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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 46, Mai-September 1965

Inhalt
Die Welt John Fords
Brecht und Godard
Carl Th. Dreyer: Gertrud
Das heutige Schweden und die Filme Bo Widerbergs
Die Grenzen der Schaffensfreiheit
Filmliteratur
Rückumschlag


Die Welt John Fords

John Ford, der 70jährige Doyen unter den amerikanischen Filmregisseuren, bemüht sich seit nunmehr 48 Jahren, uns eine Welt vor Augen zu führen, deren Vergangensein er ausdrücklich betont, deren Ideale und Werte er aber unverändert als verbindlich betrachtet. Wie kein zweiter Regisseur seit David Wark Griffith und Thomas Ince ist John Ford auf der Reise in die Vergangenheit Amerikas - auf der Suche nach der Zeit, in der ihm die Menschen in Harmonie mit sich und ihrer Umwelt wie in einem Paradies zu leben schienen. Und dieses Paradies fand er in der Kleinstadt des amerikanischen Westens (MY DARLING CLEMENTINE), in der rauhkehligen Männergesellschaft der amerikanischen Armee (SHE WORE A YELLOW RIBBON), aber auch in den grünen Hügeln Irlands (THE QUIET MAN) und Wales' (HOW GREEN WAS MY VALLEY); er fand seine Heimat in einer ländlich orientierten Welt des 19. Jahrhunderts.

Inzwischen ist sein Werk auf 129 Filme angewachsen, so umfangreich, dass man bereits beginnt, den einzelnen Filmen die Nummer des von George J. Mitchell aufgestellten Werksverzeichnisses beizufügen, nach dem beispielsweise der Film STAGECOACH den Zusatz "M 90" trüge.

Der Regisseur und seine Gesellen

In diesem Werk Fords tauchen immer wieder Namen bestimmter Mitarbeiter auf, die lange Jahre hindurch mit Ford zusammengewirkt haben. In diesem Bestreben, eine einmal sich konstituierte und bewährte Umgebung zu erhalten, zeigt sich bereits Fords Neigung, am Hergebrachten festzuhalten, sein Hang zum Konservativismus.

Am häufigsten noch wechselte er seine Drehbuchautoren. Mit Ausnahme von Dudley Nichols und Frank Nugent war kein Autor längere Zeit bei Ford. Dudley Nichols schrieb von 1930 bis 1947 zu 13 Filmen Fords das Drehbuch, u. a. zu THE LOST PATROL, THE INFORMER, STAGECOACH, THE LONG VOYAGE HOME, Frank Nugent ab 1947 zu bisher 10 Filmen, so zu FORT APACHE, WAGONMASTER, THE QUIET MAN, THE SEARCHERS, DONOVAN'S REEF. Keiner dieser Autoren hat es jedoch vermocht, das Weltbild John Fords zu verändern und zu stören - von kleineren "Ablenkungen" abgesehen. Das zeigt nicht nur der Vergleich der nach den Drehbüchern dieser beiden Autoren gefertigten Filme, sondern auch der zu anderen Filmen, die nicht weniger "Ford" sind als diese - z. B. YOUNG MR. LINCOLN (Drehbuch: Lamar Trotti), DRUMS ALONG THE MOHAWK (Lamar Trotti und Sonya Levien), HOW GREEN WAS MY VALLEY (Philip Dunne), MY DARLING CLEMENTINE (Samuel G. Engel und Winston Miller), RIO GRANDE (James K. Mc Guiness), THE SUN SHINES BRIGHT (Lawrence Stallings), THE HORSE SOLDIERS (John Lee Mahin und Martin Rackin), THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (James Warner Bellah und Willis Goldbeck). Wesentlicher, weil störender, sind dagegen oft die literarischen Vorlagen, insbesondere zu MARY OF SCOTLAND von Maxwell Anderson, TOBACCO ROAD von Erskine Caldwell und THE FUGITIVE von Graham Greene.

Ebenso haben die Kameraleute Fords keinen seinen Vorstellungen widersprechenden, ihnen eigenen Stil aufzwingen können, obgleich Ford auch mit einigen von ihnen lange zusammengearbeitet hat - so mit George Schneiderman, 24 Filme von 1920 bis 1935, darunter THE IRON HORSE; Joseph August, 12 Filme von 1929 bis 1945, darunter THE WHOLETOWN'S TALKING und THEY WERE EX PENDABLE; Burt Glennon, 7 Filme von 1936 bis 1960, darunter STAGECOACH, DRUMS ALONG THE MOHAWK und SERGEANT RUTLEDGE sowie Archie Stout (5 Filme), Arthur Miller, Charles Lawton jr. und William Clothier (je 3 Filme). Auch hier zeigt der Vergleich in der Bildgestaltung verwandter Filme, dass an ihnen verschiedene Kameraleute gearbeitet haben: MY DARLING CLEMENTINE (Joe Mc Donald) - FORT APACHE (Archie Stout) - RIO GRANDE (Bert Glennon und Archie Stout); THE INFORMER (Joseph August) - THE LONG VOYAGE HOME (Gregg Toland); und, in den Atelieraufnahmen, WHAT PRICE GLORY (Joe Mc Donald) - THE SEARCHERS (Winston Hoch).

Weitaus wichtiger für die Bestimmung der Welt John Fords dagegen sind die Darsteller. Hier hat sich Ford im Laufe der Jahre eine feste und überschaubare Truppe - insbesondere unter den Chargen - herangebildet, von denen einige seit über 40 Jahren unter ihm spielen. Sie sind es, die die Kontinuität der Fordschen Welt entscheidend mitbestimmen, da sie bis auf wenige Ausnahmen stets in gleichartigen Rollen auftauchen. Manche Schauspielerfamilie dient gar in der zweiten Generation bei Ford wie etwa Harry Carey, der Star der ersten Stummfilme von Ford, und sein Sohn Harry Carey jr. oder John Wayne und sein Sohn Patrick. Einer der Treuesten ist Jack Pennick; von kräftiger Statur, mit einem stark verdriesslichen, im Laufe der Jahre einem Boxer-Rüden immer ähnlicher gewordenen Gesicht, wortkarg und mit Selbstverständlichkeit im rechten Moment das Richtige tuend, hat er viel Ähnlichkeit mit Victor Mc Laglen, obgleich dieser, seit 1925 bei Ford, temperamentvoller und lebendiger geblieben ist. Bereits Statist in THE IRON HORSE, hat er nie eine Hauptrolle gespielt. Kein Programmheft nennt seinen Namen, obschon er fast stets dabei ist, und erscheint sein Gesicht auf der Leinwand, fühlt sich der Freund Fords zuhause. Am erinnerlichsten vielleicht ist er als Barkeeper aus STAGECOACH und aus SERGEANT RUTLEDGE, in dem er den als Gerichtsdiener fungierenden Soldaten darstellt. Seit 1919 gehört er zur "Mannschaft" John Fords. Ebenso sind Francis Ford, ein Bruder John Fords, George O'Brien, J. Farrel Mc Donald und Chief Big Tree mit Ford gealtert. Ferner tauchen Ward Bond, John Carradine, Donald Crisp, Barry Fitzgerald, Charles Grapewin, John Qualen, Russel Simpson und Slim Summerville immer wieder in Fords Filmen auf. In dieser Männerwelt scheinen es Frauen besonders schwer zu haben; allein Jane Darwell, die Mutter Joad aus THE GRAPES OF WRATH, hat sich längere Zeit behaupten können.

Fords männliche Hauptdarsteller waren in den ersten Stummfilmserien Harry Carey, dann George O'Brien, der auch noch in späteren Tonfilmen erschien (FORT APACHE, SHE WORE A YELLOW RIBBON), und in einigen Filmen J. Farrell Mc Donald. In seinen ersten Tonfilmen wechselte Ford sehr häufig seine Hauptdarsteller; nur Victor Mc Laglen und Will Rogers spielten in mehreren Filmen die Hauptrolle. Erst mit STAGECOACH tauchte John Wayne als Hauptdarsteller auf, der dann zu Fords bevorzugtem Star werden sollte. Eine Zeitlang allerdings schien es, als werde ihm Henry Fonda den Rang ablaufen. Nach FORT APACHE jedoch, in dem Ford beide Schauspieler einander gegenüberstellte, fiel Fords Entscheidung zugunsten Waynes. FORT APACHE war Waynes vierter und Fondas sechster Film bei Ford. Aber während Fonda nur noch einmal in den acht Jahren später zusammen mit Mervyn Le Roy gedrehten MISTER ROBERTS mitspielte, machte Ford bis heute weitere zehn Filme mit John Wayne in der Hauptrolle. Von den weiblichen Hauptdarstellern war allein Maureen O'Hara längere Zeit - von 1941 bis 1956 in fünf Filmen - bei Ford tätig.

Die Charaktere

Man hat STAGECOACH den ersten psychologischen Western genannt. Das ist falsch. Ford hat sich nie für psychologische Probleme interessiert; er hat sich nicht einmal bemüht, die Gestalten seiner Filme psychologisch zu vertiefen. Andererseits hat er sie jedoch auch nicht zu reinen Typen schematisiert. Sie erscheinen vielmehr als zwischen diesen beiden Möglichkeiten angelegt, als "stark typisierte Charaktere", wie Jean Mitry in FILMSTUDIO 37 sagte. Indem sie der Realität angehören, Ziele, Wünsche, Sehnsüchte haben, "leben" sie. Ihre Handlungen sind stark situationsbedingt; hierin liegt die Möglichkeit, dass sie unter entsprechenden äusseren Bedingungen zu voller Harmonie gelangen können. Erst in seinen späteren Filmen äussert Ford gelegentlich, dass Zwiespälte nicht allein durch die äussere Situation erwachsen, sondern auch in dem Charakter einer Person liegen können. Ein ausgezeichnetes Beispiel dieser typisierten Charaktere liefert STAGECOACH. In ihm tauchen die wichtigsten Fordschen Figuren auf: der gradlinie, aufrechte, unkomplizierte Westerner (John Wayne), der trinkfreudige, verschmitzt gütige Arzt (Thomas Mitchell), der galante, verarmte Südstaatler (John Carradine), der verschüchterte, innerlich jedoch aufrechte Whiskyreisende (Donald Meek als "Mr. Peacock aus Kansas City, Kansas"), der vitale, etwas kindliche Kutscher (Andy Divine), der gerechte, verstehende Sheriff (George Bancroft), der egoistische, hartherzige Bankier (Berton Churchill), die zarte, feinsinnige Lady (Louise Platt) und - bei Ford nur durch das Genre des Western bedingt - die selbstlose, sich zur guten Hausfrau wandelnde Prostituierte (Claire Trevor). Diese heterogene Gruppe, deren Mitglieder aus den unterschiedlichsten Gründen durch das aufrührerische Indianergebiet mit der Postkutsche von Santa Fe nach Lordsburg reisen und die infolge ihres Berufes und ihrer Herkunft die verschiedenartigsten Gegensätze zueinander bilden, führt Ford durch eine ausserordentliche, ihre Existenz gefährdende Situation. In ihr und durch sie nun wird ihnen die Chance geboten, sich zu bewähren, d. h., diese Gesellschaft wächst zu einer Einheit heran, deren Mitglieder einander in selbstloser Aufopferung beistehen und hierdurch zur gegenseitigen Achtung finden. Die Gefahrensituation dient als Katalysator zur Hervorkehrung des Guten im Menschen; und STAGECOACH ist Fords reines und naives Credo an das Gute im Menschen, ein Credo, das in jener hinreissenden Verfolgungsjagd seinen sichtbaren Höhepunkt findet.

Eine Figur allerdings ist von Ford aus dieser menschlichen Idealgesellschaft ausgeschlossen: der selbstsüchtige Bankier ("What is good for the bank is good for the country."), der seine eigene Person über die seiner Mitmenschen stellt; er hat keinen Anteil an der Solidarität der Guten. Auch ausserhalb der Reisegesellschaft zeigt STAGECOACH Fordsche Figuren: die keifende, hochmütige, über die Sittsamkeit der Stadt wachende Frauenclique, die den Arzt und die Prostituierte vertreiben und die in Selbstgerechtigkeit ein abstraktes Moralprinzip über die verstehende Liebe zum Mitmenschen setzen und darum Fords Verachtung geniessen; der gutaussehende, jugendlich ernste Offizier (Tim Holt), der dubiose Mexikaner und der Barmann (Jack Pennick), der in vorgetäuschter Geschäftigkeit vor dem neuangekommenen Gast die Theke putzt, um ihn zur Abgabe der Bestellung aufzufordern.

Aus anderen Filmen sei noch der Geistliche erwähnt, den stets ein recht menschliches Verhältnis zum Weltlichen auszeichnet. Ford liebt es, seinen Personen kleine menschliche Schwächen, Eigenheiten, ja Schrullen anzuhängen. Das schönste Beispiel hierfür ist Henry Fonda als Sheriff Wyatt Earp in MY DARLING CLEMENTINE. An jenem wunderbaren Sonntagmorgen in Tombstone geht er zunächst zum Barbier (Francis Ford), lässt sich dort Bart und Haare schneiden, eine Stirnlocke legen und anschliessend mit Parfüm bestäuben; mit verhaltener Eitelkeit führt er nun seine Stirnlocke spazieren, aber die Leute, die ihm begegnen, schnuppern nur erstaunt, und leicht verlegen werdend murmelt er ihnen entschuldigend und erklärend zugleich zu: "Barber". - Nicht zuletzt sind es diese kleinen menschlichen Schwächen, dank derer Ford seinen Figuren Leben einzuhauchen versteht.

STAGECOACH beinhaltet die wichtigsten Themen Fords. Da ist zunächst einmal die Gruppe, eine mehr oder weniger von der Aussenwelt isolierte Gesellschaft, deren Geschichte erzählt wird; eine sich oft wiederholende Thematik, handele es sich nun um eine Familie - THE FOUR SONS, THE GRAPES OF WRATH, TOBACCO ROAD, HOW GREEN WAS MY VALLEY, eine Siedlergemeinschaft - DRUMS ALONG THE MOHAWK, WAGONMASTER, eine Kleinstadtgemeinde - MY DARLING CLEMENTINE, THE SUN SHINES BRIGHT, DONOVAN'S REEF, eine Schiffsbesatzung - SUBMARINE PATROL, THE LONG VOYAGE HOME, eine militärische Einheit - THE LOST PATROL, FORT APACHE, SHE WORE A YELLOW RIBBON, THE HORSE SOLDIERS. Dieser Gruppe setzt Ford die Aufgabe, sich zu bewähren. Hierbei interessieren keine sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, selbst nicht in Filmen wie THE GRAPES OF WRATH und HOW GREEN WAS MY VALLEY, denen sozialkritische Romane als Vorlage dienten. Für ihn ist es letzten Endes gleichgültig, ob diese Bewährung durch einen Sandsturm in der Wüste, durch feindliche Indianer oder durch eine verzweifelte wirtschaftliche Lage erfolgt. Durch diese Gefahrensituation, die Notsituation findet bei ihm der Mensch zu seinem wahren, humanen Wesenskern zurück, denn an ihr und in ihr kann er seine Menschlichkeit beweisen. Nicht dem Hass gegen die Bedrohenden, gegen die Unterdrücker, sondern der Hervorkehrung des Humanen im Bedrohten, im Unterdrückten gilt Fords Aufmerksamkeit. Nicht der Zwang zu menschenunwürdigem Handeln, sondern die Attitüde moralischer Überlegenheit der Bedrängten beherrscht seine Filme. Dieses, naive, fast schon gläubige Vertrauen Fords an den einfachen Durchschnittsmenschen, an die Kraft zu moralisch guten Taten in ihm bricht sich in allen seinen Filmen Bahn. Daher die Sorgfalt, mit der Ford selbst noch die kleinste Chargenrolle behandelt, seine genaue Ausmalung der für den Handlungsablauf nebensächlichen, doch für seine Charaktere typischen Ereignisse, seine liebevolle Darstellung schrulliger Menschen, starrköpfiger Individualisten. "Beten heisst, gut, ehrlich und aufrichtig leben", lautet es in HOW GREEN WAS MY VALLEY. Bei John Ford ist niemand, der sich bemüht, verloren, mag dies wie in THE INFORMER ausdrücklich christlich motiviert sein oder nicht. Ausnahmen wie in TOBACCO ROAD, in dem auch Ford der asozialen Familie keine Rettung zukommen lässt, sind selten.

Alle seine Personen tragen den Massstab rechten Handelns in sich, sie folgen nicht irgendwelchen abstrakten Prinzipien (Ausnahme: Elizabeth in MARY OF SCOTLAND), sie sind "innengeleitet"; ihr Ziel heisst Selbstverwirklichung. Auf der Suche zu diesem Ziel befinden sich viele Gestalten Fords, womit das dritte Grundmotiv anklingt: die Suche. Die Helden Fords sind ständig unterwegs - THREE BAD MEN, THE GRAPES OF WRATH, THE THREE GODFATHERS, WAGONMASTER, THE HORSE SOLDIERS, unterwegs zu einem Ziel, das sie selbst nicht zu kennen scheinen, das ihnen aber ahnungsvoll vorschwebt als eine Sehnsucht nach dem Paradies, aus dem sie irgendwann einmal vertrieben worden sind. - Eine solche Vertreibung schildert HOW GREEN WAS MY VALLEY, oder man denke an den Anfang von THE SEARCHERS. - Und manchmal sind sie diesem Ziel sehr nahe, haben es fast erreicht wie an jenem Sonntagvormittag in MY DARLING CLEMENTINE.

Seit FORT APACHE ist Ford dazu übergegangen, das Gewicht seiner Geschichte auf zwei Hauptdarsteller zu verteilen. Der Gegensatz Fonda - Wayne wurde bestimmend für viele seiner folgenden Filme. Es ist der Gegensatz eines Mannes von einiger Bildung, mit geschliffenen Manieren, höflich, korrekt, etwas förmlich zu einem rauhbeinigen, lauten, sich manchmal etwas ungehobelt benehmenden Manne, dem dennoch eine natürliche Würde eigen ist. Die Rivalität dieser beiden typisierten Helden, denen Ford seine Sympathie gleichmässig zukommen lässt, klingt in vielen Filmen an: William Holden/John Wayne in THE HORSE SOLDIERS, James Stewart/Richard Widmark in TWO RODE TOGETHER, James Stewart/John Wayne in THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Figuren ist allerdings keine psychologisch bedingte, sondern sie dient Ford lediglich dazu, eine Situation zu beschreiben, eine Stimmung zu provozieren. In den späteren Filmen scheinen beide von vornherein in einem gewissen gegenseitigen, geheimen Einverständnis zu handeln. Differenzen werden nicht durch Argumentation, sondern durch einen zünftigen Schlagabtausch geklärt, der der gegenseitigen Achtung und Wertschätzung förderlich ist. Mitunter verwischt sich die Differenzierung zwischen beiden gänzlich, und es stehen sich nur noch zwei rauhbeinige Typen wie John Wayne und Lee Marvin in DONOVAN'S REEF gegenüber. Am ausgeprägstesten ist diese Konstellation in WHAT PRICE GLORY zwischen James Cagney und Dan Daily. Die Beschreibung einer rauhen Männerwelt hat hier ihren Höhepunkt gefunden. Ohne dem Zuschauer einen Kommentar zu liefern, malt Cagney beim ersten Zusammentreffen beider mit Kreide ein Kreuz auf den Boden, beide stellen sich an diesem Kreuz einander gegenüber, und nach einem kurzen Schlagwechsel liegt Daily am Boden. Dieses Rituell vollzieht sich mehrmals in diesem Film. Die Schlägerei scheint für Ford notwendiger Bestandteil der "Kameraderie" zu sein: je stärker die Schläge - je grösser die Freundschaft. In WHAT PRICE GLORY treibt Ford den zweifelhaften Spass noch beträchtlich weiter: nicht nur brüllen sich die beiden Helden ständig an, am Ende gar schiessen sie, da sie beide dasselbe Mädchen (Corinne Calvet) lieben, in betrunkenem Zustand mit Pistolen aufeinander und scheinen sich bei diesem tödlichen Spiel noch zu amüsieren. Mit diesem Film hatte Ford den Gipfel seiner "Männlichkeit" erreicht.

Dass es eine Frau in einer solch derben Männerwelt schwer hat, sich zu behaupten, leuchtet ein. Muss sie doch die Fähigkeit haben, sich diesem wüsten Leben anzupassen. Kamerad zu sein, ist ihre erste Aufgabe. In Maureen O'Hara fand Ford den Idealtyp dieser burschikosen Frauengestalt wie bereits vorher Corinne Calvet in WHEN WILLIE COMES MARCHING HOME und WHAT PRICE GLORY und später Elizabeth Allen in DONOVAN'S REEF. Ford fügte hiermit seinen beiden Frauentypen - der treusorgenden, das Haus beherrschenden Mutter, z. B. Jane Darwell in THE GRAPES OF WRATH, und dem lieben, unschuldigen und eine tüchtige Hausfrau versprechenden Mädchen, z. B. Vera Miles in THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE - einen dritten Typ bei.

Zwei Filme bedürfen hinsichtlich der Darstellung ihres Helden besonderer Erwähnung: THE SEARCHERS und THE WINGS OF EAGLE. John Wayne ist in beiden der Hauptdarsteller. In dem ersten spielt er einen Farmer, dessen Bruder und Familie die Indianer ermordet und deren Farm sie niedergebrannt haben. Während der Verfolgung der Indianer und der Suche nach seiner von ihnen entführten Nichte steigert er sich durch fünf Jahre in einen zunehmenden Hass. Obwohl er seine Nichte schliesslich findet, vermag er keine Ruhe mehr zu finden. Die Geschichte bleibt offen, es gibt für ihn keine Lösung. THE WINGS OF EAGLE ist die für uns befremdliche Geschichte eines Fliegeroffiziers, der seine Familie jahrelang im Stich lässt und sich Frau und Kindern gegenüber reichlich hartherzig zeigt. Beides sind Gestalten, die in früheren Ford-Filmen nicht auftauchen. Auch in anderen Filmen scheinen Ford Zweifel an seiner Idylle des guten Menschen gekommen zu sein: in THE HORSE SOLDIERS zerstören Soldaten in offenkundiger Freude Eisenbahnanlagen, und in TWO RODE TOGETHER ergreift Raserei eine Volksmenge - sie lyncht einen Menschen. Für kurze Augenblicke werden hier Regungen sichtbar, die Ford sonst hinter der kleinbürgerlichen Wohlanständigkeit seiner Figuren nicht zu sehen gewillt ist.

