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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 47, Oktober-Dezember 1965

Inhalt
Brief aus Prag
Anfänge
Gespräch mit Francesco Rosi
Die Funktion der Farbe bei Antonioni
Sprache und Bild in den Filmen von Antonioni und Resnais
Schriftsteller in Hollywood
Rückumschlag
Der Damm
Nicht versöhnt
Die süsse Haut


Brief aus Prag

Bei Betrachtungen, die über den tschechoslowakischen Film im Ausland angestellt werden, wird man gar zu oft Zeuge eines Denkschemas: die Filme und Experimente der "Jungen" werden den Werken der "Alten" als Alternative entgegengestellt. Der Begriff "Junger tschechoslowakischer Film" wird etwas zu eilfertig und meist noch fragwürdig dazu gebraucht. Die Erfolge der tschechoslowakischen Filmkunst in den letzten Jahren erscheinen so als "Revolte der jungen Generation" (vgl. u. a. Filmkritik 12/64: "Wieder, wie 1957 war es so, dass das gesammelte Auftreten von Talenten eine Erschütterung zum Anlass hatte"). Diese Betrachtungsweise verletzt einerseits die jederzeit nachweisbare Kontinuität in der Entwicklung der tschechoslowakischen Kinematografie, andererseits entstellt sie die realen Vorgänge in den Studios von Barrandov und Bratislava.

Es stellt keine Unterschätzung der hochzubewertenden Arbeiten der Jires (Der Schrei, 1963), Forman (Der schwarze Peter, 1963), Nemec (Diamanten der Nacht, 1964) und Schorm (Mut für den Alltag, 1964) dar, wenn man darauf verweist, dass die wesentlichsten Impulse in den letzten Jahren von Filmen der mittleren Regiegeneration ausgingen. Ihr Verdienst: sie räumte Schritt für Schritt mit thematischen Tabus auf, die ihre Zähigkeit genügend unter Beweis stellen konnten, sie trugen Stück für Stück von der Mauer der Konventionen und Schablonen ab, die den Blick auf die Realität bis dato verstellte.

Erinnert sei an die Filme des Regiegespanns Jan Kadar (geb. 1918) und Elmar Klos (geb. 1910). In "Der Tod heisst Engelchen" (1963) benutzten sie die Geschehnisse um eine gejagte und gehetzte slowakische Partisaneneinheit zur Reflexion über die moralischen Implikationen der Protagonisten. Der Film gebraucht Motive üblicher Widerstandsfilme, um sie jedoch hier in der kritischen Distanz zu zeigen. Die glatte Oberfläche der klaren Fronten schwindet einem fast selbstquälerischen Sezieren der Differenziertheit der Prozesse. Kadar/Klos' nächster Film "Der Angeklagte" (1964) ist ein Novum in der sozialistischen Kinematografie überhaupt. Man muss bis auf Friedrich Ermlers "Gegenplan" zurückgehen, um einen Film gleicher Aufrichtigkeit und Offenheit über Vorgänge in der sozialistischen Industrie anzutreffen. In einer Gerichtsverhandlung - der Angeklagte ist Josef Kuderna, Direktor eines grossen Wärmekraftwerkes, der der Veruntreuung angeklagt wird, die er durch unberechtigte Prämienzuwendung verursacht habe - stehen keineswegs Charakterschwächen oder subjektive Irrtümer zur Debatte, sondern wesentliche Momente der Wirtschaftsführung in der CSSR. Auf völlig unprätenziöse, sachliche Weise führt der Film zum Beispiel den Disput über das Prinzip der materiellen Interessiertheit, stellt seine Voraussetzungen und seine Anwendung in Frage. Es werden keineswegs die Bilderbuchfiguren des Bürokratismus wiederholt, sondern der bürokratische Mechanismus als oft unabdingbares Element der Leitung ökonomischer Prozesse begriffen. Das Erscheinen des "Angeklagten" stellt die wohl wesentlichste Zäsur der letzten Jahre dar. Es wird nach der Verantwortung des Einzelnen gefragt, nach seiner Entscheidung, im richtigen Moment Ja oder Nein zu sagen. Auch der neue Film von Kadar/Klos "Der Laden auf dem Korso" (er lief in Cannes), die Geschichte einer tauben jüdischen Ladenbesitzerin und eines slowakischen Kleinbürgers, der den Laden "arisieren" soll, ist wieder vor allem als Gewissenserforschung bemerkenswert. So konkret das historische Material auch immer sein mag, es bleibt der moralische Grundkonflikt für die Gegenwart transparent. "Auf der einen Seite steht die Tendenz, das Leben auf eine denkbar einfache Formel zu reduzieren, auf der Gegenseite eine komplizierte Realität" (Klos).

In dem Bemühen, dem Film eine eigenwertige philosophische Ebene zu erschliessen, treffen sich die Bemühungen von Kadar/Klos mit denen ihres jungen slowakischen Landsmannes Stefan Uher (geb. 1930). Bei seinem letzten Film "Die Orgel" ist jedoch die Geschichte - die in einer kleinen slowakischen Stadt während der Zeit des sogenannten Slowakischen Staates spielt - anders als bei Kadar/Klos am unwesentlichsten. Das Milieu ist höchst austauschbar und Uher macht daraus keineswegs ein Hehl ("Man könnte unseren Film als ungewöhnliche Diskussion über Musik bezeichnen, vor allem über Kirchenmusik. Der Hauptgedanke des Films ist der, dass im Augenblick, wenn die Schönheit aus dem Leben schwindet, der Tod an ihre Stelle tritt.

Das ist das ethische Problem"). "Die Orgel" ist bewusst mehrschichtig gehalten, wechselt mehrfach zwischen einer realen und einer stilisierten Ebene. Die Erzählung von den zwei Orgelspielern ist an der Oberfläche der Ausdruck des zeitlosen Gegensatzes zwischen künstlerischem Talent und routiniertem Handwerk. Uher braucht für seine allegorische Konzeption einen Hintergrund, nicht mehr. Wie weit er hiermit gegen die immer noch übliche Illustrationsmethode zur "Schärfung des Geschichtsbewusstseins" verstösst, bedarf wohl keines speziellen Nachweises. Doch würde es eine Unterschätzung dieses Films bedeuten, ihn auf die oben zitierte allgemein-ethische zeitlose Konzeption festlegen zu wollen. Es klingen an: die Prostitution der Kunst für enge pragmatische Aspekte, das Schwinden künstlerischer Ambitionen aus Angst vor praktischen unbequemen Konsequenzen. Uher zeigt diese Vorgänge, verschlüsselt sie jedoch zu sehr, bettet sie in die Welt gotischer Kirchenarchitektur und der Musik Bachs und lässt seinen Film teilweise darin versinken. Man kann nur mutmassen, dass Uher ursprünglich einen für ihn kennzeichnenden eigenwilligen Beitrag zum Thema Personenkult und Kunst liefern wollte. Die Relikte rechtfertigen nicht ganz den Aufwand. In seiner verspielten Schönheit verleugnet der Film "Die Orgel" jetzt selbst seine ursprünglichen Fragestellungen.

Mit Erwartungen und Befürchtungen zugleich sah man dem neuen Film von Zbynek Brynych (geb. 1927) _... und der 5. Reiter ist die Angst" entgegen. Das Thema barg zweifellos die Gefahr in sich, in modischen Kafkaismus zu verfallen. Das vorliegende Resultat ist trotz vieler kafkaesker Züge eine bemerkenswerte filmische Therapie wider die Angst. Brynych interessiert speziell die Gleichgültigkeit der Menschen, verbunden mit der Feigheit, als Angstreflex auf eine feindliche soziale Umwelt. In gewissem Sinne ist sein Film eine Variation und präzisere Ausführung des interessanten Debütfilms von Jaromil Jires "Saal der verlorenen Schritte". Jires schrieb damals dazu: "Mich beängstigte die Stumpfheit der Menschen, die auf sehr gefährliche wichtige Vorkommnisse nicht reagieren _... Würde man sagen, Prag versinkt, könnte das eine Panik verursachen, aber es wäre auch möglich, dass es den Menschen überhaupt nicht zum Bewusstsein kommt." Brynych zeigt drei Menschengruppen, die der Angst ausgesetzt sind, Menschen, die über dem Gesetz stehen, Menschen, die dem Gesetz unterworfen sind, und Menschen, die ausserhalb des Gesetzes leben.

Man schreibt das Jahr 1941. Prag. In einer ehemaligen Synagoge werden merkwürdige Überbleibsel zusammengetragen. Ein Saal, voll mit tickenden Uhren. Ein Saal mit Pianos, einer mit Büchern, Spielzeug usw. Durch diese Säle bewegt sich Dozent Braun, ein ehemaliger Arzt und jetzt Magazineur. Er führt eine kokonhafte Existenz, eingesponnen in die Reste einer untergegangenen Welt. Dieser Mensch wird zum "Helden" eines Dramas, als er einem Angeschossenen hilft, ihn operiert und versteckt. Sein Handeln löst den Mechanismus der Angst aus, der das unscheinbare Prager Mietshaus und seine Bewohner ergreift. Traditionelle Verhaltensweisen erweisen sich als brüchig, humane Gesten werden zur sinnentleerten Konvention. Die Angst entfremdet das menschliche Ich. Das menschliche Zusammenleben pervertiert sich. Auf der Suche nach Morphium durchläuft Dozent Braun Endstationen dieses Werteverfalls: das makabre Lokal, in dem es den Prager Juden während der Prager Okkupationszeit gestattet war, "gesellschaftlichen Umgang zu pflegen", die pathologische Abteilung des Krankenhauses (letztlich doch nur eine Variante des angsterfüllten Bürgerhauses). Am Ende wird Braun von einem Bewohner des Hauses an die denunziert, die über dem Gesetz stehen, und nimmt Gift. Brynych gelingt es jedoch, Brauns Tod nicht als Schlusspunkt eines fatalistischen Prozesses wirken zu lassen. Brauns Besinnen auf seine Würde, die Überwindung der Angst durch seine Tat überwiegen. Braun hat zu sich selbst gefunden, er ist nach einem eigenen Gesetz angetreten, nicht nach dem Gesetz der "unmenschlichen Maschinerie des staatlichen Apparates" (Brynych).

Auf eine Besonderheit dieses Films sei noch hingewiesen. Brynych stilisiert bewusst sein Problem ("Es erscheint uns nicht wichtig, in unserem Film SS-Männer mit dem Totenkopf auf der Mütze oder Juden mit dem gelben Stern auf der Brust zu zeigen"). Sein Film bezieht auch Stellung gegen die moralischen Verkrüppelungen in der jüngsten Geschichte des tschechoslowakischen Volkes. Brynych scheut nicht die Attitüde des Missionars wider die Angst. Im Epilog des Films erscheinen Bilder aus dem heutigen Prag.       Jan Sedlacek
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Anfänge

Der Geist, der den deutschen Nachkriegsfilm konsequent in Verruf und Konkurs gebracht hat, scheint in Berlin allmählich etwas im Schwinden begriffen; seine Vertreter brechen nach und nach ihre Zelte ab. In den berliner Filmateliers entstehen hauptsächlich Fernsehproduktionen, in den Studios werden ausländische Filme synchronisiert. Nichts wäre indes verfehlter als die Befürchtung, Berlin werde mit dem Untergang dieser mehr als zweifelhaften Filmkultur seine Bedeutung als Filmstadt verlieren. Betrachtet man die Ansätze optimistisch und unter Einbeziehung des Risikos einer eventuell verfrühten Prognose, dann sieht es im Gegenteil ganz so aus, als ob durch das einstweilige Abtreten jener konservativen Schicht, die bislang das Gesicht des deutschen Films bestimmen konnte, endlich die nötige Bewegungsfreiheit für die inzwischen suspekt gewordene Erneuerung des deutschen Films gegeben sei; vor allem aber - und das ist das eigentlich Entscheidende - sieht es so aus, als ob diese neuen Möglichkeiten in Berlin auch entsprechend genutzt werden.

Das erste Projekt, von dem nicht nur in Berlin die Rede sein muss, wenn es um den deutschen Film geht, ist die "Deutsche Film- und Fernsehakademie". Nach mehr als dreijährigen Verhandlungen wurde sie am 26. Juni, dem zweiten Tag der Filmfestspiele, in Berlin gegründet. Bundesregierung und Berliner Senat schlössen ein Verwaltungsabkommen und einen Gesellschaftsvertrag. Die Kosten für die Einrichtung und Unterhaltung der G.m.b.H. werden vom Bund und dem Land Berlin zu gleichen Teilen getragen. Als Startkapital stehen 300 000 DM zur Verfügung, für das nächste Jahr sind 400 000 DM zugesagt und im folgenden hofft man, auf einen Etat von einer Million zu kommen. Das sechsköpfige Kuratorium der G.m.b.H. setzt sich paritätisch aus Vertretern von Bund und Land zusammen. Den Vorsitz hat prinzipiell ein Vertreter des Senats.

Die vorläufige Geschäftsführung liegt in Händen eines Beamten des Senats für Kunst und Wissenschaft. Der nächste Schritt ist nun die Bestellung von zwei Geschäftsführern durch das Kuratorium. Aufgabe des einen wird die künstlerische Leitung sein, die Festlegung künstlerischer und pädagogischer Zielsetzung; die Zuständigkeit des anderen erstreckt sich auf Organisation und Verwaltung.

Räumlichkeiten für die Akademie sind zunächst im Gebäude des Senders Freies Berlin vorhanden. Ob man für später an ein eigenes Gebäude denkt oder hofft, dass der SFB eines Tages in ein neues Haus umzieht, lässt sich heute noch nicht endgültig beantworten.

Soweit die Fakten. Alles, was- dies dürre Gerüst zu einer Ausbildungsstätte für Film und Fernsehen machen wird, ist noch nicht spruchreif, zum grössten Teil noch nicht einmal geplant, obwohl der Unterricht schon im kommenden Frühjahr aufgenommen werden soll. Die beiden Partner hüten sich vorerst, über Details zu sprechen, um den zukünftigen Geschäftsführern völlig freie Hand zu lassen. Ihre Befürchtungen gehen dahin, dass die in Aussicht genommenen Personen das Angebot ablehnen, sobald sie irgendeine beabsichtigte Beschränkung ihrer Freiheit beim Aufbau der Akademie vermuten. Deshalb äussern sie nur sehr allgemeine Vorstellungen. Danach soll der Zugang zur Akademie nicht ausschliesslich über das Abitur führen und die Altersbegrenzung grosszügig gehandhabt werden. Man denkt an eine dreijährige Ausbildungszeit in Klassen zwischen fünfzehn und fünfunddreissig Schülern. Ausgebildet werden sollen vor allem Regisseure, Kameraleute, Tontechniker, Schnittmeister, und zwar möglichst nicht nur einseitig auf filmischem Gebiet, sondern in allem, was zur Allgemeinbildung gehört, wobei eine Tendenz zur Betonung der theoretischen gegenüber der praktischen Ausbildung zu bestehen scheint. Die Entscheidung hierüber wie auch über die wahrscheinlich viel zu hohe Schülerzahl werden allerdings die erfahreneren Geschäftsführer fällen.

Von einer Zusammenarbeit mit schon bestehenden Institutionen in anderen Städten, die die Initiative ergriffen hatten, lange bevor man sich zu einer Gründung in Berlin entschloss, ist kaum noch die Rede. Die Kultusministerkonferenz der Länder hatte seinerzeit zwar einstimmig eine gleichmässige Finanzierung der berliner Akademie, der münchner Einrichtungen und der Filmabteilung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm beschlossen, aber diese Lösung scheiterte an der Ablehnung der Finanzminister der Länder. Wegen der dadurch erneut aufgebrochenen Rivalität zwischen München und Berlin ist augenblicklich nur von einer möglichen lockeren Zusammenarbeit mit Ulm die Rede. Grundsätzlich soll die Akademie jedoch selbständig funktionieren.

Das grösste Problem besteht zur Zeit in der Schwierigkeit, zwei geeignete Geschäftsführer zu finden. Intern werden zwar verschiedene Namen genannt - es ist häufig die Rede von einem pädagogisch erfahrenen Mann aus einem Kultusministerium, der sein Organisationstalent oft unter Beweis gestellt hat, und von einem zeitkritischen Regisseur, bei dem man sich allerdings fragen sollte, ob er in der Lage ist, seine eigenen Regiepläne für längere Zeit hintan zu stellen. Ob die beiden Personen (Anmerkung der Redaktion: Gemeint sind offenbar Dr. Rathsack, Kiel und Erwin Leiser, Zürich.) annehmen werden, ist noch keineswegs sicher, nicht zuletzt, weil die Anstellung als Geschäftsführer einer G.m.b.H. ohne weitere Erläuterungen nur eine sehr beschränkte Existenzsicherheit bietet, ganz abgesehen von den Unannehmlichkeiten, die diese Posten mit sich bringen; denn aufgrund der vorausgegangenen Erfahrungen lässt sich annehmen, dass die Geschäftsführer ständig darauf bedacht sein müssen, eine zu starke Verstrickung der Akademie im Netz der verschiedensten Interessen zu verhindern. Ausserdem müssen die optimalen persönlichen Voraussetzungen für eine enge Zusammenarbeit gegeben sein.

Alle weiteren Berufungen von Lehrenden für die Akademie werden erst nach den Vorschlägen der zukünftigen Geschäftsführer vorgenommen. Ebenso liegt bei ihnen der Entwurf des gesamten Modells der Akademie, so dass sich über den Lehrplan und die Methodik noch gar nichts sagen lässt. Fest steht nur, dass im Laufe der vergangenen Jahre verschiedene Gutachten angefertigt worden sind und dass zumindest eine der vorgesehenen Personen einer der gründlichsten Kenner aller ausländischen Filmschulen ist.

Im gegenwärtigen Stadium wirkt diese neugegründete Akademie noch wie ein hoffnungslos in Verwaltung verstricktes Unternehmen. Das allerdings ist ganz natürlich; die Verantwortlichen hätten jedoch durch ausreichende Information der Öffentlichkeit verhindern müssen, dass um die Neugründung allerlei Gerüchte und Rivalitäten entstanden. In einer derart wichtigen Frage wie der Gründung einer Akademie wären offen mit Fachleuten geführte Diskussionen eher am Platz gewesen als langgezogene Beratungen von Verwaltungsleuten hinter verschlossenen Türen. So wurde eine Institution, die immerhin auf einen gewissen Vorschuss an Prestige angewiesen ist, allen möglichen Vermutungen ausgesetzt, noch bevor der Betrieb überhaupt aufgenommen ist. Die Notwendigkeit, dies Prestige wiederherzustellen, bedeutet für die etwa Anfang Oktober zu berufenden Geschäftsführer eine zusätzliche Belastung bei den ohnehin kaum überschaubaren Planungsaufgaben, die ihnen bevorstehen.

Ebenfalls in Berlin entstand eine Einrichtung, die für die Arbeit einer Akademie unerlässlich ist: die Deutsche Kinemathek wurde am 1. Februar 1963 gegründet, nach ähnlich langwierigen Vorbereitungen wie im Falle der Akademie. Als Grundstock der Kinemathek wurden das nach rein kommerziellen Gesichtspunkten aufgebaute Archiv Fidelius und die umfangreiche Privatsammlung des Regisseurs Lamprecht angekauft. Lamprecht machte den Verkauf davon abhängig, dass man ihn zum Direktor der Kinemathek auf Lebenszeit ernannte. Da Lamprecht gleichzeitig ein Angebot der cinémathèque française vorlag, wurden seine Bedingungen akzeptiert. Bei der diesjährigen Tagung der internationalen Filmarchive in Oslo wurde die Deutsche Kinemathek nach Vorlage einer Liste ihrer Bestände als Mitglied der F.I.A.F. aufgenommen und besitzt damit die gleichen Rechte als staatliches Archiv wie das Deutsche Institut für Filmkunde in Wiesbaden.

