Figaro" (Paris)
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Sie küssten und sie schlugen ihn (Les Quatre Cents Coups)
Produktion: Les Films du Carosse/SEDIF, Frankreich, 1959; Regie: François Truffaut; Buch: Marcel Moussy und François Truffaut; Kamera: Henri Decae; Musik: Jean Constatin; Darsteller: Jean-Pierre Léaud, Claire Maurier, Albert Rémy, Guy Decomble, Georges Flamant, Patrick Auffay.
Truffaut erzählt mit diesem Film die Chronik einiger Monate aus dem Leben eines kleinen Jungen. Er ist nicht besonders gut und nicht besonders böse, seine Eltern kümmern sich nicht allzu viel um ihn und bringen weder seinen Freuden noch seinen Streichen übermässiges Interesse entgegen. Eines Tages stiehlt er in der Schule, wird erwischt und kommt in eine Erziehungsanstalt.
Der Regisseur debütierte mit diesem abendfüllenden Film. Sein Werk wurde oft als der Beweis angesehen, dass die damals noch junge "Neue Welle" keine vorübergehende Modeerscheinung war. Filmfreunden in Paris war er allerdings schon lange kein Unbekannter mehr. Er hatte schon mit einem Kurzspielfilm über ein Jugendproblem ("Les Mistons") Erfolg gehabt und war als Mitarbeiter der "Cahiers du Cinéma" und Redakteur der Filmseite in "Arts" für seine scharfen Angriffe bekannt, die er gegen die Drehbuchautoren richtete, die literarische Stoffe für den Film herrichteten in der schablonierten Tradition des "psychologischen Realismus" und die Kritik an bürgerlichen Institutionen für den Konsum des Bürgertums aufbereiteten. "Welchen Wert hat ein anti-bürgerlicher Film, der von Bürgern für Bürger gemacht wird", fragte er. Dagegen setzte er die These vom "Cinéma des Auteurs", nicht "Kino der Autoren", wie oft leichtfertig übersetzt wurde, sondern vom "Film des autonomen Schöpfers". Eins seiner Vorbilder sah er in Roberto Rossellini.
Enno Patalas schreibt in "Filmkritik": "Wir sagten ,Chronik': das bedeutet das Fehlen einer bruchlosen, logisch fortschreitenden Entwicklung und eines übergreifenden Spannungsbogens, es bedeutet nicht Indifferenz gegenüber dem Gezeigten, nicht blosse Oberflächenbeschreibung. Wie Rossellinis "Paisa", der Musterfall der filmischen Chronik, tragisch, komisch und dramatisch akzentuierte Episoden wechseln lässt, so mischt auch dieser Film ironische Situationsbilder, komische und tragische Anekdoten, Sittenschilderung und Institutionskritik, abenteuerliche und ereignislose Passagen - oft schlägt eins ins andere um. Die Ereignisse überraschen den Zuschauer ebenso wie den Jungen. Die Realität bedeutet für diesen Jungen keineswegs die Geborgenheit, die die meisten Erwachsenen in ihre Jugend hineinprojezieren, wenn sie an sie zurückdenken; sie erscheint so unsicher und unberechenbar, wie sie die meisten nur noch in ihren Träumen erfahren, in denen die Wunden ihrer Jugend aufbrechen. Truffaut erinnert sich des vierzehnten Lebensjahres als der Zeit der schmerzlichsten Auseinandersetzungen mit den Anforderungen des "Lebens", d. h., der von den Erwachsenen gemachten Institutionen und ihrer Funktionäre _..."
Wie bei den meisten Filmen der Regisseure der "Neuen Welle" hat auch dieser autobiographische Züge aufzuweisen. Truffaut hat auch die Bekanntschaft einer sogenannten "Erziehungsanstalt" gemacht. Aber er erhebt durch seine realistische Gestaltung das Geschehen vom Privaten zum Typischen, oder wie es ein Pariser Kritiker formulierte: "Truffaut sagt 'wir', indem er ,ich' sagt."