Aber diese kurzen Szenen sind ebenso wie die Charaktere aus THE SEARCHERS und THE WINGS OF EAGLE nicht bestimmend für Fords Werk geworden. In THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE und in DONOVAN'S REEF baut Ford ungebrochen weiter an seiner paradiesischen Idylle des Westens bzw. an seiner herben, rauh-fröhlichen Männergesellschaft. Die kritische Distanz, wie sie in THE SEARCHERS seinem Helden gegenüber spürbar wurde, hat er nicht wieder eingenommen.

Die Umwelt

Fords Filme spielen zu einem grossen Teil in einer ländlichen Umwelt, in den Weiten der amerikanischen Ebenen oder in Kleinstädten, zum anderen Teil in einer militärischen Umgebung, wobei mitunter, etwa in den Militärwestern, beide Elemente miteinander verknüpft werden. Ford hat die Landschaft konsequent in seine Handlung eingebaut. Nicht allein der Harmonie der Menschen untereinander gilt sein Traum, sondern auch der Harmonie des Menschen zu seiner Umwelt. "Ford besitzt die Gabe", so drückte es Theodor Kotulla in FILMKRITIK 1961, 172 aus, "eine Gruppe Menschen, die durch eine berauschende Landschaft gelassen einem fernen Ziel zustrebt, zu Visionen zu komponieren, in denen etwas von der Utopie aufgehoben ist, die den Menschen in unschuldiger Harmonie mit der Natur träumt." Diese Momente sind für den Fordschen Menschen ein Ansatzpunkt der Rückbesinnung auf sich selbst, der ruhigen, friedvollen Einkehr, eine stete Quelle, aus der er neue Kraft schöpft zu dem Kampf für das Wahre, Gute und Schöne.

Grossstadt und Industrie dagegen sind Themen, die Ford niemals interessiert haben. Spielt eine Handlung in einer Stadt, ist es eine Kleinstadt (THE SUN SHINES BRIGHT, THE LAST HURRAH), oder es handelt sich um eine Komödie, in die Ford möglichst viele seiner kauzigen Kleinstädter hinübergerettet hat (THE WHOLE TOWN'S TALKING, GIDEON OF SCOTLAND YARD). Taucht einmal ein Problem der Industrialisierung auf, geht Ford gleich in Abwehrstellung wie in HOW GREEN WAS MY VALLEY. In diesem Film empfindet und behandelt Ford den Einbruch des modernen Industriezeitalters in das stille walisische Dorf wie einen Einfall in ein Paradies. Die Menschen, die bisher in Eintracht miteinander und mit der Natur gelebt hatten, werden plötzlich mit Problemen konfrontiert, denen sie nicht gewachsen sind. Statt Arbeit und Brot ist Hass und Zwietracht, Hunger und Not durch die Zeche ins Tal eingezogen. "Ich glaube, etwas sehr Schönes ist für immer aus diesem Tal verschwunden", lautet Fords Kommentar.

Ähnliches spiegelt sich in seinen Militärfilmen. Auch hier ist es die kleine Einheit oder die in sich abgeschlossene Welt der Militärschule (THE LONG GREY LINE), denen sein Interesse gilt. In seinen Kriegen kommt es immer noch auf die alten Tugenden der Tapferkeit und Opferbereitschaft an. Der Mensch ist der bestimmende Faktor, nicht irgendein mechanisiertes Kriegsgerät. Moderne Materialschlachten sind ihm, auch wenn er den 2. Weltkrieg darstellt, so fremd wie die moderne Massengesellschaft.

Irland

John Ford ist irischer Abstammung; er heisst eigentlich Sean Aloysius O'Fearna, und Irland ist neben dem amerikanischen Westen und der amerikanischen Armee sein weiteres Hauptthema. Zwar spielen nur wenige Filme in Irland selbst - THE INFORMER und THE PLOUGH AND THE STARS handeln vom Freiheitskampf gegen die Engländer, in THE QUIET MAN kehrt ein Irländer heim, um sich eine Irin zur Frau zu nehmen; doch erscheinen in allen seinen Filmen irische Querschädel, und wenn man Ford glauben wollte, bestünde der grösste Teil der Amerikaner aus Irländern: sei es der Sergeant in West Point (THE LONG GREY LINE), die Bürger der Kleinstadt (THE LAST HURRAH), der Kneipier in der Südsee (DONOVAN'S REEF). Da heissen die Leute Quincannon, O'Rourke, O'Donnell, Danaher, Connor, O'Toole, O'Laughlin, Gilhooley, und nicht selten erklingt ein irisches Volkslied.

Amerika

Zwar gilt Fords Liebe Irland als dem Land seiner Väter, aber wie Wales (HOW GREEN WAS MY VALLEY) und Deutschland (THE FOUR SONS) ist auch Irland nicht das Land, das einem jungen, unternehmungslustigen Mann eine Zukunft bieten kann. Allein Amerika ist dieses Land, in dem sich die Träume der aus ihrer europäischen Heimat Vertriebenen realisieren lassen. Vier Söhne hat Mutter Bernie in THE FOUR SONS, aber nur derjenige, der sich aus dem stickigen Untertanen-Deutschland durch Auswanderung in die Vereinigten Staaten befreit hat, bleibt leben; die zurückgebliebenen fallen im 1. Weltkrieg, und schliesslich zieht auch die alte Mutter zu ihrem erfolgreichen Sohn nach Amerika.

Das Schicksal dieses Landes, das nach Fords Meinung allein dem Menschen eine ökonomisch und menschenrechtlich würdige Existenz zu bieten hat, hat Ford von dem Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer (DRUMS ALONG THE MOHAWK) über die Erschliessung des Westens (WAGONMASTER), den Bau der Eisenbahn (THE IRON HORSE), den Bürgerkrieg (THE HORSE SOLDIERS, HOW THE WEST WAS WON) bis zu den Kämpfen im ersten (SUBMARINE PATROL) und zweiten Weltkrieg (THEY WERE EXPENDABLE) geschildert. Den Gestalten der amerikanischen Geschichte begegnet er dabei mit nahezu ehrfürchtiger Bewunderung. An erster Stelle steht für Ford Abraham Lincoln; nicht nur hat er dem jungen Lincoln einen eigenen Film gewidmet (YOUNG MR. LINCOLN), auch in den anderen Filmen stilisiert er Lincoln zu einer unantastbaren, schon jenseits von Gut und Böse stehenden Gestalt (THE IRON HORSE, PRISONER OF SHARK ISLAND). Es folgen die Generäle des Bürgerkrieges (HOW THE WEST WAS WON), der Indianerkriege (FORT APACHE) und jene legendären Westerner. Was Ford an diesen Figuren so anziehend findet, ist ihre Bürgerlichkeit, ihr für die Gemeinschaft eingesetzter Mut, Tatkraft, Entschlossenheit und Opferbereitschaft, jene Eigenschaften, die er auch bei seinen anderen Helden immer wieder hervorhebt.

Mit der landwirtschaftlichen Erschliessung des Westens endet Fords Geschichtspanorama zunächst. THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE markiert den Abschluss. Die Verstädterung und die Industrialisierung findet bei ihm nicht statt; das Amerika des 20. Jahrhunderts existiert bei ihm nicht. Der Übergang von den Indianerkriegen zu den beiden Weltkriegen ist ein nahtloser.

Die Armee und der Krieg

Eine eigenartige Verehrung lässt Ford allem Militärischen zukommen. In der Mehrzahl seiner Filme beherrschen Soldaten einen Grossteil der Szenen. Der Militärschule West Point widmet er einen eigenen Film (THE LONG GREY LINE). Man hat Ford dieserhalb einen Militaristen geheissen. Zu Unrecht. Nicht nur mangelt den Fordschen Truppen das Bedürfnis zur Disziplin, es fehlt auch die Grundlage zu jener Diskussion über Rebellion und Unterordnung, wie sie für den deutschen Film so charakteristisch ist. Für Ford ist die Armee ein Hort kerniger Männer, eine Gelegenheit zu fröhlicher Männergesellschaft; Ford hat zu ihr ein weitgehend unschuldiges Verhältnis, geboren aus den Erfahrungen im amerikanischen Westen, wie er sie in STAGECOACH so trefflich zu vermitteln vermochte: in der höchsten Bedrängnis der Postkutsche ertönt das Hornsignal der Attacke - die Armee als Retterin in nahezu aussichtsloser Lage, als Beschützerin und Bewahrerin der amerikanischen Zivilisation. Diese rasante, jagende Verfolgungsszene erscheint fast ausschliesslich auf dieses erlösende Hornsignal hin inszeniert, und man muss schon recht gefühllos sein, um bei seinem Klang nicht ebenfalls befreiend aufzuatmen. Hier liegen die Wurzeln zu Fords Mythisierung der Armee, an der zu weben er nicht müde wird - man denke etwa an jenen stimmungsvollen morgendlichen Auszug aus dem Fort in FORT APACHE oder an die Reiterkolonnen aus SHE WORE A YELLOW RIBBON oder THE HORSE SOLDIERS. Und wenn er wie in PRISONER OF SHARK ISLAND einmal die Armee in ein ungünstiges Licht setzt, indem er zeigt, wie der unschuldige Arzt Dr. Mudd, der unwissend dem Mörder Lincolns ärztliche Hilfe gewährt hat, durch ein vom Mob aufgestacheltes Militärgericht verurteilt wird, so beeilt er sich am Schluss des Films durch einen versöhnenden Händedruck zwischen dem Arzt und dem ihn vorher ingrimmig hassenden Sergeanten (John Carradine) die Ehre der Armee wiederherzustellen.

Zwar betont Ford ständig, dass die Aufgabe des Soldaten, Menschen zu töten, eine Last bedeutet, unter der er leidet (HOW THE WEST WAS WON). So reitet am Ende von SHE WORE A YELLOW RIBBON Captain Brittles (John Wayne) zu den feindlichen Indianern, um sie zu überreden, endlich dem gegenseitigen Töten ein Ende zu setzen. In DRUMS ALONG THE MOHAWK ziehen die Männer jubelnd aus in einen Krieg, von dem sie nicht wissen, warum sie ihn führen, und nach Wochen kehren sie heim, im Regen, müde, zerschlagen, verwundet, sterbend - ein elender, trauriger Zug; WHAT PRICE GLORY beginnt damit, dass eine geschlagene Truppe amerikanischer Soldaten über die Leinwand zieht. Not, Schrecken und Elend des Krieges beschreibt Ford. Aber gleichzeitig dient ihm der Krieg als Ort der Bewährung ritterlicher Tugenden, der Tapferkeit, der Kameradschaft, der Fairness. Von

Ambrose Bierce und seinen Bürgerkriegsgeschichten ist er meilenweit entfernt. Fatal wird es dort, wo Ford diese Ritterlichkeit vergangener Tage ungebrochen auf die Geschehen der beiden Weltkriege zu übertragen versucht. Wenn in SUBMARINE PATROL das erste deutsche Schiff torpediert worden ist, droht an Bord Jubel über diesen Erfolg auszubrechen; doch der Kapitän gebietet Einhalt, mahnt an die Opfer des Erfolges, und die gesamte Mannschaft entblösst die Häupter und gedenkt schweigend des gefallenen Feindes. In THEY WERE EXPENDABLE jagen Schnellboote durch von feindlichen Bomben verursachte Wasserfontänen wie weiland im Westen die Reiter durch die Felssäulen des Monument Valley oder im Bürgerkrieg durch die Dreckfontänen der Granaten. Der Krieg hat hier nichts von seiner heroischen - und ästhetischen - Komponente verloren. Vollends antiquiert schliesslich wirkt jene Szene, in der eine Frau (Donna Reed) die Offiziersmesse betritt und Achtung und Ehrerbietung empfängt - eine Szene, die haargenau aus einem hundert Jahre zuvor spielenden Western stammen könnte und dort angebracht wäre. (Peinlichkeiten dieser Art hat Ford in späteren Filmen dank Maureen O'Hara zu vermeiden gewusst.)

Indianer und Neger

Ford vertritt in seinen Filmen konsequent den Standpunkt des weissen Siedlers in Amerika. Trat dieser Gesichtspunkt schon in seinem Verhältnis zur Armee auf und brachte es ihm dort den Vorwurf, Militarist zu sein, ein, so wurde ihm in Bezug auf die Indianer der Vorwurf, Rassist zu sein, gemacht. Doch auch hier liegt der Fall unschuldiger. Ford spiegelt lediglich die Erfahrung des Siedlers wider, der, in den Westen ziehend, sich plötzlich der Bedrohung durch den Indianer gegenübersah, der, über die Prärie jagend oder aus dem Busch brechend, ihm Haus und Hof niederbrannte und Frau und Kinder niedermetzelte. Nach den Ursachen dieser Situation fragt Ford nicht. Für den Siedler wie für Ford bedeuten die Indianer eine latente Gefahr - ähnlich denen, die den geographischen und klimatischen Gegebenheiten des Westens entsprangen. Aus dem Grundsatz heraus, dass die Weissen das Recht hatten, das Land urbar zu machen, ist seine Position in den Indianerkriegen eindeutig und gradlinig. Wenn sich der Indianer diesem "friedlicher!" Begehren der Weissen gewaltsam widersetzte, so musste er mit Gewalt "abgewehrt" werden.

So stören die Indianer den Frieden des Westens, indem sie die Gehöfte niederbrennen und die Farmer töten (DRUMS ALONG THE MOHAWK, THE SEARCHERS, SERGEANT RUTLEDGE), Poststationen und Kutschen überfallen (STAGECOACH), dem Bau der Eisenbahnen wehren (THE IRON HORSE), kleine weisse Kinder entführen (THE SEARCHERS, TWO RODE TOGETHER) und immer wieder aus ihren Reservaten ausbrechen und plündernd im Lande umherziehen (SHE WORE A YELLOW RIBBON, RIO GRANDE). Manchmal mögen sie zu ihren Greueltaten von finsteren Weissen angeregt worden sein: von einem rivalisierenden und intrigierenden Kapitalisten (THE IRON HORSE) oder von den feindlichen Engländern (DRUMS ALONG THE MOHAWK). Niemals bringt Ford Verständnis dafür auf, dass sich die Indianer in einem Abwehrkampf gegen die in ihr Land eindringenden Weissen befinden. Sein äusserstes Zugeständnis ist, dass er die Indianer ihre Argumente äussern lässt (FORT APACHE). Wie sich Ford eine gerechte Lösung vorstellt, schildert er in SHE WORE A YELLOW RIBBON: Captain Brittles reitet nach seiner Verabschiedung aus der Armee zu dem alten Indianerhäuptling (Chief Big Tree), zerbricht vor ihm die Speere und Kriegszeichen und vertreibt die Pferde der Indianer; Frieden wollen die beiden alten Männer, und Frieden will John Ford; Verbrüderung zwischen Rot und Weiss, d. h., die Indianer lassen ihr Land unbehelligt in Besitz nehmen und kultivieren. Die Behandlung der Rassenproblematik im Western überlässt Ford weniger prominenten Regisseuren wie z. B. Phil Karlson (THEY RODE WEST, 1954 - Sie ritten nach Westen; GUNMAN'S WALK, 1958 - Duell im Morgengrauen).

Nach SERGEANT RUTLEDGE hat man Ford als einen Kämpfer für die Rassenintegration preisen wollen - nicht ganz zu Recht. Das Verhältnis der Weissen zu den Negern ist in den Filmen Fords nie aktuell gewesen. Vielmehr ist der Neger stets als der naive, etwas trottelige, geistig beschränkte doch gutmütige Mensch geschildert, dessen grösste Wonne etwa darin besteht, auf dem Schiff die Dampfsirene zu betätigen (THE SUN SHINES BRIGHT). Gelegentlich läuft das Geschehen wie in einem Libretto von da Ponte auf zwei Ebenen ab: Ereignisse auf der Herren-Ebene der Weissen finden ihre Parallele auf der Dienstboten-Ebene der Neger (PRISONER OF SHARK ISLAND). In diesem Film zeigt Ford zugleich die treue Ergebenheit des Negers seinem weissen Herrn gegenüber sowie dessen Fürsorge und Verantwortlichkeit jenem gegenüber, über dieses Patronatsverhältnis, das dem Neger innerhalb seiner Grenzen ein eigenständiges, urtümlich-primitives Leben garantiert, ist Ford nie hinausgekommen; seine Sujets allerdings dürften ihm hierzu auch kaum Gelegenheit gegeben haben.

In SERGEANT RUTLEDGE nun kommt das Problem gleichsam durch die Hintertür zum Vorschein. Leutnant Cantrell (Jeffrey Hunter) - und mit ihm John Ford - bemüht sich aus zwei Gründen um Rehabilitierung des angeklagten Sergeanten Rutledge (Woody Strode): einmal wäre durch die Verurteilung des unschuldigen Negers durch ein weisses Gericht die Rechtschaffenheit der Weissen in Frage gestellt, zum anderen geht es letztlich weniger um den schwarzen Sergeanten als Angehörigen einer Rasse als vielmehr als Angehörigen der Armee; die Ehre der 9. Schwadron, der Mythos der Armee steht auf dem Spiel, an dem Rutledge durch seine Zugehörigkeit zu ihr, gleich ob weiss oder schwarz, Anteil hat. Daher jene heroischen Posen Woody Strodes. Dass Ford die Position des amerikanischen Durchschnittsbürgers in diesem Film nicht verlassen hat, bezeugten nicht nur seine unveränderte Einstellung den Indianern gegenüber, sondern auch die Bedingungen, unter denen äusserstenfalls eine gewisse soziale Gleichstellung des Negers möglich ist: totale Anpassung des Negers an den Lebensstil des Weissen. Den moralischen Anspruch des Negers auf Freiheit hat Ford nie geleugnet; schliesslich ist Abraham Lincoln für ihn die grösste Figur in der amerikanischen Geschichte.

Legende und Wirklichkeit

Laut Rieupeyrout hat Ford gesagt, er wolle den Westen so zeigen, wie er war. Genau das hat er, versteht man seine Äusserung als ein Bekenntnis zur Realistik, nie getan. Zwar "stimmt" der Dekor in allen seinen Filmen; nur wenige Regisseure haben eine derartige Sorgfalt darauf verwandt, Strassen, Häuser, Kneipen und die Innendekorationen bis zum letzten Kaffeelöffel so genau zu rekonstruieren. In THE IRON HORSE hat er gar zur Gestaltung jener berühmten "Hochzeit auf den Schienen" die beiden Originallokomotiven aus dem Museum andampfen lassen, ein Unterfangen, das in dem Stolz der Stummfilmzeit allein nicht seine Erklärung findet. Aber bereits mit der Landschaft beginnt Ford zu manipulieren; zu viele seiner Filme sind im Monument Valley gedreht, auch wenn die Handlung offensichtlich anderenorts spielt. Keine seiner Figuren ist historisch echt gezeichnet. So waren Wyatt Earp keineswegs jene hehre, ehrenwerte und liebenswürdige Gestalt wie Henry Fonda und Doc Holliday keine tragisch umwitterte Figur wie Victor Mature in MY DARLING CLEMENTINE, General Custer ein durch und durch zweifelhafter Charakter und dem Colonel Thursday aus FORT APACHE sehr unähnlich, Ringo ein geistesgestörter Desperado und kein unschuldig verfolgter Westerner wie John Wayne wie in STAGECOACH. Das Argument, Ford habe es aufgrund der damaligen Forschung über den Westen nicht besser wissen können, zieht nicht; denn auch dort, wo er es hätte besser wissen können, überhöht er seine Figuren bis zur Unkenntlichkeit ihrer historischen Vorlage. Sam Peckinpah, der Nachfolger Fords als Westernregisseur, hat in RIDE THE HIGH COUNTRY (1961 - Sacramento) in den Gestalten des Goldgräberlagers weitaus Realistischeres geschaffen. Schliesslich sind auch Fords Milieuzeichnungen, etwa eine Westernkneipe, trotz der Genauigkeit des Dekors nicht realistisch, wie ein Vergleich mit Western von William S. Hart zeigt; denn Ford ordnet den Dekor nicht realistischen, sondern ästhetischen Gesichtspunkten unter.

Selbst jene scheinbar so realistisch gestaltete Verfolgungsjagd der Postkutsche in STAGECOACH - die rasanteste Aktionsszene Fords, vergleichbar in ihrem ästhetischen und moralischen Charakter nur noch mit jener Szene aus KAKUSHI TORIDE NO SAN AKUNIN (1958 - Die verborgene Festung) von Akira Kurosawa, in der Toshiro Mifune aufrecht in den Steigbügeln stehend, das Schwert hocherhoben, vorwärtsrast - ist imgrunde unrealistisch: ein Schuss der Indianer auf ein Pferd des Gespanns hätte die Jagd nach wenigen Metern enden lassen. Aber dann würde nicht nur die Filmgeschichte um eine grosse Szene ärmer sein, auch hätte der Film einen Grossteil seiner Aussagekraft verloren: die Situation der Bewährung des Menschen und der hierdurch erzielten gegenseitigen Achtung sowie der Befreiungsfunktion der Armee hätte ihre moralische und ästhetische Qualität verloren.

Wie diese Verfolgungsszene in STAGECOACH tragen viele Szenen in den Filmen Fords symbolische Züge. Dudley Nichols erklärte einmal hierzu: "Symbolik ist nur gut, wenn der Zuschauer sie als solche nicht wahrnimmt." Er erläuterte dies an jener Szene aus THE INFORMER, in der Gypo (Victor Mc Laglen) sich der Beschränktheit seiner Vorstellungen durch die Begegnung mit einem Blinden bewusst wird. Derartiger Szenen liessen sich viele anführen. (Mitunter greift Ford leicht spöttisch zu Vulgärsymbolen, etwa der schwarzen Katze als Unheilbringerin, die er in THE FOUR SONS vor den ausrückenden deutschen Truppen, in FOUR MEN AND A PRAYER vor den Revolutionären und in STAGECOACH vor den bad guys herlaufen lässt.)

Unter diesem Gesichtspunkt, dass Ford alles Geschehen und alle Figuren zu überhöhen trachtet, und zwar nicht nur in seinen Western, gewinnt THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE seine zentrale Bedeutung. Dieser Film ist nicht allein ein Western, sondern auch ein Film über den Western, ja eine Rechtfertigung Fords, eine Art Vermächtnis. Schon der im Vergleich zu seinen anderen Filmen schäbige Dekor - man denke an die Eisenbahn, an das im Atelier aufgebaute Städtchen, an den deutlich im Atelier spielenden Postkutschenüberfall wie auch an das unpassende Alter seiner Hauptdarsteller - deutet darauf hin, dass es Ford hier weniger auf die äussere Handlung ankommt. Hauptthema des Films ist das Verhältnis von Legende und Wirklichkeit: der "Mann, der Liberty Valance erschoss" (James Stewart), ist nämlich nicht der Mann, der Liberty Valance erschoss (John Wayne). "When the legend becomes fact, print the legend.", heisst es im Film (in der deutschen Fassung: "Unsere Legenden wollen wir erhalten."); für Ford bedeutet das also: wenn die Legende Wirklichkeit wird, filme die Legende! Dieses Verhältnis von Legende und Wirklichkeit ist charakteristisch für alle Filme Fords. Konsequent konserviert er die Legende, die für ihn einen höheren Wert, weil einen höheren Grad von Wahrheit enthält als die blosse Wirklichkeit. Er steht damit an dem einen Ende der Skala der Möglichkeiten, deren gegenteiliges Ende durch den bedeutsamen und bei uns leider vernachlässigten Film THE LEFT HANDED GUN (1958 - Einer muss dran glauben) markiert wird, mit dem Arthur Penn die Entmythologisierung des Western einzuleiten versuchte. (Wichtig sind die verschiedenen Verhaltensweisen der Zeitungsleute in diesen beiden Filmen, wenn sie mit der Wirklichkeit konfrontiert werden.)