Seit ihrer Gründung musste die Kinemathek sich immer wieder heftige Angriffe gefallen lassen, weil das vorhandene Material im Gegensatz zu anderen Archiven niemandem zugänglich ist. Dazu muss gesagt werden, dass die Hauptarbeit der Kinemathek bisher darin bestanden hat, die oft nur wenige Meter langen Filme erst einmal zu sichten, ihren Zustand zu überprüfen und, soweit möglich, Duplikate anzufertigen. Dass man prinzipiell keines der ohnehin sehr empfindlichen Unikate ausleiht, dürfte nur zu verständlich sein. Da aber vorerst weder die zur Restauration der Filme nötigen finanziellen Mittel noch genügend Personal vorhanden sind - die Kinemathek besitzt augenblicklich ein halbes Dutzend Mitarbeiter -, da ausserdem für die frisch gezogenen Kopien nur ein feuchter Bunker zur Verfügung steht, ist es kaum verwunderlich, dass die Arbeit langsam voran geht und ein Ankauf neuer Filme nur beschränkt stattfinden kann. Dasselbe Problem besteht auch für das übrige Material des Archivs: die kostbaren Diapositive, die seltene Fotosammlung, die Tondokumente, die Bücher und Zeitschriften konnten bislang nicht katalogisiert werden, die berühmte Stummfilmkartei wartet immer noch auf ihre Veröffentlichung. Eine Ausstellung der Apparaturen und der Schausammlung muss aus Platzmangel unterbleiben. Auf achtundneunzig Quadratmetern drängt sich in Schränken der gesamte Besitz der Kinemathek zusammen. Neuerdings ist von einem Umzug die Rede. Auch das Archiv soll im Hause des S.F.B, untergebracht werden, eine Aussicht, die im Hinblick auf eine Zusammenarbeit von Akademie und Archiv nicht idealer sein könnte.

Um vorerst wenigstens einem kleinen Kreis die Filme des Archivs zugänglich zu machen, gründeten im vergangenen Jahr Ulrich Gregor, Gero Gandert, Reinold Thiel, Friedrich Luft, Helmut Käutner, Karena Niehoff, der Antiquitätenhändler Wegener und Hansjürgen Pohland den Verein der Freunde der Kinemathek. Der Verein hat etwa 950 ausserordentliche Mitglieder, davon rund siebzig Prozent Studenten. Die Veranstaltungen, über die der Verein eine Dokumentation herausgibt, finden in unregelmässiger Folge ungefähr viermal monatlich statt. Erwähnenswert in dieser Reihe sind eine Woche des sowjetischen Films und eine Woche des Gangsterfilms. Da die Frage, ob neben dem Wiesbadener Institut für Filmkunde noch ein zweites deutsches Archiv nötig gewesen wäre, durch die seinerzeit recht forcierte Gründung der Deutschen Kinemathek in Berlin zur rein theoretischen Erörterung degradiert worden ist, bleibt zu hoffen, dass die Arbeit der Kinemathek so bald wie möglich über den Rahmen der Freunde der Kinemathek hinaus auch der zukünftigen Akademie und einer grösseren Öffentlichkeit von Nutzen sein wird.

Dass der Weg zum Filmemachen nicht unbedingt über die Akademie führen muss, beweist das Filmstudio des Literarischen Colloquiums Berlin, das seit einiger Zeit eine Methode der Filmförderung praktiziert, die sich grundsätzlich von dem unterscheidet, was an der Akademie betrieben werden wird und kann.

Nicht von Unterricht und Studium ist hier die Rede, sondern ausschliesslich von praktischer Arbeit. Wer sich an das Filmstudio des Literarischen Colloquiums wendet, hat allerdings - neben gewissen filmischen Grundkenntnissen, die im allgemeinen auf zumindest einem Spezialgebiet vorausgesetzt werden - fest umrissene Vorstellungen über den Film, den er plant; denn das Studio lehrt nicht, es berät bestenfalls; seine Hauptaufgabe besteht jedoch darin, für die akzeptierten Projekte die nötigen finanziellen Mittel und technischen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen und gegebenenfalls bei der Auswahl der Mitarbeiter behilflich zu sein, über die eingereichten Vorschläge entscheiden Professor Walter Höllerer, Leiter des Literarischen Colloquiums und Initiator des Studios, und Wolfgang Ramsbott, ehemaliger "magnum"-Redakteur und Regisseur verschiedener Experimentalfilme (DIE STADT, 1956, DIE SCHLEUSE, 1961, SACKGASSE, 1963), der als Leiter des Studios verpflichtet wurde.

Das Studio verdankt seine Existenz der Ford Foundation. Nach dem 13. August 1961 stiftete die Ford Foundation zur Belebung des kulturellen Lebens in Berlin acht Millionen Mark. Der grösste Teil des Betrages kam der Aktion "Artists in Residence" zugute, nach der in Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat Künstler aus aller Welt für ein Jahr nach Berlin eingeladen wurden. Ein Ergebnis dieser Aktion war im vergangenen Jahr auf der kasseler "documenta" in dem raumfüllenden Gesamtkunstwerk eines amerikanischen Malers zu besichtigen. Weitere Stiftungsgelder wurden zur Einrichtung eines Institutes für vergleichende Musikwissenschaft und für das Projekt Literarisches Colloquium verwandt.

Während der für deutsche Jungautoren kursartig durchgeführten literarischen Diskussionen und Schreibversuche, die auf Tonband festgehalten und kürzlich auszugsweise in dem Buch "Prosastücke" veröffentlicht wurden, nahm der bald latent vorhandene Gedanke einer Ausweitung der literarischen Experimente auf den Film immer festere Gestalt an. 1964 wurde das Filmstudio als eine selbständige Abteilung dem Colloquium angegliedert. In einer Information des Studios heisst es über dessen Ziele, dass "neben den bereits bestehenden oder entstehenden Lehrakademien in Deutschland die Produktion von Filmen ermöglicht werden soll, die - von der kommerziellen Marktlage einigermassen unabhängig - richtungsweisend sein können".

Das Studio besitzt je eine komplette 16- und 35-mm-Ausrüstung, Tonaufnahmegeräte, Schneidetische, Beleuchtungs- und Umspielanlagen, die den Filmautoren ebenso wie das Rohmaterial kostenlos zur Verfügung stehen. Während der Filmarbeiten können die Beteiligten am Sitz des Coloquiums, einem grosszügig ausgestatteten ehemaligen Gutshof in Berlin-Wannsee wohnen. Ausserdem werden gewisse Unterhaltskosten gezahlt, die jedoch keineswegs einem Regiehonorar entsprechen.

Zweifellos trägt die ungezwungene, gelöste Atmosphäre in diesem Landhaus, tragen die dort während des täglichen Zusammenlebens geführten Diskussionen und die zeitweilige relative finanzielle Sorglosigkeit ein Grossteil zur Entstehung der Filme bei und spiegeln sich in ihnen wieder. Jedenfalls dreht sich ein aus Pop-Art, Farbe, Ornament, Rhythmus, Phantasie und Ironie lebender Film wie INSIDE-OUT (1964) von George Moorse, der in Oberhausen einiges Aufsehen erregte, in einem solchen Klima gewiss leichter. Offensichtlich hat auch der Kurzfilm "Abends, wenn der Mond scheint" (1964), eine auf weite Strecken einfallsreiche ironische Studie über Heiratsannoncen und ihre Hintergründe von Helmut Herbst und Peter Rühmkorf, diesem Geist des Workshops einiges zu verdanken. Als dritter Film des Studios entstand von Wolfgang Ramsbott "Technische Universität Berlin" (1965), eine ursprünglich längere Arbeit, die inzwischen für eine im Herbst vorgesehene Sendung im Fernsehen umgearbeitet wurde. Als weiterer Kurzfilm wird augenblicklich "Flowers ist sein Name" nach einem Drehbuch von Peter Paul Bergman und Wolfgang Ramsbott gedreht. Für eine der nächsten Produktionen ist erstmalig ein Spielfilm geplant.

Eine Umarbeitung für das Fernsehen musste sich auch INSIDE-OUT gefallen lassen. Obwohl man sich im Studio über die Unsinnigkeit der Schwarz-Weiss-Wiedergabe gerade dieses Films im klaren ist, stimmte man der Aufführung zu, da die Fortführung der Arbeit im gegenwärtigen Sinne und auf die Dauer wohl auch der Fortbestand des Studios von eigenen Einnahmen abhängen. Der berliner Kultursenator hat inzwischen zwar die Weiterführung der geschaffenen Einrichtungen auch nach dem Auslaufen der Stiftung zugesagt, aber das Studio legt schon aus Gründen der Selbstbestätigung und der Rechtfertigung Wert darauf, nicht gänzlich auf Mäzene angewiesen zu sein. Nach dem Prinzip der Stiftung Junger Deutscher Film fliesst der Gewinn aus Prämien und Einspielergebnissen der Filme in der Hauptsache an das Studio zurück, das mit dem Geld neue Filme finanziert.

Gerade das Fehlen der bei einer Akademie selbstverständlichen Garantien bildet für das Studio eine ständige Quelle eigener Impulse. Obwohl die Autoren, die hier drehen, kaum abgesichert sind, konnten ihre bisherigen Filme sich neben den kommerziellen Produktionen nicht nur behaupten, sondern sie durch ihre Originalität sogar überrunden. Die Autoren des Studios bedeuten somit für die zukünftigen Akademieschüler eine deutliche Konkurrenz. Es wäre daher von Seiten der Akademie falsch, verächtlich den bohemienhaften Charakter des Studios zu belächeln, wie es zur Zeit manchmal geschieht. Statt dessen sollte man sich das Studio als ständiges Beispiel vor Augen halten, wenn es darum geht, Akademismus und Bürokratie zu verhindern, die sich nur zu gern bei einer mit allen möglichen Garantien versehenen Institution einstellen, wie es die Akademie nun einmal ist.

Da die berliner Gründung seit Jahren überfällig war, entstanden in verschiedenen deutschen Städten Einrichtungen, die den jeweiligen Bedürfnissen einer Filmausbildung Rechnung trugen. Solche Einrichtungen entwickelten sich kontinuierlich und fügten sich dem vorhandenen organisch ein. Eine derartige Entwicklung wird aller Voraussicht nach noch in diesem Jahr in Kiel ihren einstweiligen Abschluss finden, wo man im Jubiläumsjahr der dreihundertjährigen kieler Universität an die Verwirklichung von Plänen für ein Institut geht, das der theoretischen und praktischen Ausbildung auf den Gebieten Theater, Film, Fotografie, Funk, Fernsehen, Presse, Musik und bildende Kunst dienen wird. Dabei ist allerdings nicht an ein eigenes Studium dieser Fächer gedacht - wer entdeckt, dass er sich ausschliesslich für diese Fächer interessiert, wird auf einschlägige Schulen oder Volontariate verwiesen; das "Studio an der Universität Kiel" soll vielmehr als Bindeglied zwischen den Fakultäten fungieren. In der Praxis wird das so aussehen, dass Studenten, die in ihrem speziellen Studium auf Fragen stossen, die einem der genannten Gebiete entstammen, diesen Fragen auf der Basis ihres Spezialwissens und im Hinblick auf ihr eigenes Fach intensiv nachgehen können. Gleichzeitig soll den Studenten die Möglichkeit gegeben werden, ein Gebiet gründlich kennenzulernen, das ausserhalb ihres Faches liegt. Das Ergebnis sind einmal Künstler und Publizisten mit einer wissenschaftlichen Ausbildung, zum anderen aber Wissenschaftler, denen ihre künstlerischen oder publizistischen Kenntnisse später in ihrem Beruf zugute kommen. In der Tat ist es schon heute so, dass Schleswig-Holstein über eine beachtliche Anzahl von Laienspielgruppen, Film- und anderen Arbeitsgemeinschaften verfügt, deren Initiatoren fast sämtlich aus den studentischen Arbeitsgemeinschaften kommen, die dem Studio vorausgingen und seine Einrichtung nahelegten, weil sich die Aufgaben im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft nicht mehr bewältigen liessen. Erinnert sei nur an die unter Leitung von Dr. Heinz Rathsack, der auch die Idee des Studios entscheidend vorantrieb, seit 1956 jährlich stattfindenden Kieler Filmtage, filmhistorische Tagungen von internationalem Rang.

In dieser Richtung soll die Arbeit des Studios fortgesetzt werden. Viele Vereinbarungen über Gastdozenturen von Praktikern des Theaters, des Films und Rundfunks und auf der anderen Seite über Praktika der Studenten bei Theater, Film und Funk sind schon getroffen. Der Grundstock einer Bibliothek ist vorhanden; ebenso stehen Räumlichkeiten zur Verfügung. Noch in diesem Jahr wird mit der Fertigstellung eines Gebäudes gerechnet, dessen Konzeption vielseitige Verwendungsmöglichkeiten bietet. Ein sechseckiger Zuschauerraum, der den Aufbau aller Bühnentypen gestattet, lässt sich dank der entsprechenden Beleuchtungsanlagen ohne Schwierigkeiten als Aufnahmeatelier verwenden. Rundum liegen Schneideräume, Tonstudios, Werkräume, Labors, Garderoben usw.

Augenblicklich kommt es nur noch darauf an, im Rahmen der Universität einige zusätzliche Stellen für hauptamtliche Mitarbeiter des Studios zu schaffen. Wenn dies Problem finanziell und personell gelöst ist, wird man in Kiel zum erstenmal die Integration künstlerischer und publizistischer Praxis in die wissenschaftliche Arbeit einer Hochschule unternehmen. Damit wäre ein wichtiger Schritt zur Anerkennung des Films als Bestandteil der Allgemeinbildung im Bewusstsein der Schulen und Universitäten getan.       Barbara Bernauer
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Gespräch mit Francesco Rosi

Frage: Wie sind Sie zum Film gekommen?

Rosi: Bevor ich anfing, Filme zu machen, habe ich einiges andere ausprobiert, allerdings immer mit der Absicht, zum Film zu gelangen. Ich wollte mich beim Centro Sperimentale di Cinematografia anmelden, aber mein Vater brachte mich davon ab; er riet mir, mich in der juristischen Fakultät in Neapel einzuschreiben. Ich habe meinen Militärdienst geleistet und danach von 1944-45 in Neapel beim Rundfunk für die P.W.B. (Psychological Worker Branch) gearbeitet. Damals wollte ich auch eine Zeitung für Kinder gründen; ich zeichnete, ich machte Marionetten. Ich habe auch "Alice im Wunderland" illustriert. Dann schlug mir ein Freund, der Theaterregisseur Ettore Giannini - ich hätte beim Rundfunk mit ihm zusammengearbeitet - vor, ihm bei "II Voto" nach einer Komödie von Salvatore di Giacomo zu assistieren. Ich habe nicht sofort zugesagt, weil ich schon beschlossen hatte, nach Mailand zu gehen, um dort als Zeichner mein Glück zu versuchen. Aber in Mailand fühlte ich mich nicht besonders wohl und war keineswegs mehr davon überzeugt, dass meine Zukunft auf den Gebieten Zeichnen und Marionetten läge; deshalb bin ich nach Rom zurückgekommen und habe Gianninis Vorschlag angenommen. Ich war sein Assistent und spielte auch in dem Stück mit. Um danach nicht als Besiegter nach Neapel zurückzukommen (die Theatergesellschaft war aufgelöst, und ich hatte keine Arbeit mehr), habe ich bei einer Revue mitgewirkt, einer dieser leicht intellektuell gefärbten Truppen, die es damals in Italien gab. Sordi, Caprioli, Panelli, Salce, Adolfo Celi und Olga Vili waren dort; ich bin acht Monate als Schauspieler bei ihnen gewesen. Dann wollte ich mich wieder beim Centro Sperimentale einschreiben; ich erinnere mich, dass ich eine Arbeit über Verga vorlegen musste. Damals bereitete Visconti gerade LA TERRA TREMA vor. Einem meiner Freunde, einem Schauspieler, hatte er vorgeschlagen, sein Assistent zu werden. Mein Freund musste sich entscheiden, ob er Schauspieler bleiben oder Assistent werden wollte. Er entschied sich für den Schauspieler; da nun der Assistentenposten frei war, stellte er mich Visconti vor. Der sagte: "Gut, komm." Wir waren eine Gruppe von Anfängern: Zefirelli, der Kameramann Aldo und ich, ein Versuchsteam, dem Visconti mit der für ihn charakteristischen Grosszügigkeit eine Chance gab. Wir hatten eigentlich vor, drei Dokumentarfilme zu drehen, dann hat Visconti das Meisterwerk LA TERRA TREMA daraus gemacht.

Gleich danach habe ich mit Luciano Emmer an "Sonntag im August" und mehreren anderen Filmen gearbeitet, beispielsweise an "Paris bleibt Paris"; dieses Szenario habe ich mitbearbeitet. Ich bin sechs Monate in Paris geblieben. Dann arbeitete ich wieder mit Visconti zusammen. Ich habe am Skript von BELLISSIMA mitgewirkt und bin bei SENSO dabeigewesen. Dann habe ich mit Giannini an der Verfilmung des "Neapolitanischen Karussells" und der gleichnamigen Theaterinszenierung gearbeitet. Gleichzeitig führte ich bei der Synchronisation Regie. Ich habe mit Giannini zusammen den Vorwurf zu PROCESSO ALLA CITTA geschrieben; ich habe auch mit Amidei an einigen anderen Szenarien gearbeitet.

Ich habe mehrere Angebote, erstmals Regie zu führen, abgelehnt, weil ich auf eine Gelegenheit wartete, bei der ich mich wirklich engagieren, ein Wagnis eingehen konnte. Ich habe viele Erfahrungen gesammelt, bevor ich das erste Mal Regie führte, denn ich bin ja nicht nur Assistent gewesen; ich wollte an der Montage teilnehmen, an der Synchronisation, kurz: die Entstehung eines Films in allen seinen Phasen verfolgen. Ich wollte mir diese Kenntnisse von Grund auf aneignen und zwar nicht nur, um die Filmtechnik kennenzulernen, die mich ehrlich gesagt nicht übermässig interessiert, sondern vor allem, um Kontakt mit dem menschlichen Material, den Darstellern, zu bekommen. Ich bin an jeder Phase des Films beteiligt: die Idee zu einem Stoff stammt immer von mir, auch wenn das Drehbuch von mehreren geschrieben wird. Aus diesem Grund habe ich, seit ich Regie führe, erst fünf Filme gedreht.

Frage: LA SFIDA (Die Herausforderung, 1958) knüpft an Ihre vorausgegangenen Erfahrungen an, z. B. an das Drehbuch zu PROCESSO ALLA CITTA; gleichzeitig steht er aber auch in Zusammenhang mit bestimmten geistigen Strömungen in Neapel, mit einer unmittelbaren Kenntnis, dem Ziel einer filmischen Bestandsaufnahme verschiedener Fragen.