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Fahrstuhl zum Schafott (Ascenseur pour l' Echafaud)
Produktion: Nouvelles Editions de Films, Frankreich, 1958; Regie: Louis Malle; Buch: Louis Malle und Roger Nimier nach dem gleichnamigen Roman von Noël Calef; Kamera: Henri Decae; Musik: Miles Davis; Schnitt: Léonide Azar; Darsteller: Maurice Ronet, Jeanne Moreau, Yori Bertin, Georges Poujouly, Jean Wall, Elga Andersen, Ivan Petrovich.
Der Film erscheint zunächst nur als die brillante Arbeit eines jungen Regisseurs, der weiss, dass man sich "schwarz" und extravagant geben muss, wenn man im Jahre 1958 Aufsehen erregen will. So sucht er die Originalität um jeden Preis, zugleich in der Schonungslosigkeit, im Schock und in der Satire. Was dabei herauskommt, ist eine geschickt und intelligent kalkulierte Mischung aus ganz origineller Spannung, Justizirrtum (oder: "Der Mörder, der Gefahr läuft, für einen Mord bestraft zu werden, den er nicht begangen hat") und einer streckenweise treffenden Sittenschilderung.
Gestaltet wird diese recht bunte Mischung souverän in einem Stil, der frisch, sicher und originell ist, wenn er auch verschiedene Vorbilder nicht verleugnet. Das Vorbild Robert Bressons "Das Tagebuch eines Landpfarrers" verrät die prononcierte Nacktheit der Gesichter und Gegenstände wie auch die detaillierte Darstellung der Flucht aus dem Lift, die an Bressons letzten Film. "Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen", erinnert, bei dem Malle assistiert hat. Auch bei den beiden Prominentestens unter der jüngsten Regiegeneration Frankreichs, Alexandre Astruc und Roger Vadim, hat Malle bereits gelernt. Der Einfluss Astrucs zeigt sich in der Verwendung von Stimmen ausserhalb des Bildes und in der Wahl des subjektiven Berichts. Und das Beispiel Vadims wird spürbar im Einsatz der Jazzbegleitung - wie sich Vadim zu "Spuren in die Vergangenheit" John Lewis, so hat sich Malle zu diesem Film Miles Davis verschrieben. Hinter alledem wirkt die gut verarbeitete Lektion des amerikanischen Films: die Schockbilder, die Vorliebe für Grossaufnahmen und lange Brennweiten, das Spiel, der Neonlichter, der Vorspann, der bereits teilhat an der Atmosphäre des Films.
Treffend ist auch die Satire in Malles Film, die Darstellung des Waffenlieferanten, das Porträt des Vertreters der Staatsanwaltschaft, der sich selbst zuhört, und das eines zähen Polizeisekretärs. Aber mehr als die satirischen Seitenhiebe ist es die Beschreibung des zweiten jungen Paares, die dieses Debüt der Beachtung wert erscheinen lässt. Seine Geschichte erschliesst zum erstenmal im Film den Blick auf die psychische Disposition jener neuen "verlorenen Generation", die vom Geld und vom Erfolg besessen ist und der unsere Gesellschaft keine anderen Gesetze zu bieten weiss als das des Dschungels und kein anderes Recht als das des Stärkeren.       (Marcel Martin in "Cinéma 58")
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Deutsche Retrospektive