Aus der Legende schöpft Ford seine Kraft. THE IRON HORSE, den er 38 Jahre vor THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE gedreht hat, lässt er mit einer Art Prolog beginnen, in dem er die Gründe für den Bau der Central Pacific und der Union Pacafic darlegt: es sind die vertrauten Ideale der Pionierzeit, der Traum von der Eroberung und Erschliessung des weiten Landes, der Bildung eines grossen Staates. Diesem Ziel dienen in diesem Film alle am Bau Beteiligten, Unternehmer wie Arbeiter. Dass die Wirklichkeit ganz anders aussah; dass handfeste und recht zweifelhafte Spekulationen finanzieller Art dahinterstanden; dass später Millionen ausgegeben werden mussten, um die Schlangenlinien zu begradigen, die man gelegt hatte, um höhere Zuschüsse aus Washington zu erhalten; dass die beiden rivalisierenden Gesellschaften gar gegenseitig Teile des Baus samt Arbeitern in die Luft sprengten; dass die Arbeiter in menschenschinderischer Weise ausgebeutet wurden; dass Trunksucht, Falschspiel und Prostitution den Bautrupps folgten: von all diesen Dingen sieht man bei Ford nichts.

Ford hat in diesen 38 Jahren wunderschöne Filme geschaffen; mögen sich auch in dieser Zeit der Wert der Legende, die Verbindlichkeit der Ideale der Pionierzeit geändert haben, Ford hat sich nicht geändert. Er ist zum konservativen Utopisten geworden. Ist in THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE das Ziel erreicht: ist der Westen zivilisiert, das Land in ein blühendes Paradies verwandelt, hat damit der Westerner (John Wayne) seine Aufgabe erfüllt, so wirken doch die Ideale des Westens weiter in dem zum Senator gewordenen Rechtsanwalt (James Stewart) fort und werden weiterhin das öffentliche Leben Amerikas bestimmen. Für Ford ist der Geist des Westens so lebendig wie eh und je; und nichts ist besser geeignet, diesen Geist lebendig zu erhalten als die Legende selbst. So bestimmt die Legende Inhalt und Stil der Filme Fords. (Man denke in diesem Zusammenhang an die reichliche Verwendung von volksliedhaften Balladen bei Ford.) Fords Filme sind im Grunde ein poetisches Bekenntnis zu jener schönen Utopie aus dem Jahre 1776, in der es heisst: "Wir halten das Folgende für eine Wahrheit, die keines Beweises bedarf: Dass alle Menschen frei geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten ausgestattet sind, dass zu diesen Rechten das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück gehören."       Hans-Peter Kochenrath
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Brecht und Godard

In der letzten Zeit fiel in einem Teil der deutschen Filmkritik der Name Brecht, sobald von Godard die Rede war. Dass Brecht jedoch die falsche Vokabel zur Bezeichnung und Einordnung Godards ist, ergibt sich, wenn man der Anregung folgt und Godard mit Brecht vergleicht. Möglich, dass Godard es mag, wenn man ihn im Zusammenhang mit Brecht nennt, und dass z. B. DIE GESCHICHTE DER NANA S. brechtischen Intentionen folgen will; dennoch: Brechts Verfremdungstechniken sind nur in gelegentlichen, vom epischen Theater übernommenen Stilmitteln - den Zwischentiteln in NANA S., dem kommentierenden Erzähler, der Deklaration des Spiels zum Spiel in DIE AUSSENSEITERBANDE - wiederzuerkennen, dies sind aber äusserliche Übereinstimmungen, die nur dann für wesentlich gehalten werden, wenn einem jede Verfremdung schon als eine brechtische erscheint. Die Verfremdung aber, deren Kennzeichen die überraschende Desillusionierung ist, vereinigt eine recht heterogene Gesellschaft, in der sich zu Brecht und Godard noch andere, z. B. Shakespeare, F. Schlegel, Tieck, Pirandello und nicht nur diese, gesellen. Der Begriff der Verfremdung ist, für sich genommen, zu allgemein und konkretisiert sich erst durch die Bestimmung des Inhaltes und Zweckes der Verfremdung.

Der Zweck der Godardschen Verfremdung ist der Brechtschen genau entgegengesetzt. Brecht desillusioniert das Spiel, um die Augen für die gesellschaftliche Wirklichkeit zu öffnen, Godard desillusioniert das Spiel um der Desillusionierung und des Spieles willen. Brechts Blick ist auf die Gesellschaft und deren berechenbare Veränderung gerichtet, Godard schaut auf die Individualität und deren unberechenbare Veränderlichkeit.

Dennoch: auch Godard ist gesellschaftskritisch, und zwar durch seine besondere Gestaltung der Individualität. Seine phantasievollen Personen sind per se der langweiligen, starren gesellschaftlichen Realität entgegengesetzt. Bei Brecht hingegen ist der Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft nur einer unter anderen, für ihn ist die Individualität nicht faktische letzte Entität, sondern voll von den Widersprüchen der Gesellschaft, man denke nur an Mutter Courage. Bei Godard ist das Verhältnis von Person und Gesellschaft ein einfaches: es ist antithetisch. Einerseits entlarvt die blosse Existenz einer phantasievollen Individualität die langweilige Starre des Milieus, andererseits weist dieser Gegensatz den Personen ihren gesellschaftlichen Ort zu: sie sind Aussenseiter. Wer sich, selbst realisieren will, wer Ausserordentliches, Freiheit, einen eigenen Weg sucht, aus dem wird nichts, weil die Gesellschaft die Individualität nicht in ihrer Mitte duldet - dies ist die Quintessenz Godardscher Gesellschaftskritik. So kritisiert er z. B. in DIE GESCHICHTE DER NANA S. durch die Konfrontation der Besonderheit der Nana S. mit ihrer gesellschaftlichen Funktion, Ware zu sein, nicht nur die Brutalität des Dirnengeschäftes, sondern darüberhinaus weist er auf die Gesellschaft, deren Konventionalität jeden Versuch eines individuellen Lebens in die Asozialität abdrängt.

Diese Kritik wird jedoch entscheidend abgeschwächt durch die Notwendigkeit, die Asozialität zu poetisieren, um den Personen einen Raum für ihre Entfaltung zu schaffen und sie so vor einer Kriminalität zu bewahren, die ebenso unpoetisch wie die Konvention und deren sie letzlich nicht kritisierende, sondern bestätigende Nachtseite ist. Dieser Raum, gleichweit von der Konvention wie dem Verbrechen entfernt, ist der des Bohemien. Alle zentralen Gestalten Godards sind kleinbürgerliche Bohemiens, Vorstadtromantiker. In ihrer verschrobenen Naivität aber auch Gewitztheit, ihrer Romantik aber auch Brutalität, entsprechen sie jener Mischung aus Unschuld und Durchtriebenheit, aus Schwärmerei und Realismus, die sie zu modernen, wenn auch deshalb nicht minder romantischen Taugenichtsen mit kleinbürgerlicher Vergangenheit macht. Die poetisierte Asozialität bricht nicht mit der Gesellschaft, sondern findet in ihr noch immer ihren Platz. Allerdings versöhnt sie sich auch nicht mit ihr, sondern bleibt der Stachel im Fleisch der Konvention. Indem Godards Personen mit der Normalität zu spielen beginnen, durchlöchern sie das Gefüge der Konvention; das Banale wird, indem es poetisch erscheint, asozial.

Godard ist kein Analytiker wie Brecht; er spielt mit den Erscheinungen und verwandelt sie in aufsässige Poesie. Vielleicht ist seine Intention noch am ehesten Brechts "Baal" vergleichbar, aber selbst dieser ist härter in der Diktion, viel deutlicher im Protest. Brecht sagt von Baal, "er ist asozial in einer asozialen Gesellschaft" und "es ist nicht zu sagen, wie er sich zu einer Verwertung seiner Talente stellen würde: er wehrt sich gegen ihre Verwurstung". "Baal" ist Natur, die aus der Gesellschaft ausbricht und über sie herfällt. Godards Personen sind weit zahmer, sie erproben, wenn auch oft am Rande der Gesellschaft, so doch immer noch in ihrem Rahmen, ihre Kraft. Godard ist nicht revolutionär, er ertrotzt die Freiheit für seine Personen im Rahmen des gesellschaftlichen Systems. Er kennt die Macht der Verhältnisse: die Rolle Fritz Langs in DIE VERACHTUNG ist die eines machtlosen Individualisten, der in seiner Resignation ein Trotzdem vor sich her trägt. Dieses Trotzdem prägt den romantischen Individualismus Godards. Der lebhafte Ton der Brechtschen Verfremdung entspringt der Grössendimension dessen, was verändert werden muss, damit die Individualität sich realisieren kann. Dieser lehrhafte Ton ist nur in den Lehrstücken schulmeisterlich; dort wegen ihres kruden Anti-Individualismus. In den späten Stücken hinhegen sind Gesellschaft und Individualität so vermittelt, dass das Moment Allgemeinheit und damit das Lehrhafte ästhetisch integriert werden. Die Integration des Lehrhaften geht einher mit einer Verringerung des revolutionären, klassenkämpferischen Elans, um dafür einer tieferen Einsicht in die Komplexität der Verhältnisse Platz zu machen. Die Brechtsche Phantasie konkretisiert sich durch ihre Beziehung zur Praxis, darin hat sie ihre Geschichte von den expressionistischen bis zu den späten Stücken; seine Phantasie wagt die Durchdringung der gesellschaftlichen Realität und versteht sich als ersten Schritt zu deren praktischer Veränderung. Dahin zielen seine Verfremdungseffekte.

Godards Phantasie ist in ihrer Antithese auch auf die Realität bezogen und impliziert die Forderung nach einer Veränderung aller kleinbürgerlichen Beengung, jedoch vertraut sie im Gegensatz zu Brecht nur auf sich selbst und will mit der Realisierung von phantasievollen Filmen, die phantasievolle Menschen darstellen, den Sprengstoff in die Konvention legen. Dies ist allerdings in Godards Filmen nicht als bewusster Wille zur praktischen Veränderung erkennbar wie bei Brecht, sondern vielmehr die indirekte Folge eines konsequenten Individualismus. Indem die Phantasie sich selbst als alleiniges Leben setzt (Godard: "Leben ist Film"), negiert sie automatisch die empirische Realität. Sie bringt eine Realität hervor, die die empirische gesellschaftliche Faktizität zu verdrängen trachtet. Das romantische Postulat, die Welt in Poesie zu verwandeln, ist den Filmen Godards immanent. Nicht die praktische Veränderung, sondern die ästhetische Verwandlung der Welt ist die Maxime Godards und bestimmt den Charakter seiner Verfremdungseffekte, die somit nichts mit Brecht, sondern viel mehr mit der Romantik zu tun haben. Wie in der Romantik nämlich hat Godards Deklaration des Spiels zum Spiel nur dessen ironische Aufhebung, nicht aber die Hinführung zur Praxis im Sinn. Der durch die Verfremdung des Spiels freigegebene Blick auf die Wirklichkeit ist erfüllt von dem Zugeständnis, dass die Poesie sich immer wieder als ohnmächtig gegenüber der Realität erweist. Jedoch zieht die Phantasie aus ihrer ständig aufbrechenden Differenz zur Wirklichkeit nicht die Konsequenz, sich ihr zu beugen. Die Unannehmbarkeit der geistlosen Faktizität fordert die Souveränität des Spielenden heraus; sie macht Resignation unmöglich und erhebt den Anspruch, den Prozess der Verwandlung von Empirie in Leben unendlich fortzusetzen, denn die Phantasie gibt nie die Hoffnung auf, dass der Traum einmal Welt wird.       Dietlind Reck
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Carl Th. Dreyer: GERTRUD

Trolle: Die Meinungen zu Ihrem neuen Film GERTRUD waren sehr geteilt. Was sagen Sie selbst dazu, Herr Dreyer?

Dreyer: Ich bin ja bald daran gewöhnt. Die Leute mögen die Haltung zu meinen Filmen einnehmen, die sie für richtig halten. Für mich ist nur entscheidend, dass ich einen Film geschaffen habe, zu dem ich mich bekennen kann.

Trolle: Gehörte GERTRUD nicht schon lange zu den Projekten, die Sie verwirklichen wollten?

Dreyer: Ja. Ich glaube, dass ich schon in den zwanziger Jahren erwogen habe, einen Film nach Vorlagen von Hjalmar Söderberg zu drehen: in erster Linie ,Dr. Glas' (Roman, 1905), aber dieser Roman stand damals nicht zur Verfügung. Ich interessierte mich dann besonders für GERTRUD (Schauspiel, 1906). Aber es bestand vorwiegend aus Dialogen und ich musste deshalb den Gedanken an eine Verfilmung aufgeben. Es war ja die Zeit des Stummfilms. Söderberg hat mich übrigens schon seit meiner frühesten Jugend interessiert, vor allem - wie gesagt - ,Dr. Glas' und ,Martin Bircks Ungdom' (Die Jugend Martin Bircks, Roman, 1901). Aber dieses Interesse war mehr privater Natur. Bei GERTRUD dagegen war das anders: ich hatte sofort den Wunsch, dieses Drama zu verfilmen. Mit GERTRUD erging es mir dann ähnlich wie mit DIES IRAE und ORDET: ich interessierte mich zu früh für diese Stoffe. Die Verhältnisse waren noch nicht reif für die Verwirklichung dieser Pläne. GERTRUD, 1906 geschrieben, spielt um die Jahrhundertwende. Ebenso Ihr Film. Haben die vergangenen sechzig Jahre Ihren Film unbeeinflusst gelassen? Ich habe versucht, den Konflikt mit eigenen Augen zu sehen, also mit Augen von heute. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich mich einer zugespitzten, modernistischen Betrachtungsweise bedient habe. Die Probleme des Dramas sind wohl heute noch so aktuell wie damals.

Trolle: Ich weiss, dass Sie ursprünglich in Farbe drehen wollten. Ist die jetzige Fassung dadurch beeinflusst worden?

Dreyer: Überhaupt nicht. Die Schwarz-Weiss-Bilder wurden improvisiert. Geplant war nur, zwei Rückblenden und den Schlussabschnitt in einem etwas leichteren photographischen Ton zu halten, übrigens hatte ich für den Fall, dass ich den Film in Farben machen konnte, einen ganz bestimmten Plan. Ich wollte dann nämlich den schwedischen Zeichner Adolf Hallmann als Farbkonsulent verpflichten. Hallmann publizierte um 1910 ein Buch: ,Stockholmsocieteten'. Dieses Buch enthält vor allem farbige Skizzen und Illustrationen aus dem Stockholm des ersten Dezenniums dieses Jahrhunderts, also gerade aus der Zeit, in der GERTRUD spielt. Die Farben Hallmanns hätten sehr gut zu meinem Film gepasst.

Trolle: Ihr Film enthält einen Epilog, der bei Söderberg nicht vorhanden ist.

Dreyer: Der ,Epilog', wie Sie es nennen, ist mein eigenes Werk. Jedoch: der konkrete Ausgangspunkt ist Maria von Platen, Söderbergs Modell zu seiner GERTRUD. Schon während meiner ersten Gespräche mit der dänischen Schauspielerin Betty Söderberg, der Tochter Hjalmar Söderbergs, schlug ich vor, dem Film einen Epilog zu geben. Frau Söderberg stimmte sofort zu. Ich glaubte nämlich, das Publikum würde es nicht akzeptieren, wenn ich den Film offen ausgehen liesse: im Drama läuft Gertrud weg und Kanning, der Ehemann, ruft ihr nach - ,Gertrud, Gertrud!'. Und dann senkt sich der Vorhang. Diesen Schluss hätte ich im Film nicht gewagt. Es scheint mir, dass man im Verlauf des Films Gertrud lieb gewinnt; man möchte wissen, wie es ihr später ergeht. Und so sehen wir, dass sie durch ihr Leiden reifer geworden ist und am Schluss sehr würdig auftritt. Sie bedauert sich selbst nicht; sie hat sich selbst zur Einsamkeit verurteilt.

Trolle: Sind nach Ihrer Meinung die rigorosen Forderungen Gertruds unerfüllbar?

Dreyer: Bestimmt; ich zweifle nicht, dass auch Söderberg dieser Meinung war. Weder um die Jahrhundertwende noch heute kann erwartet werden, dass ein Mann darauf eingehen wird.

Trolle: Es ist behauptet worden, dass Sie mit GERTRUD einen bewusst christlichen Film hätten machen wollen.

Dreyer: Ich muss Ihnen sagen, dass diese Interpretation für mich sehr überraschend war. Denn hätte ich das gewollt, dann hätte ich Gertrud selbst als einen christlichen Menschen geschildert. Aber wir hören aus ihrem eigenen Mund, dass sie nicht an Gott glaubt. So steht es auch bei Söderberg. Ganz bewusst habe ich diese Dialogstelle von Söderberg übernommen. Ich hätte sie ohne weiteres auslassen können, wenn ich das gewollt hätte.

Trolle: Dass die Personen buchstäblich aneinander vorbeireden, ist vermutlich auch eine solche bewusste Entscheidung?

Dreyer: Gewiss. Söderberg selbst hat mich dazu angeregt. Immer wieder schreibt er in seinen Romanen und Schauspielen: ,Sie reden aneinander vorbei'. Und die Wirklichkeit ist doch oft nicht anders - Menschen schauen sich in gewissen Situationen nicht an, sehen sich beim Gespräch nicht in die Augen, sehen aneinander vorbei.

Trolle: Sollen sich dadurch aber nicht auch die Zuschauer den Personen nähern?

Dreyer: Eben. Diese Technik bedeutete für mich auch ein Weg, mit der Kamera den Gesichtern näher zu kommen. Ich glaube, dass die Mimik im Film sehr wichtig ist, ob nun geredet oder geschwiegen wird. In den letzten Jahren ist dies zu sehr im Film vernachlässigt worden. Bei GERTRUD wollte ich, dass die Kamera den Personen folgte. Ich selbst habe das einmal ,fliessende Nahaufnahmen' genannt. Wir waren bestrebt, steife Kamerafahrten oder Kamerafahrten um der Kamerafahrten willen zu vermeiden. Wir machten mehrmals sehr lange Einstellungen: von 8 bis 10 Minuten. Aber der Zuschauer sollte die Kamerafahrt nicht bemerken. Beabsichtigt war, immer die Gesichter der Schauspieler in den Mittelpunkt zu stellen. Man soll ihre Gedanken lesen können, möglichst auch dann, wenn der Andere spricht. Warum muss eigentlich eine Dialogsequenz immer in den gewohnten Einstellungen ablaufen? Also so, dass man entweder die Personen im Profil bringt oder über den Rücken des anderen. In einer Dialogsequenz sind beide Gesichter wichtig.

Trolle: Warum fehlen hier die Grossaufnahmen?

Dreyer: Sie waren sinnvoll in JEANNE D' ARC, nicht aber in GERTRUD. Hier wollte ich kleine Gruppen mit der Kamera einfangen. Trotzdem glaube ich, dass in GERTRUD die Kamera den Gesichtern näher ist als in gewöhnlichen Filmen.

Trolle: Man wirft Ihnen oft vor, ,langsame' Filme gedreht zu haben. So auch jetzt wieder.

Dreyer: Rhythmus und Milieu gehören zusammen. Das habe ich von dem ehrwürdigen Victor Sjöström gelernt. Ich erinnere mich noch genau an eine ganz bestimmte Episode; ich glaube, es war in INGMARSÖNNERA (1918). Die Bauern kamen zum Essen nach Hause. Die Handlung spielte auf einem der grossen schwedischen Bauernhöfe. Die Bauern kamen vom Felde, in ihrer schweren Gangart. Sie stürzten sich nicht an den Tisch, sondern kamen bedächtig und ruhig herein, nahmen ihre Mützen ab und brauchten eine Ewigkeit, um den Tisch zu erreichen. Als ich das zum ersten Mal sah, war ich fasziniert. Die ganze Geschichte wurde erst durch diese Szene glaubwürdig.

Trolle: Man kann bei allen Ihren Arbeiten immer wieder bestimmte Regeln, Arbeitsprinzipien feststellen. So zum Beispiel die geschlossenen Dekorationen.

Dreyer: Sie haben recht. Auch die Wohnung Kannings wurde wieder aus geschlossenen Zimmern hergestellt. Das schafft eine grössere Intimität. Die Schauspieler erhalten so nach und nach das Gefühl, dass es ihre Wohnung ist, dass es ihre Zimmer sind, in denen sie hier leben. Und das ist sehr wichtig.

Trolle: Haben Sie Improvisationen zugelassen? Und wollten Sie nicht eigentlich auch bei GERTRUD mit Laiendarstellern arbeiten?

Dreyer: Der Dialog verbietet ja in einem Film wie diesem eigentlich Improvisationen. Aber spontane Äusserungen aus einer bestimmten Situation heraus haben wir immer wieder erlebt. Ich liebe das, denn es wirkt fast immer richtig. Und in einem solchen Fall beschränken sich die Proben auf ein Minimum. Viel wird dann dem Zufall überlassen. Aber es kann leicht auch schief gehen, wenn man zu viel damit arbeitet. Für GERTRUD habe ich einige Probeaufnahmen mit Künstlern, nicht aber Schauspielern, gemacht. Das Ergebnis konnte mich nicht befriedigen. Ich habe oft mit Laiendarstellern gearbeitet und war mit ihnen sehr zufrieden. Aber hier handelte es sich um schwierige Partien, die nur mit Schauspielern zu bewältigen waren.

Trolle: Sie schreiben im Programmheft über Söderbergs Verhältnisse zur antiken griechischen Tragödie. Hat dieses Verhältnis auch bei Ihrer Konzeption eine Rolle gespielt?