Rosi: Die Probleme der Beziehungen zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft haben mich immer am meisten interessiert. Aber bevor ich an die Analyse der Gesellschaft schlechthin ging, habe ich versucht, eine Gesellschaft zu analysieren, die ich gut kannte. Folglich habe ich Neapel gewählt.

Frage: Im Zusammenhang mit LA SFIDA hat man von den Einflüssen des amerikanischen Gangsterfilms, Dassins, Kazans und des sozialkritischen amerikanischen Nachkriegsfilms gesprochen.

Rosi: Sicherlich lassen sich diese Einflüsse finden - allerdings verdaut, allgemein, vage - und zwar deshalb, weil mir solche Filme immer sehr gefallen und mich sehr interessiert haben; nicht etwa, weil ich mich auf sie berufen möchte. Ich liebe fest konstruierte Filme, denen es gelingt, sich zeitgemäss auszudrücken, ein spezielles Problem zu stellen, das trotzdem in Beziehung zu den universellen, traditionellen Werten und den gewohnten Erzählformen steht. Nach meiner Meinung drückt der amerikanische Film sich so aus. Es ist also durchaus möglich, dass meine Bewunderung für diese besondere Art von Filmen in diesem ersten Versuch auf filmischem Gebiet und wahrscheinlich auch in meinen anderen Filmen durchgekommen ist. Ich bewundere bestimmte amerikanische Regisseure sehr, z. B. Huston wegen seines "Der Schatz der Sierra Madre" und THE RED BADGE OF COURAGE; und natürlich auch die "alten" Filme wie SCARFACE. Diese amerikanischen Filme haben zuerst die Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft analysiert. Sie haben es auf jene besondere Art getan, die durch den Charakter der amerikanischen Filmindustrie mit ihrem Star-System und dem Vorrang kommerzieller Interessen gekennzeichnet ist, was zwar gerechtfertigt ist, aber die betreffenden Filme einschränkt. Ich glaube, dass ich dagegen mehr Freiheit habe, dass ich weniger darauf bedacht sein muss, einen Film mit dem Star des Augenblicks oder dem gerade beliebten Schauspieler zu machen. Aber das unterwirft mich vielleicht wieder anderen Beschränkungen _...

Frage: In LA SFIDA besteht auch eine gewisse Verwandtschaft mit Themen, die Visconti bevorzugt: die Szene der Frauen im Hof erinnert beispielsweise an bestimmte Passagen in BELLISSIMA.

Rosi: Ich glaube, dass sich in ein und derselben Epoche bestimmte Themen oder eine bestimmte Art sich auszudrücken, unvermeidlich wiederholen. Auch wenn man sich nicht beeinflusst, bedingt man sich doch gegenseitig. Ich will damit sagen, dass die Künstler, ohne einander zu kennen, dieselben figurativen, thematischen und sogar moralischen Erfahrungen machen. In manchen Filmen lassen sich' deshalb gemeinsame Elemente erkennen, weil ihre Autoren zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt Erfahrungen machen, die miteinander identisch sind.

Frage: I MAGLIARI (1959) unterscheidet sich deshalb von Ihren anderen Filmen, weil er im Milieu des Nordens und der Industrie mit Hamburg und Deutschland spielt.

Rosi: Für mich geht es, auch ausserhalb Italiens, immer um dasselbe Thema, nämlich um das der Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, zwischen den Menschen des Südens und denen des Nordens. Ich glaube, dass dies die Themen sind, die ich immmer zu behandeln versucht habe, auch wenn der Stil nicht derselbe ist.

Frage: Die von Belinda Lee verkörperte weibliche Gestalt dieses Films unterscheidet sich etwas von Ihren anderen Gestalten; welche Rolle spielte sie nach Ihren Vorstellungen damals?

Rosi: Man tut jeweils das, wozu man gerade Lust hat, ohne allzuviel darüber nachzudenken. Ich glaube nicht, dass ein Autor, dem es gelänge, sein eigener Kritiker und sein eigener Historiker zu sein, noch Autor wäre. Um Ihnen zu antworten, müsste ich die kritische Zusammenfassung einer Person geben - und das fällt mir schwer. Es hat mir gefallen, es hat mir eine Empfindung vermittelt, diese Frau mit einem unbefangenen jungen Mann in Kontakt zu bringen, der im Gegensatz zu ihr keine zynische Einstellung zu Leben hat. Mich interessierte dabei vor allem, zwei Mentalitäten, zwei verschiedene Temperamente miteinander in Kontakt zu bringen: die eine, die der Frau, ist durch die Erfahrung, die sie hat zynisch werden lassen, schon abgeklärt, also toleranter und mehr zu Kompromissen geneigt, während die andere, die des jungen Mannes, instiktiv intoleranter ist, zu keinem Kompromiss bereit.

Frage: Wir haben uns oft gefragt, ob SALVATORE G. (1962) a posteriori zusammengestellt, d. h. ob das Material zunächst szenen- und episodenweise aufgenommen und hinterher montiert worden ist oder ob der Film von Anfang an so ausgearbeitet und angelegt war, wie er sich uns heute darbietet.

Rosi: Ich überlege mir immer die Montage, bevor ich mit den Dreharbeiten beginne. Ich will nicht behaupten, dass mir im Schneideraum keine Ideen kämen, die meine noch sehr einfache Konzeption verändern; aber sie verändern sie nur wenig, sie geben ihr nur einen genaueren Rhythmus. Die Montage von GIULIANO entsprach den erzählerischen Anforderungen. Die Dinge mussten so erzählt werden, dass beim Zuschauer der Eindruck jener Konfusion, jener Undurchsichtigkeit entstand, den die Ereignisse auch in der Realität hinterlassen hatten. Es kam jedoch darauf an, diese Verwirrung so darzustellen, dass der Zuschauer sie begreift, ohne ihr selbst anheimzufallen. Es gibt in Giulianos Leben Vorkommnisse, die nie geklärt worden sind und die auch der Film nicht hat klären wollen. Ich hatte nicht die Absicht, polizeiliche Nachforschungen über Giulianos Tod anzustellen, sondern mich interessierte, dass in dieser Geschichte vielleicht menschliche und universelle Wärme enthalten sein konnte. Ich musste auch die Beziehungen deutlich machen, die zwischen zwei mehrere Jahre (zehn, fünfzehn Jahre) auseinanderliegenden Episoden bestehen. Es gab zwei Epochen, eine gegenwärtige und eine vergangene, aber zwischen diesen beiden Epochen bestand eine äusserst wichtige innere Beziehung. Ich wollte diese Verbindungen sichtbar werden lassen und sie sogar betonen. Natürlich ist der Stil durch diese Forderungen der Erzählung bedingt, denn ich meine, dass der Stil funktional und erzählerisch begründet sein muss. Losgelöst vom Gesamtwerk, vom Inhalt eines Werkes kann er nicht existieren. Er kommt immer hinterher, niemals vorher. Man sagt: "So will ich erzählen." "Aber was willst du so erzählen? Wir wollen sehen, ob das, was du erzählen willst, eine bestimmte Ausdrucksform entstehen lässt."

Frage: In GIULIANO gibt es einen dokumentarischen, einen Reportagestil und gleichzeitig das Bemühen um einen bildhaften Aufbau, z. B. in der Szene, wo Giulianos Mutter die Leiche ihres Sohnes sieht.

Rosi: Bei GIULIANO unterstellt man mir eine dokumentarische Seite. Aber wenn ich versuche, die Dinge so wahr, so einfach und so direkt wie möglich darzustellen, dann hat das meines Erachtens nichts mit Dokumentarismus zu tun. In allen meinen Filmen findet sich das Bestreben nach einem solchen direkten Ausdruck, der vielleicht dokumentarisch wirkt, in Wirklichkeit aber nur das Bemühen um einen funktional bedingten Stil ist: die Form darf sich nicht massiv und belastend zwischen meine Intuition, meine Absichten und eine unabhängig vorhandene Wahrheit stellen. Trotzdem besteht zweifellos eine Konstruktion, ein Streben nach Form. Ich verabscheue das cinéma vérité, weil _... es das nicht gibt. Was ist die Wahrheit? Es gibt eine Realität, die eine von uns unabhängige objektive Realität ist. Sie ist für den Regisseur eine Quelle der Inspiration. Er lässt sich von der Realität inspirieren, aber er muss von dieser Realität seine künstlerische Wahrheit wiedergeben. Es gibt keine reichere Quelle der Inspiration als die Realität, aber ich kann sie nicht einfach verraten, indem ich sie formal anders behandele als sie es selbst vorschreibt. Ich versuche, meine Filme aus der Realität, die ich beobachte und analysiere, entstehen zu lassen; ich werde der Realität keine erfundene Geschichte aufzwingen. Ich gehe derart vor, dass das Milieu, das ich analysiere, und die menschliche Wahrheit, die ich beobachte, mir die Geschichte diktieren. So bin ich bei LE MANI SULLA CITTA und GIULIANO vorgegangen. GIULIANO sind historische, journalistische und dokumentarische Vorarbeiten vorausgegangen; daraus ergab sich natürlich ein fester Punkt, von dem ich ausgegangen bin; aber viele Episoden in GIULIANO sind mir von der Realität diktiert worden, mit der ich in Sizilien in Berührung kam. Die ganze Episode der Revolte der Frauen von Montelepre ist aus meinem Kontakt mit den Leuten in Montelepre entstanden. Portella della Ginestra - ich hatte in den Zeitungen gelesen, was sich in Portella della Ginestra abgespielt hatte. Aber bevor ich drehte, habe ich den ersten Mai abgewartet und mir angesehen, wie die Bauern sich heute in Portella della Ginestra treffen und den ersten Mai feiern. Am nächsten Tag habe ich die Episode von Portella gedreht; bei der Rekonstruktion liess ich mich von den Eindrücken bestimmen, die ich gehabt hatte. Während ich drehte, kamen Bauern zu mir und sagten mir, dass es so genau richtig wäre. Dabei bin ich gar nicht eigentlich dokumentarisch vorgegangen. Ich gehe nicht gerne streng dokumentarisch vor, so als ob ich kopierte _... Es gibt Dinge, die kann man kaum glauben, und trotzdem _... die Lage von Giulianos Leiche im Hof und all die Frauen um ihn herum: monatelang habe ich die Fotos gesehen, aber als ich in Sizilien mit den Dreharbeiten begann, habe ich sie nicht mehr angesehen. Ich wollte an denselben Orten drehen, an denen sich Giulianos Geschichte abgespielt hatte. Denn ich war überzeugt, dass diese Orte die gleichen Bedingungen entstehen lassen würden. Und so ist es wirklich gewesen.

Frage: Giulianos Prozess ist sehr unterschiedlich behandelt; wie ist er gedreht worden?

Rosi: Giulianos Prozess ist zunächst nach den Verhandlungsprotokollen vollständig geschrieben worden.

Frage: Erinnern Sie sich: Sciascia hat einen Artikel geschrieben, in dem es hiess, man sehe Giuliano selbst nur sehr wenig. Man sehe ihn fast nie, und die sizilianischen Bauern, die den Film gesehen hätten, umgäben ihn dadurch noch mehr mit einem Mythos.

Rosi: Sciascia hat recht. Eigentlich wird Giuliano durch diese Art der Darstellung noch mehr mystifiziert. Aber meine Absicht bestand nicht darin, mich der Person Giulianos zu widmen, sondern mich für Sizilien zu interessieren: für die menschlichen Werte, für die menschliche Tragödie, die durch die Beziehungen zwischen Giuliano und den anderen Sizilianern, den Carabinieri und dem damaligen politischen Geschehen entstanden ist. Es war nicht zu vermeiden, dass Giuliano mit einem Mythos umgeben wurde. Denn indem man nicht stärker auf die Person einging, mystifizierte man sie natürlich. Das ist doch auch logisch: schliesslich war Giuliano ein Mythos, und ich wollte den Mythos absichtlich nicht zerstören. So wie er mich persönlich nicht interessierte, so lag mir auch nichts daran, seinen Mythos zu zerstören. Sondern ich wollte von Sizilien erzählen. Und was mich dann am meisten gefreut hat, ist die Tatsache, dass die Sizilianer (auch Sciascia, den ich sehr schätze) finden, GIULIANO sei der erste ehrliche Film über Sizilien.

Frage: Kennen Sie CITIZEN KANE von Weites?

Rosi: Nein, es tut mir sehr leid. Ich habe ihn nie gesehen. Es tut mir deshalb sehr leid, weil ich diesen Film gerne einmal sehen möchte. Man hat mir viel davon erzählt und mir diese Frage schon oft gestellt. Ich müsste nach Paris fahren, um ihn zu sehen. Ich habe das Centro Sperimentale in Rom schon einmal gebeten, ihn mir vorzuführen. Aber sie hatten ihn nicht.

Frage: Wie stehen Sie zum Neorealismus, und wie sehen Sie Ihre Filme im Hinblick auf die Entwicklung des Neorealismus?

Rosi: Ich glaube, dass es im Neorealismus einen Zug gab, der durchaus diskutabel war, den man aber nicht diskutieren konnte, weil man nicht imstande war, den Neorealismus unbeteiligt zu betrachten. Ausgenommen Rossellini, dessen Filme wirklich aus der Realität entstanden, wandten alle Neorealisten eine Formel auf eine bereits konstruierte Geschichte an. In GIULIANO habe ich versucht, die Formel aus der Wirklichkeit des Milieus und der menschlichen Realität entstehen zu lassen. Das ist meines Erachtens der Unterschied.

Der Neorealismus war tatsächlich zu einer Formel geworden. In den letzten Jahren wurde diese Formel in Italien auf jeden beliebigen Film angewandt; ob er nun gut oder schlecht war, er trug das neorealistische Siegel.

Frage: Haben Sie deshalb Ihren Plan zu LA GALLERIA, nach einem Roman über die Amerikaner 1944-45 in Neapel, einer Zeit also, die Sie selbst miterlebt haben, später wieder aufgegeben?

Rosi: Ganz und gar nicht, sondern sie Sache ging im Stadium der Produktion daneben. Es wäre die Adaption eines wunderbaren Buches gewesen. Das Buch von Burns ist kein Roman und liefert deshalb Material zur Interpretation, zu neuer Ausarbeitung. Es sind Novellen, die von der Begegnung der Amerikaner, die zum erstenmal nach Italien kommen, mit Neapel, mit einem anderen Temperament, mit vollkommen zivilisierten Leuten, mit einer ganz andersartigen Zivilisation als der amerikanisehen handeln. Die Amerikaner werden erobert, statt Eroberer zu sein _... Das ist ein faszinierendes, wunderbares Sujet. Burns hat Neapel besser verstanden als die Neapolitaner selbst; wie ja ein Fremder oft ein Land besser versteht als diejenigen, die darin leben. Mit Amidei und dem amerikanischen Szenaristen Paul Jarrico, der mit Michael Wilson zusammengearbeitet hat, ging ich an die Adaption. Ich hatte auch eine Dokumentation über das Buch zusammengestellt, aber es war dann schwierig, die Sache in Gang zu bringen. Ich war nach Berlin gefahren, um William Holden für eine Rolle zu gewinnen; dann habe ich zwar das ganze aufgegeben, aber ich hätte den Film trotzdem gerne gemacht. Der Film, den ich machen wollte, hatte u. a. schon verschiedene Veränderungen erfahren. Wenn ich den Film mit den Amerikanern hätte machen wollen, hätte ich Änderungswünsche des Produzenten akzeptieren müssen, die meines Erachtens unannehmbar gewesen wären.

Frage: Gibt es noch andere Projekte, die Sie nicht realisieren konnten?

Rosi: Vor LA SFIDA wollte ich einen Film machen, zu dem ich schon mit Suso Cecchi d' Amico den Entwurf geschrieben hatte, einen Film über einen kleinen Frachtdampfer, über eines dieser Küstenschiffe, die vom Reeder zum Untergang bestimmt werden, damit er die Versicherungsprämie einstreichen kann. Und über den Kampf, den der Kapitän führt, als er den Betrug merkt. Die Geschichte war stark von Travens "Das Totenschiff" beeinflusst, einem Buch, das mir sehr gefallen hat.

Frage: Wie stehen Sie zu Nottola in LE MANI SULLA CITTA?

Rosi: Das ist eine Gestalt, die mich sehr interessiert und die ich liebe; mich interessiert und mir gefällt seine Vitalität, seine Kraft und seine Energie, die sich praktisch ausdrücken und verwirklichen müssen. Natürlich drücken sie sich schlecht aus, weil sie überhaupt nicht kontrolliert werden können. Es handelt sich um eine Kraft im Urzustand, die nicht von Kultur oder von moralischem Bewusstsein geleitet wird. Und da er nicht in einer Gesellschaft lebt, die ihn zwingt, sich auf positive Art auszudrücken, drückt er sich negativ aus. Dennoch sind es gerade diese vitalen Menschen, die etwas schaffen, etwas aufbauen. Man muss aber erkennen, wieweit es einer Gesellschaft gelingt, sie zu kontrollieren, darauf hinzuwirken, dass sie sich auf die richtige und nicht auf die falsche Art ausdrücken.

Frage: In einer Sequenz sind De Vita und Nottola zusammen in einer Wohnung. Durch Ihre Regie wird De Vita, die positive Gestalt des Films, im Hintergrund des Raumes etwas erdrückt, während Nottola, der am Fenster steht, mächtig wirkt.

Rosi: Das war meine Absicht.

Frage: Ist das eine Kritik an De Vita?

Rosi: Nein, das ist keine Kritik an De Vita, sondern die Lage, in der De Vita sich Nottola gegenüber befindet. De Vita steht mit dem Rücken zur Wand, weil Nottola ihm in diesem Augenblick reale und genaue Gründe nennt. Die Worte, die Nottola an ihn richtet, besitzen Wahrheit: als Nottola ihm die Wohnungen zeigt und sagt: "Warum willst du nicht, dass die Leute so leben?" bringt er ihm Argumente, die auch richtig sein können. Deshalb fällt De Vita die Antwort schwer; was er sagt, ist so wahr, dass De Vita ihm nicht rational, sondern gefühlsmässig und ideologisch antwortet. Er antwortet Nottola nicht mit dessen realistischen Argumenten; deshalb ist er Nottola in diesem Augenblick unterlegen.

Frage: Jedenfalls ist dies, wie schon gesagt worden ist, die zentrale und entscheidende Szene des Films _...

Rosi: Diese Begegnung? Ja, es ist das einzige Mal, dass sie sich begegnen.

Frage: Und sie macht aus Nottola die Gestalt _...

Rosi: _... die zwischen Gut und Böse steht, jedenfalls sehe ich sie so. Mich interessiert Nottolas Menschlichkeit; Nottola ist eine menschliche Gestalt wie De Vita, dessen Grenzen diese Szene aufzeigt, Grenzen, die ihn in der Folge diese romantische Haltung einnehmen lassen, deretwegen ich von bestimmten linksgerichteten Kreisen in Italien angegriffen worden bin. Ein Teil der linksgerichteten Presse hat mir ,Romantik' vorgeworfen, weil De Vitas Argumenten der spontane, praktische Sinn fehle; dabei muss sich ein Mann der Linken, selbst der äussersten Linken wie beispielsweise De Vita, in Süditalien immer noch ,romantisch' ausdrücken. Allerdings geht die Entwicklung jetzt dahin, die Handlungen sofort der Wirklichkeit anzupassen.