"_... An einem Frühlingsabend des Jahres 1960 hatte sich in dem Münchner Hotel Bayerischer Hof die High Society des deutschen Films und der deutschen Filmpublizistik eingefunden, um der Verleihung der ,Deutschen Kritikerpreise' an in- und ausländische Filmkünstler beizuwohnen. Unter den anwesenden Preisträgern befand sich auch der dreissigjährige Claude Chabrol, Filmjournalist und ,Neue Welle' - Filmer aus Paris, der für seinen Film ,Schrei wenn du kannst' ausgezeichnet wurde. Die kleine Ansprache, mit der Chabrol sich für den Preis bedankte, gipfelte in der Feststellung, er habe dem deutschen Film viel zu verdanken. Dieser Feststellung folgte Gelächter im Saal. Nur wenige der Anwesenden hatten verstanden, dass Chabrol durchaus ernsthaft der grossen Vergangenheit des deutschen Films seine Reverenz erweisen wollte, die freilich jedem französischen Cinéasten vertrauter ist als den meisten deutschen Filmkritikern _..."       (Aus Joe Hembus: "Der deutsche Film kann gar nicht besser sein")

Das Jahrzehnt nach dem ersten Weltkrieg war unbestritten die Glanzzeit des deutschen Films. Oft mit primitivster Technik (später allerdings auch mit recht grossem Aufwand) wurden Filme gedreht, von denen nicht nur der deutsche Film während der folgenden Jahre seine schöpferischen Anregungen und sein Renomée bezog, sondern die auch die bedeutendsten Filmregisseure in der ganzen Welt in ihrem Schaffen beeinflussten. Damals bestand der für unsere Zeit beinahe unbegreifliche Zustand, dass die Avantgarde nicht ausserhalb der Ateliers stand und sich gegen die etablierte Filmproduktion durchsetzen musste, sondern sie stand mitten im Produktionsprozess des sogenannten "kommerziellen" Films, die gesamte Filmproduktion mit immer neuen Gedanken und revolutionären Ideen vorwärtstreibend.
In diesem Semester wird das Filmstudio in einer Reihe von Sonderveranstaltungen (montags) einige dieser Streifen vorstellen.
Zuerst den berühmtesten Film, der jemals in einem deutschen Atelier gedreht wurde,
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Das Kabinett des Dr. Caligari     am 6. November 1961
Produktion: Decla-Film ,1919; Regie: Robert Wiene; Buch: Hans Janowitz und Carl Mayer; Bauten: Hermann Warm, Walter Röhrig, Walter Reimann; Kamera: Willy Hameister; Darsteller: Werner Krauss, Conrad Veidt, Friedrich Feher, Hans Heinz v. Tardowski, Lil Dagover.
Wissenschaftliche Abhandlungen wurden über diesen Film geschrieben, eine Unzahl von Veröffentlichungen befassen sich mit ihm, und 1958 wurde er in Brüssel zu den "Zehn besten Filmen der Welt" gezählt. Es ist die Geschichte von dem Irrenarzt Dr. Caligari, der Inkarnation des asozialen Machtmenschen - einer Figur, die in der dramatischen Kunst des Expressionismus vielfach abgehandelt wird. Dieser Dr. Caligari zieht mit seinem Kabinett auf Jahrmärkten umher und missbraucht den Somnambulisten Cesare zu abscheulichen Untaten. Der Film gilt als das Musterbeispiel des expressionistischen Films in Deutschland. Es ist aber auch der einzige Film geblieben, der expressionistische Gestaltungsmittel in dieser Konsequenz anwendet. Alle späteren Nachahmer, und deren gab es viele, beschränkten sich nur in der Architektur und in einzelnen Beleuchtungseffekten auf expressionistische Stilelemente. Bekannt ist die Tatsache, dass die Produzenten den Autoren eine Rahmenhandlung aufzwangen, die das eigentliche Geschehen zur Halluzination eines Geisteskranken verharmloste. Kracauer nimmt diesen Vorfall zum Ausgangspunkt seiner Abhandlung "From Caligari to Hitler", in der er beweist, dass in den Jahren vor Hitler im deutschen Film das Motiv der Revolte gegen den Machtmenschen verharmlost oder unterdrückt wurde, so den kommenden Diktator vorausahnend und vorbereitend. Aber auch ohne diesen ideologischen Aspekt ist der Fall Caligaris das markanteste Beispiel für das Bestreben des Filmkommerzialismus, filmeigene und klischeeferne Stoffe zu vulgarisieren.