Dreyer: Nein; meine Konzeption ist jedenfalls nicht bewusst davon beeinflusst worden. Möglicherweise kann man aber bei Söderberg einen gewissen Einfluss feststellen. Hinter seinem Drama ahnt man vielleicht die Konturen der Tragödie. Hätte Söderberg die klassische Tragödie direkt zu seinem Vorbild machen wollen, so wäre das durchaus möglich gewesen. Ich glaube vielmehr, dass Söderberg durch August Strindbergs ,Til Damaskus' beeinflusst wurde. Bestimmt hat er dieses Drama gekannt. GERTRUD ist ähnlich aufgebaut: in fünf Abteilungen und in Pyramidenform.

Trolle: Nun zu Parallelen in Ihrem eigenen Werk: von Milieu und Dekor her könnte man bestimmte Verbindungen zwischen GERTRUD und MIKAEL herstellen.

Dreyer: Ach so. Aber MIKAEL war ,grösseres Format'. Mit Absicht war das Milieu pseudokultiviert gehalten. Zu jener Zeit war es ja sehr ,modern', Altartafeln und Predigtstühle in die Wohnungen zu stellen.

Trolle: Gibt es Parallelen zwischen GERTRUD und der Anne aus DIES IRAE?

Dreyer: Ja, das kann man vielleicht sagen. Auch Anne wollte keine Kompromisse eingehen. Sie wollte ihre Forderungen durchsetzen, sie wollte den jungen Mann gewinnen. Als jener sie verriet, brach sie zusammen. Aber mir scheint doch, dass Gertrud die Situation besser und sicherer meistert; sie ist den Männern überlegen, begabter, charakterlich stärker.

Trolle: Frauen stehen sehr oft im Mittelpunkt Ihrer Filme. Warum?

Dreyer: Ich habe mich zu Themen nach meinem Gefühl entschlossen; entscheidend war, dass diese Themen für den Film geeignet waren, dass sie mir persönlich etwas zu sagen hatten.

Trolle: Und Ihre weiteren Pläne?

Dreyer: Ich habe mehrere Pläne. Was ich nun hervorheben soll, ist schwer zu sagen. Alles hängt davon ab, ob mir irgendwer ein freundschaftliches Angebot zu machen hat. Sehr gern würde ich MEDEA von Euripides verfilmen. In klassischer Form, aber mit modernen Augen gesehen. KRISTI LIV und MEDEA - beide möchte ich sehr gern in Farbe drehen.       Borge Trolle

(Anmerkung der Redaktion: Unser Mitarbeiter B. Trolle sprach im Januar 1965 mit Carl Th. Dreyer; dieses Interview erscheint gleichzeitig in der schwedischen Zeitschrift "Filmrutan".)
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Das heutige Schweden und die Filme Bo Widerbergs

Im südschwedischen Schonen, dieser sanft gewellten Landschaft, wo immer ein leichter Wind weht und man überall das nahe Meer zu riechen glaubt, ist es Sommer. Wie jedes Jahr um diese Zeit hat Keve, der Regisseur, seine Freunde zu einem gemeinsamen Wochenende in sein weissgekalktes Sommerhaus eingeladen, Inger, das Mannequin, Ben, den Schauspieler, ein Dutzend Leute aus dem Dorf. Man wird im Freien essen und trinken, die warme Nacht geniessen und fröhlich sein. Bevor die Gäste kommen, vertreibt man sich noch ein wenig die Zeit mit einem Spiel, das man den Kindern abgesehen hat; man lässt an langen Schnuren grosse Drachen steigen, die sich weit über die Küste erheben. Ein Zeitvertreib, so scheint es zunächst; aber allmählich wird dieses Spiel ernst, wichtiger als alles andere. Während man den Drachen nachträumt, beginnt man sich zu fragen, was eigentlich der Beruf einem bedeute. Das Ergebnis: nichts. Was besitzt überhaupt noch Wichtigkeit? Was nimmt man denn eigentlich ernst? Ist nicht alles, was einem gemeinhin wichtig erscheint, nicht längst schon Spiel, Zeitvertreib? Wo ist der Unterschied zu den Drachen? Die sind wenigstens noch schön. Warum also sollte man sich nicht ihnen widmen? Und unmerklich werden die Drachen zum Symbol für eine Lebenshaltung von Menschen, die keine wirklich wichtigen Dinge mehr kennen, deren Engagement in irgendeiner Form weder notwendig noch lohnend scheint, die nicht von der Ernsthaftigkeit einer Sache zu überzeugen sind und auf ihre Fragen weder eine Antwort finden noch finden wollen.

Ben ist eigens aus Amerika gekommen, um mit Keve einen Film zu drehen. In zunehmendem Masse erschreckt ihn die Haltung der anderen, die er anfangs amüsant fand. Er sucht zur Orientierung nach etwas Konkretem und fragt deshalb Keve, wie er sich die Rolle in dem geplanten Film denke. Aber Keve ist nichts gleichgültiger als dieser Film, den er demnächst drehen wird. Ihn interessiere vielmehr, wie man einen ganz leichten Drachen für die Morgenwinde bauen könne. Daraufhin verlässt Ben wortlos diese Menschen, bei denen er sich nicht klar ist, ob sie unzurechnungsfähig sind oder nur nutzlos.

Keve arbeitet an einem neuen Film. Es wird eine Szene mit einem Arbeiter an der Werkbank aufgenommen. Immer wieder lässt Keve abbrechen. Die Auffassung des Schauspielers von seiner Rolle scheint ihm nicht abstrakt genug. Als der Schauspieler resigniert und die Szene alles Lebendige verloren hat, ist Keve zufrieden. Doch kaum wird die nächste Szene vorbereitet, kommen ihm Zweifel; warum andererseits soll er es nun wieder ändern? Auch hier: Gleichgültigkeit der Aufgabe gegenüber, Unsicherheit, Neigung zur Distanz; die direkte Verbindung zu Realität und Natürlichkeit scheint abhanden gekommen, übrig blieb eine kühle Hülle, an der Empfindungen spurlos abgleiten.

Inger und Keves Frau haben die anderen auf dem Rummelplatz verloren. In der Morgendämmerung wandern sie an der Küste entlang melancholisch-beschwipst nach Hause zurück. Dabei sagen sie abwechselnd - halb Dialog, halb Monolog - monoton einen Katalog von Aussprüchen herunter, die in der öffentlichen Diskussion immer wieder fallen, wenn von den geringeren Rechten und den grösseren Pflichten der Frau die Rede ist. Aber selbst, wenn sie es mit Pathos versuchen, können Inger und Anne über diese Klagen nur lachen oder die Achseln zucken. Das, wofür im Extremfall die Suffragetten gekämpft haben, scheint ihnen nur der Ironie wert, obgleich beide Grund zur Klage hätten. Aber das ist ihnen gleichgültig. Wozu sich aufregen? Ist es denn so wichtig? Was überhaupt ist wichtig?

Keve hat ein Verhältnis mit der Frau seines Freundes. Beide setzen ihre Ehe aufs Spiel. Was tauschen sie dafür ein? Glück und Ruhe? Das Glück dauert nur ein paar Minuten, dann stellt sich wieder Gleichgültigkeit ein, ebenso ist es mit der Ruhe. Eines Tages trennen sie sich, weil Evabritt die Lüge nicht länger ertragen kann. Keve versteht sie nicht, denn er, sagt er ihr gleichgültig, tue ohnehin nie etwas anderes als lügen. Evabritt antwortet, sie habe keinen Beruf.

Inger geht zu Bett. Sie leert ein Röhrchen mit Schlaftabletten. Ist sie am nächsten Morgen etwa tot? Sie hat lediglich auf dem Nachttisch aus Tabletten ihren Namen zusammengelegt. Spiel selbst mit dem Tod; was macht es schon aus, ob man die Tabletten schluckt oder nur makabre Scherze treibt?

Keves Geliebte und ihr Mann, ein Dozent, haben eine hübsche Wohnung, modern eingerichtet, recht geschmackvoll; an der Wand aber hängt ein sentimentales Bild von Paris. Die Komposition lässt auf geschmackliche Unsicherheit, auf mangelndes Selbstverständnis, auf ein Schwanken zwischen Kultiviertheit und Kleinbürgertum schliessen. Wohl fühlen sich Evabritt und ihr Mann in ihrem Zuhause nicht.

Fünf Impressionen aus Bo Widerbergs neuem Film KÄRLEK 65 (Liebe 65), Bilder, wie sich noch viele andere finden liessen und wie sie bezeichnend für diesen Film sind. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ausserordentlich präzise die Atmosphäre einfangen und widerspiegeln, die für das heutige Schweden typisch und zugleich symptomatisch ist.

Für Schweden stellt der Krieg eine rein historische Angelegenheit dar. Der Bau von atomsicheren Räumlichkeiten in den Grossstädten hindert nicht, dass eine Bedrohung von der Bevölkerung theoretisch kaum wahrgenommen wird. Der Frieden ist der natürliche Zustand.

Schweden hat sich durch die rasche Industrialisierung und das damit verbundene gestiegene Einkommen zu einem Wohlfahrtsstaat par excellence entwickeln können. Not ist ein fremder Begriff geworden. Für Frauen, Kinder, Alte, Kranke, körperlich oder geistig Behinderte sorgt in jedem Fall das Gemeinwesen. Ein Risiko ist gewissermassen unmöglich geworden. Wohin man blickt, Sicherheit, Streben nach Fortschritt und, wenn möglich, noch mehr Sicherheit. Der Staat kümmert sich um alle Bedürfnisse und eventuelle Komplikationen. Der Bürger zahlt seine hohen Steuern und braucht sich als Gegengabe um nichts mehr zu kümmern. Er kann sich ganz auf sein Privatleben konzentrieren. Das Resultat ist eine allgemeine Unlust, eine ungreifbare Unzufriedenheit. Die Initiative des einzelnen erschlafft, er zeigt sich zunehmend gleichgültig. Er weiss, die sozialen und politischen Probleme werden auf die bestmögliche Weise von den dafür Zuständigen gelöst. Engagement erübrigt sich. Man kann sich höchstens ereifern für die Beseitigung der allerletzten Tabus und für kulturelle Fragen. Fertigwerden muss man lediglich mit den eigenen psychologischen Problemen. Als Reaktion auf diesen Idealzustand lässt sich entweder ein Ausweichen auf spielerische, zeitvertreibende Betätigungen oder ein tatenloses Abwarten oder Warten auf Veränderungen von aussen beobachten.

Und das zweite: die neuen Probleme für Schweden sind soziologischer Natur. Verursacht durch die Industrialisierung und die noch schnellere, auch heute nicht abgeschlossene Urbanisierung haben sich die gesellschaftlichen Strukturen verändert. Eine neue Mittelklasse ist entstanden, bei der noch keineswegs Klarheit über ihren jetzigen oder zukünftigen Standort herrscht. Unsicherheit in Geschmack und Verhalten markiert die Suche nach neuen Orientierungspunkten. Ferner fehlt der neu sich konstituierenden Gesellschaft eine angemessene Moral. Eine für viele andere Völker erstaunliche Grosszügigkeit in Fragen der Moral zeugt zum Teil von echter Emanzipation, zum Teil von Experimenten im Bereich des Möglichen.

Diese Fakten, die das Bild des modernen Schweden bestimmen, veranschaulicht Widerberg in seinem Film exakter als irgendein anderer schwedischer Regisseur. Die Versuche in dieser Richtung - von ihnen wird im folgenden noch die Rede sein - sind gerade in letzter Zeit ausserordentlich zahlreich. Widerbergs Film unterscheidet sich jedoch grundlegend von allen anderen schwedischen Produktionen dadurch, dass er glaubhaft die Komplexität einer Situation und einer Welt demonstriert, die sich im Film nur noch unter den Bedingungen der Oberflächlichkeit und verzerrenden Einseitigkeit deuten lässt. Ebenso verzichtet er auf gleichnishafte Darstellung, wie sie etwa Fritz Lang mit "M" unternahm. Die Gegenwart, wie sie sich uns darbietet, sagt Widerberg, ist im Film weniger denn je umfassend analysierbar. Folglich enthält sein Film keine Deutung, er zeigt weder eine Entwicklung noch untersucht er irgendwelche Hintergründe, sondern konstatiert vorgefundene Tatsachen, die er an den Zuschauer weitergibt. Statt zu koordinieren und damit eventuell falsche Bezüge herzustellen, wählt er Szenen aus, die ihm symptomatisch scheinen, und setzt sie hintereinander. Die Schlüsse hat allein der Betrachter zu ziehen.

Mit dieser Attitüde - man mag sie Bankrotterklärung gegenüber der Realität, Anfang höherer Einsicht oder berechtigte Bescheidenheit nennen - steht Widerberg in Schweden bisher allein. Vergleichbare Beispiele finden sich in Ländern, die ein Schwede im Gegensatz zu seiner Heimat wehmütig als einen Teil von Europa bezeichnet: in Frankreich und Italien. Dasselbe Verfahren wendete Fellini in LA DOLCE VITA an, nicht dagegen in 8V2, mit dem KÄRLEK 65 fälschlicherweise verglichen worden ist, weil sich in beiden Filmen auch biografische Bezüge und Reflektionen über den Beruf des Regisseurs finden. Vergleichbar dagegen ist bis zu einem gewissen Grade Antonionis DESERTO ROSSO, vor allem aber Godards LA FEMME MARIEE. Diese Stufe der Einsicht, die für einen schwedischen Regisseur neu ist, hat Widerberg (geboren 1930) mit KÄRLEK 65 zum erstenmal erreicht. Dass ihn die Konzeption dieses Films seit langem beschäftigt hatte, beweisen die Pläne, die schon 1963 vorlagen, aber immer wieder verändert wurden. Widerberg näherte sich der Methode, die er in KÄRLAK 65 praktiziert, schrittweise. Aufschlussreich für diese Entwicklung sind seine beiden vorausgegangenen Spielfilme BARNVOGN (DER KINDERWAGEN) und KVARTERET KORPEN( DAS RABENVIERTEL). Beide haben Malmö zum Schauplatz, Widerbergs Heimatstadt, von der er erst vor einigen Monaten nach Stockholm übersiedeln musste, weil in Schweden auf die Dauer kein Regisseur ausserhalb der Hauptstadt existieren kann.

BARNVOGN, von jungen und bis dahin unbekannten Schauspielern interpretiert, behandelte ein aktuelles und zu jenem Zeitpunkt einigermassen brisantes Thema. Es ging um junge Leute, von denen die Umwelt verlangte, dass sie sich wie Erwachsene aufführten und sie entsprechend eingesetzt hatte und behandelte. Die jungen Leute hatten ihre Rolle akzeptiert, ohne die Erwartungen imgrunde erfüllen zu können, da ihnen weder die eigene Person noch deren Funktion in der Gesellschaft hinreichend bekannt war. Folglich mussten sie eines Tages in einen Konflikt geraten. Der Anstoss dazu ist für Britt, die Fabrikarbeiterin, die Tatsache, dass sie aus einer höchst unverbindlichen Beziehung ein Kind erwartet. Nachdem die gewohnte, scheinbar selbstverständliche Ordnung zusammengebrochen ist, wird ihr klar, dass sie sich ihre Massstäbe und Regeln selbst schaffen muss. Sie entscheidet sich gegen die scheinbar unverfängliche Unverbindlichkeit für persönliche Verantwortung und wird damit zu einer eigenständigen Persönlichkeit. Dem Vater ihres Kindes wird bewusst, dass seine Bereitschaft zur Übernahme der Verantwortung in Bezug auf Britt zu spät kommt. Auch er ist durch die veränderten Umstände reifer geworden. Björn, der Kunststudent, der eine Weile für Britt sorgt, fühlt sich der Verantwortung, die er übernehmen müsste, nicht gewachsen und geht nach Paris, in der Hoffnung, dort zu sich selbst zu finden.

Alle drei Jugendlichen geraten in einen Konflikt. Die Schuld daran, zeigt Widerberg, liegt aber nicht bei ihnen, sondern bei der Gesellschaft, die von ihnen das Falsche oder besser, zu früh etwas verlangt. Inwieweit die jungen Menschen mit ihren Schwierigkeiten fertig werden, hängt von ihrer Charakterstärke und vom Zufall ab. Die Gesellschaft zumindest hilft ihnen nicht, sondern vermehrt sogar noch die Widerstände.

KVARTERET KORPEN basiert auf einem Stoff aus der jüngeren Vergangenheit. Die Hauptperson ist wiederum ein junger Mensch, der im Milieu einer Arbeitersiedlung aufwächst. Täglich wird er mit der Armut, der schweren Arbeit der Mutter und dem ständig betrunkenen Vater konfrontiert. Die ersten Auswirkungen der Machtergreifung in Deutschland überschatten das tägliche Leben. Anders bemüht sich, die Verhältnisse zu durchschauen, aber je mehr ihm das gelingt, umso bewusster wird ihm auch die eigene Ohnmacht. Da er die Zustände nicht verändern 'kann, befürchtet er, eines Tages selbst ihr Opfer zu werden. Zunächst flüchtet er sich in die irreale Welt eines Romans, den er schreibt, später verlässt er das Rabenviertel ohne weitere Rücksicht auf seine zurückbleibende Familie. Wieder sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse, die einen jungen Menschen aus der Bahn werfen. Ob er einen Weg findet und ob dieser Weg der richtige ist, hängt auch hier ebensosehr von den Personen wie vom Zufall ab. In jedem Fall versagen die Institutionen, denen an sich die Unterstützung obläge, oder sie sind machtlos.

In diesen beiden ersten Filmen zeigte Widerberg sich als kämpferischer Kritiker einer versagenden Gesellschaft und ihrer unmenschlichen Aspekte. Obgleich er die Aussichten für die Zukunft sehr pessimistisch darstellte, bestand aber doch immerhin für einige seiner Personen ein Ausweg. Zumindest überzeugten die ersten beiden Filme im Gegensatz zu seinem letzten die Zuschauer von der Möglichkeit einer Entwicklung und Veränderung, zum Positiven wie zum Negativen. Es gab klar angreifbare und damit zu benennende Ursachen, für deren Beseitigung oder Umwandlung sich eintreten liess. Es wurde nicht in erster Linie konstatiert, sondern polemisiert. Nicht umsonst erinnert KVARTERET KORPEN immer wieder an den Film KUHLE WAMPE von Bert Brecht und Slatan Dudow. Ebenso wie dieser rufen die beiden ersten Filme von Widerberg geradezu zur Veränderung auf.

Mit dieser Attacke auf die gegenwärtige Gesellschaft und der Analyse zeitgemässer Erscheinungen stand Widerberg nicht allein. Mindestens ebenbürtig war ihm darin der fast gleichaltrige schwedische Regisseur finnischer Abstammung Jörn Donner, der wie Widerberg und Vilgot Sjöman von der Literatur zum Film gekommen war. Zur gleichen Zeit wie Widerberg drehte Donner seinen ersten Spielfilm SÖNDAG I SEPTEMBER (Ein Sonntag im September) und bald darauf ATT ÄLSKA (Lieben). Beide Filme könnte man als Chroniken einer Liebe bezeichnen. SÖNDAG I SEPTEMBER beschreibt die Verliebtheit eines jungen Paares, das endlich wunschgemäss heiraten kann. Sie beziehen eine neue Wohnung, der Mann verdient gut, aber die beiden leben sich zusehends auseinander. Sichtbare Gründe sind eigentlich keine vorhanden. Schliesslich verlässt die Frau ihren Mann. Nach einiger Zeit kehrt sie, inzwischen selbstbewusster geworden, noch einmal zurück, aber wiederum stellen die beiden fest, dass nichts sie mehr verbindet.

ATT ÄLSKA zeigt eine Frau, die sich in ihrer Ehe zufrieden glaubt. Dann verunglückt ihr Mann. Sie empfindet keine Trauer und wird schon nach kurzer Zeit die Geliebte eines anderen Mannes. Erst jetzt entdeckt sie, wie wenig ihre Ehe ihr bedeutet hat. Allmählich wächst in ihr ein ungekanntes Selbstbewusstsein, das sie alles unter neuen, kritischen Aspekten betrachten lässt.

Beide Filme haben die Emanzipation der Frau zum Thema. Während Donner in seinen ersten Film eine unüberwindliche Kontaktarmut und Entfremdung in den menschlichen Beziehungen feststellt, deutet er im zweiten Film die - allerdings zwiespältige - Möglichkeit eines Auswegs an. Damit stimmen Donners Filme prinzipiell mit den ersten beiden Filmen Widerbergs überein. Was sie unterscheidet, ist bei Widerberg ein deutlicherer Hang zur Polemik. Der dadurch entstehenden Gefahr des möglicherweise allzu Abstrakten wirkt ein starker Beiklang des Authentischen entgegen. Diese Authentizität lässt sich direkt nachweisen, wenn Widerberg in seinen Film Sequenzen einschneidet, die er vorher mit der Handkamera in den Arbeitervierteln von Malmö aufgenommen hat. Ebenso schafft der von der nouvelle vague beeinflusste Stil von BARNVOGN eine Atmosphäre des Authentischen. Was weiterhin über das direkt Belegbare hinausgeht, lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass Widerberg in der Provinz aufgewachsen ist und bewusst das von dem Stockholmer Milieu so verschiedene seiner Heimatstadt immer wieder darzustellen versucht hat.

Damit hängen wieder die biografischen Bezüge zusammen, die sich in jedem seiner Filme unterschiedlich zahlreich finden. Widerberg ist der Sohn eines Malers und schrieb, bevor er zu filmen begann, vier Romane und zwei Bände gesammelter Erzählungen; erinnert sei nur an die deutlichsten Parallelen in seinen Filmen: Björn in BARNVOGN ist der Sohn eines Malers und einer Bildhauerin; Anders in KVARTERET KORPEN schreibt an einem Roman und träumt davon, eines Tages als Schriftsteller Karriere zu machen; Keve in KÄRLEK 65 ist Regisseur (.Widerberg hatte zunächst daran gedacht, ihn als Maler oder Schriftsteller zu beschreiben, sich im Laufe der Zeit jedoch für den Regisseur entschieden. Eigentlich war ihm erst nach dieser Entscheidung sein Entwurf drehreif erschienen).

Der Polemik und der generellen Schärfe seiner ersten Filme stand eine Neigung zu schönen Bildern und kleinen Spielereien entgegen, die Widerberg in der Gunst des grossen Publikums allerdings nur von Vorteil war. In KÄRLEK 65 gelang es ihm, diese Neigung mit seinen übrigen Intentionen in Einklang zu bringen. Wenn die Drachen in der Luft tanzen oder am nächsten Morgen wie müde Lebewesen schlafend überall im Haus liegen, ist das nicht mehr nur Beiwerk. Auch das symbolische allgemeine Showdown, das die beiden heimkehrenden Frauen in der Küche veranstalten, bekommt im Anschluss an ihren Dialog in der Morgendämmerung seine Bedeutung. Dass Widerberg bei der Planung für den Film ursprünglich an das Grundmuster von Figaros Hochzeit gedacht hat, ist im fertigen Film kaum noch nachzuweisen.