Frage: Meinen Sie nicht auch, dass die Krankenhausszene Konzessionen an die Sentimentalität enthält, einen kleinen Versuch, das Publikum zu erpressen?

Rosi: Vielleicht habe ich die Szene deshalb nur so kurz gemacht, weil auch ich das spürte. Aber ich finde, dass trotzdem etwas Wahres an der Szene ist. Ein Kind hat bei diesem Einsturz sein Bein verloren; angesichts dieses Argumentes ist der Arzt, der einer politischen Partei angehört, gezwungen, mehr konkret als ideologisch zu denken. Da dieses Argument meines Erachtens für den Film sehr wichtig ist, musste ich es dem Zuschauer verständlich machen. LE MANI SULLA CITTA wollte ich sehr rational aufbauen, aber ich musste mich trotzdem auch emotional an das Publikum wenden. Die Bilder sind emotional und nicht logisch, das Vorhaben und der Aufbau dagegen sind logisch. Ich musste den Zuschauer so ansprechen, dass ich Emotionen in ihm hervorrief, die ihn die logischen Gründe verstehen liessen, mittels derer die Personen des Films schliesslich zu bestimmten Schlüssen gelangen. Nehmen Sie den Arzt, einen Mann mit einer ganz bestimmten Ideologie, die ebenso religiös ist wie die seines Gegners. Dieser Arzt ist auf seine Weise auch ,religiös', und er kommt mit ganz konkreten Argumenten zu Salvo Randone, dem Vorsitzenden seiner Partei. Er ist ein Mensch, der sich an Tatsachen hält und nicht an Theorien. Das ist die Funktion dieser Szene. In figurativer Hinsicht gefällt mir die Szene nicht besonders. Ich finde sie eher banal. Aber es kommt mir nicht darauf an, ob eine Szene formal nicht besonders schön ist. Es ist mir ziemlich gleichgültig, wenn der Inhalt seine Funktion und seine Berechtigung hat. Wenn sie schön wird, ist das um so besser. Aber wenn es nicht gelingt, macht das nichts.

Frage: Die Prozessszenen in GIULIANO und die Szenen im Stadtrat in LE MANI SULLA CITTA sind ausserordentlich realistisch. Welche Probleme stellten sich Ihnen bei der Regie?

Rosi: Lange Drehzeit? Nein. Viel Zeit für die Vorbereitungen, für die Auswahl der Typen und der Personen? Ja. Ich gehe davon aus, dass ein Mensch mit entsprechender Mentalität im Augenblick der Aufnahme leichter das ausdrücken kann, was ich ausgedrückt haben will. Ich muss also einen Menschen finden, der äusserlich und innerlich dem Typ entspricht, den ich zeigen will. Die Wahl der Personen ist sehr wichtig, weil ein Mensch, der der Linken, der Rechten oder dem Zentrum angehört, leichter das ausdrücken kann, was mir vorschwebt, wenn er sich mit der Figur des Films identifiziert. Für die Rolle der Faschisten habe ich versucht, wirkliche Faschisten zu nehmen, für die der Sozialisten wirkliche Sozialisten usw. Der Stadtrat im Film bestand aus pensionierten Obersten, aus ehemaligen Stadträten, aus Journalisten _... Als ich dann drehte - gerade, weil alle Bedingungen gegeben waren für eine Identifikation von Denkweise und Benehmen und der darzustellenden Person - als ich dann drehte, war es nicht mehr schwierig, meine ,Schauspieler1 in die Personen des Films zu verwandeln.

Frage: In LA SFIDA gibt es die ,camorra', in LE MANI SULLA CITTA eine Clique von Immobilienmaklern. In LA SFIDA gibt es eine Hauptperson und sehr viel psychologischere Motivationen. In LE MANI SULLA CITTA haben Sie das Privatleben der Hauptperson ausgeklammert. Ist das nach Ihrer Meinung eine Weiterentwicklung Ihrer Vorstellung vom Film? Und wenn Sie LA SFIDA noch einmal machen müssten, würden Sie dann einen anderen Film machen?

Rosi: Vielleicht. Wenn man einen Film, den man gemacht hat, noch einmal machen müsste, würde man ihn sicher anders machen. Und da meine beiden letzten Filme sicherlich oder sogar ganz bestimmt eine Entwicklung meiner Ausdrucksweise erkennen lassen, würde ich auch LA SFIDA anders machen. Aber das Interesse, das ich in LE MANI am öffentlichen Leben der Personen nahm, leitet sich daher ab, dass man meines Erachtens Menschen, die öffentlich wirken, nur hinsichtlich ihrer öffentlichen Funktion und nicht im Hinblick auf ihr Privatleben analysieren muss. Ausserdem lässt sich ihr Privatleben unschwer von daher ableiten _... Meines Erachtens gestattet Nottolas psychologisches Schicksal, so wie es im Film abläuft, sehr wohl Rückschlüsse auf seine Frau und auf seine Beziehungen zu ihr. Man hat mir vorgeworfen, dass ich die Begegnung Nottolas mit seinem Sohn und die während der Diskussion getroffene Entscheidung, die den Sohn zwingt, sich als Gefangener zu stellen, nicht dargestellt habe. Ich glaube nicht, dass das nötig war. Denn aus Nottolas Gründen und seiner ganzen Art weiss ich genau, was er seinem Sohn gesagt haben würde. Seine Begegnung mit ihm interessiert mich nicht. Ja, sie kann schon interessant sein, aber für einen anderen Film, nicht für diesen. Mich interessiert Nottolas Wesen mit den Konsequenzen, die sich daraus für eine Gesellschaft und nicht für sein Privatleben ergeben. Sein Privatleben interessiert mich nicht, seine Handlungen interessieren mich und wiederum die Konsequenzen, die sich aus ihnen für die Stadt ergeben, die er beherrscht. Denn er ist Stadtrat und hat die Möglichkeit, Entscheidungen zum Nutzen oder zum Schaden der Stadt zu treffen. Das interessiert mich, nicht seine Frau. Vielleicht will seine Frau bei jedem Geschäft, das er macht, einen neuen Pelz; vielleicht betrügt sie ihn. Vielleicht ist sie aber auch eine Frau, die ganz in der Liebe zu ihren Kindern aufgeht, weil sie von ihrem Mann vernachlässigt wird. Aber das interessiert mich einfach nicht.

Frage: Ihr Film enthält in der Schlussszene und in der mit der Kapelle auch eine indirekte Kritik an der Kirche.

Rosi: Ja, aber es handelt sich nicht um eine Kritik der Religion, sondern eher um eine Kritik des Konformismus, der sich natürlich auch in der katholischen Religion findet. Die katholische Religion hat wie alle anderen Religionen einen konformistischen Aspekt, der den Menschen erlaubt, nicht allzu sehr nach der Wahrheit zu fragen, sondern statt dessen eine vorgeformte Wahrheit zu akzeptieren.

Frage: Welche Rolle hat Enzo Forcella, der ja politischer Journalist ist, bei der Abfassung des Scripts gespielt?

Rosi: Er hat mit seiner ganzen Erfahrung zu dem Film beigetragen. Die Personen sind entstanden aus Diskussionen, Empfindungen, aus einer ständigen Weiterentwicklung. Forcellas politische Erfahrung in Bezug auf das Verhalten verschiedener Personen hat zu ihrer Konstruktion beigetragen und sie vielfältiger gemacht.

Frage: Hätten Sie Interesse, einen Film im Norden zu drehen, in Gebieten, die nicht unterentwickelt sind, in einer Industriewelt, in der Probleme wie Grundstücksspekulationen vielleicht überholt sind, in der man diejenigen Probleme analysieren müsste, die für eine Industriegesellschaft typischer sind?

Rosi: Das würde mich ungeheuer interessieren, wäre aber davon abhängig, dass ich meine Kenntnisse über eine solche Welt vertiefen könnte. Ich habe ein grosses Interesse an dieser neuen Gesellschaft, die zwischen Mailand und Turin, den industriell am meisten entwickelten Städten in Italien, entsteht. Aber ich muss sagen, dass meine Kenntnisse nicht gründlich genug sind, um mich augenblicklich in dieser Richtung ausdrücken zu können.

Frage: Ihre Filme fügen sich einer bestimmten kulturellen und soziologischen italienischen Strömung, der des Meridionalismus.

Rosi: Zweifellos: genau das interessiert mich im Augenblick.

Frage: Ihre Theaterarbeit beschränkt sich augenblicklich auf das Stück von Patroni-Griffi. Können Sie uns darüber etwas erzählen?

Rosi: Ich wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, ein Theaterstück zu inszenieren. Aber Patroni-Griffi ist ein langjähriger Freund. Er hat auch mit mir am Drehbuch zu MAGLIARI gearbeitet. Er hat dieses Stück geschrieben und es mir vorgelesen. Es hat mir gefallen. Er hat mich gebeten, es zu inszenieren; und ich habe es inszeniert, ganz einfach.

Frage: Über Ihren letzten Film IL MOMENTO DELLA VERITA wissen wir nur sehr wenig. In welcher Beziehung steht er zum gegenwärtigen Spanien? Welche literarischen Vorlagen hatten Sie? Beispielsweise Hemingway?

Rosi: Als ich nach Spanien fuhr und den Film plante, hatte ich recht unklare Vorstellungen. Ich kannte Spanien als Tourist. Ich nahm mir vor, einen Film zu machen, der ein bisschen die Reiseeindrücke wiedergab _... Ich bin nach Spanien gegangen, als ich gerade LE MANI SULLA CITTA schnitt; ich fuhr nach Pamplona, nach San-Firmin, einfach, um einen Anfang zu schaffen, der mich zwingen würde weiterzumachen. Ich kam dann nach Spanien zurück und vergass alles, was ich gelesen hatte. Ich liess altes ausser Betracht, was ich wusste. Ich wollte frei von jedem Vorurteil oder einer vorgefassten Meinung hinfahren. Ich bin dann in Spanien herumgereist und habe das Land ganz einfach unter dem Gesichtspunkt angesehen, was sich daraus machen liesse. Nach der Berührung mit der spanischen Wirklichkeit ist mir klargeworden, dass irgendein Dokument mit Reiseeindrücken mich nicht befriedigen würde. Statt dessen formte sich ein bestimmter Ablauf, eine bestimmte Geschichte, die es mir eventuell ermöglichte, durch das Schicksal einer Person der Realität eines Landes zumindest unter einem bestimmten Aspekt näherzukommen, sie zu verstehen und mitzuteilen. Praktisch sah das so aus, dass ich mit einem sehr kleinen Stab nach Spanien gefahren bin. Der Film ist Tag für Tag aus meiner Berührung mit der Realität entstanden. Tag für Tag. Ich habe die Dialoge nie vorher geschrieben. Ich habe sie erst in dem Augenblick gemacht, in dem ich mit den Darstellern des Films, die keine Schauspieler sind, drehte. Alle sind Spanier. Viele Monate lang (ich war sechs Monate in Spanien und habe vier gedreht) kam ich immer wieder auf das zurück, was ich mir vorstellte. Ich konkretisierte es, machte es noch einmal, verwarf es wieder und begann von Neuem (auf dem Papier, wenn ich dann eine Szene drehte, fing ich nicht wieder von vorn an). Es ist die Geschichte eines jungen Spaniers aus dem Süden, eines Bauern. Er will sein Dorf verlassen und in das nördliche Spanien, nach Barcelona, übersiedeln, in die Stadt, die durch ihre Fabriken und ihre Industrie heute alle jungen Leute aus dem Süden anzieht. Dort kann er aber seinen Wunsch, sein Verlangen nach schnellem Erfolg - ein Verlangen, das heute allen jungen Leuten in der ganzen Welt gemein ist, - nicht sofort verwirklichen. Der Weg, auf dem er den Elendskreis, in den er sich eingeschlossen fühlt, schneller, wenn auch um den Preis des Risikos, durchbrechen zu können glaubt, führt über den Stier. Und er stellt sich dem Stier.

Der Stier ist nach meiner Meinung ein sehr wichtiges Element des spanischen Lebens, viel wichtiger als man sich vorstellen kann und als man weiss. Das meines Erachtens wichtigste Buch, das darüber geschrieben wird ist, ist DEATH IN THE AFTERNOON von Hemingway. Natürlich ist es von den Spaniern wegen der einen oder anderen technischen Frage kritisiert worden. Aber dabei geht es im ganzen gesehen nur um Details. Immerhin ist es das erste Buch, das die internationale Aufmerksamkeit auf Spanien gelenkt, das Wissen vertieft, sowie die Ursachen erkannt hat, aus denen der Stier ein wichtiges Element des spanischen Lebens ist. Am meisten hat mich nicht etwa eine technische Untersuchung des spanischen Stierkampfes interessiert, sondern der Mensch in seinen Beziehungen zur spanischen Realität. Deshalb konnte ich meine Eindrücke einerseits in eine bestimmte Richtung lenken, sie andererseits aber auch in der äusseren Welt auf die der corrida ausdehnen.

Frage: In der Beschreibung dieser Welt haben Sie viele Vorgänger _...

Rosi: Das sind Filme, die das Privatleben von Leuten erzählen, die dann einen Stier töten. Aber mich interessiert das nicht. Mich interessiert der Beruf des Toreros in Bezug auf sein Leben. Es handelt sich um einen Menschen, mit dem ich mich schon beschäftigte, bevor er Torero wird; ein Mensch mit Problemen, Hoffnungen und Ansprüchen. Der Wünsche hat, die er verwirklichen will, als er Torero wird, und der sie verwirklichen oder nicht verwirklichen oder auch nur teilweise verwirklichen wird. Auf jeden Fall handelt es sich um einen Menschen, der von seinem Beruf bestimmt wird.

Frage: Das gestattet Ihnen demnach, indirekt die spanische Gesellschaft im allgemeinen zu beschreiben _...

Rosi: Ich glaube schon, wenigstens war das meine Absicht. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist. Allerdings weiss ich nicht, inwieweit es mir gelungen ist, denn ich habe den Film noch nicht geschnitten. Meine Absicht war: mittels der Geschichte wollte ich einen umfassenden Aspekt darstellen _... Natürlich immer als fremder Beobachter jenes Landes, das ich während der sechs Monate, die ich dort verbrachte, gründlich kennenzulernen versucht habe.

Frage: Sie sagen, dass Sie keine Berufsschauspieler hatten _...

Rosi: Der Hauptdarsteller des Films ist ein Matador. Er heisst Miguelin, ist fünfundzwanzig Jahre alt. Er ist niemals Schauspieler gewesen, und ist vom ersten bis zum letzten Bild immer im Film gegenwärtig. Auch die anderen hatten niemals gespielt; ich musste spanisch lernen, um mich mit ihnen verständigen zu können. Ich habe die gleichen Schwierigkeiten gehabt wie in Sizilien, aber nicht mehr. Ist der technische Stab derselbe wie in den vorhergehenden Filmen? Ich habe Di Venanzo gehabt, allerdings nur für einen Teil des Films. Dann hat De Santis, der Kameramann von Di Venanzo, weitergemacht. Ich hatte nur einen kleinen technischen Stab, der es mir gestattete, länger in Spanien zu bleiben, und der den Ortswechsel erleichterte.

Frage: Ist es ein italienischer Film oder eine Koproduktion mit Spanien?

Rosi: Es ist eine Koproduktion.

Frage: Die Hauptperson erinnert etwas an Salvatore in I MAGLIARI _...

Rosi: Ja, ich glaube wirklich, dass ich mit diesem Film das fortsetze, was ich damals begonnen und was ich in meinen beiden letzten Filmen vertieft habe. Wir sind in Italien nur wenige, die in einer sehr persönlichen Richtung arbeiten und die immer weiter vorwärts gehen, immer bestrebt, unsere Spur zu verbreitem.

(Interview von Michel Ciment, Goffredo Fofi und Paolo Gobetti, erschienen in POSITIF 69. Übersetzung: Barbara Bernauer. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von POSITIF, Paris.)
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Die Funktion der Farbe bei Antonioni

Im März 1961 fragte ein junger Cinéast des römischen "Centro Sperimentale di Cinematografia" Antonioni, ob er glaube, "den Farbfilm, wie wir ihn heute haben, irgendwie erneuern zu können." Antonioni antwortete: "Unmöglich, das jetzt zu wissen. Ich hoffe, dass es mir gelingt _..." Drei Jahre später erhielt sein Film DESERTO ROSSO auf der Biennale in Venedig den goldenen Löwen: Antonionis Versuch, den Farbfilm zu erneuern, hatte seine Würdigung gefunden; seine Kritik fand er nicht.

Denn die Besprechungen über die ROTE WÜSTE begnügten sich hinsichtlich der Farbe entweder mit vagen Formulierungen (Helmut Färber in FILMKRITIK: _... die Art der Farbigkeit, die an diesem Film zugleich das subjektivste Moment ist und das am wirksamsten objektivierende _... Gerade dieses "Angestrichene" bezeichnet den Tatbestand _... Hier hat jede Farbe etwas von einer Entscheidung _...") oder sie beseitigten das Problem mit der Erklärung, die Farben seien aus der Sicht der - neurotischen - Hauptperson gesehen, womit sich dann eine Diskussion erübrigte (Franz Schöler in FILM: "_... die Aussenwelt wird nicht vernachlässigt, aber meist aus der Sicht der Hauptperson gesehen. Auf sie hin ist auch die Farbstruktur des Films abgestellt"). Eine solche Behauptung kommt jedoch nahezu einer Umkehrung des wahren Sachverhalts gleich: Die Einstellungen aus der Sicht Giulianas sind deutlich als unscharfe Einstellungen markiert, in denen die Farben zu krankhaften Impressionen verschwimmen. Dagegen ist Giulianas Neurose nicht die Ursache für das Erscheinungsbild ihrer Umwelt, sondern dessen mögliche Folge; ermöglicht dadurch, dass das Bewusstsein des Einzelnen mit der Wirklichkeit nicht mehr oder noch nicht übereinstimmt. Die Farbe macht diesen Konflikt sichtbar und zugleich die Bedingungen, unter denen er entstehen kann. Hat man indessen die Farbe einmal in den subjektiven Bereich abgedrängt, so muss man Schöler auch in der Erkenntnis folgen ,dass "Antonioni objektiv wird, indem er sich immer tiefer in die subjektive Sphäre eines Individuums eingräbt." Hier wie dort versagt das schlichte Schema von "subjektiven" oder "objektiven" Gestaltungsmitteln an einem Film, dessen Farbmontage bis ins kleinste berechnet und differenziert ist.

Allerdings scheinen die Farben Antonionis wenig mit der realistischen Anlage seines Films zu harmonieren, was jedoch nur dort Verwirrung stiften kann, wo man realistische Farben erwartet - die es gar nicht gibt - und womöglich die konventionellen dafür hält - die es mitnichten sind. Es gibt heute noch kein Farbverfahren, das alle Farben objektiv wiedergibt, und selbst wenn dies möglich wäre, müsste ihre realistische Wirkung im Kino bezweifelt werden, wo das Auge infolge der "Dunkel-Adaption" anders wahrnimmt als bei Tageslicht. Hinzukommt, dass der Sehmechanismus normalerweise viel weniger Farben aufnimmt als vorhanden sind, während er sich im Kino auf einen überschaubaren Ausschnitt konzentrieren kann. Die technische Unmöglichkeit einer Farbdokumentation wird mithin ergänzt durch psychologische Hindernisse, woraus sich erklärt, dass die Versuche, eine naturalistische Farbwiedergabe zu erzielen, lediglich zum allfarbigen, oft kitschigen Buntfilm gerieten. Andererseits ist es aus diesen Gründen gleichgültig, wie weit der Regisseur in die Farbgestaltung eingreift - er muss es auf jeden Fall, nicht nur wegen der wechselnden Beleuchtung bei Aussenaufnahmen und im Studio: ob er sich darauf beschränkt, das Kopierlicht durch Farbfilter zu korrigieren oder ob er, wie Antonioni, Häuser und Büsche anstreichen lässt; entscheidend kann nur das Ergebnis sein.