Caligari hatte eine ganze Serie Übermenschen, Golems, Vampire und andere Ungeheuer im Gefolge. Aber neben dieser Richtung, die Lotte Eisner als "Dämonische Leinwand" beschreibt, gab es noch eine Reihe von Filmen, die sich mit den sozialen Gegebenheiten der Nachkriegsjahre auseinandersetzten. G. W. Pabst war der Exponent des Realismus im deutschen Film der damaligen Zeit. Eigentlich berühmt wurde er erst mit seinen Tonfilmen ("Die Dreigroschenoper", "Westfront 1918"). Aus seinem Stummfilmschaffen ragt als grosse Leistung hervor:
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Die freudlose Gasse     am 22. Januar 1962
Produktion: Hirschel-Sofar, 1925; Regie: G.W. Pabst; Buch: Willi Haas, H.Bettauer; Kamera: Guido Seeber. Curt Oertel, E. Lach; Bauten: Söhnle, Erdmann; Darsteller: Greta Garbo, Asta Nielsen, Werner Krauss, Jaro Fürth, Einar Hanson, Agnes Esterhazy.
Der Film schildert die Lebensbedingungen einer durch die Inflation verarmten Bürgerfamilie, die verloren wäre, wenn nicht ihre Tochter (Greta Garbo in ihrer ersten, grösseren Rolle) eine Stelle als Tänzerin in einem zweifelhaften Nachtlokal gefunden hätte. "_...Der Ruin dieser bürgerlichen Familie war mit einer Kenntnis sozialer Bedingungen dargestellt, die ihn zu einem durchaus typischen Fall erhob. Eine Reihe von Bildfolgen zeigte die Kriegsgewinnler und ihren Anhang, wie sie Aktien kaufen und verkaufen und in Gesellschaft metallisch glitzernder Frauen alle käuflichen Freuden des Lebens geniessen. Eine andere Bildfolge veranschaulicht das Schicksal derer, die zu den Verlierern gehörten."       (Siegfried Kracauer)

Anders lagen damals (1926) die Ambitionen Fritz Längs. Er wollte einen Monumentalfilm drehen. Frisch von einer Amerika-Reise zurückgekehrt war er von den raffinierten Filmtricks, die damals schon in Hollywood ausprobiert wurden, und der New Yorker Wolkenkratzersilhouette gleichermassen beeindruckt. Zusammen mit seiner Frau Thea von Harbou schrieb er das Drehbuch. Lang sollte mit diesem Film Millionenbeträge verdienen. Der Titel des Films war:
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Metropolis     am 12. Februar 1962
Produktion: Ufa, 1926/27; Regie: Fritz Lang; Buch: Thea von Harbou; Kamera: Karl Freund; Tricks: Günther Rittau; Bauten: Otto Hunte, Erich Kettelhut, Karl Vollbrecht; Darsteller: Alfred Abel, Brigitte Helm, Gustav Fröhlich, Rudolf Klein-Rogge, Fritz Rasp, Theodor Loos, Heinrich George.
Es wurde in der Tat ein Monumentalfilm - wahrscheinlich der grösste und teuerste, der jemals ein deutsches Atelier verlassen hat. Aber selten hat sich der Hang zu Monumentalität und pathetischer Grösse mit einem genialen Gestaltungswillen so ideal vereinigt wie in der Persönlichkeit Fritz Längs. Seine Herkunft von der Malerei hat er nie verleugnen können. Seine Szenen sind sorgfältig bildhaft komponiert, sie wirken häufig, als Standbild betrachtet, wie Gemälde. Dabei sind expressionistische Stilelemente unverkennbar, so, wenn die Menschen der "Unterwelt" mit den Maschinen, an denen sie arbeiten, in geometrischen Bewegungen zu verwachsen scheinen. Die sozialkritischen Probleme dieser Utopie löst er (und die Autorin) allerdings auf verblüffend simple Weise: Happy end mit Kuss zwischen Arbeiterführer und Industriellentochter. Längs Kunst der Massenführung lässt jedoch den Aufmarsch der in tristes Grau gekleideten, glatzköpfigen Arbeiter zu einer unheimlichen Drohung werden.