Gänzlich die Oberhand hatten die lyrischen Bilder dagegen in Widerbergs erstem Film, dem Kurzfilm für das Fernsehen POJKEN OCH DRAKEN (Der Junge und der Drachen) gewonnen, wo er in seiner technischen Unerfahrenheit unter den Einfluss des Kameramannes Jan Troell geraten war, der in seinem ersten eigenen Film, der schwedischen Episode der skandinavischen Vierländer-Produktion "4 x 4" dem "zeitlos Schönen" seine ganze Liebe und Sorgfalt angedeihen liess. In POJKEN OCH DRAKEN tritt folglich das von Widerberg gewählte Thema, das durchaus sozialkritische Ansatzpunkte bot, hinter einer Freude an den kleinen Dingen zurück. Gräser, Katzen, Boote und Kinder wurden wichtiger als die Misere der elenden Wohnbaracken am schmutzigen Hafenbecken oder die Armut ihrer Bewohner. Schon in BARNVOGN aber gelang es Widerberg, diesen Mangel einzudämmen. Zum Beispiel spielt hier ein glitzernder Kronleuchter eine wichtige symbolische Rolle. Er wird etwas zu oft gezeigt und dreht sich an einer Stelle etwas zu lange. Widerstrebend gesteht der Regisseur ein, dass diese Montage nicht von ihm, sondern von Godards Cutter stamme, dem er den Film in Paris vorgeführt habe. Noch eine andere Verbindung zu Godard weist dieser Film auf: als Björn sich vor dem Abflug nach Paris im Waschraum des Flughafens die Hände wäscht, muss er - und der Zuschauer - eine volle Minute warten, bis das Handtuch automatisch weiterspringt. Diese Szene gefiel Godard so, dass er sie in BANDE A PART quasi als heimliche hommage in die Schweigeminute der Drei im Vorstadtcafé abwandelte.

In KVARTERET KORPEN wurde dem Poetischen wieder mehr Platz eingeräumt. Sequenzen wie das Kinderbegräbnis oder das Schlussbild eines kleinen Mädchens, das mit einem Schirm über dem Boden schwebt, besitzen nur teilweise gerechtfertigte Eigenständigkeit.

Zielstrebig hat Widerberg für eine neue Generation schwedischer Regisseure durchzusetzen geholfen, was er 1960 als Kritiker des Stockholmer "Expressen" unter dem Einfluss der Thesen der Kritiker-Regisseure von den Cahiers du Cinéma proklamierte (Eine Zusammenfassung seiner Aufsätze erschien 1962 in Buchform unter dem Titel "Visionen I Svensk Film"). Die Erstarrung des Films, die Bürokratisierung der gesamten Filmindustrie und ein allgemeines hartnäckiges Beharren im Konventionellen sind weitgehend überwunden. Jungen Kräften soll durch die Einrichtung einer seit vergangenem Herbst bestehenden Filmschule der Zugang zu den Ateliers geebnet werden, den Regisseure wie Widerberg, Donner oder Sjöman sich mühsam erkämpfen mussten. Trotz verschiedener Reformen werden sich die jetzigen Konstellationen im schwedischen Filmgeschehen, die sich inzwischen als zweckmässig erwiesen haben, in Zukunft kaum noch wesentlich verändern. Nachdem Vilgot Sjöman mit seinem letzten Film KLANNINGEN (Das Kleid) einerseits und Mai Zetterling mit ÄLSKANDE PAAR (Liebespaare) andererseits eindeutig die verschiedenen Varianten einer modernisierten Bergman-Nachfolge praktizieren und Hans Abramson oder Gunnar Höglund aktuelle Konsumware liefern, konzentrieren sich die Zukunftserwartungen augenblicklich hauptsächlich auf Jörn Donner, der bislang die Versprechungen seiner ersten beiden Filme noch nicht eingelöst hat und Bo Widerberg, der zunächst eine sechsmonatige Studienreise nach Hollywood unternimmt.

Zu seinen weiteren Plänen lässt sich vorerst nur wenig sagen. Er plant einen Farbfilm über eine Liebesgeschichte im Zirkusmilieu, die um die Jahrhundertwende spielen soll. Widerberg schilderte zwar mit viel Begeisterung einige schöne Einstellungen, die aber ein Urteil verfrüht erscheinen lassen. Sein zweites Thema ist ein Film über das Leben von fünf Männern in Stockholm. Dieser Entwurf fügt sich auf den ersten Blick eher dem Stil seiner bisherigen Arbeiten ein, zumal schon feststeht, dass einer der Männer - vermutlich ein neuer biografischer Bezug - Journalist sein wird. Als weitere Titel nennt Widerberg "Der grüne Drachen" und "Ein Fahrrad für zwei" und deutet an, dass es sich wahrscheinlich um Komödien handeln wird.       Barbara Bernauer 7P


Die Grenzen der Schaffensfreiheit von Jerzy Toeplitz

"Wir laden die Produktionsverbände von Hollywood zur Zusammenarbeit mit uns ein, um die feindlichen Elemente zu eliminieren - die Unschuldigen zu schützen, Freiheit des Wortes und Freiheit für die Lichtspielbühnen zu garantieren, wenn von irgendwoher eine sie bedrohende Gefahr auftauchen sollte."       Eric Johnston, 1947

"Das schlimmste Übel der Zensur ist, dass sie gegen die Grundsätze unserer Gerichtsbarkeit verstösst, wobei sie den Film bzw. den Filmproduzenten so lange als schuldig ansieht, bis er seine Unschuld bewiesen hat."       Richter Luther Alverson, Georgia, 1961

Die Zehn aus Hollywood

Hollywood war in Amerika in den dreissiger und vierziger Jahren als bedeutendes Zentrum liberaler, ja sogar radikaler Gesinnung bekannt. In der Zeit der wachsenden faschistischen Bedrohung, während des Bürgerkrieges in Spanien und der Hitlerüberfälle verbargen die Hauptvertreter der Filmkolonie, also Schauspieler, Regisseure, Schriftsteller und Produzenten ihre Überzeugungen nicht. In Kalifornien war eine einige tausend Mitglieder zählende aktive "Anti-Hitler-Liga" tätig. Die Filmstadt bereitete Vittorio Mussolini einen Boykott, als er im Jahre 1937 nach dort kam, um die Arbeitsmethoden der amerikanischen Kinematografie zu studieren. Im Gegensatz dazu wurde der aus dem III. Reich emigrierte grosse Schriftsteller Thomas Mann mit grossem Enthusiasmus empfangen.

Diese Solidaritätsmanifestationen mit der demokratischen Welt, mit den fortschrittlichen Kräften gefielen der örtlichen Reaktion aber keineswegs. Kalifornien ist ein Staat, in dem die Rechte, besonders in der republikanischen Partei, mächtig ist. Hier entstanden und entstehen noch bis zum heutigen Tage faschistische Gruppierungen, wie die berüchtigte Ku-Klux-Klan-Rassenorganisation oder die John Birch Society. In Hollywood selbst, im Filmzentrum, entstand im Jahre 1944 ein äusserst rechtgerichteter Verein, der den langen und pompösen Namen trägt "Motion Picture Alliance for the Preservätion of American Ideals". In einem bestimmten Zeitabschnitt waren uniformierte Gruppen - Verehrer Adolfs und Benitos - tätig, die sich "Hollywood-Husaren" und "Leichte Kavallerie" nannten. Aber weder die Beschützer der amerikanischen Ideale noch die Husaren hatten Prestige in der amerikanischen Kinematografie gewonnen. In den Ateliers und Gewerkschaften, in den Vereinigungen und Klubs wurden sie mit einem geringschätzigen Lächeln behandelt. Sie waren nicht so gefährlich wie lächerlich.

Diese Situation währte bis gegen Ende des Jahres 1947, das heisst bis zu dem Zeitpunkt, als das Un-American Activities Committee unter dem Vorsitz des Abgeordneten der Repräsentantenkammer, des Republikaners J. Parnell Thomas, in Hollywood auftauchte. Die Kommission, die seit vielen Monaten in Washington beriet, hegte schon seit langem den Wunsch, sich davon zu überzeugen, wie weit und wie tief die "kommunistische Infiltration" in Hollywood reichte. Sowohl die Vertreter der Produktionszentren als auch der Filmindustrie, mit Eric Johnston an der Spitze, betrachteten die Aktion der Kommission übereinstimmend als konstitutionswidrig, überdies waren sie der Ansicht, dass die Kommission ein schlechtes Licht auf die amerikanische Kinematografie werfe, die doch vor dem Kriege und auch während des Krieges überreich Beweise ihrer absoluten Loyalität erbracht habe. Schon im Mai 1947 beklagte sich der Vorsitzende Thomas, dass Hollywood nicht mit ihm zusammenarbeiten wolle. Das rief einen Sturm von Antworten der direkt oder indirekt Interessierten hervor. In der Filmpresse und in mündlichen Erklärungen wurde mit scharfen Worten nicht gegeizt, die an die Adresse der "Unamerikanischen Kommission" gerichtet waren. Im Oktober berief der durch diesen Widerstand nicht abgeschreckte oder vielleicht gerade gereizte Thomas Zeugen nach Washington. Sie sollten auf die Fragen der Kommissionsmitglieder antworten und Licht auf die "rote Pest" in Hollywood werfen. Die erste Frage lautete: "Sind oder waren Sie Mitglied der Kommunistischen Partei?" Die Zeugen, die später als "Feindselige" oder "Nichtmitarbeitende" bezeichnet wurden, verweigerten die Aussage auf diese Frage, indem sie sich auf die konstitutionellen Garantieren "First Amendment" ("Erste Verbesserung", die dem Bürger Wort-, Schrift- und Gewissensfreiheit garantiert) beriefen. John Howard Lawson, der erste Vorsitzende des Vereins der Filmschriftsteller, der im Jahre 1933 mit grossem Beifall für diesen Posten gewählt wurde, sagte: "Es überschreitet absolut die Befugnisse dieser Kommission, meine Zugehörigkeit zu irgendeiner Organisation zu untersuchen." Achtzehn andere schöpferische Mitarbeiter eiferten dem Beispiel Lawsons nach und brachten dadurch den Vorsitzenden zu Wutausbrüchen. Dieser "Feindseligen" gab es eigentlich neunzehn, aber nur gegenüber den ersten zehn forderte die Kommission entsprechende gesetzliche Massnahmen. Die Aussageverweigerung wurde als Beleidigung des Gerichts angesehen; man war der Ansicht, dass die durch den Kongress einberufene Kommission die Staatsgewalt repräsentiert. Der Kongress vertrat auf der Plenarsitzung, die Anfang November 1947 stattfand, die Ansicht der Kommission und erkannte durch Abstimmung mit einer Stimmenmehrheit von 347 gegenüber 17 Stimmen zehn Zeugen für schuldig, das Gericht beleidigt zu haben. Drei Jahre später, nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten von Berufungen und Änderungen des Beschlusses, kamen die "Feindseligen" ins Gefängnis, um Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu anderthalb Jahren abzusitzen. So begann ein neues unehrenhaftes Kapitel in der Geschichte des amerikanischen Films. Die Folgen eines solchen Vergehens überschritten übrigens erheblich die Grenzen der Filmwelt; sie fanden ein Echo im Rundfunk, im Fernsehen, im Theater - in allen Bereichen des künstlerischen Schaffens, und später beschränkten sie sich nicht nur auf die Welt der Kunst. In den fünfziger Jahren, als der Senator McCarthy wütete, begann die Ära der "Hexenjagden". Die "Zehn aus Hollywood" - das war nur der Anfang einer Lawine.

Die Filmindustrie war anfangs willens, ihre Mitarbeiter zu schützen. Noch kurz vor dem Zwischenfall mit den Zeugen brachte der Verein der Filmproduzenten in öffentlich gedruckten Äusserungen seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass sich die Kommission für Hollywood interessiere. "Wir sind es satt, dass an unsere Adresse immer und immer wieder unverantwortliche und unbegründete Anschuldigungen gerichtet werden. Wenn wir uns eines Vergehens schuldig gemacht haben, würden wir gern etwas darüber erfahren. Wenn wir aber nichts Unrechtes begangen haben, wollen wir auch von den Kongresskommissionen nicht schikaniert werden." Dies waren Worte eines beleidigten Stolzes, die deutlich zu verstehen gaben: "Wir werden nicht nach Canossa gehen und uns auch nicht vor Thomas demütigen". In Hollywood wurde auf Initiative von William Wyler und John Huston das "Komitee der Ersten Verbesserung" ins Leben gerufen, das sich zur Aufgabe machte, den Gesetzesgrundsatz der Aussageverweigerung zu schützen. Die Namen bekannter Persönlichkeiten aufzuzählen, die ihren Beitritt zum Komitee erklärten, würde hier zuviel Raum einnehmen. Einige Dutzend Filmberühmtheiten - mit den prominentesten Stars an der Spitze - stellten sich der Kommission zum Kampf. Dies alles geschah aber noch vor dem Zwischenfall mit Lawson und vor dem Zusammenstoss in Washington.

Jetzt kühlte im Saal des Old House Building die Begeisterung der Verteidiger der konstitutionellen Freiheiten ab, und die Haltung der Industriellen unterlag einer grundlegenden Veränderung. Im Verlauf von einigen Tagen trat eine Wendung um 180 Grad ein, und Eric Johnston erklärte sich im Namen von fünfzig Mitgliedern dreier Branchenorganisationen: "Motion Picture Association of America", "Association of Motion Picture Producers" und "Society of Independent Motion Picture Producers" mit dem Standpunkt der Kommission solidarisch. Noch vor kurzem verteidigte er den Grundsatz, dass die Kommission kein Recht habe, Fragen nach der Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei zu stellen. Jetzt war er der Ansicht, dass die Zeugen kein Recht hätten, die Antwort auf diese Frage zu verweigern. Woher kam diese plötzliche Veränderung, die die bisherigen Grundsätze ins Wanken brachte? Auf diese Frage antwortete damals (im Jahre 1947) in den Spalten der New Yorker Zeitung "Daily News" nur noch ein Journalist - kein Fernsehstar - Ed Sullivan: "Hollywood bekam einen Schlag, der den Finanzgewaltigen aus der Wallstreet, die sechzig Millionen Dollar in Filmunternehmen investiert haben, nicht gefallen wird." Für sechzig Millionen Dollar musste man zehn Filmschaffende opfern. Dies wurde dem Produzenten nicht so sehr von seiner Vernunft als vielmehr von der Sorge um die eigene Haut diktiert.

In der Deklaration der Filmindustriellen, die am 24. November 1947 - nach tagelang währenden Beratungen im Hotel Waldorf Astoria in New York - herausgegeben wurde, wird folgendes festgestellt: "Wir werden sofort, und zwar ohne jede Entschädigung, diejenigen von den zehn Zeugen, die bei uns arbeiten, entlassen oder suspendieren, und werden sie erst zu dem Zeitpunkt wieder einstellen, an dem sie für unschuldig erklärt werden oder sich selbst von dem Vorwurf der Gerichtsbeleidigung reinwaschen und unter Eid aussagen, dass sie keine Kommunisten sind. Wir werden (sofern wir uns dessen bewusst sind) keinen Kommunisten oder ein Mitglied einer Partei beziehungsweise einer Gruppe beschäftigen, die Losungen verbreitet, die Regierung der Vereinigten Staaten mit Gewalt oder auch mit Hilfe illegaler oder zur Konstitution im Widerspruch stehender Mittel zu stürzen." Diese Erklärung bereitete der Kommission vollste Genugtuung, und sie kündigte gleichzeitig eine gründliche "Reinigung" in Hollywood an. Um den Wünschen Thomas' entgegenzukommen, verpflichteten sich die Leiter und Eigentümer von Filmunternehmen, "Ordnung" auf dem eigenen Terrain zu schaffen. Auf Grund welcher Kriterien und Angaben und mit Hilfe welcher Methoden sollte dies geschehen? Darüber war in der Deklaration nichts gesagt, indem man es mit dem Aufruf zur Mitarbeit an die Vereinigungen bewenden liess.

Die Angelegenheit der "Zehn" war einfach. Die Drehbuchautoren Alvah Bessie, Lester Cole, Ring Lardner Junior, John Howard Lawson, Albert Maltz, Samuel Ornitz, Adrian Scott und Dalton Trumbo sowie der Drehbuchautor und Regisseur Herbert Biberman und der Regisseur Edward Dmytryk wurden entlassen, und nach einer gewissen Zeit befanden sie sich im Gefängnis. Die übrigen neun "nichtmitarbeitenden" Zeugen wurden automatisch aus der Produktionsgesellschaft eliminiert. Wie sollte man aber mit den des Kommunismus Verdächtigten fertigwerden, die vor der Kommission nicht aufgetreten waren und sich nicht auf die "Erste Verbesserung der Konstitution" beriefen? Die Zusage einer Generalordnung wurde feierlich gegeben. Man musste sie auch halten.

Loyalitätsdeklaration

Die fünfziger Jahre waren ein Zeitabschnitt, in dem in den Produktionsgesellschaften in Hollywood, bei den Rundfunk- und Fernsehstationen eine besondere Art Inquisition am Werk war. Sie war schlimmer als die spanische Inquisition, weil sie inoffiziell, ungreifbar war und sich der Kontrolle entzog. In einer Atmosphäre von Angst, Denunziationen, Erpressungen und Drohungen wurde der Ausscheidungsprozess der Verdächtigen vollzogen. Es wurden Menschen ergriffen und verfolgt, die irgendwelche - ja sogar geringste, rein gesellschaftliche - Beziehungen zur Linken hatten. Dabei fiel unter den Begriff "kommunistische Linke" alles, was den äusserst rechtsgerichteten, reaktionären, eindeutig faschistischen "Hütern der amerikanischen Ideale" verdächtig war.

Der "Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischen Verhaltens" befasste sich im Jahre 1951 erneut mit der Prüfung der Loyalität in Hollywood. An ihrer Spitze stand jetzt John S. Wood, der den wegen Veruntreuungen verhafteten Parnell Thomas ablöste. Zwei Jahre lang fanden Verhöre statt, und etwa neunzig Zeugen defilierten im Sitzungssaal. Die Mehrzahl von ihnen gehörte jetzt zu der Kategorie der "Freundschaftlichen". Es gab solche, die sich zur kommunistischen Tätigkeit in der Vergangenheit bekannten, und um sich Verdienstmöglichkeiten und das Wohlwollen der Arbeitgeber zu sichern, sprudelten sie nur so die Namen anderer Kompromittierter hervor. Die Denunziation wurde zu einer geschätzten Tugend, die von dem Vorsitzenden Wood sehr gepriesen wurde. In der Atmosphäre der moralischen Unterdrückung, in der Zeit, da der McCarthyismus eine geradezu offizielle Doktrin der amerikanischen Politik war, bedeutete diese "Mitarbeit" der Zeugen nichts Ungewöhnliches. Die Methoden, die angewandt wurden, um Geständnisse zu erpressen, konnten so manchen zerbrechen. Es bedurfte grosser Kraft, um sich für Not, Arbeitslosigkeit, oft sogar für den Verlust eines ganzen Lebenswerkes entscheiden zu können. Es gab aber auch Zeugen, die sich zur Parteimitgliedschaft und zur Teilnahme in verschiedenen Linksfront-Organisationen (wie sie öffentlich genannt wurden) bekannten, alle weiteren Aussagen verweigerten und sich dabei auf die "Fifth Amendment" (Fünfte Verbesserung der Konstitution) beriefen. Diese Verbesserung gestattete dem Beklagten, sich der Erteilung irgendwelcher Enthüllungen, die gegen ihn verwendet werden konnten, zu entziehen. Die Kommission betrachtete solcherart Absagen nicht als Gerichtsbeleidigung, aber die Produktionsgesellschaften entliessen in der Regel alle, die sich auf die "Fünfte Verbesserung" beriefen.

Die Kommission war nur eines der Inquisitionsorgane - das ungefährlichste -, denn es verbarg seine Tätigkeit nicht und war nach Meinung der Übereifrigen zu langsam und wenig leistungsfähig. Aus der Dokumentation, die sie der Filmindustrie freundlicherweise überliess, ging hervor, dass nur 350 Personen "verdächtigt" wurden. Wie war so etwas möglich? Auf dreissigtausend in den Produktionsgesellschaften Beschäftigte kaum etwas mehr als ein Prozent? Die übereifrigen konnten sich damit nicht zufriedengeben und gingen auf eigene Faust an die Arbeit. Die lächerliche und wenig geschätzte "Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideals" begann unter der Führung des neuen Vorsitzenden, Roy Brewer, eines rechtsstehenden Funktionärs der Gewerkschaften, in der Denunziantenaktion die erste Geige zu spielen. Brewer und seine Gefährten entschieden darüber, wer arbeiten durfte und wer nicht, und ihre Urteile wurden blind und ohne Vorbehalt von den Produktionsgesellschaften respektiert. Als ein anderes, ein "Einpersonen-Tribunal", war George Sokolsky, Journalist der Hearstpresse, in New York tätig. Auch seine Urteile, die auf Grund einer Analyse von Personalzetteln aus einer seit vielen Jahren bestehenden Kartothek gefällt wurden, waren ebenfalls verbindlich. Zum Kampf gegen die "Diversion" stellten sich auch die "Amerikanische Legion" - eine reaktionäre Organisation ehemaliger Frontkämpfer und - nicht zuletzt - Erpressungsschriften und Publikationen, die in Kalifornien und New York herausgegeben wurden. Die bekanntesten von ihnen waren "The Red Channels (Rote Kanäle) und "Counterattack" (Gegenangriff). So mancher befasste sich in seinem Bereich mit der Inquisition, indem er dienstfertig den sich dafür interessierenden Unternehmen Informationen zukommen liess.

Wie konnte sich eine umzingelte, angeklagte und in der Regel mit einem ganzen Reigen von Beiworten bedachte Person zur Wehr setzen? Das einzige System, das einen Erfolg versprach, war das Ablegen einer Loyalitätsdeklaration, die bestätigte, dass die Person niemals und nirgends Beziehungen zu den feindlichen Kräften unterhielt, dass sie weder Mitglied der Kommunistischen Partei noch einer verdächtigten Organisation war, und dass sie immer den antikommunistischen Idealen huldigte. Am besten war es, eine solche Formel vor dem "Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischen Verhaltens" vorzulesen, aber wenn dies unmöglich war, genügte der Notar und notariell beglaubigte Abschriften, die an alle interessierten Unternehmen gesandt wurden. Es kam jedoch vor, dass auch solche Deklarationen noch nicht ausreichten. Für das Recht auf Arbeit musste noch mit öffentlicher Reue bezahlt werden. Man musste sein Bedauern ausdrücken, dass man einmal vor langer Zeit einen halben Dollar für das Rote Kreuz des republikanischen Spanien gegeben hatte, oder dass man - eine gefährliche Sache - an einer gegen Hitler gerichteten Versammlung teilnahm. Es kam sogar vor, dass die Inquisitoren verlangten, man solle Namen von nicht rechtsdenkenden Bekannten angeben, und erst dann versprach man, das Opfer in Ruhe zu lassen.