Wo allerdings die Funktion der Farbe darin besteht, die Wirklichkeit nachzuahmen, wird das Ergebnis im besten Fall eine gelungene Täuschung sein, die mit Realismus unvereinbar ist; und je mehr sich diese Funktion der Farbe als die einzige verfestigte, um so nachdrücklicher verlangten Hersteller und Publikum vom realistischen Film das schwarzweisse Bild.

Nur ein Farbverfahren verzichtete von vornherein auf die Imitation der Wirklichkeit: die Virage. Bei diesem Verfahren wurde das ganze Bild in einer Farbe getönt, die "je nach Stimmung" wechselte. Offensichtlich hatte die Farbe hier eine rein dramaturgische Funktion, doch war die Methode zu undifferenziert, als dass sie lange hätte bestehen können; sie verschwand, als man die Grauschattierungen im Schwarzweiss-Film entdeckte. Immerhin wurde der theoretische Entwurf zu einer dramaturgischen Verwendung der Farbe entwickelt, und zwar von Eisenstein. In seinem Aufsatz "Farbe" schrieb er: "So müssen wir _... aus dem bunten Teppich der nicht organisierten farbigen Wirklichkeit sämtliche Teile des Spektrums, sämtliche Sektoren der allfarbigen Palette, die in der Melodie unseres Themas nicht mitklingen, ausscheiden." Damit wies er der Farbe die gleiche Funktion zu wie dem Schnitt, der "aus dem Bündel ,möglicher Elemente' alles hinauswarf, was an der gegebenen Stelle nicht ,unumgänglich' war." Eisensteins Ästhetik verlangt von der Farbe die Loslösung von der Wirklichkeit; und genau dem scheint Antonioni zu folgen, wenn er die Farbe als selbständiges Stilmittel benutzt, um Aussagen zu formulieren. Denn in der ROTEN WÜSTE haben die Farben allein eine dramaturgische Funktion.

Der Film beginnt nach dem Vorspann mit der Nahaufnahme einer gelbroten Flamme, die aus einem Fabrikschornstein schiesst; mit einem Schnitt rückt die Flamme in die Halbtotale, dann in die Totale - eine graue Industrielandschaft wird sichtbar. Auf diesem schon unfarbigen Hintergrund erscheint Giuliana in einem grünen Mantel mit ihrem Jungen. Die sparsame Verwendung der Farbe auf einem stark grauwertigem Hintergrund kennzeichnet den ganzen Film, dessen Schauplätze durch die Farbe erfasst und aufeinander bezogen werden.

Die Industriewelt, ihr Inventar und ihre Produkte sind bewusst in reinen und starken Farben gehalten: blaue Kessel, orangenfarbene Rohre, rote Verstärker, grüne Glasflaschen, gelbes und blaues Spielzeug, rote Behälter - was dagegen von der Natur übrig geblieben ist, erscheint in beschädigten Grautönen vom schmutzigen Gelb bis zum verwaschenen Schwarz. So entsteht der Eindruck, dass sich die Industrie als eine ebenso saubere und schöne wie naturfeindliche Macht etabliert hat. Die Bewohner dieser Landschaft bleiben von der Veränderung nicht unberührt, ja gerade für sie setzt ein Prozess der Umwertung und Anpassung ein, von dessen Gelingen ihr künftiges Lebensgefühl abhängen wird. Die Farben haben die Funktion, den Verlauf dieser Bewusstseinsänderung in jeder Situation zu erfassen und nachzuweisen, wobei die Ursachen für Giulianas Versagen sichtbar werden.

Besonders auffällig wird dies an der Farbe Rot, der in der traditionellen Farbsymbolik ein ausgesprochen erotischer und leidenschaftlicher Charakter zugeschrieben wird. Die erste Sequenz in der Fabrik, in der Ugo arbeitet, beginnt mit einer Einstellung, die in Nahaufnahme rote Verstärker zeigt; dazu schneidet Antonioni einen elektronischen Mono-Ton. Ähnliches wiederholt sich verschiedentlich mit dem Erfolg, dass Rot zu einer kalten, monotonen Farbe umfunktioniert wird. Von daher gewinnt die Szene im Innern der Hütte ihre Bedeutung. Die Wände sind ringsum rot, doch die Atmosphäre ist kalt. Hinter den erotischen Anspielungen der Anwesenden steckt keinerlei ernste Absicht; sie erörtern lediglich die Wirkung verschiedener Stimulantien, während Giuliana, die Situation verkennend, eine unmittelbare Annäherung sucht. So reflektiert dieselbe Farbe zwei Arten des Bewusstseins: ein traditionelles und ein angepasstes. Und aus dem Missverhältnis zwischen Giulianas Ansprüchen und der anders funktionierenden Umwelt resultiert ihre seelische Krankheit. "Irgendeiner ist krank", sagt Lidia, als draussen auf einem Schiff eine gelbe Fahne gehisst wird. Von der Episode in der Hütte führt eine Farbkonstante zu jener Szene in Corrados Zimmer, wo er und Giuliana das Fiasko ihrer Begegnung erleben: In der Hütte werden Bretter losgerissen und verfeuert, zuvor jedoch in roten Diagonalen durchs Bild gereicht, und in Corrados Zimmer ziehen sich die roten Leisten des Bettgestells diagonal durch mehrere Einstellungen: Giuliana sucht zu verwirklichen, was ihr in der Hütte unmöglich war. Vom Beginn der Szene an signalisiert indes ein sich nähernder und vergrössernder gelber Fleck den Ausgang der Begegnung; die abschliessende Einstellung ist eine Zimmertotale, die einen rosafarbenen Raum zeigt, die Körper der im Bett liegenden sind gelb. Hier ist der Schnittpunkt, wo Giulianas Träume endgültig an der Wirklichkeit scheitern. Wiederum verweist die Farbe auf jene Traumwelt, auf die Märcheninsel, wo ein kleines Mädchen in völliger Harmonie mit der Natur lebt. Der Strand ist rosa, die Felsen sind gelb (Giuliana: "Wieviele Felsen es gab, und sie sahen aus wie Fleisch"). In dieser Umgebung erscheint die Natur zum ersten und letzten Mal in reinen (Technicolor-) Farben. Doch wie die Farbe verkommt unter den Apparaten, so erkrankt auch das Bewusstsein, das sich an der Fiktion einer paradiesischen Welt orientiert. Nicht nach einer neuen Welt sehnt sich Giuliana, sondern nach einer alten.

Sicherlich ist die Ambivalenz der Farbe Rot der thematische Angelpunkt, wo sich die denkbaren Gegensätze von moderner Umwelt und traditionellem Bewusstsein, von Anpassung und Nicht-Anpassung exemplarisch berühren, und an Giuliana kommt die Unvereinbarkeit dieser Gegensätze am provozierendsten zum Ausdruck; dennoch geht es Antonioni nicht um einen "Fall Giuliana", sondern um die Beschreibung einer Veränderung. Innerhalb dieser gesellschaftlichen Veränderung ist jede persönliche Entwicklung eine Möglichkeit, erklärbar und ohne jede Tragik. Giulianas Krise ist ebensowenig notwendig wie ihr Versagen endgültig ist. So ist alles in Bewegung, aber nicht alles ist auf gleicher Höhe, und dieses Bild fixiert Antonioni mit der Farbe.

Giulianas privates Refugium, ihr zukünftiger Keramikladen, weist an einer der nackten Wände einige versuchsweise unternommene Farbproben auf, unregelmässige Streifen in grün, ocker, rosa und hellblau. So unentschlossen und verkrampft wie zu diesen Farben ist auch ihr Verhältnis zur Wirklichkeit. Ihr Mann, Ugo, hat dagegen die Farben der Industrie in ihrer Wohnung auf unkomplizierte Weise assimiliert.

Auch die Wohnung des Arbeiters Mario, dessen Frau Corrado und Giuliana aufsuchen, zeigt die künstlichen Farben der Industrieproduktion. Durch die blassgrünen Vorhänge sind rosafarbene Hausfronten zu sehen, die Wände sind hell und pastellfarben, ein orangenroter Lehnstuhl, ein stahlgrauer Elektroschalter - Giuliana flüchtet sich sogleich auf ein Sofa, das mit dunkelblauem Stoff bespannt ist und ein weiss-grünes Zweigmuster zeigt; eine Nahaufnahme ihres angelehnten Kopfes hebt nicht nur hervor, wie wohltuend sie diese Illusion des Natürlichen empfindet, sondern auch wie schmal die Illusion geworden ist: im Gegensatz zu Giuliana ist Mario geheilt.

Der Stadtteil, in dem sich Giuliana ihren Laden einrichten will, ist eine verfallene, kleinbürgerliche Altstadt. Die Strasse ist grau und schmutzig, von den gleichen verwaschenen Farbtönen wie die verwilderten Landstreifen vor den Fabriken. Von einem paradiesischen Naturzustand, wie Giuliana ihn erträumt, ist diese Welt natürlich ebenso weit entfernt wie die der Appartementhäuser, aber die Farbe deckt den Zusammenhang auf: das Bewusstsein des Kleinbürgers gestattete den Paradiestraum, denn er war es gewohnt, sich nach rückwärts zu orientieren. Da er auf seinem Wertsystem bestand, konnte er seine Situation nicht verändern, und weil er mit ihr dennoch unzufrieden war, musste er sie ignorieren und statt dessen dem verlorenen Paradies immer wieder nachtrauern. Den Kastanienverkäufer vor Giulianas Laden, grau und erstarrt wie die ganze Strasse, kann nur noch der Tod anpassen.

Als Corrado Giuliana in dieser Strasse aufsucht, erscheint sein fahlblondes Haar in einer langen Naheinstellung vor der Tür, und dabei geht seine Haarfarbe bruchlos über in die Farbchromatik des siechen Gebäudes. Er ist jung und gehört dennoch zu einer vergehenden Generation. Die leeren Redensarten, die er ständig im Mund führt, vervollständigen das Profil. Er bewegt sich zwar ohne Schwierigkeiten in seiner technischen Umgebung - das wird deutlich in der Verladezsene auf dem Schiff - aber trotzdem herrscht in ihm das Gefühl der Heimatlosigkeit. Gerade weil er Giuliana so verwandt ist, ist er der denkbar ungeeignetste Freund für sie. Als sie ihn in seinem Hotel besucht, unterstreicht das Antonioni nochmals mit einer Einstellung von dem langen, weissgestrichenen Korridor, an dessen Ende Corrado steht, eine Einstellung, die sofort die verkommene Strasse assoziiert. Die weisse Farbe wirkt wie Tünche über der fleckigen Mauer; Corrado flieht nach Patagonien.

Die Menschen, die Antonioni in diesem Film beschreibt, leben nebeneinander in einer industriellen Welt, in der sie nicht aufgewachsen und für die sie nicht erzogen worden sind. Sie müssen sich selber erziehen, müssen die erforderliche Höhe des Bewusstseins selbständig erreichen, woraus sich vielleicht erklärt, dass Antonioni gegen keine seiner Figuren polemisiert, sondern sie nahezu unbeteiligt beschreibt. Giulianas kleiner Sohn, der mit Spielroboter und Motorkreisel aufwächst, wird das Drama der Übergangszeit nicht mehr verstehen.

Die Farbe verwendet Antonioni als ein eigenes Stilmittel, um ständig die Einflüsse aufzuzeigen, denen die einzelnen Personen unterliegen, um die unbrauchbar gewordenen Vorstellungen erkennbar zu machen, die den Anpassungsprozess erschweren und um die Querverbindungen innerhalb der Handlung herzustellen. Nicht der Wahrheit der Objektfarbe gilt sein Interesse, sondern der Wahrheit des Gegenstandes. Der Gegenstand aber ist das Verhältnis einer kleinen Gruppe von Menschen zu der sich anbahnenden Veränderung der Wirklichkeit, die ihrerseits noch nicht überschaubar ist. Entsprechend lässt sich auch dieses Verhältnis nicht in einer Synthese zusammenfassen, sondern es gewinnt anhand verschiedener Beobachtungen jeweils verschiedene Aspekte. Die gelbrote Flamme, die zu Beginn aus dem Schornstein schiesst, hat eine intensive und klare Farbe; am Schluss aber ist es gelber Qualm, der aus dem Schornstein steigt; ebenso findet das leuchtende Gelb des Kreisels und des Agip-Benzinautos vor Corrados Hotel sein Äquivalent in den gelben Giftlachen vor der Stadt. Gerade die noch vorhandenen und offenkundigen Mängel des Industrieapparates bestärken Corrado in seiner Unentschlossenheit; das wird in der unfertigen, halbgestrichenen Lagerhalle vor den angeworbenen Arbeitern besonders deutlich. Und Antonioni verschweigt es nicht. Er bringt ebensoviel Präzision wie Zurückhaltung auf - Präzision in der Farbgebung und Zurückhaltung durch die fast dokumentarische Handlung.

Mit DESERTO ROSSO hat Antonioni es unternommen, die scheinbare Unvereinbarkeit von Farbe und Realismus zu beseitigen. Und darin weicht er nachdrücklich von Eisenstein ab, dem es darauf ankam, die "nicht organisierte farbige Wirklichkeit" zu organisieren. Für Eisenstein bestand die Leistung des Regisseurs darin, aus dem Chaos der Quantitäten eine neue Qualität entstehen zu lassen, durch teilweise überraschende Zusammenstellung von entfernten Dingen eine Idee herzustellen und im Zuschauer emotional zu verankern. "Genauso muss der Meister des Farbfilms eine Gruppe von ausgewählten Farbelementen intensivieren und überhöhen." Eisensteins Farbdramaturgie ist auf den Zuschauer bezogen, Antonionis ausschliesslich auf die Sache.

Die Farben der ROTEN WÜSTE verhindern jede Identifizierung. Sie spannen Emotionen wie die Zuneigung Giulianas zu Corrado und Ideen wie die Gleichheit von Arbeiter und Ingenieur in ein Netz von Bezügen und Abhängigkeiten, das keine neuen "Qualitäten" entstehen lässt, sondern die vorhandenen noch in "Quantitäten" zerlegt. Nicht nur eine farbige Imitation, auch eine farbige Organisation der Wirklichkeit liegt Antonioni fern.       Hans Wolfgang Hank
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Sprache und Bild in den Filmen von Antonioni und Resnais

Die Filme, in denen sich gesellschaftliche als sprachliche Probleme darstellen, in denen die Beziehungen zwischen den Menschen in der Fähigkeit oder Unfähigkeit, miteinander sprechen zu können, thematisch werden, gehören zu den bedeutendsten der letzten Jahre. Es sind die Filme von Antonioni und Resnais.

Dass der Mensch sich selbst und seine sozialen Beziehungen nicht selbstverständlich sprachlich zu realisieren vermag, wirft psychologische und soziologische Probleme auf, deren Darstellung nicht nur der Literatur vorbehalten ist. Zwar ist die Sprache eine der wesentlichen Zugänge zum Bewusstsein des Menschen, aber das, was er verschweigt oder nicht zu formulieren vermag, gehört nicht minder zu seiner Person. Dieses Schweigen in der Mimik und Gestik zum Sprechen zu bringen, vermag wie kein anderes Medium der Film durch seine Fähigkeit, alles optisch Sichtbare in seinen feinsten Nuancen zu erschliessen; dennoch muss, ja darf er nicht auf die Sprache verzichten, ist doch das Schweigen nur in seiner Beziehung zum Sprechen interpretierbar. Die in dieser Beziehung liegende Spannung determiniert das Verhältnis von Bild und Ton.

Das eigentliche Reich des Bildes beginnt diesseits und jenseits des Wortes; dort, wo der Mensch noch nicht oder nicht mehr spricht, wird das Bild zur Aussage, es folgt der Gestik, errät das Gemeinte und wird zum Schlüssel des Nichtartikulierten. Diese sowohl Antonionis als auch Resnais' Werken eigene psychologische Intention enthält eine soziologische: ihre Interpretation des Menschen ist eine des heutigen Menschen, dessen Situation durch sein problematisches Verhältnis zur Sprache, dem Medium sinnvollen menschlichen Miteinanderlebens, gekennzeichnet ist.

Der innere Neorealismus Antonionis

Die Wendung zum psychologischen Realismus oder "inneren Neorealismus" war, wie Antonioni von sich sagt, eine Art der künstlerischen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit. Die Aufmerksamkeit dieser Kunst richtete sich auf die einzelnen Menschen, um nach den Spuren zu suchen, die die gesellschaftlichen Umwandlungen in ihnen hinterliessen.

Antonioni macht Filme über und für eine bestimmte Schicht: die der Intelligenz. "Ich wähle vor allem deshalb Intellektuelle, weil sie sich dessen, was ihnen zustösst, bewusster sind und weil sie eine feinere Sensibilität und Intuition haben, durch die ich die Realität filtern kann, die ich ausdrücken möchte _... Aber vor allem sind sie es, an denen ich mehr als an anderen Personen die Symptome jener Krise zeigen kann, die zu beschreiben mich interessiert." ("Der Film, Manifeste Gespräche Dokumente" Bd. 2, München 1964, Seite 83ff bzw. 156ff.)

Intellektuelle besitzen nicht nur eine vergleichsweise hohe Sensibilität, sondern auch die grössere Sprachfähigkeit. Sie sind imstande, sich selbst einen differenzierten sprachlichen Ausdruck zu geben; ihr Sprachverlust ist Zeichen einer Krise. An einem solchen Gegenstand muss sich die analytische Kraft des Bildes erweisen, die Kamerabewegung muss ein Umkreisen des Verstummens sein. Eine solche Sprache spricht sie in LA NOTTE.

Die Krise eines Schriftstellers und die Enterotisierung, Langeweile seiner ehe-' liehen Beziehungen führt diesen schon von Beruf aus wortgewandten Intellektuellen zu keiner sprachlichen Auseinandersetzung mit seiner Lage. Das Vermeiden einer Aussprache, die feige Zurückhaltung vor dem ausgesprochenen Gedanken sagen beredter als Worte etwas über die Hintergründe seines Schweigens aus. Die Kamera, die ihn als einen in der Gesellschaft avancierten Menschen zeigt, fängt auch seine Resignation ein, der das Gefühl zugrunde liegt, dass der grosse Erfolg seiner Arbeit ihr eigentlicher Misserfolg ist. Das Aufgehen im gesellschaftlichen System, dem eigentlich der Angriff gilt, ist der Grund für die Erschöpfung seiner Kräfte und seines Mutes, die sich bis in seine privaten Beziehungen auswirkt. Die Unfähigkeit, seine privaten Glückserfahrungen ständig zu erneuern, ist Zeichen einer inneren unschöpferischen Leere. Auf die von seiner Frau angestrebte Aussprache einzugehen, hiesse für ihn, das einzugestehen und damit das reale Ende auszusprechen. Sprechen hätte hier Konsequenzen; das feige Klammern an das Schweigen ist der letzte Versuch, dennoch weiterzumachen.