Von gänzlich anderem Naturell war Friedrich Wilhelm Murnau. Trotz seines prosaischen bürgerlichen Namens (F. W. Pumpe) war er wohl der poetischste und künstlerisch differenzierteste Regisseur jener Epoche. Sein bescheidenes, stilles Wesen und sein früher, geheimnisumwitterter Tod in Kalifornien liessen die Filmwerbemanager um sein Leben die eigentümlichsten Legenden spinnen. Von Beruf Schauspieler (Reinhardt-Schüler) kam er mehr durch Zufall als durch Absicht zum Film. Nach "Nosferatu" (1922) und einer Reihe von weiteren Filmen schuf er zusammen mit dem genialen Drehbuchautor Carl Mayer im Jahre 1924 "Der letzte Mann", ein Film, der optisch so klar angelegt war, dass er auf jede erklärende Zwischentitel verzichten konnte. Ein Jahr später gab ihm die Ufa den Auftrag, die Molièresche Komödie "Tartuffe" zu verfilmen.
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Tartuffe     Datum wird noch bekanntgegeben
Produktion: Ufa, 1925; Regie: F. W. Murnau; Buch: Carl Mayer nach der gleichnamigen Komödie von Jean Baptiste Molière; Kamera: Karl Freund; Darsteller: Emil Jannings, Werner Krauss, Lil Dagover, Lucie Höflich.
Carl Mayer baute die Komödie in eine filmische Rahmenhandlung ein. Ein reicher, alter Mann wird von seiner Haushälterin schamlos ausgenutzt (Ein weiblicher Tartuffe also). Sein Enkel lädt ihn dann zu einer Filmveranstaltung des "Tartuffe" ein. Die Komödie beginnt. Autor und Regisseur konnten die Aufgabe, ein Bühnenstück für den Stummfilm herzurichten, nur schwer bewältigen, und so lebt der Film hauptsächlich von der Schauspielkunst Emil Jannings und der anderen hervorragenden Darsteller. Bessere Möglichkeiten boten sich Murnau bei seinem nächsten Film:
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Faust     am 11. Dezember 1961
Produktion: Ufa, 1926; Regie: F. M. Murnau; Buch: Hans Kyser unter Verwendung von Goethe, Marlowe und des Volksbuches; Kamera: Karl Hoffmann; Bauten: Robert Herlth, Walter Röhrig; Darsteller: Gösta Ekman, Emii Jannings, Camilla Hörn, Wilhelm Dieterle.
Die Entstehungsgeschichte dieses Films ist einfach: Die Ufa wollte ein Kulturmonument errichten. Herab bis zur Gestaltung der Plakate bemühte man die namhaftesten Künstler, die gerade zu haben waren. Gerhart Hauptmann sollte die Zwischentitel schreiben. Aber, da man vergessen hatte, den Drehbuchautor Hans Kyser davon zu verständigen, gab es einen Skandal. Die Presse stand auf Kysers Seite, zumal sich herumgesprochen hatte, dass Hauptmann ein weit höheres Honorar für seine Titel verlangte, als Goethe seinerzeit bei Cotta für seine ganze Tragödie erhalten hatte. Im letzten Moment wurden die Hauptmann-Titel zugunsten der Kysers ausgetauscht.
Was aber Murnau aus dem Stoff machte, das war schon etwas mehr als ein Monument. Mit seinem ausserordentlichen Feingefühl und seinem Blick für filmische Möglichkeiten gelang es ihm, den anspruchsvollen Stoff weitgehend ins Optische zu übersetzen. Selten wieder erreicht wurde die hervorragende Anwendung des Lichts als Stilmittel. Die schwindelnden Fahrten der längst "entfesselten" Kamera über Dörfer und Städte hinweg erstaunten. "Faust" war Murnaus letzter Film in Deutschland. Danach ging er nach Hollywood, um von dort aus sein Lebenswerk auf den glücklichen Inseln des Pazifik mit "Tabu" zu krönen. Zur gleichen Zeit etwa lief der grosse Ausverkauf des deutschen Films an. Von den märchenhaften Gagen angezogen, wanderten viele der Besten der Filmkünstler nach den USA aus, der Rest folgte im Jahre 1933 auf unfreiwillige Weise nach. Die Aera deutscher Filmkunst war zu Ende.       We.-bk
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