In Hollywood und New York, in Dutzenden von Städten in dem ganzen Gebiet der Vereinigten Staaten, überall dort, wo aus den Antennen Rundfunk- und Fernsehsignale gesandt und wo Filme produziert wurden, musste ein ständig oder auch vorübergehend Angestellter ein Loyalitätszeugnis besitzen. Dies wurde in der Umgangssprache mit dem Wort "Läuterung" bezeichnet und es war niemandem, der nicht "geläutert" war, gestattet, sich vor das Mikrophon oder die Kamera zu stellen oder ein Drehbuch für einen Film bzw. ein Manuskript für eine Fernseh- oder Rundfunksendung vorzubereiten. Grosse Unternehmen - Filmgesellschaften und Rundfunk- und Fernsehkonzerne - beschäftigten einen Vertrauensmann, der sich mit Hilfe eines Beamtenstabes mit der Prozedur, "Läuterungen" zu erlangen, befasste. Wen er dabei konsultierte, wer ihm Ratschläge erteilte und wer für die endgültige Entscheidung verantwortlich war, ist nicht bekannt. Mit einem Wort - der Direktor des Unternehmens stimmte entweder der Einstellung eines Mitarbeiters zu, oder er lehnte die Einstellung ab, aber auf Grund welcher Angaben und Kriterien er dies tat, blieb ein undurchsichtiges Geheimnis.

Der Publizist und Fernsehproduzent David Süsskind erklärte in dem Prozess, der auf Grund von Verleumdungen des von John Henry Faulk herausgegebenen erpresserischen Blattes "Aware" (Sei wachsam) gegen ihn angestrengt wurde, dass im Jahre 1943 etwa eintausendfünfhundert Schauspieler, Schriftsteller, Regisseure und Techniker im Fernsehen als "unzuverlässig" galten und dass das Endresultat ihre Entlassung war. Von fünftausend Personen, die sich für die "Läuterung" angemeldet hatten, wurden 33 %, ohne einen Grund dafür anzugeben, abgewiesen. "Diese Entscheidungen", fügte Süsskind hinzu, "wirkten sich, abgesehen von ihren moralischen und ökonomischen Effekten, katastrophal auf das künstlerische Niveau unserer Programme aus." Das Organ, das über die Loyalität der Mitarbeiter sein Urteil abgab, war in dem Fall, von dem der Zeuge sprach, eine Anzeigenagentur. Sie trat im Namen derjenigen Unternehmen auf, die für ihre Erzeugnisse im Fernsehen Reklame machten. Als Süsskind die Leiter der Agentur anflehte, bei ihren Entscheidungen auch die künstlerischen Fähigkeiten der einzelnen Mitarbeiter in Betracht zu ziehen, erhielt er zur Antwort, dass sie ihm nicht helfen könnten, denn sie sässen selbst "in der Falle". Ein anderer Zeuge, ein politischer Kommentator aus dem CBS, Charles Collingwood, sagte von dieser noch nicht so lange zurückliegenden Zeit, dass damals alles davon abgehangen hätte, "wieviel Mut der Finanzier, die Leitung des Fernsehnetzes und der das Programm übertragende Sender hatten. In der Mehrzahl der Fälle zeigten sie nicht viel Mut!" Und ein anderer Zeuge, Fernsehproduzent Marc Goodson sagte: "Des öfteren erhielt ich den Hinweis, dass diese oder jene Leute nicht beschäftigt werden dürfen. Es wurden keinerlei erläuternde Gespräche darüber geführt, warum dies geschieht. Man begriff aber, dass es politische Ursachen waren."

Der Funktionsmechanismus der "schwarzen Listen" kann genau am Beispiel des obengenannten Prozesses studiert werden, den John Henry Faulk gegen die Gesellschaft "Aware", gegen den Redakteur des Bulletins der Gesellschaft, Vincent W. Hartnett, und den Redaktionsmitarbeiter Johnson anstrengte. Der Prozess fand vor dem Obersten Gericht des Staates New York im Frühjahr 1962 statt und betraf Ereignisse, die sich im Jahre 1956 und den folgenden Jahren zutrugen. Die Gesellschaft "Aware Inc." wurde während der Periode des McCarthyismus im Jahre 1953 "zur Bekämpfung der kommunistischen Konspiration in der Vergnügungsindustrie und in den schönen Künsten" gegründet. Die Gesellschaft gab Bulletins heraus, in denen die Namen der angeblichen Kommunisten und mit dem Kommunismus Sympathisierenden angegeben wurden. Im Jahre 1956, also zu einer Zeit, da der Inquisitionswahnsinn schon im Abflauen war, gab das Bulletin "Aware" den Namen des im CBS arbeitenden Fernsehschauspielers an und beschuldigte Obengenannten, gefährliche Beziehungen zur "kommunistischen Diversion" zu haben. Faulk war einige Monate, bevor das Bulletin erschien, zum stellvertretenden Vorsitzenden der AFTRA - der Amerikanischen Föderation für Fernseh- und Rundfunkschauspieler - gewählt worden. Er war Unterzeichner der Liste, die sich sowohl gegen kommunistischen Einfluss als auch gegen die Praktiken der "schwarzen Listen" aussprach. Eben dieses Moment der Verdammung der "Roten Kanäle" und ihnen ähnlichen Schmierfinken inspirierte das Bulletin "Aware", Faulk anzugreifen. Man nahm an, er würde Angst bekommen und zu seiner Selbstverteidigung seine ablehnende Haltung gegenüber den Praktiken der "schwarzen Listen" aufgeben. Da jedoch der Angegriffene keine Reue zeigte, musste zur weiteren Aktion geschritten werden. Alles lief wie am Schnürchen: Faulk wurde der Vertrag gekündigt, den er mit dem CBS geschlossen hatte, und wo er auch immer versuchte, Arbeit zu finden, stand er vor verschlossenen Türen. Dies geschah nicht deshalb, weil er unfähig war. Nicht die Spur. Vor der Februarausgabe des Bulletins verdiente er sechsunddreissigtausend Dollar im Jahr, und der CBS machte für ihn, als dem zweiten Willi Rogers und Mark Twain in einer Person, Reklame. Im Jahre 1957 betrugen die Faulk vom Rundfunk und Fernsehen ausgezahlten Prämien 850 Dollar. Im Jahre 1958 bekam er keinen Cent. Er emigrierte aus New York in die Provinz, gründete in Austin (Texas) ein Anzeigenunternehmen und strengte gegen "Aware" einen Prozess wegen Verleumdung an. Der Rechtsanwalt Luis Nizer aus Hollywood, ein Meister seines Faches, führte im Namen des Klägers den Prozess.

In diesem Prozess traten interessante Umstände der Angelegenheit zutage. Es erwies sich, dass der CBS den Vertrag mit Faulk deshalb löste, weil dies die das Programm finanzierenden Firmen gefordert hatten; auf die Firmen wurde wiederum ein Druck von Seiten der Nachrichtenagenturen ausgeübt, die Vermittler zwischen ihnen und dem Fernsehen waren. Der Kreis war geschlossen, und Faulk blieb das Opfer dieser Operation. Sie verlief folgendermassen: Zu der Agentur "Grey Advertising Agency" telefoniert Mr. Johnson aus Syrakus, Besitzer einer Reihe von "Supermarkets" und fragt höflich an, ob der Agentur bekannt sei, dass in dem Programm, das Reklame für Hoffmans Bier macht, ein bekannter Kommunist, Mr. Faulk, auftritt. Die Agentur setzt ihren Kunden, die Firma "Hoffman Drinks Co", davon in Kenntnis. Der Konzern kennt diese Angelegenheit schon, da er ein Schreiben von der Amerikanischen Legion aus Syrakus mit der beigelegten Nummer des Bulletins "Aware" bekam. Mr. Johnson erklärte, falls der "Verräter" im Rundfunk und Fernsehen weiter für Hoffmans Bier Reklame machen sollte, werde er aus allen ihm unterstellten "Supermarkets" die Erzeugnisse aus den Brauereien von Pabst abziehen. Danach ruft die Agentur die CBS an, um zu melden, dass der Finanzmann seine Anteile zur Deckung der Programmkosten zurückziehe. Ein Schauspieler ist nicht soviel wert wie einige Dutzend Tonnen Bier. Ein eventueller Kundenverlust in Syrakus besiegelt das Schicksal von John Henry Faulk. Mit ähnlichen "Vorschlägen" wandte sich Mr. Johnson an andere Firmen, deren Waren in seinen Geschäften verkauft wurden. Die Zahnpasta "Ammident" durfte nicht von einer Person propagiert werden, deren politische Vergangenheit ungewiss war.

John Henry Faulk gewann den Prozess. Das Gericht erkannte mit elf Stimmen Mehrheit gegen eine Stimme eine Riesenentschädigung für die verlorenen Arbeitsjahre und für die moralischen Leiden an. Die Gesellschaft "Aware Inc" wird eine Million Dollar und die Herren Hartnett und Johnson werden je eine und eine viertel Million Dollar bezahlen, insgesamt also drei und eine halbe Million, die höchste Entschädigung, die überhaupt jemals in der Geschichte des amerikanischen Gerichtswesens in einem Verleumdungsprozess zuerkannt wurde. Laurence Johnson verstarb im Verlauf des Prozesses an einem Herzinfarkt. Die Entschädigung werden seine Erben bezahlen.

Der einzige von den Klägern gegen Faulk erhobene Vorwurf, der bewiesen werden konnte, war der, dass Faulk auf einer Festveranstaltung neben einem bekannten Kommunisten auftrat. Dass das Konzert durch die Anwesenheit der Botschafter vieler Länder, durch die Anwesenheit von Regierungsministern der Vereinigten Staaten und dem Generalsekretär Trygve Lie und nicht zuletzt durch die Anwesenheit der Herren des "Aware" beehrt wurde, daran erinnerten sie sich nicht oder wollten sich nicht erinnern. Der Vorsitzende des Gerichts brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass eine so hohe Strafe eine Warnung sei und den unerlaubten Praktiken ein Ende bereiten werde.

Die "schwarzen Listen" sind heute, in den sechziger Jahren, weniger gefährlich, als es in der Ära des Senators MyCarthy der Fall war, aber sie wurden keineswegs vollkommen und endgültig liquidiert. Die Abreise des berüchtigten Roy Brewer im Jahre 1955 aus Hollywood nach New York beraubte die MPA ihrer Allgewalt. Die Industriellen fassten mehr Mut und begannen auf eigene Faust, ohne die diensteifrigen Berater, zu interpretieren, wer loyal und wer nicht loyal sei. Die "Paramount" fürchtete sich vor den Warnungen der Zuträger, verlor dabei 75 000 Dollar, indem sie die Option nicht ausnutzte und das Recht für die Umarbeitung der musikalischen Filmkomödie GUYS AND DOLLS ("Schwere Jungen, leichte Mädchen") nicht aufkaufte, da einer der Autoren der "schlecht angeschriebene" Abe Burrow war. Aber Sam Goldwyn war mutiger, er adaptierte den Broadway-Schlager für den Film und verdiente daran eine Menge Geld. Im Jahre 1959 engagierte Otto Preminger ganz öffentlich einen von den Zehn - Dalton Trumbo - als Drehbuchautor für den Film EXODUS. Sein Name war auf der Leinwand genauso zu sehen wie in dem Film SPARTAKUS, einer Produktion von Kirk Douglas. Die hier und dort von der "Amerikanischen Legion" vor dem Eingang der Lichtspieltheater postierten Pikette beeinflussten den Erfolg des Films keineswegs. Die Menschen hörten auf, sich vor den Repressionen zu fürchten, und zwar sowohl die Filmindustriellen als auch die Zuschauer.

Aber in der gleichen Zeit, als Trumbo sich durch seine Rückkehr einen Platz in Hollywood erkämpfte, war die New Yorker Station NBC mit dem Auftritt des Volksgesangsensembles "The Weavers" ("Die Weber") im Programm von Jack Paar nicht einverstanden. Die Gründe? Die Sänger weigerten sich, die Loyalitätserklärung, dass sie keine Mitglieder der Kommunistischen Partei waren oder sind, zu unterschreiben. Man wandte sich an sie mit dieser Forderung, da sie vor einigen Jahren auf die von der Kongresskommission traditionsgemäss gestellte Frage die Aussage verweigert hatten. Die NBC respektierte weiterhin die Politik der Nichtbeschäftigung von Kommunisten oder des Kommunismus Verdächtiger. Dieser Zwischenfall fand im Jahre 1962 statt.

Der wirtschaftliche, künstlerische, vor allen Dingen aber der moralische Verfall im Bereich des Films, Fernsehens und Rundfunks, der infolge der im Oktober 1947 begonnenen Aktion entstand, wird nicht leicht zu beseitigen sein. Seine Spuren sind bis zum heutigen Tage deutlich sichtbar. In Hollywood und New York trifft man auf Menschen, die nicht mehr in ihren Beruf zurückkehren können. Hin und wieder gelingt es ihnen durch eine List, hauptsächlich den Fernseh- und Filmschriftstellern, die unter einem falschen Namen auftreten, wieder zu arbeiten. Dalton Trumbo errang im Jahre 1958 als Michael Wilson sogar den "Oscar" für den Film FRIENDLY PERSUASION. Aber was sollen die Künstler tun, deren Gestalt und Stimme dem Publikum gut bekannt sind? Hier hilft das Inkognito nicht viel. John Henry Faulk versuchte in der Zeit, da er auf der "schwarzen Liste" stand, anonym im Rundfunk für irgendwelche Erzeugnisse zu werben. Man sagte ihm, dass sein Akzent aus Texas den Hörern zu gut bekannt sei _...

Die schöpferische Freiheit des Künstlers wurde an der Basis selbst erschüttert. Hier ging es doch nicht um die Unterdrückung von Menschen, deren Schaffen die Gesellschaftsordnung bedroht, sondern darum, dass unter dem Aspekt tatsächlich vorhandener oder angedichteter Anschauungen jemand gleich beim Start beseitigt werden kann. Es wird ihm die Arbeitsmöglichkeit sogar dann genommen, wenn seine Werke eine sehr gute Beurteilung erhielten und niemand in ihnen auch nur einen Schein gefährlicher Tendenzen gefunden hat. Der Grundsatz, eine arbiträre Selektion durchzuführen, wer als Künstler arbeiten darf und wer nicht, versperrt vielen Willigen und Talentierten den Weg. Aber sogar die Überwindung dieses ersten und schwierigsten Hindernisses ist nicht mit der Beseitigung anderer Einschränkungen und Hemmschuhe für die Schaffensfreiheit identisch.

Vom Projekt bis zur Premiere

In der Kinematographie und im Fernsehen existiert kein individuelles Schaffen wie in Kunstgattungen, in denen der Künstler ohne die Hilfe anderer Personen und ohne technischen Apparat sein Werk dem Zuschauer vermittelt. Die Maler sind dafür ein klassisches Beispiel, wenn sie auch häufig - um den Zugang zu den Werken einer grösseren Anzahl von Personen zu ermöglichen - Ausstellungen und Galerien oder auch die Reproduktionstechnik in Anspruch nehmen müssen. Der Schriftsteller dringt ohne die Herausgabe von Büchern nicht bis zu den Lesern vor. Der Musiker bleibt ohne gedruckte Noten, ohne Konzertsäle und ohne die Schallplattenindustrie ein unbekannter Barde. Aber diese Künstler sind einem Film- oder Fernsehschaffenden gegenüber weit im Vorteil. Grundsätzlich sind nur sie allein für den künstlerischen Erfolg des Romans, des Bildes oder des musikalischen Werkes verantwortlich. Sie schreiben, malen, komponieren selbst, sie sind die Autoren eines Einzelwerkes, und erst in der Etappe seiner Verbreitung treten Helfer beziehungsweise Teilhaber in Erscheinung.

Der Film als Industrieerzeugnis, das in einer grossen und komplizierten Arbeitswerkstatt entsteht, ist beinahe immer ein Kollektivwerk, ein Ergebnis der Arbeit vieler Personen, die künstlerische und technische Funktionen ausüben. Das Chaplin-Rezept des Autorenfilms kann nie hundertprozentig verwirklicht werden. In CITY LIGHTS war Chaplin Autor des Drehbuches, Hauptdarsteller und Komponist. Der Filmerfolg war zum grössten Teil Ergebnis der künstlerischen Konzeption eines einzigen Schöpfers. Aber auch in diesem Ausnahmefall trugen zur Erzielung des Endeffektes andere Schöpfer bei: die Darsteller anderer Rollen, der Dekorateur und Kameramann. Das absolute Autorentum auf dem Gebiet des Filmes ist nur im dilletantischen Schaffen, in kleinen Formen, in manchen Arten des Dokumentarischen oder des Trickfilms möglich.

Es geht also nicht um die Einschränkung der schöpferischen Tätigkeit, die durch den technologischen Charakter der Film- und Fernsehproduktion verursacht werden. Diese Begrenzungen gibt es in der ganzen Welt, und man kann sie nicht beseitigen. Man kann sie nicht und darf sie auch gar nicht beseitigen, denn ihre Beseitigung würde einer Liquidierung der Film- und Fernsehindustrie gleichkommen. Neben diesen durch die Produktion bedingten Beschränkungen existieren jedoch auch andere, die nicht so sehr die Tätigkeit als vielmehr die Schaffensfreiheit beeinträchtigen: Hindernisse, die denen in den Weg gelegt werden, die durch den Film oder das Fernsehen etwas von sich aus sagen wollen, und die den Inhalt, die Idee und die Form des Werkes sowie die Art seiner Wiedergabe betreffen, Beschränkungen, die bei der Auswahl der Mitarbeiter und Helfer auferlegt werden, Vorschriften und Hemmschuhe, die dem Künstler die Verwirklichung der beabsichtigten Projekte erschweren.

In der Film- und Fernsehproduktion existiert ein bestimmter Moralkodex, in dem festgelegt ist, was man auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm zeigen und was man nicht zeigen darf. Diesem Kodex sollte nicht allzu grosses Gewicht beigemessen werden. Er ist ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten, und seine Verwalter, die an der Spitze der Kodexbüros stehen, sind meistenteils liberale Leute, die häufig bei der Umgehung dieser oder jener Vorschriften durch die Finger sehen. Im Fernsehen hat das Programm der CBS "The Benefactor" aus der Serie "The Defenders" über die Reform der Vorschriften, die die Schwangerschaftsunterbrechung betreffen, ohne Schwierigkeiten das Gesetzessiegel erlangt, was nicht ausschloss, dass bestimmte Institutionen sich über die Unmoral dieses Films beklagten. Im Falle "The Lion is walking among us" hat die ABC den Film, bevor sie ihn in Umlauf brachte, der Kodexverwaltung nicht vorgeführt, was übrigens dem Vorsitzenden der Gesellschaft, Treys, als er sich gegen die Angriffe der öffentlichen Meinung verteidigte, ernsthaft schadete. Diese beiden Fälle zeugen von der grossen Elastizität der Handlungsweise und davon, dass der Kodex keine Rechtskraft besitzt, sondern ein Symbol des Gentleman's Agreement zwischen den Unternehmern ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass er nicht als Bremsklotz in bezug auf den Schöpfer angewandt werden kann. Vielfach tritt bei der Ablehnung des Projektes eines Stückes das Argument auf, dass dieses Stück "nicht das Gesetzessiegel erhalten wird".

Genauso kann im Film der Kodex den Produzenten als bequemes Alibi gegenüber den Regisseuren dienen, besonders da auf der Grundlage eines freiwilligen Sichunterordnens eine bestimmte Anzahl von Lichtspieltheatern keine Verträge für Filme abschliesst, die nicht mit dem Gesetzessiegel versehen sind. Wenn zum Beispiel bei der Wiederaufführung des Metro-Goldwyn-Mayer-Films ANNA CHRISTIE aus dem Jahre 1930 die Kodexverwaltung zum drittenmal ihre Zustimmung zur Aufführung des ersten Tonfilms mit Greta Garbo verweigern sollte, so könnte er hauptsächlich nur in sogenannten art theatres, in Repertoire-Lichtspieltheatern, die die Hollywooder moralischen Normen nicht befolgen, vorgeführt werden. ANNA CHRISTIE kam zum erstenmal auf die Leinwand, als der Kodex noch nicht verbindlich war. Im Jahre 1940 versuchte B. Mayer den "Kodexsegen" zu erlangen, aber er wurde ihm versagt, da die Fabel nach Ansicht der Sachverständigen keine moralischen Werte besass. Nach sechs Jahren, im Jahre 1946, bemühte sich die Metro wiederum um das Siegel, wobei sie den Vorschlag machte, das Drama von O'Neill umzuändern und aus der Anna Christie, einer ehemaligen Prostituierten, eine Ex-Kriminelle zu machen. Joseph Breen, der damalige Verwalter des Kodexbüros, zollte dieser Idee seinen Beifall, aber er bezweifelte, dass die Änderungen des Dialogs genügen würden. Seiner Meinung nach sollte nach einem neuen Drehbuch ein neuer Film gedreht werden _... Das war für die Produktionsgesellschaft kein verlockender Vorschlag, und sie zog es vor, noch weitere zwölf Jahre zu warten und dann von neuem Sturm zu laufen. Diesmal - im Jahre 1962 - hatte sie Erfolg, denn die Prostitution ist schon von der inneren Zensur gestattet. Das Beispiel der ANNA CHRISTIE sollte warnen, keine riskanten Themen aufzugreifen.

Im Verlauf des gesamten Produktionsprozesses ist der Mechanismus der Einmischung und der Kontrolle tätig. Unter Filmbedingungen ist dieser Mechanismus weniger spürbar und beschränkt sich auf die Hauptetappen, im Fernsehen hingegen ist er vielseitig, ununterbrochen in Aktion und lästig. In der Hollywooder Filmfabrik unterliegt das einmal angenommene Drehbuch keinen grösseren Abänderungen mehr, und die Hauptdebatte wird erst während der Montage geführt. Es gibt jedoch Produzenten, die Tag für Tag das Aufnahmematerial überprüfen und laufend Abänderungen und Ergänzungen fordern. Manchmal wirken auch noch andere Faktoren ein, zum Beispiel der die Schauspieler vertretende Agent. Die mächtige Music Corporation of America verstand es, im Produktionsverlauf eines Filmes den Regisseur zum Austausch der Besetzung zu zwingen, da das Engagieren neuer Schauspieler eine günstige Finanzlage für den Agenten bedeutete. Schon nach Beginn der Aufnahmen zu dem Film YOUNG LIONS von Dmytryk entfernten die Vertreter der MCA Tony Randall aus dem Atelier, der eine der Hauptrollen spielte, und setzten an seiner Statt Dean Martin ein. Dies sind aber eher Ausnahmefälle, und der Drehbuchautor oder der Regisseur haben in der Regel ein leichteres Leben als ihre Kollegen beim Fernsehen.