In LA NOTTE verbirgt dieses Schweigen vielleicht noch ein mögliches Sprechen, in L' ECLISSE hingegen wird es Ausdruck einer tatsächlichen sprachlichen Verständigungsgrenze. Die diesen Film einleitenden vergeblichen Versuche Riccardos, eine schon aufgelöste Liebesbeziehung zu erhalten, sind Zeichen eines Unverständnisses für den anderen; das auf beiden Personen lastende Schweigen ist das Resultat einer Kapitulation vor den Aussagemöglichkeiten der Sprache.

Das utopische Moment

In beiden Filmen sind es die als Intellektuelle gekennzeichneten männlichen Gestalten, deren Schweigen entweder eine Unfähigkeit zur Einsicht in ihre privaten Beziehungen oder ein Zurückweichen vor den Konsequenzen solcher Einsicht zutagebringt. Im Vergleich zu ihnen besitzen die Frauen für alle auch noch so wenig artikulierten Veränderungen in der Privatsphäre eine weit höhere Sensibilität. Ihr Anspruch auf ein sinnvolles Dasein konzentriert sich vor allem auf den privaten Bereich, während die gesellschaftliche Rolle der Männer deren Selbstbewusstsein genügend stabilisiert, um sie die Schwankungen ihres privaten Glückes nicht so genau registrieren oder leichter hinnehmen zu lassen. Dort, wo sie mit dumpfem Bewusstsein vor einem vagen Problem stehen, beginnen die Frauen mit geschärften Sinnen zu beobachten.

Die Frau in LA NOTTE lebte sozusagen vor Beginn des Films naiv in ihrer Rolle als Ehefrau. Ihre sprachliche Fähigkeit ist im Vergleich mit der ihres Mannes begrenzt. Die ihr plötzlich bewusstwerdende Leere und Langeweile in ihrer Ehe führt sie deshalb auch nicht zu Monologen, sondern auf die Stufe des distanzierten Sehens, das erst Sprache werden muss. Die Kamera wird folgerichtig im wesentlichen aus ihrer Sicht und in ihren Grenzen geführt. Der Prozess ihrer Entwicklung ist der zur Sprache hin und damit zu Konsequenzen, die Zukunft haben könnten, insofern sie die Realisation eines bewusst gewordenen Anspruches wären. Der Film bricht allerdings genau vor solch einem Schritt ab; denn wohin er in der Realität führen sollte, Antonioni wüsste es nicht zu sagen. Stattdessen malt er in LA NOTTE ein Gegenbild voller Phantasie und Sprachfähigkeit. Der distanzierten, sich der Entfremdung bewusst werdenden Frau ist eine nicht minder distanzierte Gestalt konfrontiert: das junge Mädchen im Hause eines Industriellen, dargestellt von Monica Vitti. Sie stellt so etwas wie eine poetische Insel im Geflecht der entleerten Beziehungen dar. Dennoch: ihr innerer Reichtum, der sich in der Fähigkeit zu spielen kundtut, ist notwendig einsam, melancholisch und trägt das Zeichen seiner Umgebung, von der er isoliert ist.

In L' ECLISSE nun werden beide Figuren in einer zusammengenommen. Das Ende einer Liebe ist hier der Ausgangs- und wahrscheinlich auch der Endpunkt des Filmes. Die nächtliche Diskussion, die der ersten Trennung vorhergeht, hat deren Gründe nicht zutage bringen können; sie sind nur Gemeinte, noch nicht Formulierbare. "Ich weiss nicht" ist die diese Situation bezeichnende Sequenz. Indem die Kamera die schale Stimmung eines Trennungsmorgens einfängt, motiviert sie das anschaulich, was sprachlich ohne Argument ist: den Überdruss, das Ende. Vittoria sagt über diese Nacht: "Oh _... unentwegt diskutiert. Und worüber? Ich bin müde, deprimiert, aus dem Gleis _...". Der Neuanfang kann nicht zielbestimmt sein, sondern nur zögernd, unsicher, im eigentlich sprachlosen Raum. Die Entwicklung dieses Zustandes ist Sache der Kamera: zu der zögernden Distanz, mit der sich Vittoria der Welt nähert, gesellt sich die Neugierde als Ausdruck eines inneren Freiwerdens. Dieses Mädchen beginnt zu sehen, nicht im Sinne kritischer Erkenntnis, sondern es ist einfaches, hinnehmendes und staunendes Sehen, das in seinem Wesen spielerisch ist. Dieses ästhetische Verhalten zu den Dingen eröffnet der Kamera zugleich mit der Mimik und Gestik Vittorias die Welt aus der Sicht des Spielenden. Das ist das Äusserste, was Antonioni an produktivem Verhalten zur Welt zulässt.

Mitten in der sprechenden mimischen Bewegung erlischt plötzlich der Ausdruck; Vittoria wird melancholisch, überfallen anscheinend von Ahnungen der Sinnlosigkeit. Diesen Wechsel der Stimmungen vermag Antonioni jedoch nicht aus der psychischen Situation Vittorias zu motivieren, sondern er begeht den Fehler, ihr Bewusstsein zu umgehen und seine eigenen Gedanken, die nicht die ihren sind, durch Bildsymbole zum Ausdruck bringen. So soll etwa die Börse als Inbegriff hektischen, entfremdeten Lebens und die Bildkomposition von kleinem Menschen und gewaltigen Baufassaden als Symbol für die Verlorenheit des Menschen in der technischen Zivilisation dienen. In einem Film, dessen Intention die strenge Orientierung am Bewusstsein der Personen ist, erscheint solche Meinungsäusserung des Regisseurs als äusserlich. So ist die Börse wesentlich "an sich", d. h. nicht aus der Sicht Vittorias, nicht als ein für sie bedeutsames Phänomen fotografiert; ebenso sagt das Zusammenfotografieren von Mensch und Bauten noch nichts über das Verlassenheitsgefühl der Person aus. Zwar muss der Regisseur bei der Behandlung seines Themas ein anderes Problembewusstsein und damit ein anderes sprachliches Niveau als seine Personen haben, jedoch besteht die künstlerische Leistung gerade in der strengen Individuierung dieses Bewusstseins, er muss seine eigene Sprache in die seiner Personen verwandeln können, er muss sich auf die Stufe ihres Selbstbewusstseins begeben und von dieser Basis aus seine eigenen Erkenntnisse in einen Erkenntnisprozess seiner Personen verwandeln. Vittorias Beobachten der Börse ist zwar im Verwundern ein erstes Fragen, das nach Worten suchen könnte, um noch mehr zu sehen, mehr zu erkennen. Aber die im Vordergrund agierende Börse lässt Vittoria gar nicht erst zu Wort kommen. So vereitelt der Regisseur einen vielleicht möglichen Prozess der weiblichen Hauptgestalt durch seine eigenen, in bildliche Symbole umgesetzten Worte. Man stellt sich die Frage, ob er deshalb die Immanenz eines solchen Entwicklungsprozesses nicht darstellt, weil für ihn das Problem der technischen Zivilisation hinsichtlich eines Menschen, der nicht völlig in das technisch-ökonomische System integriert ist, noch ungelöst war.

Individuum und technisierte Welt

Erst in DESERTO ROSSO vollzieht sich die Auseinandersetzung mit der technisierten Welt im Bewusstsein eines solchen Menschen. In der Konfrontation der weiblichen Hauptgestalt mit einer durch die Technik bestimmten Welt gestaltet Antonioni die Tragödie der bürgerlichen Individualität, die von einem Fortschritt, den sie einst selbst vorantrieb, vernichtet wird. In der Figur der Giuliana wird die Selbstentfremdung in einer Weise zum Sprechen gebracht, die alle vorhergehenden Filme an Deutlichkeit übertrifft.

Die kranke Giuliana ist sich ihrer neurotischen Isolation überdeutlich bewusst. Solange sie sich wie die anderen bewegt, spricht allein ihre Gestik; erst die Angst treibt ihre Sprache hervor, in der sie die Worte findet, die genau ihren Zustand beschreiben und begründen. Sie spricht davon, dass sie mit ihrer durch die Technik geprägten Umwelt - "den Strassen, den Fabriken, den Farben, dem Himmel, den Menschen" - nicht fertig wird, dass sie sich nach Schutz sehnt - "ich wünsche mir immer, dass die Menschen, die mich einmal gern hatten, um mich sind wie eine Mauer" -, dass sie Liebe sucht - "was ist in mir nur für eine Gier nach Liebe". Das Bewusstwerden ihrer Krankheit befreit sie jedoch nicht, da die Bedingungen, unter denen Giuliana lebt, eine Heilung verhindern; Antonioni legt sogar nahe, in der technischen Umwelt selbst die eigentliche Ursache von Giulianas Krankheit zu suchen. Giuliana ist kein Fall für die Psychoanalyse; die Geschichte ihrer Angst wurzelt in einer prinzipiellen Fremdheit ihrer Umwelt gegenüber, die keine Vorgeschichte in frühkindlichen traumatischen Erlebnissen zu haben scheint. Im Gegenteil, man möchte annehmen, Giuliana wird nur deshalb krank, weil sie aus einer intakten Familie stammt, in der sie die ihren Glücksanspruch prägende Geborgenheit erfuhr und in der sie befähigt wurde, ihr Leben als ein seelisch gesunder Mensch zu führen. Nun aber stösst sie mit einer Welt zusammen, die die Eigenwelt der Familie und damit die private Sphäre der Humanität zerstört, indem sie diese Sphäre mit den in der Technik geltenden Strukturen überzieht. Nicht nur ist die Wohnung Giulianas fabrikmässig, ohne persönliche Intimität, auch sonst dringt die Technik in die Umgebung und die Beziehungen der Menschen ein.

Giuliana ist für ihren Mann ein technisches Problem, ein Fall. Die Zweckrationalität der Arbeitswelt, die sein Denken prägte, hat seine Sprachfähigkeit und Sensibilität so entscheidend eingeschränkt, dass er die Beziehungen, die ausserhalb zweckrationaler Kategorien sind, weder zu begreifen noch zu gestalten vermag. Die Probleme seiner Frau sprechen nicht zu ihm, und so ist auch sein distanziert fürsorgliches Verhalten stumm.

Sprachlosigkeit aber wird nicht nur im Verhalten des Mannes zu Giuliana offenbar, sondern findet sich in allen privaten Beziehungen. Auch zwischen den anderen ist jene Leere, die das Miteinandersein zu einem technischen Problem macht. Die Menschen, die gelernt haben, sich den Strukturen ihrer Arbeitswelt bis in ihr Verhalten hinein anzupassen, sehen sich plötzlich verlassen, wenn sie etwas gestalten sollen, das, da es nicht der Arbeit angehört, auch nicht deren Strukturen aufweist. Das, woran sie sich halten können, ist allein die Konvention. Das traurige Bemühen um Geselligkeit in jener Baracke am Meer ist doppelt unergiebig, da die Personen der Konvention gehorchen, mit der Liebe nur zu spielen, ohne jedoch mit der Liebe spielen zu können; sie sind weder fähig, die Schranken zu durchbrechen, noch sie im Spiel aufzuheben.

Obwohl das Verhalten der Personen wesentlich aus ihren durch die Technik geprägten Lebensbedingungen zu verstehen ist, vermeidet es Antonioni, der Technik allein die Schuld für die Entfremdung der Menschen zuzuschreiben. Nicht nur entdeckt er an Giulianas Mann und Sohn Eigenschaften, die als ein Potential erscheinen sollen - so ihr Sehen des Interessanten und Schönen im Bereich der Technik -, auch bringt er die imponierende Erscheinung der Technik durch Farb- und Formkompositionen voll ins Bild. Die Welt der Technik, von der Antonioni gegenüber Godard äusserte, sie sei reich, lebendig und nützlich, verändert zwar die Natur bis zur Entstellung - die graugrünen fettigen Tümpel, die graue Eintönigkeit der Strassen erinnern ständig an den Tod der Natur - doch vernichtet sie nicht nur, sondern bringt auch Sehens- und Bewundernswertes hervor.

Ja, selbst den Schutthalden, der ganzen sich in Auflösung befindenden Landschaft, gewinnt Antonioni noch ästhetischen Reiz ab. So werden Abfallhalden zu Kompositionen, die an Kollagen erinnern, so verwandelt er das eintönige Grau der Strassen in eine reizvolle Grauskala, so benutzt er den Farbeffekt von Giulianas Haar, ihrer Kleidung, indem er sie in oder gegen ihre Umgebung setzt - jede Einstellung ist als Bild durchdacht.

Die Frage stellt sich, ob der hohe ästhetische Reiz, der von diesen Bildern ausgeht, nicht unvermeidlich die Ästhetisierung des inhaltlichen Problems bewirkt. Jedoch: es gibt in Antonionis Film keine Sequenz, die die Not Giulianas unglaubwürdig machte, indem sie sie verschönte; nie vergisst man, dass der Schutt, in den Antonioni die grüne Farbe ihres Mantels als Farbfleck hineinkomponiert, von Giuliana mit Ekel betrachtet wird, dass das Grau der Strasse, das Graugelb der Tümpel trostlos sind. Giuliana, deren Märchen, das sie ihrem Sohn erzählt, von den klaren Naturfarben einer südlichen Küste träumt, fühlt sich verloren, wenn sie auf das graue Meer hinausschaut. Sie sieht, als hätte sie Tränen in den Augen, die alles in einen grauen Dunstschleier legen; ihre Frage: "Aber wohin soll ich schauen?" wird von Corrado interpretiert als: "Wie soll man leben?" Für Giuliana ist diese Frage beantwortet, sie hat alles versucht, aber die Wirklichkeit behält, wie sie sagt, etwas Erschreckendes für sie, sie kann in ihr nur vegetieren, aber nicht leben. Ihre Lage ist ausweglos. Giuliana weiss, dass es keinen Ort auf der Welt gibt, an dem es ihr besser gehen könnte. Antonioni zeichnet sie nicht als einen Menschen, der sich seiner selbst nur halb bewusst ist, dem also Erkenntnis helfen könnte. Gerade die hohe Bewusstheit ihrer Lage macht ihre Ausweglosigkeit evident. Giuliana spricht alles aus, was zu sagen ist, sie sagt, worunter sie leidet, sie kann sprachlich noch bezeichnen, was ihr zu verarbeiten unmöglich ist.

Dennoch: das In der Sprache und im Sehen Giulianas festgehaltene Leid hebt den ästhetischen Reiz der Bildkompositionen Antonionis nicht auf; hier besteht eine innere Spannung. Giuliana lebt inmitten dieser Landschaft und wird von ihr in allen Sinnen bedrängt, Antonioni hingegen und mit ihm der Zuschauer verhalten sich als Betrachtende, sie haben die für jedes ästhetische Gestalten und Erleben nötige Distanz. In dieser Distanz liegt der Widerstand des Bildes gegen die Sprache. Den Worten Giulianas, die sagten, dass für sie nichts zu erhoffen sei, steht das Bild als Farb- und Formkomposition gegenüber, das der Resignation widerspricht; nicht der Resignation Giulianas, aber der Antonionis. Dass die Individualität mit den "alten Gefühlen", die noch handelt, liebt und hasst "wie zu Zeiten Homers", ("Der Film, Manifeste Gespräche Dokumente" Bd. 2, München 1964, Seite 83ff bzw. 156ff.) untergehen muss, wenn die Technik total die Gesellschaft beherrscht, das wird in der Sprache Giulianas und der anderen evident; die Farbkompositionen des Filmes hingegen setzen das Aber. Wenn hierin die Farbkompositionen dem "So ist es" oder "So wird es sein" der Sprache und der ihr zugeordneten Bilder widersprechen, so heben sie deren Aussage zwar nicht auf, verwandeln sie aber in eine Frage; eine Frage, die nicht nur dem Zuschauer entgegentritt, sondern die auch die Kunst Antonionis weitertreiben wird.

Resnais' Suche nach der verlorenen Zeit

Ebenso wie Antonionis Filme stellen die Resnais' den Anspruch, in der Gestaltung der sich selbst zum Problem gewordenen Individualität ein gesellschaftliches Allgemeines zu treffen.

Die Geschichtlichkeit des Menschen ist das Thema der Filme Resnais'. Das lässt ihn im Vergleich mit anderen Regisseuren traditionsbewusster erscheinen; jedoch die Konkretionen dieses Themas erweisen dessen Aktualität. Der Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der erst das Bewusstsein von Sinn verleiht, ist als verlorenes Problem und Ziel fast aller Personen in Renais' Filmen. Der Verlust der Gegenwärtigkeit, der Sinnfälligkeit des Lebens gründet in einem Beladensein mit Vergangenheit, die sich der Gegenwart nicht kontinuierlich einfügen will; die Trümmer im Bewusstsein sperren sich jeder Zukunft, die sie aufheben könnte. Angst ist die Grundstimmung der Personen, sie ist die psychische Reaktion auf die Auflösung der Identität der Person: die eigene Geschichte, die als solche begriffen, die Einheit der Erfahrungen stiftet, ist den Personen nur bruchstückhaft und fremd gegenwärtig, aber noch vertraut genug, um Gegenwart und Zukunft zu stören und um zu verhindern, dass der Mensch zu sich selbst findet, sich selbst, d. h. seine Identität begreift.

Resnais' Probleme wurzeln'in der Erfahrung des Krieges, der sowohl das Bewusstsein der Opfer wie der Schuldigen an sich fesselt. Vernichtet zu haben oder der Vernichtung entronnen zu sein, bleibt ständige Gegenwart und lebt auch in der Verdrängung als Ursache ständiger Furcht fort. Hier wird noch 1963 ein Thema gestellt, das in Deutschland schon unter dem ersten Goldregen des Marshallplanes begraben wurde. In Frankreich hinderte die ständige Gegenwärtigkeit des Krieges in Algerien das Vergessen des Schreckens, der inmitten einer gesellschaftlichen Stabilisierung lebte.

Das Problem, die Vergangenheit zu integrieren, durchzieht als roter Faden alle Filme Resnais': sei es, dass der Schock eines Kriegserlebnisses den Weg zur Zukunft abschneidet oder dass Vergangenheit um einer Zukunft willen beschworen wird. Zur Darstellung dieser Problematik bedient sich Resnais auch ihres subjektiven sprachlichen Ausdrucks. Der Wechsel der Funktion der Sprache in den einzelnen Filmen entspricht dem Wechsel ihrer Bedeutung für die dargestellten Personen.

Vergessen muss konstruktiv sein

Noch in HIROSHIMA MON AMOUR kommt der Sprache heilende Bedeutung zu: im Aussprechen der Erlebnisse von Nevers, in der Verknüpfung der gegenwärtigen mit der vergangenen Liebe kämpft die weibliche Hauptgestalt zugleich um und gegen ihre Zukunft - eine individuelle Geschichte, die in aller Unfasslichkeit dem Bewusstsein als erzählte doch wieder fassbar wird. Das Aufnehmen der eigenen Geschichte ins Bewusstsein schliesst jede Analogie zu der Vernichtung in Hiroshima aus: der Prozess des Zu-Sich-Selbst-Findens der Frau ist zugleich einer der Distanzierung von Hiroshima. Aber obwohl dadurch die Unvergleichbarkeit beider Geschehen zutagetritt, so wird dennoch nur durch die Unmittelbarkeit individuellsten Leides die Ahnung für das Ausmass des Verbrechens von Hiroshima erweckt. Die Fähigkeit nur eines Menschen zur Erinnerung, zum Sprechen ist gerade vor Hiroshima Hoffnung, weil sie das Verdrängte ans Licht des Tages bringt und so einer Vergangenheit anheimgibt, die Zukunft zulässt.

Die Spannung zwischen der individuellen Geschichte der Frau und dem kollektiven Geschehen in Hiroshima erreicht schon in den ersten Einstellungen ihren Höhepunkt. Die Bilder körperlicher Nähe und die Dokumentaraufnahmen des Schreckens würden sich gegenseitig erschlagen, träte nicht die Sprache als verfremdendes Element zwischen sie. Ihr Duktus des deklamatorischen Aufsagens ist ein neutrales Moment zwischen Bildern der Umarmung und der Vernichtung; sie distanziert die unmittelbar unvergleichlichen Geschehen voneinander und setzt sie in eine der Reflexion zugängliche Spannung. Die weitere Gestaltung dieser Spannung geschieht durch die Konkretion der individuellen Geschichte der Frau, deren sprachliche Durchdringung zu einer Durchdringung des Verhältnisses von Nevers und Hiroshima wird. Nicht selbstverständlich und leicht ist für die Frau das Sprechen über sich selbst; ihr zögernder Eintritt in die eigene Vergangenheit und das fliehen vor ihrer Preisgabe an die Zukunft ist ein Verweigern von Sprache, die über das Spiel mit dem Unkonventionellen hinausgeht und an die eigene Person rührt. Flucht und Sehnsucht prägen sich in die Gestik und setzen die Kamera auf ihre Spur. Der Höhepunkt des Filmes ist zugleich der sprachliche Kulminationspunkt; die dramatische Kraft der Aussprache lässt sogar die Eigenaussage des Bildes zugunsten einer Illustration des Wortes zurücktreten. So ist dieser Teil zwar der unfilmischste, der dem Theater am nächsten stehende, gerechtfertigt aber ist er durch die Bedeutung, die Resnais der Aussprache für die Entwicklung der Frau beimisst. "Ich halte sie für fähig, nach dieser Begegnung eine andere Frau zu werden, zu einer Art von Reife zu gelangen." ("Der Film, Manifeste Gespräche Dokumente" Bd. 2, München 1964, Seite 83ff bzw. 156ff.)

Die der psychoanalytischen Situation und Technik vergleichbare inhaltliche und formale Struktur des Filmes ist wegen ihres Kampfes um die Einheit der Zeit, die Einheit der Erfahrung dramatisch; den folgenden Filmen gelingt diese Einheit nur noch sehr vage ("Letztes Jahr in Marienbad") oder gar nicht mehr ("Muriel"). Sprache und Bild kommt nun andere Bedeutung zu. Die ihnen noch in HIROSHIMA MON AMOUR innewohnende Kraft zur Veränderung des Bewusstseins wird schon in "Letztes Jahr in Marienbad" schwächer und versiegt in "Muriel" vollends. Die erhellende Funktion der Sprache in "HIROSHIMA MON AMOUR" lag vor allem in ihrem Aussprachecharakter, in dem Miteinandersprechen. In "Letztes Jahr in Marienbad" wird die Sprache zur Suggestion; sie ist eine magische Kraft, die aus dem Nichts, aus der absoluten Gegenwart von Raum und Zeit eine Geschichte herbeizaubert, indem sie Vergangenheit und Zukunft beschwört. Sprachmagie und bildliche Assoziation sind es, die diese Geschichte knüpfen. In der Abstraktion von der empirischen Wirklichkeit vermögen Sprache und Bild noch solch visionäre Wirklichkeit zu setzen, wie aber steht es um ihre Möglichkeiten, sobald sie in einer der imaginären Wirklichkeit von "Letztes Jahr in Marienbad" ähnlichen, aber empirischen agieren sollen?

Die Zeit der Wiederkehr

Wie der Mann in "Letztes Jahr in Marienbad" beschwört auch Helene Aughain, die ihren Jugendgeliebten in der vagen Hoffnung zu sich ruft, ihr Leben noch einmal dort beginnen zu können, wo sie glücklich war, die Vergangenheit; jedoch die inzwischen vergangene Zeit bricht die magische Kraft der Sprache und Wünsche; es wird nicht "ungewöhnlich und spontan", wie sie erhoffte. Mühsame kleine Augenblicke lang versucht sie, die gemeinsamen Erinnerungen zu verlebendigen, aber schnell versinken sie wieder in der Konventionalität der Umgangssprache. Jedoch die Erregung, die die Vergeblichkeit des Versuches erweckt, teilt sich ihrem konventionellen Verhalten mit: es Ist unruhig, sprunghaft, nervös. Die Furcht, die sich immer tiefer in ihr ausbreitet, ist die, dass die Vergangenheit nur ihren Träumen zugehörte, dass ihre Geschichte mit Alphonse in Wahrheit nie angefangen hatte. Sie, die in der Gegenwart der Nachkriegszeit nie heimisch wurde, jedoch immerhin ihren Sinn fürs Bürgerliche in einen Handel mit dessen Requisiten umzumünzen verstand, verliert nun noch das, woran sie in der Äusserlichkeit ihres Daseins festhalten konnte; ihre Erinnerungen. Sie verrinnen, ohne eine Spur zu hinterlassen, so dass jeder neue Tag Helene ärmer macht. "Keine Erinnerung mehr zu äussern / die Zeit zerrissen / wie ein Brief / den man nicht mehr zu lesen wagt".

Wie ein Spuk erscheint das Vergangene angesichts dieses Alphonse, der, ein vergesslicher Feigling, glaubt, durch sein Geschwätz eine goldene Gegenwart herbeizuzaubern. Helene wünscht eine individuelle Zukunft und sucht deshalb die Vergangenheit; Alphonse hingegen lebt in den Tag und benutzt die Vergangenheit, um sie mit den Wunschvorstellungen seines Ich auszustaffieren. Sein ganzes Leben ist ein Prozess der Verdrängung der Realität, es ist eine einzige Fluchtbewegung vor der Gegenwart.

Auch für Bernard ist die Zeit gerissen, ihm ist die Vergangenheit ständig gegenwärtig, die ihn so mit Schuld belädt, dass er sich schliesslich nur in einem wahnwitzigen Racheakt befreien kann. In diesem Film ist jeder allein, auch er; zwar spricht er sich aus, aber der alte Jean, dem er von Muriel berichtet, dem er die schrecklichen Erlebnisse in seinem Film vorführt, vermag überhaupt nicht zu ermessen, wer Bernard ist; er kann ihm keine Antwort geben. Es gibt hier keine Situationen, wie in HIROSHIMA MON AMOUR, hier liebt keiner den anderen, gibt es kein produktives Sprechen und Hören. Jede Kommunikation bleibt im Rahmen der Konvention, aber dieser Rahmen wird ständig gesprengt durch die innere Unsicherheit und Unruhe der Personen. Nicht nur, dass Helene ihre Angst sprachlich formuliert und von Alphonse gesagt wird, er habe Angst und Angst mache vergesslich, sondern Unruhe liegt auch in der Art zu sprechen und in der Gestik. Die Personen sind ständig in Bewegung, aus Unbehaglichkeit, Gereiztheit, Langeweile, Angst - nie fühlen sie sich miteinander wohl. Man schützt sich voreinander, indem man sich mit Geselligkeit umgibt, der Personenkreis erweitert sich, die Unternehmungen häufen sich. Die Kamera verhält sich, ihrem Gegenstand entsprechend, impressionistisch, und die Farben tun das ihrige, um die unruhige Belebtheit zu unterstreichen.

Nicht nur die Bedeutung der Sprache trennt "Muriel" von HIROSHIMA MON AMOUR, sondern auch die Kameraführung. In HIROSHIMA MON AMOUR verhielten sich Kamera und Regisseur als Beobachter, die die weibliche Hauptgestalt genau kennenlernen wollten; zugleich waren sie engagiert, d. h. sie identifizierten sich mit ihr. In "Muriel" hingegen distanzieren sich Regisseur und Kamera von ihrem Gegenstand; ihren Realismus gewinnen sie, indem die subjektive Haltung der Personen zum Stilprinzip des Filmes wird. Schon mit "Letztes Jahr in Marienbad" wollte Resnais einen Film realisieren, "in dem das Spiel der Empfindungen und des Bewusstseins die eigentliche Bewegung darstellt, wie auf einem zeitgenössischen Bild das Spiel der Formen stärker hervortritt als das Thema." (Zeitschrift "Film" 4/63, S. 41) In "Muriel" nimmt er diesen Gedanken wieder auf, nur ist hier der Verzicht auf eine kontinuierliche Handlungsführung, das Laufenlassen der Bewusstseinsvorgänge kein ästhetisches Experiment mehr, sondern ein Mittel zur Aufdeckung von konkreten Bewusstseinsstrukturen. Dass diese Strukturen in "Muriel" zerrüttet sind, verändert die Kameraführung. Ohne dass sie die Welt durch die Augen der Personen betrachtete, nimmt sie doch die Struktur ihres Bewusstseins an, sie ist wie die Figuren des Filmes: unruhig. Genau diese Sicht, die Identität von Thema und Darstellung verbürgt den objektiven Charakter dieses Filmes.

Diese Objektivität impliziert einen Anspruch, nämlich den einer Aussage über die Wirklichkeit: so sind die Menschen in der heutigen Zeit. In einem Interview befragt, ob Helene so etwas wie eine "Marianne 63" darstelle, antwortete Resnais: "Diese Weite und Unsicherheit der Gefühle, das gibt es doch heute auch in Italien oder in Deutschland. Es sind abendländische Reaktionen." Reaktionen - worauf? Die historische Situation, in der Renais' Personen agieren, ist gekennzeichnet durch den ökonomischen Aufschwung und die Stabilisierung der Verhältnisse nach dem Krieg; diese Entwicklung geht jedoch über den Kopf der Menschen hinweg, weil die Zukunft, in der sie schon leben, nichts gemein hat mit ihrer Vergangenheit. So wie nach der Zerstörung von Boulogne nicht die alte, sondern eine völlig neue Stadt entstand, neben der die Altstadt ein eigenes Dasein fristet, so leben die Menschen in dem Gefühl, einer Zeit anzugehören, die nicht die ihre ist. Die Erfahrung des Krieges, die alle, mit Ausnahme von Françoise, teilen, hat ihre Vergangenheit bestimmt. Die Diskontinuität von Vergangenheit und Zukunft macht die Gegenwart geschichtslos, ein Riss der Zeiten lastet auf den Personen, ohne dass sie ihn Sprache werden lassen könnten; er verursacht in ihnen Angst, Unruhe, Fluchtbewegungen.

Die beiden ersten Spielfilme Resnais' sind denen Antonionis hinsichtlich des Zusammenspiels von Sprache und Bild noch vergleichbar. Die Eigenaussage des Bildes bestimmt sich im Spannungsverhältnis zur Sprache. Diesseits und jenseits des Wortes agieren und dennoch verstanden werden bedeutet, dass das Bild ein potentielles Wort ist; in dieser Funktion wohnt ihm wesentlich ein sprachkritisches Moment inne: es will mehr und besseres sagen als das Wort. So verflochten mit der Sprache, ist das Bild sprachschöpferisch.

In "Muriel" wird dieses Spannungsverhältnis im Film selbst so herabgemindert, dass die eigentliche kritische Potenz nur dem Film als Ganzem und nicht einzelnen Elementen abzulesen ist. Das Bild tritt, sobald die Sprache versiegt, nicht an ihre Stelle, um die Person wieder zur Einheit zu ergänzen, sondern bestätigt vielmehr die Leerstelle der Sprachlosigkeit. Bild und Sprache stehen nicht in antithetischem Verhältnis zueinander, sondern sind kongruent. Ist damit das Bild eine Verdoppelung des Wortes, also überflüssig? Keineswegs, und zwar deshalb nicht, weil die Art der Sprache zwingend das Bild erfordert. "Muriel" ist als Drehbuch in fünf Akten geschrieben, verglichen aber mit dem klassischen Drama hat eine völlige Umkehr der Bedeutung der Sprache stattgefunden. Trug dort allein die Sprache die Handlung, war jede Geste in Sprache gesetzt, so ist hier die Sprache ohnmächtig. Dennoch wird viel gesprochen, aber das Wort ist kein Offenlegen des Gedankens; jeder Versuch des Öffnens scheitert. Der Wortreichtum, der sprachlos ist, wird durch das Bild erst evident; die Gestik straft alles Reden Lügen, ohne dass sie jedoch mehr sagte als nur das. Das Bild geht so zwar über die Sprache hinaus, aber nur, um auf sie zurückzuweisen und ihren nicht nur banalen, sondern auch suspekten Charakter zu offenbaren. Es sagt nicht: es könnte anders sein, sondern: so ist es.

Ein Vergleich

Renais bringt in dem Verhalten seiner Personen etwas Allgemeines zur Darstellung, das zu einem Vergleich mit Antonioni anregt. Beide Regisseure beschreiben Menschen, die bis in die Sprache hinein in ihrem Verhalten zu den anderen verunsichert sind; dies tritt als Gemeinsames hervor, obwohl beide Regisseure andere gesellschaftliche Gruppen darstellen und auch in der Auffassung der ästhetischen Gestaltung divergieren.

Antonionis Personen sind Intellektuelle, deren Verhalten er als symptomatisch für eine durch die Wissenschaft und Technik bestimmte Zeit interpretiert. Antonionis Einstellung zu diesem Phänomen ist ambivalent. Einerseits fasziniert ihn die Technik, andererseits aber sieht er, dass das entfremdete Leben der Menschen unter einem objektiven Zwang steht, an dem auch Technik und Wissenschaft ihr Teil haben. Antonioni versucht im wesentlichen, den Spuren der gesellschaftlichen Determination im Privaten nachzugehen. Die männlichen Gestalten, die die literarische, wissenschaftliche und technische Intelligenz vertreten, zeigen eine Abstumpfung ihrer Sensibilität; ihr Verstummen ist, da es das Schweigen wirklich sprachfähiger Menschen ist, Zeichen einer objektiven Sprachkrise. Jedoch im Gegensatz zu dem der Frauen wohnt ihrem Schweigen nichts Utopisches inne, es ist reine Negation des Gegenwärtigen und weiss nichts von Zukünftigem. Die Frauen hingegen ,die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle stärker an die Privatsphäre gebunden und damit auch kaum ins technisch-ökonomische System der Berufsrollen integriert sind, sind als die objektiv historisch Zurückgebliebenen die eigentlich Vorwärtsweisenden, weil in ihnen noch ein konkreter Glücksanspruch lebendig ist.

Dass dieser Glücksanspruch sich nicht realisieren lässt, ist für sie eine grundsätzliche Erfahrung: neue Liebesbeziehungen anzuknüpfen ist für sie genau so sinnlos, wie die alte Bindung aufrechtzuerhalten, denn ihr Verhältnis zu den Männern ist prinzipiell problematisch geworden. Sie haben sowohl die nötige Distanz als auch genügend Sensibilität, um die Arbeitswelt der Männer beurteilen zu können; sie sehen, dass die Männer integriert und angepasst sind. Sie selbst bleiben ausserhalb der Arbeitswelt, ohne jedoch einen eigenen gesellschaftlichen Ort zu haben, an dem sie sich einrichten könnten; ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter, in der sie über die Privatsphäre kaum hinausblickten, sind sie entwachsen, aber sie haben, so scheint es, das Glück, das diese Rolle auch noch in ihrer Beschränkung zu geben imstande war, sehr wohl im Gedächtnis. Ihr Wunsch, sich in der Liebe zu realisieren,' ist in ihnen lebendig geblieben, aber er kann sich nicht mehr allein in der Familie erfüllen. Wenden sie sich aber der Welt ausserhalb der Familie zu, die ihnen bisher verschlossen war, so schlägt ihnen eine Fremdheit entgegen, die sie in ihrem Anspruch, ein erfülltes Leben zu führen, isoliert. Sie, die auf dem Wege sind, sich als Individualität zu realisieren, werden gehindert, in eine schöpferische Beziehung zu ihrer Umwelt zu treten; der Prozess ihrer Entfaltung lässt sich in dem Erwachen eines genauen Blickes für ihre Umwelt, in ihrer ästhetischen Neugierde, Sensibilität und Sprachfähigkeit verfolgen, aber nie kommen sie in produktiven Kontakt zu den anderen, weil Kontakt hier nur Anpassung heissen kann.

In ihrer Unfähigkeit, sich anzupassen, die in ihrem Anspruch, ein ungeteiltes Leben zu führen, gründet, verteidigen sie nicht nur sich selbst, sondern die Individualität überhaupt. Als solche vermögen sie das grundsätzliche Problem, um das es Antonioni letztlich geht, sichtbar zu machen, das Problem nämlich, ob die ästhetische, schöpferische Individualität in einer von der Wissenschaft und Technik geprägten Zeit noch eine Lebenschance besitzt.

Individualität entfaltet sich in LA NOTTE und L' ECLISSE im Bewusstwerden der Fremdheit der Umwelt; Sprache und Bild organisieren sich im Hinblick auf diesen Prozess. So entdeckt die Kamera in der Mimik und Gestik der weiblichen Gestalten das die Individualität verratende Potential an Sprache, Spontaneität und Sensibilität, sie entdeckt aber auch, dass dessen Realisierung Isolation bedeutet.

So ist das junge phantasievolle Mädchen in LA NOTTE, dessen Sprache als einzige voll Spontaneität und Differenziertheit ist, isolierte Merkwürdigkeit. Isoliert ist auch Giuliana in DESERTO ROSSO. Der Konflikt zwischen Individualität und Umwelt ist hier so zugespitzt, dass Isolation Krankheit bedeutet. Sie bedeutet jedoch noch nicht völlige Zerstörung, da Giuliana wie keine andere der Figuren Antonionis sich ihrer selbst bewusst ist. Die Kamera zeigt sie in Situationen, in denen die Angst ihre Gestik zerreisst,, aber gerade in diesen Situationen ist sie nicht nur ein Bild leidender Verstörtheit, sondern gerade dann zeigt sie sich im vollen Besitze ihrer Sprache. Aber ihre Sprache ist ohnmächtig; Giuliana ist allein mit ihr in einer Umgebung, von der sie nicht verstanden wird.

Einzig Antonioni - und mit ihm vielleicht der Zuschauer - durchbricht ihre Isolation, denn er anerkennt den Anspruch, den Giuliana auch in ihrer Krankheit, die selbst eine Form des Protestes ist, nicht aufgibt. Antonioni durchbricht ihre Isolation dadurch, dass er sein Verständnis für Giuliana im Film selbst objektiviert. So richtet er die Kamera voller Interesse auf ihr ausdrucksvolles Gesicht, auf ihre sprechenden Hände; aber darüber noch hinausgehend beweist er sein Verstehen, indem er sich selbst als die schöpferische Individualität, die zu entfalten Giuliana verwehrt ist, ins Spiel bringt. In seinen Farbkompositionen realisiert er eine Schönheit, die er auch an Giuliana und in ihr entdeckt, die jedoch nicht mehr für sie selbst existiert, weil sich ihre Kräfte im Protest gegen ihre Umwelt verzehren.