Hier ist die ganze Zeit hindurch die "Dreieinigkeit" massgeblich vertreten: die Direktion des Fernsehunternehmens, die beim Suchen eines Finanzmannes vermittelnde Agentur und der Finanzmann selbst. Die Stimme des Letztgenannten ist entscheidend, obwohl sich seine Rolle eigentlich auf die Lieferung von Werbefilmen, die während des Programms eingeblendet werden, beschränkt. In der Praxis ist es aber anders. Der Finanzmann ist der Auffassung, dass von der Güte des Programms die Effekte des Werbefeldzuges abhängen. Der Zuschauer sieht sich den Western auf dem kleinen Bildschirm an und schaut sich dagegen den Werbefilm nur gelegentlich oder überhaupt nicht an. Wenn ihm aber der Western gefällt, schaltet er in der nächsten Woche wieder das Fernsehen ein und wird sich mit oder ohne Absicht auch die Reklame ansehen müssen. Nach dem dritten, vierten oder fünften Mal wird er CHEYENNE mit den folgenden Firmen in Verbindung bringen, die bei der Finanzierung des Western zusammenarbeiten, und zwar mit "American Tobacco Co", "Miles Laborationes Inc." und "Procter and Gamble Co". Die Verehrer des heldenhaften Cowboys wundern sich dann schon nicht mehr, wenn im dramatischsten Moment die Handlung unterbrochen wird und auf dem Bildschirm eine mollige Blondine die Handwaschseife "Lava" oder das Fleckenentfernungsmittel "Oxydol" anpreist. Die Ausdauer, mit der die Reklame betrieben wird, zwingt das Publikum bewusst oder manchmal auch unbewusst, rein mechanisch alle Informationen und Mitteilungen aufzunehmen.

Die Finanzleute, die sich eines Wildwestfilms, einer Familienkomödie oder einer Theatervorführung als Hintergrund für ihre Werbekampagne bedienen, begnügen sich nicht mit der allgemeinen Akzeptierung des Charakters und der Kosten des Programms. Sie fühlen sich mitverantwortlich und versuchen, Mitautoren zu sein. Sie kümmern sich jedoch nicht um die Einführung neuer attraktiver Elemente (es sei denn, wenn es um erotische Momente geht), sondern konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf die Beseitigung all dessen, was nicht gefallen, Vorbehalte erwecken und den Interessen der Firma schaden könnte. Ein Einwohner aus Grosse Pointe, einem vornehmen Vorort der Stadt Detroit, war beleidigt, weil in einem Film ein Gangster gezeigt wurde, der auch in diesem Stadtteil wohnte. Das wirkte sich so aus, dass der Finanzmann sofort seine Unterstützung für das Programm zurückzog, weil er der Ansicht war, dass die Vorführung dadurch kompromittiert worden war. Ein anderes Programm ist langweilig, und die Zuschauer wählen die Konkurrenzwelle. Das ist wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es muss alles geändert oder auf weitere Mitarbeit verzichtet werden. Jedes Signal von ausserhalb, jede kritische Bemerkung oder der Unterschied von einem halben Prozent in den statistischen Angaben, die über die Anzahl der Zuschauer Auskunft geben, erwecken sofort Interventionen. Die Anzeigenagentur, die ihre Provision für die Vermittlung nicht gern einbüssen möchte, sorgt dafür, dass man mit ihren Diensten zufrieden ist, kontrolliert, überprüft und verbessert die Programme. Inmitten der Kontrolleure und Zensoren steht der Schöpfer, der dem Zuschauer etwas sagen will, irgendwelche Erlebnisse und Empfindungen ausdrücken möchte. Doch meistens bleiben von all diesen edlen Absichten nur noch Fragmente übrig.

Als der "Nürnberger Prozess" als Fernsehschauspiel in der Serie Playhouse 90 CBS gezeigt wurde, unterbrach man in einem bestimmten Moment die Tonübertragung, und die Zuschauer konnten die letzten Worte eines der Schauspieler nicht mehr hören. Dieser Schauspieler stellte den amerikanischen Staatsanwalt dar, der die faschistischen Richter anklagte und sie daran erinnerte, dass sie unschuldige Menschen in die Gaskammern geschickt hatten. Das Wort "Gas" hörten die Zuschauer nicht mehr, denn es wurde auf Anweisung des Programmpatrons - der Amerikanischen Gasgesellschaft - beseitigt. Sie befürchtete, dass die Zuschauer das Kochgas mit dem in Auschwitz verwendeten Zyklon in Verbindung bringen würden, und wer weiss, ob sie dann noch die Gasherde und Gasöfchen, die ihnen die American Gas Association lieferte, kaufen würden. In dem Text des Stückes hatte die Anzeigenagentur zwar schon vorher alle "Gas-Anspielungen" gestrichen. An einer Stelle hatte man das Wort übersehen, und so musste man während der Übertragung die Hilfe des Toningenieurs in Anspruch nehmen.

Dies ist ein triviales, aber doch sehr charakteristisches Beispiel. Es zeigt, dass jedes Wort, jede Geste, die Haltung und die Dekoration mit Rücksicht auf einen möglichen Zwischenfall, eine Reklamation oder sogar eine Gedankenassoziation, die doch nur eine abstrakte Hypothese ist, kontrolliert werden. Wieviel Menschen, die von der Erzählung über die Konzentrationslager, von dem Drama der Millionen Opfer aufgewühlt waren, hätten schon in diesem Moment an das Gas gedacht, auf dem zum Frühstück Eier mit Speck gebraten werden? Die Anzeigenagentur und der Finanzmann aber sind wachsam. Fred Friendly machte auf die ungewöhnlichen Methoden dieser Werbepolitik im Fernsehen aufmerksam, indem er sie mit der journalistischen Praxis verglich: "Der Redakteur einer Zeitschrift würde einen Werbeagenten, der den Inhalt der Artikel in der Nummer einsehen möchte, in der er beabsichtigt, Anzeigen zu bringen, aus seinem Büro sofort hinauswerfen. Der Kummer des Fernsehens beruht darin, dass es keine Freiheitstradition besitzt."

Dort, wo die Sorgen des Fernsehens aufhören, nimmt der Kummer des Films seinen Anfang. Auf dem kleinen Bildschirm besteht kein Zensurproblem des fertiggestellten Werkes. Alles wurde schon genügend durchgeschüttelt und untersucht, noch ehe das Schauspiel oder der Film geboren waren. In der bestimmten Sendestation wird das Programm nur ein einziges Mal gezeigt. In seltenen Ausnahmefällen kann es nach ein paar Monaten wiederaufgeführt werden. Und das ist alles. Ein riesiger, viele Millionen umfassender, aber einmaliger Zuschauerraum. Anders ist es beim Film. Die an die Lichtspieltheater gesandten fertigen Kopien werden Wochen und Monate hindurch Tag für Tag vorgeführt. Im Falle grosser Schlager werden sie sogar Jahre hindurch gezeigt. Eine öffentliche, staatliche Filmzensur gibt es in den Vereinigten Staaten nicht. In vier Staaten, mit New York an der Spitze, und in einigen Dutzend Städten und Städtchen existieren aber dafür örtliche Zensuren. Wie viele Menschen hegen Zweifel, ob die Filmkontrolle auf Grund ihrer Befugnis, fertige Werke zur Vorführung nicht zuzulassen, mit der Konstitution, die die Freiheit des Wortes garantiert, in Einklang gebracht werden kann. Im Jahre 1952 fiel von Seiten des Obersten Gerichts in Washington ein wichtiger Entscheid, der den Film mit anderen Zweigen des künstlerischen Schaffens gesetzlich auf eine Stufe stellte. Das war eine entscheidende Bresche in der bisherigen Praxis und ein Schlag gegen die Industriellen, denen es bequemer war, den Film als Ware zu behandeln. Es ist leichter, eine Ware als ein Kunstwerk vor der Kritik zu schützen. Das Gerichtsurteil wurde im Zusammenhang mit dem von der Zensur in New York geäusserten Protest gegen die Vorführung des Film AMORE von Rosselini verhängt, da er nach Ansicht der Zensur die religiösen Gefühle beleidigte. Die Richter teilten diese Meinung nicht und unterstrichen gleichzeitig, dass der Schöpfer das Recht hat, seine Anschauungen frei auszusprechen. Die Ansicht des höchsten Organs der Rechtspflege wurde als Verbot der präventiven Filmzensur interpretiert.

Im Januar 1961 befasste sich das Oberste Gericht wieder mit Filmangelegenheiten. Diesmal klagte der Verleiher des Films DON JUAN, dessen Vorführung die städtische Zensur in Chicago verboten hatte. Zur allgemeinen Verwunderung lehnte das Gericht die Klage ab und verlieh der Handlungsweise der lokalen Zensur Gesetzeskraft. Das Urteil wurde mit Einstimmenmehrheit gefällt: Fünf Richter waren dafür, das Funktionsrecht der Zensur anzuerkennen, vier Richter waren sich darüber im Zweifel, ob dieser Richterspruch zu dem Entscheid aus dem Jahre 1952 nicht im Widerspruch stünde. Es ist zu erwarten, dass dieses Problem mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Meinungen noch einmal bei irgendeiner Gelegenheit dem Obersten Gericht vorgelegt wird und dass dann vielleicht eine Änderung in den Ansichten erfolgt. Einstweilen sind die Zensoren aber weiterhin tätig.

Es gibt ihrer viele, und Jeder einzelne von ihnen wendet andere Beurteilungskriterien an. Vor ein paar Jahren verbot der Zensor der Stadt Memphis Filme, in denen die geschiedene Ingrid Bergman spielte. Später kam ein anderer Zensor, und der schwedische Star gelangte wieder zu Ehren, nur durften jetzt keine Filme gespielt werden, die die Rassenkonflikte behandelten. Dabei war es unerheblich, was für Konflikte dies waren und welche Lösungen die Autoren vorschlugen. Selbst eine Erwähnung, ja sogar eine Anspielung, dass Neger und Weisse nebeneinander leben, genügte, um den Film automatisch zu verbieten. Im Staate Georgia verbot man Jules Dassins Film "Sonntags nie", da er als unmoralisch angesehen wurde. Der Hollywooder Kodex ist den Prostituierten schon gnädig gesinnt; er gestattet ihnen, sich auf der Leinwand zu zeigen. Das Zensorenkollektiv in Atlanta ist anderer Ansicht.

In Chicago besteht das Kollektiv, das über die Zulassung der Filme zu befinden hat, zum grössten Teil aus Polizeiwitwen. Das Honorar für die Teilnahme an den Beratungen wird als Zusatz zur Witwenrente angesehen. In Boston ist der Bürgermeister zu sehr beschäftigt, um sich selbst mit der Durchsicht der Filme beschäftigen zu können; er beauftragt mit dieser Funktion der Reihe nach einen seiner sechs Sekretäre. In der Stadt Providence ist der Steuerinspektor, unter dessen Obhut sich die Kinos und Theater befinden, gelegentlich auch Zensor. Jedes Land hat andere Sitten, jeder Staat und jede Stadt hat ein anderes System und andere Methoden. Es gibt keine allgemein verbindlichen Kriterien, jeder urteilt, wie er glaubt, dass es am besten und am klügsten ist. Die örtlichen Zensuren zeichnen sich glücklicherweise nicht durch einen allzu grossen Eifer aus und bereiten den Verleihern verhältnismässig wenig Überraschungen; man kann aber nie wissen, ob nicht irgendwo ein örtlicher Savonarola zu Wort kommt.

Ausser den lokalen Zensuren existieren noch andere, inoffizielle, die bedeutend gefährlicher sind, denn sie haben einen grossen Einfluss in der Gesellschaft und eine praktische Exekutive. Seit vielen Jahren gibt die katholische ,Legion of Decency" Listen über die gespielten Filme heraus, die je nach ihren moralischen Vorzügen beziehungsweise Fehlern in Kategorien aufgeteilt sind. Es gibt Filme der Klasse A, die für alle erlaubt sind oder die nur mit Vorbehalt gesehen werden dürfen und nur für Erwachsene in Frage kommen, Filme der Klasse B, die kaum toleriert werden, und schliesslich gibt es noch die Kategorie C, zu der Filme gehören, die in jeder Pfarrgemeine verdammt werden. Die Listen sind so ausgehängt, dass sich die Gläubigen bei der Auswahl- ihres Repertoires jederzeit orientieren können. Für viele Produzenten ist es wichtiger, für ihren Film den Buchstaben A der "Legion of Decency" zu erhalten als das Siegel des Moralkodexes in Hollywood. Der Katholizismus stellt in Amerika eine bedeutende Macht dar, er spielt eine Rolle in der Gestaltung der öffentlichen Meinung. Nach der Kategorisierung der "Legion of Decency" richten sich auch häufig die Geistlichen anderer Konfessionen.

Die Legion achtet sehr darauf, dass Kinder keine Filme zu sehen bekommen, die für sie ungeeignet sind. Diese Angelegenheit ist weder von rechtlicher Seite aus noch im Länder- bzw. Bundesmassstab geregelt und stösst auf grundsätzliche Widerstand der Filmindustrie. Hollywood meint, dass jedwede Einschränkung der Freiheit des Zuschauers im Widerspruch zu dem Geist der amerikanischen Gerechtigkeit steht. "Man kann den Eltern das Recht, ihre Kinder selbst zu erziehen, nicht nehmen", erklärte der stellvertretende Vorsitzende der "Motion Picture Association of America", Kenneth Clark. Es sei Sache der Eltern, und nur der Eltern, darauf zu achten, dass ihre Kinder die ihnen entsprechenden Filme besuchen. Wenn sich jedoch Unmündige einen unmoralischen Film ansehen, so sei eine ungenügende Aufsicht der Eltern daran schuld, über Waisen und Kinder, die in Internaten untergebracht sind, verliert Mr. Clark kein Wort.

Das Ergebnis dieses Liberalismus ist ziemlich paradox. Wenn in der Zeitung darauf hingewiesen wird, dass das blutige Drama aus dem Leben einer moralisch gefallenen Frau für junge Zuschauer nicht geeignet sei, drängen sich vor dem Kino gerade die Allerjüngsten. Es ist unwesentlich, dass an der Kasse ein Schild mit der Aufschrift "Nur für Erwachsene" hängt, da im Preisaushang gleichzeitig eine andere interessante Anmerkung: "Kinder zahlen 50 Cents" untergebracht ist. Die Kassiererin hat kein Recht, dem Kind die Karte zu verweigern, wenn es eine solche kaufen will. Mögen sich doch später die Eltern und Pädagogen darüber Sorgen machen. Von Zeit zu Zeit wird in der Presse gefordert, dass sich der Staat nicht nur um die physische Gesundheit der Minderjährigen sorgen solle, indem er es nicht gestattet, ihnen Alkohol zu verkaufen. Es bestehe auch genügend Grund dazu, sich um die psychische Gesundheit der Jugend, die ja die Zukunft der Nation ist, zu kümmern. Diese Stimmen stossen auf taube Ohren _...

Die letzte der inoffiziellen Zensuren ist die gefährlichste und zugleich auch die mächtigste. Sie wird von dem Gewerkschaftsverband der Filmangestellten verwaltet, der in seinen Reihen alle Filmtechniker des ganzen Landes konzentriert. Dieser Verband gehört zu den ältesten Gewerkschaftsverbänden der Vereinigten Staaten. Er wurde im Jahre 1893 als Verband der Theatermaschinisten gegründet; im Jahre 1908 erweiterte er seine Reihen, indem er die Projektionisten aus den Tausenden, damals schon in Betrieb befindlichen "Nickelodeons" aufnahm. Später erweiterte er seinen Einfluss auf die Mitarbeiter der Filmproduktion und wurde schliesslich zum Vertreter aller in der Filmindustrie Beschäftigten. Der Verband hat einen ellenlangen Namen - "International Alliance of Theatrical Stage Employees and Motion Picture Machine Operators", abgekürzt IATSF oder einfach IA. Die IA war immer ein Verband mit rechtsgerichteten Tendenzen; vor dem Zusammenschluss der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung gehörte er zur konservativen Zentrale der AFL (American Federation of Labour) und nicht zu der radikalen CIO (Council of Industrial Organisations). In den dreissiger Jahren wanderten der Vorsitzende der IA und der Vertreter des Verbandes in Kalifornien auf lange Jahre wegen Veruntreuung und Bestechlichkeit ins Gefängnis, über diesen Vorsitzenden, Mr. Brown, sprach man öffentlich und laut, dass er engere Beziehungen zur Chicagoer Gangsterwelt hatte. In den vierziger und fünfziger Jahren war die IA ein treuer Anhänger der "schwarzen Listen", und ihr Hauptvertreter war in Hollywood Roy Brewer, Femerichter der MPA.

Der Gewerkschaftsverband lässt keinen amerikanischen Film zur Aufführung gelangen, bei dessen Verwirklichung nicht die ganze technische Mannschaft des Verbandes teilgenommen hat. Es werden keine Ausnahmen bei unabhängigen Produzenten, neuen Regisseuren und Dilettanten gemacht, die bei der Realisierung eines Films keine kommerziellen Ziele verfolgen. Und mit besonderer Verbissenheit werden die Versuche linksgerichteter Regisseure ausgerottet. Die IA spielte bei der Nichtzulassung des amerikanischen Films "Salz der Erde" von Herbert Biberman eine "rühmliche" Rolle. Biberman war einer von den "Hollywooder Zehn". Er konnte im Lande selbst nicht mehr arbeiten und organisierte mit finanzieller Hilfe des fortschrittlichen "Mine, Mill and Smelter Workers" (Gewerkschaftsverband der Berg- und Hüttenarbeiter) eine Filmproduktion in Mexiko. Sein engster Mitarbeiter war der Schriftsteller Paul Jarrico, der sich vor der Kongresskommission auf die Fünfte Verbesserung berief und dadurch automatisch seinen Posten als Drehbuchautor in der Produktionsgesellschaft RKO einbüsste. Der Film "Salz der Erde", dessen Verwirklichung nur der Opferbereitschaft aller amerikanischen und mexikanischen Mitarbeiter zu verdanken war, wurde schliesslich zu einem glücklichen Ende geführt, Die erste Kopie war fertig. Es mussten jetzt noch Kopien für den Vertrieb angefertigt und Kinos gefunden werden, mit denen man für diesen Film Verträge abschliessen konnte. Dies war im Jahre 1954. Als sich die Gerüchte verbreiteten, dass Biberman die Absicht habe, seinen Film öffentlich aufzuführen, läutete man Sturm. Der Gesandte Donald L Jackson, ein Mitglied der Kongresskommission, sandte an einige Dutzend Personen, die in der Filmwelt hohe Posten bekleideten, eine Depesche folgenden Wortlautes: "Gibt es irgendein Mittel, das die Industrie und die Mitarbeiter der Kinematographie dazu bewegen könnte, die Beendigung des Films und seine Aufführung im Lande selbst und auch im Ausland zu verhindern?" Um die Beendigung der Produktion zu verhindern, dazu war es schon zu spät, aber nicht für die Vereitelung des Vertriebs. Der unbezahlbare Roy Brewer eilte Jackson zu Hilfe, indem er die Vorführer mobil machte. Ausserdem bekamen die Kinobesitzer von ihrem Verband noch entsprechende Instruktionen. Biberman stahl mit List aus dem Laboratorium die Kopie des Films und bewahrte sie damit vor der Vernichtung. Was konnte man aber mit der Kopie ohne Lichtspieltheater anfangen? Mehrere Wochen hindurch versuchte der Regisseur für sein Werk eine Leinwand zu finden. Es blieben hoffnungslose Bemühungen. Oft war der Kinobesitzer schon dazu bereit, einen Vertrag abzuschliessen, aber als die Angelegenheit dann endlich zum Abschluss gebracht werden sollte, drückte er sich unter irgendeinem Vorwand davor. Schliesslich fand sich doch ein Mutiger. Der Film "Salz der Erde" wurde im "Grand Theatre" in New York in der 86. Strasse aufgeführt Er lief neun Wochen, und während dieser ganzen Zeit bleib kein Platz im Saal leer. Das machte aber die IA und die Hollywooder Inquisitoren um so tollwütiger. Nach dem grossen Erfolg in New York und der ausgezeichneten Presse-Kritik zu urteilen, hätten sich die Lichtspieltheater in der Provinz für diesen Film sehr interessieren sollen. Es gelang Biberman jedoch nicht, "Salz der Erde" noch irgendwo aufführen zu lassen. In Detroit liessen ihn die Filmvorführer im Stich. In Chicago drohte man damit, eine Bombe in den Kinosaal zu werfen. In Los Angeles wurde der Film zwar noch einmal aufgeführt, aber der Saal blieb leer, weil keine Zeitung Anzeigen bringen wollte. Nach einem so ungleichen Kampf blieb nichts anderes übrig als zu kapitulieren. Der Film wurde beiseite gelegt, und Biberman und Jarrico strengten gegen 72 Unternehmungen, Vereinigungen und Privatpersonen einen Prozess wegen Nichtzulassung des Films zur Aufführung und wegen einer monopolistischen Verschwörung gegen eine individuelle Initiative an. Als Rechtsgrundlage galt das Antitrustgesetz. Im Jahre 1963, also nach sieben Jahren, läuft der Prozess immer noch, indem er von einer Instanz zur anderen wandert. Er war schon beim Appellationsgericht und kehrte von dort wieder zum Bezirksgericht zurück. Die Rechtsanwälte der Beklagten taten alles, um die Klage fallenzulassen, aber Biberman hat Geduld und glaubt an seinen Sieg.

Perspektiven

Im Vergleich mit der McCarthy-Epoche hat sich die Lage der amerikanischen Film- und Fernsehschaffenden bedeutend und sichtbar gebessert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass grundlegende Veränderungen eingetreten sind. Das System ist das gleiche wie vor zehn Jahren, nur die Atmosphäre ist eine andere geworden, und auch die Taktik hat sich geändert. Es gibt keine öffentlichen "Hexenjagden" mehr, und viele Angelegenheiten werden mit grosser Elastizität behandelt und lassen das Gestern und Vorgestern vergessen.

Der Faulk-Prozess war ein bezeichnendes Ereignis. Nicht nur deshalb, weil das Gericht dem Kläger eine Millionenentschädigung zusprach, sondern vor allem deswegen, weil die Zeugen offen und ehrlich waren, öffentlich über die Praktiken der "schwarzen Listen" sprachen und die Namen und Institutionen zitierten, ohne dass sie Angst haben mussten, ihre Posten zu verlieren und ohne Angst vor den ökonomischen und moralischen Konsequenzen. Dies bedeutet, dass die Epoche der Einschüchterung, zumindest in New York, der Vergangenheit angehört. In Hollywood steht es trotz unbestreitbarer Verbesserungen mit dem Mut und der Lust, öffentlich aufzutreten, noch immer nicht zum besten. Als im April 1962 ein grosses Treffen zum Schütze der Freiheit des Wortes, des Friedens und der Organisationen der Vereinigten Staaten stattfinden sollte, haben die Filmstars, mit Ausnahme einiger weniger, ihre Teilnahme abgesagt. Einer der bekannten Schauspieler, dessen Name vom kalifornischen Korrespondenten der "New York Times" diskret verschwiegen wird, soll sich wie folgt geäussert haben: "Ich will an nichts teilnehmen, worüber diskutiert werden müsste, höchstens an einer philantropischen Veranstaltung zugunsten kranker Kinder." Die Furcht, seinen eigenen Standpunkt deutlich darzulegen, kennzeichnet die Folgen der vergangenen Epoche. Man wollte nicht auffallen, wollte die Politik lieber meiden und öffentlichen Versammlungen aus dem Wege gehen - diesen Losungen huldigt heute die Creme des Films in Hollywood. Ist das verwunderlich? Noch im Jahre 1960 sagte die "Amerikanische Legion" laut eine neue Aktion gegen die Kommunisten an. Und im Februar 1962 wurden Bomben in die Wohnungen von zwei protestantischen Pastoren geworfen, weil sie den Mut aufgebracht hatten, an einer Versammlung in einer Synagoge teilzunehmen, in der man scharf gegen die Rechtsextremisten auftrat. Zu einer vollkommenen Entspannung ist der Weg noch weit.

Eine Reinigung der Atmosphäre kann nicht erfolgen, solange der "Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischen Verhaltens" bestehen wird. Zahlreiche Gegner dieses Machtorgans haben es bisher nicht verstanden, den Kongress zu bestimmen, ihren Standpunkt zu akzeptieren. Die Mehrzahl der Deputierten und Senatoren ist gegen eine Liquidierung der Kommission, wenn auch oft die Meinung laut wird, dass eine Veränderung ihrer Arbeitsmethoden notwendig sei. Bezeichnend war in dieser Hinsicht das Urteil des Appellationsgerichtes in New York in Sachen des Volkssängers Pete Seeger. Im Jahre 1955 verweigerte Seeger während eines Verhörs des Unterkomitees der Kongresskommission die Aussage zum Thema der "kommunistischen Infiltration" im Bereich der leichten Musik. Das Gericht in erster Instanz verurteilte ihn wegen Gerichtsbeleidigung zu einem Jahr Gefängnis und war bereit, ihn nach Hinterlegung einer Kaution von zweitausend Dollar bis zur Appellation auf freiem Fuss zu belassen. Im Jahre 1962 fand der Prozess in zweiter Instanz statt; die Richter gaben Seeger einmütig recht, indem sie seine Verurteilung als jeder Grundlage entbehrend erkannten. Zwar spielten bei den Motiven des Urteils die Prozedurmomente die Hauptrolle, aber das Ergebnis des Rechtsstreites brachte dem Künstler Genugtuung. Jetzt wird sich die Regierung entweder auf das Oberste Gericht berufen müssen, oder es muss innerhalb eines Jahres eine neue Anklage gegen Seeger erhoben werden. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass man den vor acht Jahren stattgefundenen Zwischenfall in Vergessenheit geraten lässt.

Neue Prozesse der "nichtfreundlichen" oder "nichtzusammenarbeitenden" Zeugen tauchen in der Verhandlungsliste nicht auf, aber die alte Rechtssache der "Zehn aus Hollywood" wandert immer noch von Instanz zu Instanz. Sie bemühen sich um die gerichtliche Anerkennung, dass der Beschluss der Hollywooder Industriellen, der sie der Verdienstmöglichkeiten beraubte, illegal und gesetzwidrig sei. Sie luden die "Motion Picture Association of America", die "Association of Motion Picture Producers", sieben Filmverleihgesellschaften und vier Tochtergesellschaf ten vor Gericht. Im Januar 1962 lehnte das Appellationsgericht die Klage in Washington ab, indem es durch den Richter Tomm bestätigte, dass die Produzenten und Verleiher das Recht hatten, den Arbeitsvertrag mit den Klägern zu lösen, falls die Beschäftigung von Kommunisten oder von Personen, die zu Kommunisten Beziehungen hatten, den wirtschaftlichen Interessen ihrer Unternehmen schadete. Das Oberste Gericht teilte im Juni 1962 die Ansicht des Appellationsgerichtes. Nach fünfzehn Jahren haben von der ursprünglichen Gruppe nur noch vier: Herbert Biberman, Lester Cole, John Lawson und Albert Maltz den Prozess vor dem Gericht geführt. Andere, die noch die Klage einreichten, waren vier Schriftsteller, zwei Schauspieler und zwei Schauspielerinnen - sie befanden sich zu einem späteren Zeitpunkt auf der ,schwarzen Liste". Es hat den Anschein, dass dies schon das Ende der Wanderung der "Hollywooder Zehn" auf der Suche nach Gerechtigkeit sei. Es ist deutlich zu sehen, dass die Verbesserung der Lage für die Opfer der Inquisitionsaktion jeder Rechtsgrundlage entbehrt und nur das Ergebnis einer weniger skrupellosen Praktizierung der vor Jahren gefassten Beschlüsse darstellt. Einer Veränderung zum Guten unterlagen auch die Arbeitsbedingungen der Film- und Fernsehschaffenden. Das Entstehen einer unabhängigen Produktion trug zur Abschwächung der allzu rigorosen Kontrolle von Seiten der Direktion des Unternehmens bei. Den Regisseuren und Schriftstellern wird bedeutend mehr Freiheit in ihrem Schaffen gelassen. Den neuen Geist vertreten die Gebrüder Mirrish, die die Zukunft ihrer Firma auf der Entwicklung talentierter künstlerischer Regisseure aufbauen. Sie begriffen, dass sich das nicht nur im Prestige-, sondern ebenfalls im Kassenergebnis vorteilhaft auswirkt.

Im Fernsehen half Newton M. Minow den Künstlern, indem er die Unternehmer darauf aufmerksam machte, dass sie um das Niveau ihrer Programme bemüht sein müssten. Die Unternehmer kollidieren aus Notwehr ununterbrochen mit der »Ersten Verbesserung" zur Konstitution, der Garantie des freien Wortes. Das ist ein zweischneidiges Schwert, weil es automatisch den Schöpfern, deren Rechte hinsichtlich der freien Meinungsäusserung beschränkt werden, Argumente gibt.

In der grossen Maschine Hollywood und in dem noch grösseren Mechanismus des Fernsehens ist es für den Künstler fast unmöglich, seine Intentionen zu bewahren. Zu stark ist der verschiedenartige Druck seitens der Chefs, Patrone und der am Gewinn der Unternehmen interessierten Personen. Es gibt zu wenig Menschen, die begreifen, dass die künstlerische Freiheit zu den finanziellen Erfolgen der Produktion keineswegs im Widerspruch steht. Das sind Wahrheiten, die mit grosser Schwierigkeit und Überwindung unzähliger Widerstände manchmal bis zu den grossen Vorsitzenden und Leitern von Film und Fernsehen vordringen. In der heutigen Struktur beider Produktionszweige des "bewegten Bildes" ist die Schaffensfreiheit des Künstlers noch immer stark begrenzt.

(Mit freundlicher Genehmigung Professor Jerzy Toeplitz' und der Redaktion "film". Wissenschaftliche Mitteilungen (Berlin), veröffentlichen wir aus "Film und Fernsehen in den USA' als Vorabdruck (leicht gekürzt) das Kapitel "Die Grenzen der Schaffensfreiheit". Das Buch erscheint Im Verlag Wydawnictwa Artystyczne i Filmowe. Die Übersetzung besorgte Walter Zielke.) 7P


Filmliteratur

Sexus-Eros-Kino

Zitat aus dem Film "Das Schweigen", mitgeteilt in "Sexus Eros Kino" auf Seite 180: "Anna wirft sich laut auflachend herum. Der Mann berührt sie an der Schulter, sie schlägt ihm auf den Mund. Ihr Lachen geht in ein Schluchzen über. Er _... streichelt ihre Schenkel. Anna _... krallt die Hände in den Eisenstäben fest."

Zitat aus der Rede von Oberkirchenrat Dr. Hermann Gerber anlässlich der Vergabe der Deutschen Filmpreise am 23. Juni 1963 in Berlin: "Ist denn immer noch nicht glaubhaft geworden, dass es Dinge gibt, die nicht als Gegenstände der Unterhaltung geeignet sind?"

Zitat aus dem Film "Und Gott erschuf die Frau", mitgeteilt in "Sexus Eros Kino" auf Seite 176: "Michel liegt auf dem Bett, auf dem Rücken, mit nackter Brust, die zerwühlten Laken bedecken ihn bis zum Magen. Julietta _... ist nackt und summt vor sich hin. Michel: Glaubst Du, dass Du mich lieben kannst? Julietta dreht den Kopf herum und sieht ihrem Mann ins Gesicht. Julietta: Auf jeden Fall liebe ich _... das _..."

Zitat aus der Rede von Dr. Theo Fürstenau anlässlich der Vergabe der Deutschen Filmpreise am 28. Juni 1964 in Berlin: "Also ist der Kunst kein Motiv zu verwehren, und zwar genau aus dem Grunde nicht, weil Kunst ein Motiv unter keinen wie auch immer gearteten Umständen aus Gründen der formalen Exhibition zitiert _..."

Zitat aus dem Film "Un Chien Andalou", mit geteilt in "Sexus Eros Kino" auf Seite 165: "Grossaufnahme der lasziven Hände auf ihren Brüsten. Ihr Kleid scheint sich in Luft aufzulösen; er streichelt ihre nackten Brüste. Auf dem Gesicht des Mannes malt sich plötzlich eine Todesangst. Blut rinnt aus seinem Munde auf die nackte Brust der Frau."

Zitat von Francois Truffaut, mitgeteilt in "Sexus Eros Kino" auf Seite 95: "Der Film ist die Kunst, mit hübschen Frauen hübsche Dinge anzustellen."

Eine Untersuchung über Sexus und Eros im modernen Film ist seit langem überfällig und notwendig. An Stoff und an kritischen Ansatzpunkten kann dabei kein Mangel herrschen. Aber die meisten der bisherigen Veröffentlichungen auf diesem Gebiet sind in jeder Beziehung dürftig: in der Analyse, in der historischen Abteilung, in der begrifflichen Definition und in der Verwendung von Kostüm-Sujets bei den Bildteilen.

Wie steht es mit Raymond Durgnats Buch SEXUS EROS KINO, das im Untertitel die stolze Bezeichnung "Der Film als Sittengeschichte" führt? Durgnats eigener Text umfasst rund 153 Seiten. Schon aus Gründen der Qualität müsste man es also eher als Digest denn als Sittengeschichte des Films bezeichnen. Durgnat hat, unter dem Generaltitel "The Crisis of Eros in the Cinema Today", Aufsätze für die britische Monatsschrift FILMS AND FILMING geschrieben. 26 davon sind in dem Buch zusammengefasst. Der deutsche Übersetzer und Herausgeber, Joe Hembus, steuerte dazu zehn Filmszenen aus den Jahren 1906 bis 1964 bei, um "wandelnde Schreib- und Betrachtungsweisen im Lauf der Filmgeschichte zu illustrieren", ausserdem eine "Filmographie", ein Literaturverzeichnis, ein Namenregister und einen umfangreichen Bildteil, in den auch Fotos aus einschlägigen deutschen Filmen aufgenommen wurden, etwa die unbekleidete Marion Michael in LIANE und ähnlich gewandete Damen aus Filmen wie ES MUSS NICHT IMMER KAVIAR SEIN und LABYRINTH oder Szenenfotos aus DAS BROT DER FRÜHEN JAHRE und DIE TOTE VON BEVERLY HILLS. In Durgnats Text spielt der deutsche Film der Gegenwart freilich überhaupt keine Rolle, nur die "Klassiker" von Pabst, Murnau, Lang, Sternberg werden einige Male gerühmt, Emil Jannings und Marlene Dietrich gefeiert und Carl Mayer mit Zavatini und Prévert zum "Triumvirat der grossen Filmautoren" gezählt.

Fritz Langs frühe Filme sind für Durgnat die geistigen Vorfahren der Aldrich-Inszenierung KISS ME DEADLY (Das Rattennest), dem die längste Einzelbetrachtung - fast zehn Seiten - gewidmet ist. (Andere Aufsätze kommen mit anderthalb Druckseiten aus.) Durgnat nennt KISS ME DEADLY einen "gefrorenen" Film, der von der "Sexualität des Schreckens und der Brutalität" aufgetaut wird. Auf der anschliessenden Bildseite grüsst dann etwas frohsinniger der Busen von Ulla Jacobsson in der berühmten Liebesszene aus SIE TANZTE NUR EINEN SOMMER. Durgnat ist, nach der Lektüre des Buches zu schliessen, leider wiederum weder Historiker noch Systematiker noch Analytiker, wenngleich durchaus Sachkenner auf dem von ihm erwählten filmischen Gebiet. Definitionen oder strenge begriffliche Unterscheidungen sind nicht seine Sache. Er benutzt im wesentlichen fast alle in den letzten Jahren interessant erscheinenden Filme, um über sie zu sprechen. Ob er sich dabei enger oder loser an sein Thema hält, kümmert ihn offenbar wenig. Vom BLAUEN ENGEL ist nur zu lesen, dass Joseph von Sternberg sogar aus einer Birne einen erotischen Effekt ziehe. (S. 19) Dagegen erinnert ihn ein Rollenfoto von Marlene Dietrich aus BLONDE VENUS an den "primitiven männlichen Albtraum der Vagina dentata". (S. 19)

Durgnats Urteile sind zuweilen erfrischend originell. Chaplins Erotismus trägt für ihn "Viktorianische" Züge, die aber durch "Gassenjungenpornographie" aufgefüllt werden. (S. 27) Gegen die "Viktorianer" polemisiert er ziemlich heftig, schränkt aber ein, dass Königin Viktoria selber viel weniger viktorianisch gewesen sei als ihr "preussischer Prinzgemahl", der freilich aus dem Haus Sachsen-Coburg-Gotha und nicht aus dem Haus Preussen stammte. Es gibt auch einige wertvolle Informationen. Die ungeschnittene Fassung von LES AMANTS vermittle in der Bade-Szene "das Gefühl der Liebenden, in des anderen Fleisch davongetragen zu werden, das Einssein durch das Schwimmen im selben Medium". (S. 18) Eine Szene unter den Strahlen eines Rasensprengers in WIR VON DER STRASSE wird dagegen als die "fast surrealistische Darstellung eines simultanen Orgasmus" beschrieben. (S. 19)

Noch ein Hinweis: In dem Film GERVAISE hat Maria Schell nicht das nackte Hinterteil von Suzy Delair mit dem Rührholz verprügelt; das Hinterteil des Opfers wurde "von der bekannten Stripteaserin Rita Cadillac gedoubelt". (S. 139) Das tut gut zu wissen. (Um filmsittengeschichtlich nicht völlig ungebildet zu erscheinen, sei hierzu eine Zusatzinformation gestattet: in Fritz Langs "Nibelungen" stammt das Hinterteil des im Drachenblut badenden Siegfried nicht von Paul Richter; es wurde von dem "Hagen"-Darsteller Rudolf Klein-Rogge "gedoubelt".)

Leider lässt Durgnat die wichtigsten Punkte aus. Er handelt ausführlich über die Vergewaltigungsszene in Bergmans "reaktionärem" Film DIE JUNGFRAUENQUELLE, schweigt sich aber über die Vergewaltigungsszene in Viscontis ungeschnittener ROCCO-Fassung aus, obwohl ihm das doch gleich eine elegante Überleitung zum Thema "Homosexualität" gegeben hätte. Er referiert den Inhalt des Films BRIEF ENCOUNTER falsch. (S. 29), weil er den zeitlichen Ablauf der Dinge durcheinanderbringt. Er versäumt, den Film PEYTON PLACE (S. 75) an seiner Romanvorlage zu messen und von daher die "Tabus" der Filmindustrie zu beschreiben. Da er die gleiche Methode auch für DIE KATZE AUF DEM HEISSEN BLECHDACH (S. 137) verschmäht, kommt er hier auch nur zu dem Schluss, es werde das Thema der "selbstzerstörerischen männlichen Virilität behandelt", während sich gerade bei diesem Film - im Vergleich zu dem Theaterstück - die Verlogenheit des amerikanischen Film-Sittencodes nachweisen liesse. Aber für die diffizilen Beziehungen zwischen Zensur, erhofftem geschäftlichem Erfolg und künstlerischer Kühnheit, die das Gebiet der filmischen Erotik kennzeichnen, besitzt Durgnat kaum einen Blick. Sonst würde er nicht nur lapidar feststellen, den "geschlagenen Legions of Decency" sei nur die grimmige Einsicht verblieben, der Teufel habe immer die besten Filme. (S. 23)

Die Filmographie und die beigegebenen Drehbuchausschnitte machen das Buch in Spezialfällen nützlich. Die Aufsätze Durgnats tragen dagegen kaum zur Klärung bei, obwohl ihr Verfasser sicher lobenswerte Ziele hat. Er rebelliert gegen die Auffassung, alles, was mit "Kopulation, Geburt und Tod" zu tun habe, sei "ziemlich abstossend und hässlich". Er spielt die "frigide und depressive Instinktfeinlichkeit" T. S. Eliots gegen Brigitte Bardots "gesunde Provokation" aus und strebt nach einer Kultur des "ungeteilten Menschen", der "mit seinem eigenen Triebleben vertraut ist und das seiner Mitmenschen respektiert". In dem Zusammenhang zitiert er auch August Renoir: "Traue niemand, den der Anblick einer schönen weiblichen Brust nicht aus der Fassung bringt!"

Die Frage ist: Respektiert Durgnat mein Triebleben oder misstraut er mir, wenn ich sage, dass sein Buch mich nicht aufgeregt hat?       Walther Schmieding

Chaplin versus Chaplin

Chaplin - wenn er schon das einzige Genie der Leinwand sein sollte, er wäre es nicht nur dort. Immer hat er es verstanden, sein Geld zu verdienen, und nicht zu wenig. Nur Neider haben ihm das verübelt. Wer so arm war wie er, durfte so reich werden. Er offerierte der Welt sein Genie; sie nahm es, und er vergass nicht, in ihrer Währung den Lohn zu fordern.

Der jüngste Fischzug des Alten (oder Ewig-Jungen: seine wachsende Kinderschar beweist es) nennt sich Autobiografie. Damit hat er uns zwar vor der Biografie seiner Witwe bewahrt, nicht jedoch vor sich selbst.

Schon seine letzten Filme offenbarten die ärgerliche Mesalliance, die er mit der Literatur - oder dem Schwulst, den er dafür hielt - eingegangen war. Es stand zu befürchten, dass er ihr auf die Dauer erliegen würde. Es ist geschehen. Auf 515 Seiten, wunderschön gebunden in grobem Leinen, für 28 DM bei S. Fischer, erzählt Charles Chaplin DIE GESCHICHTE SEINES LEBENS.

Ein "Tristram Shandy" ist nicht daraus geworden; auch Konkurrenz für Boswells "Life of Johnson" ist nicht zu erwarten, obgleich die Autobiografie unseres grössten lebenden Humoristen jenem detailfreudigen, akribisch kompilierten Memoirenwerk näher steht als dem grössten Jux, den sich einer in der Weltliteratur gemacht hat. Denn Chaplin, dessen Kunst der wortlosen Gebärde in ihren gelungensten Augenblicken die unmittelbare Evidenz der Wahrheit erlangt, wird zur banalen Existenz, wenn er über sich selbst ins Reden kommt.

Es steht mit seinem Buch wie mit seinen Filmen: das Früheste ist das Beste Dort, wo er seine Kindheit in Lambeth Road beschreibt, in den traurigen Vorstädten Londons; dort, wo er Armut, Hunger, Verlassenheit und Schwermut beschwört -, die auch (und gerade an den intensivsten Stellen) auf seine Filme fällt -; dort gewinnen seine Aufzeichnungen einen gewissen subtilen literarischen Reiz, der sich aber bald in Geschwätzigkeit verliert. Je weiter sich der Erinnernde von seiner Jugendzeit entfernt, desto spröder wird ihm sein Lebensmaterial: literarisch nicht aufgearbeitet, besteht es aus einem Sammelsurium von Anekdoten, Meinungen und Vorurteilen: dem üblichen Allotria der gegenwärtigen Memoirenliteratur nun eben.

Dass ihm die Passagen, die seine Kindheit beschreiben, am erträglichsten gelungen sind, deutet auf ihre Bedeutung hin. Das autobiografische Moment seiner Filme, es ist bekannt, hier aber wird es evident durch ihn selbst. Zugleich aber jener dickensische Tonfall, jene Atmosphäre der Vorstädte, die so unvergleichlich in EASY STREET, THE KID und einigen Bildern aus CITY LIGHTS und MODERN TIMES eingefangen ist als habe sie der viktorianische Dichter selbst entworfen. Tief ist Chaplin dem 19. Jahrhundert verpflichtet; seine Kunst entstammt ganz dem Ausgang dieser Zeit. Wenn sie nicht im Film eine Heimstatt gefunden hätte, von seinem Genie entfaltet, noch einmal zur Höhe artistischer Vollendung geführt, sie wäre schon damals untergegangen, spurlos im optischen Gedächtnis der Zukunft. Das ist Chaplins Verdienst, daran vermag auch seine Autobiografie nicht irre zu machen.

So kann man nicht sagen: Si tacuisses, genius mansisses. Er bleibt es trotzdem. Denn: Chaplin, das ist wenig; Charlie aber: das ist alles.       Wolfram Schütte
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Rückumschlag

Was wird verlangt? Dass einer Volksmehrheit, deren geistige Ebene in allem höher liegt, vom Film allein nicht eine kindische Senkung ihrer geistigen Ansprüche zugemutet werde. Der Film soll nicht fälschen, die Geschichte nicht, die Gegenwart nicht, weder im Geistigen, noch was Kunst betrifft.       Heinrich Mann, 1928
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