In diesem Willen zur interessanten und schönen Form relativiert Antonioni die Grundsätzlichkeit, mit der er Giuliana als Inbegriff der sprachfähigen und sensiblen Individualität einer technisierten Welt ausgeliefert sieht. In ihm selbst hat jene schon fast der Vernichtung anheimgegebene Individualität noch immer ihre Kontinuität und, sofern er seine Filme nicht nur für sich selbst macht, der Möglichkeit nach auch in seinen Zuschauern.

Verglichen mit der Grundsätzlichkeit, in der sich für Antonioni das Problem der Realisation der Individualität stellt, erscheint Resnais geradezu pedantisch konkret. Individualität sein heisst für ihn nicht, sich als schöpferische Besonderheit schlecht hin zu realisieren, sondern sich von und in den konkreten Bedingungen, die den Lebensweg des Menschen determinieren, zu befreien. Freisein bedeutet bei Resnais Freiwerden im Durchdringen der persönlichen Erlebnisse und politischen Ereignisse der Vergangenheit. Dieses Durchdringen ist als gedankliches wesentlich sprachlich.

HIROSHIMA MON AMOUR ist der Film Resnais1, der am deutlichsten zeigt, dass das Sprechen erlösende Bedeutung haben kann. Die Kamera beteiligt sich am Prozess des Sich-Selbst-Wiederfindens der Frau und tritt damit in eine enge Beziehung zur Sprache. Bild und Sprache organisieren sich zu einem Prozess der Selbsterkenntnis, der das Leben der weiblichen Hauptgestalt wieder zur Einheit werden lässt. Möglich jedoch wird diese Entwicklung nur, weil das Sprechen auf ein Verstehen trifft.

Helene in "Muriel" gelingt diese Einheit ebensowenig wie Giuliana in DESERTO ROSSO; hier wie dort ist die Sprache ohnmächtig, weil sie niemandes Verständnis erreicht. Die Erfahrung, dass die anderen eine andere Sprache sprechen, machen beide; beide vermögen sich der für sie neuen Umwelt, hier einer technischen Industrielandschaft, dort einer Stadt und dem Lebensstil der Nachkriegszeit, nicht anzupassen. Aber sie vermögen es aus anderen Gründen nicht. Giuliana passt deshalb nicht in ihre Umgebung, weil sie prinzipiell anders ist; als Individualität überhaupt verkörpert sie den Anspruch der unverfälschten Natur gegen die unnatürliche Welt. Helene hingegen erscheint als ganz konkrete Individualität in ihren Ansprüchen genauso wenig als Natur wie ihre Umwelt. Vielfältig sind ihre Ansprüche geprägt durch die historischen Bedingungen, unter denen sie bisher lebte. So ist ihre Bindung an die Normen der gesellschaftlichen Gruppe, der sie zugehört, so stark, dass deren Auflösung die ihre mit betreibt. Sie ist eine Bürgerin alten Stils, die ihre Determination durch die Vergangenheit nicht aufzuheben imstande ist. Sie kann ihre eigene Geschichte nicht durchdringen; sie findet die Gedanken und damit die Worte nicht, die ihr selbst zur Klarheit verhelfen würden.

Indem Resnais Helenes Verhalten konkret aus der Verkettung persönlicher Erlebnisse, historischer Ereignisse und gesellschaftlicher Veränderungen ableitet, macht er ihre Determination so evident, dass für sie eine Freiheit, wie sie der Frau in HIROSHIMA MON AMOUR möglich wurde, undenkbar ist. Gerade die Konkretheit Resnais' lässt hier keinem Optimismus Raum; er findet sich auch nicht, wie bei Antonioni in DESERTO ROSSO, in einer dem Inhalt entgegentretenden Farbgestaltung. In "Muriel" unterstreichen Bild und Farbe den Zustand der Personen, sie widersprechen nicht der Ohnmacht der Sprache. Indem Resnais nur auf die Wirklichkeit zeigt, wird sein Pessimismus realistisch, sein "So ist es" glaubwürdig. Gerade aber die Konkretheit der Gestaltungsweise Resnais1 widerspricht auch wieder einer Verallgemeinerung des Dargestellten, die dieses "So ist es" als Aussage über das Ganze der Welt des heutigen Menschen verstehen liesse; denn genau besehen sagt Resnais in "Muriel" nur: So ist es in diesem Falle, unter diesen Bedingungen.

Indem Resnais bewusst am einzelnen bleibt, lässt er sich Wege offen, die es für Antonioni nicht gibt; so ist es möglich und denkbar, dass Resnais in der Vielfalt der individuellen, sozialen und historischen Konstellationen auch freie und glückliche Individualitäten entdeckt, die nicht nur eine Ausnahme, sondern für unsere Zeit vielleicht ebenso konstitutiv sind oder werden können wie Helene. Hierin liegt Hoffnung.

Aber auch Antonionis Pessimismus ist kein Fatalismus. Was bei Resnais dank der konsequent konkreten Gestaltungsweise als Möglichkeit denkbar ist, das kündigt sich bei Antonioni in dem inkonsequenten Trotzdem an, das die Schönheit seiner Bilder und Farben gegen die Ohnmacht der Sprache und die Ausweglosigkeit der Situation setzt.       Dietlind Reck
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Schriftsteller in Hollywood von Raymond Chandler

1

Hollywood lässt sich leicht hassen, leicht verachten, leicht beschimpfen. Einige der treffendsten Beschimpfungen erfolgten durch Leute, die nie durch ein Studiotor gekommen sind, einige der besten Verhöhnungen durch egozentrische Genies, die beleidigt abreisten - ohne zu vergessen, ihren letzten Gehaltsscheck einzukassieren - und hinter sich nichts als das exquisite Aroma ihrer Persönlichkeit und eine verpatzte Arbeit für die erschöpften Lohnschreiber zurückliessen, die sie in Ordnung bringen mussten.

Selbst in so weiter Entfernung wie in New York, wo, wie Hollywood vermutet, alle intelligenten Leute leben (da sie offensichtlich nicht in Hollywood leben), kann man sich mit der Krankheit, zu übertreiben, anstecken. Der Filmkritiker eines der weniger verblendeten Wochenblätter bemerkte kürzlich in einem Kommentar über ein gewisses Drehbuch, es zeige, "wie langweilig ein paar durchschnittliche 3000-Dollarje-Woche-Autoren sein können". Ich hoffe, dieser Kritiker wird nicht erschrecken, wenn er erfährt, dass fünfzig Prozent der Drehbuchautoren in Hollywood im vergangenen Jahr weniger als 10 000 Dollar verdienten und er an den Fingern die Zahl derer abzählen könnte, die ein festes Einkommen hatten, das der von ihm so verachtungsvoll genannten Ziffer in etwa nahe kam. Ich weiss nicht, ob man sie Durchschnittsschriftsteller nennen kann oder nicht. Für mich bezeichnet diese Phrase etwas, das man um einiges leichter erreichen kann.

Ich habe nicht die Absicht, als Anwalt für Hollywood aufzutreten. Ich habe dort etwas über zwei Jahre gearbeitet, was bei weitem nicht genügt, um mich zu einer Autorität zu machen, war aber mehr als lange genug, dass ich mich schliesslich gründlich langweilte. Das sollte nicht sein. Eine Industrie mit derart umfangreichen Hilfsmitteln und einer derart magischen Technik sollte nicht so schnell langweilig werden. Eine Kunst, die in der Lage ist, alle ausser den allerbesten Stücken trivial und verkrampft, alle ausser den allerbesten Romanen geschwätzig und nachgeplappert wirken zu lassen, sollte für Leute, die versuchen, sie mit etwas anderem als der Kasse vor Augen auszuüben, nicht so schnell mühselig und beschwerlich werden. Einen Film zu machen, sollte doch eher ein faszinierendes Abenteuer sein. Das ist es nicht; es ist ein nicht endender Zank zwischen aufgeblähten Egoisten, manche von ihnen mächtig, fast alle aufdringlich laut und fast keiner zu etwas Schöpferischem fähig, als anderer Leute Verdienste zu stehlen und sich selbst zu fördern.

Hollywood ist das Paradies der Effekthascher. Effekthascher leisten nichts; sie beuten aus, was andere schaffen. Aber die Effekthascher von Hollywood kontrollieren die schöpferische Arbeit - und dadurch degradieren sie sie. Denn die Kunst, die dem Film zugrunde liegt, ist das Drehbuch; es ist das Fundament, ohne Drehbuch kommt nichts zustande _... In Hollywood wird das Drehbuch aber von einem angestellten Autor unter Aufsicht eines Produzenten geschrieben - das heisst, von einem Gehaltsempfänger, der über die Verwendung seines Werks keine Macht und Entscheidungsgewalt hat, der kein Eigentum daran besitzt und der, wie verschwenderisch er auch bezahlt wird, fast keine Anerkennung dafür findet_...

Mich interessiert weder, warum das Hollywood-System existiert oder Bestand hat, noch zu erfahren, aus welchen erbitterten Kämpfen um Prestige es entstanden ist, noch wieviel Geld ihm aus schlechten Filmen zu machen gelingt. Mich interessiert nur die Tatsache, die sich daraus ergeben hat, dass es so etwas wie eine Kunst des Drehbuchs nicht gibt und niemals geben wird, solange dieses System Bestand hat. Denn es liegt im Wesen dieses Systems, dass es ein Talent auszubeuten sucht, ohne ihm das Recht einzuräumen, ein Talent zu sein. Das geht nicht an; man kann damit das Talent nur zerstören, und gerade das geschieht - wenn es eins zu zerstören gibt.

Zugegeben, Talent ist nicht viel da. Ein geschwätziger Verleger (wahrscheinlich Bennett Cerf) machte einmal die Bemerkung, dass es in Hollywood Schriftsteller gibt, die wöchentlich zweitausend Dollar erhalten und in zehn Jahren nicht einen Einfall hatten. Er übertrieb - nach hinten: Es gibt in Hollywood Schriftsteller, die zweitausend Dollar in der Woche bekommen und nie in ihrem Leben einen Einfall hatten, die niemals eine fotografierbare Szene geschrieben haben, die bei den billigen Zeitschriften nicht zwei Cent für das Wort bekommen könnten, selbst wenn ihr Leben davon abhinge. Hollywood ist voll von solchen Schriftstellern, wenn auch nur wenige so hohe Gehälter bekommen. Sie sind, um es kurz und bündig zu sagen, eine ziemlich traurige Bande gemieteter Schreiberlinge, und die meisten von ihnen wissen es, und sie nehmen ihre Tritte und ihre Gehälter hin und versuchen einer Industrie, die ihnen erlaubt, sehr viel üppiger zu leben, als sie es woanders könnten, einigermassen dankbar zu sein.

Und ich zweifle nicht daran, dass die meisten gern viel bessere Schriftsteller wären als sie sind, gern Kraft und Integrität und Phantasie besässen - jedenfalls genügend, um sich mit einer Art Literatur, die die Würde des freien Berufs hat, einen anständigen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie werden das nicht erleben, und es besteht auch kein besonderer Grund, warum sie es sollten. Wenn es je dazu kommen sollte, wird es nicht jetzt geschehen. Denn selbst die Besten von ihnen (von einigen seltenen Ausnahmen abgesehen) widmen ihre ganze Zeit einer Arbeit, die nicht mehr Möglichkeit bietet, sich auszuzeichnen, als ein Pekinese hat, eine dänische Dogge zu werden: masslos blöde Musicals mit Technicolor-Beinen und jaulenden Nachtklubsängerinnen; "psychologische" Dramen mit hölzernen Handlungen, banalen Charakteren und dem aufdringlichen Ton einer verschwommenen Ernsthaftigkeit, die an eine Unterhaltung von Schulmädchen in der Pubertät erinnert; muntere und geistreichelnde Komödien (hoffentlich), in denen die Witze so abgestanden sind wie die Einstellung und in denen immer jede Hand ein Glas hält, unter jeder Tür ein Butler und auf dem Rand jeder Badewanne ein Telefon steht; historische Epen, in denen die männlichen Darsteller wie Frauenimitatoren aussehen und der bildschöne weibliche Star mit gerade etwas zu strahlenden Unschuldsaugen für eine Puppe, die ihr halbes Leben damit verbracht hat, ihren Ehemann zu wechseln, in die Welt sieht; und schliesslich, aber nicht als letztes, jene Filme mit einem tiefen sozialen Anliegen, in denen jeder gedankenvoll und erwachsen und aufrichtig ist und die schwierigen Probleme des Lebens wortreich durch ein einstimmiges Vertrauensvotum für die Unverletzbarkeit der Verfassung, die Heiligkeit des Heimes und die überragende Bedeutung einer vollmechanisierten Küche gelöst werden.

Und dies, liebe Leser, sind die Million-Dollar-Babys - die Creme der Creme. Die meisten Männer und Frauen, die für die Leinwand schreiben, kommen dem niemals auch nur im entferntesten nahe. Sie widmen ihre funkelnden Zeilen und die Finessen im Aufbau Wildwestfilmen, billigen Pistole-in-den-Rücken-Melodramen, Schauerstücken über wahnsinnige Wissenschaftler und Fortsetzungsfilmen mit kreischenden Blondinen und Kreissägen. Die Verfasser dieses Schunds sind erledigt, noch ehe sie anfangen. Schon aus rein technischen Gründen ist ihre Arbeit zum Scheitern verurteilt, weil ihnen die Zeit fehlt, sie richtig zu machen. Die schwierige Aufgabe des Drehbuchschreibers besteht darin, viel mit wenig zu sagen und dann die Hälfte dieses wenigen herauszunehmen und trotzdem die Wirkung gelassener und natürlicher Bewegung zu erhalten. Der billige Film kann sich das einfach nicht leisten.

2

Ich will nicht unterstellen, dass es in Hollywood keine echt befähigten Schriftsteller gibt. Viele sind es nicht, aber es gibt nirgends viele. Die schöpferische Gabe ist eine Mangelware, und Geduld und Erfindungsgabe haben immer den grössten Teil ihrer Aufgabe übernommen. Es besteht kein Grund, von den Sklaven der Leinwand eine Leistung zu erwarten, die uns ganz offenkundig von den auf der Bestsellerliste angekündigten Literaten nicht geboten wird, von den Zusammenbastlern viertklassiger historischer Romane, die mit einer halben Million Exemplaren verkauft werden, von den als Bühnenautoren bekannten Zuckerstangenhändlern vom Broadway oder von den düsteren Maestri der kleinen Zeitschriften.

Für mich ist der interessante Punkt an den talentierten Schriftstellern Hollywoods nicht, wie viele oder wie wenige es gibt, sondern wie wenig von Wert man ihrem Talent zu erreichen erlaubt. Von Interesse - aber kaum unerwartet - ist, wenn man sich erst mit der Voraussetzung abgefunden hat, Schriftsteller würden angestellt, um Drehbücher zu schreiben, auf Grund der Theorie, als Schriftsteller hätten sie eine besondere Begabung und Ausbildung für diese Aufgabe, dass sie dann daran gehindert werden, diese Aufgabe mit einem Mindestmass an Unabhängigkeit oder Endgültigkeit zu erfüllen, und zwar auf Grund der Theorie, da sie lediglich Schriftsteller seien, verstünden sie nichts davon, wie man Filme macht. Und selbstverständlich, wenn sie nichts davon verstehen, wie man Filme macht, können sie auch unmöglich wissen, wie man Filme schreibt. Um ihnen das zu sagen, ist ein Produzent notwendig.

Ich habe nicht den Wunsch, über das Thema der Produzenten unangemessen bissig zu werden. Meine eigenen Erfahrungen rechtfertigen das nicht, und schliesslich sind auch die Produzenten Sklaven des Systems. Ferner ist der Ausdruck "Produzent" nur sehr vage definiert. Manche Produzenten sind auf Grund ihrer Persönlichkeit mächtig, andere sind nicht viel mehr als Laufburschen der Direktion; manche - wenige, hoffe ich zuversichtlich - bekommen weniger Geld als die Schriftsteller, die für sie arbeiten.

Für den mir wichtigen Punkt sind die persönlichen Qualitäten eines Produzenten ziemlich nebensächlich. Manche sind fähige und menschliche Leute, und manche sind niedrige Individuen mit der Moral eines Krokodils, der künstlerischen Integrität eines Spielautomaten und den Manieren eines grössenwahnsinnigen, erwartenden Vaters. Was aber das Verfassen des Drehbuchs angeht, so ist der Produzent der Boss. Entweder findet sich der Schriftsteller mit ihm und mit seinen Ideen ab (falls er welche hat), oder er findet sich draussen. Das bedeutet sowohl persönliche als auch künstlerische Unterordnung, und kein Schriftsteller von Qualität wird sich lange mit dem einen oder anderen abfinden, ohne das aufzugeben, was ihn zu einem Schriftsteller von Qualität macht, ohne die feine Schneide seines Geistes abzustumpfen, ohne Schritt für Schritt zu einem stummen Komplicen zu werden, statt ein schöpferischer Künstler zu sein, zu einem willfährigen und fügsamen Handlanger statt einem Könner mit eigenen Gedanken.

Es spielt eine geringe Rolle, was ein Schriftsteller für seinen Produzenten als Mensch empfindet; die Tatsache, dass der Produzent seine Arbeit verändern und zerstören und unbeachtet lassen kann, kann nur bewirken, diese Arbeit in ihrer Konzeption zu beeinträchtigen und bei ihrer Ausführung mechanisch und gleichgültig zu werden. Der Impuls zur Vollkommenheit kann nicht existieren, wenn die Entscheidung, was vollkommen ist, dem willkürlichen Urteil von oben unterworfen ist. Das, was in der Einsamkeit und aus dem Herzen geschaffen ist, kann man nicht gegen die Entscheidung eines Ausschusses von Kriechern verteidigen. Das zerbrechliche Wesen, das Literatur ausmacht, kann die Phrasen einer langen Reihe von Konferenzen über die Handlung eines Films nicht überstehen. Nur wenig vom Zauber des Wortes oder des Gefühls oder der Situation kann die unaufhörlichen, ins Mark gehenden Revisionen überleben, die dem Schriftsteller in Hollywood durch das Verfahren der Entscheidung durch Verfügung aufgezwungen werden. Dass dieser Zauber hin und wieder irgendwie durch einen anderen, noch selteneren Zauber überlebt und mehr oder minder unbeschädigt die Leinwand erreicht, ist das seltene Wunder, das die Handvoll guter Schriftsteller in Hollywood davon abhält, sich die Kehlen durchzuschneiden.

Hollywood hat kein Recht, derartige Wunder zu erwarten, und es verdient die Männer nicht, die sie durchsetzen. Hollywoods Vorstellung, was einen guten Film macht, ist noch so jugendlich unreif, wie seine Behandlung schriftstellerischer Begabung beleidigend und erniedrigend ist. Hollywoods Vorstellung von "Produktionswert" besteht darin, eine Million Dollar dafür aufzuwenden, um eine Geschichte aufzumöbeln, die jeder gute Schriftsteller fortwerfen würde. Hollywoods Vorstellung von einem lohnenden Film ist ein Vehikel für eine geleckte Fratze mit zwei Gesichtsausdrücken und achtzehn Kostümwechseln oder für irgendein männliches Idol der urteilslosen Millionen mit einem ständigen Katzenjammer, sechs abgenutzten darstellerischen Tricks, dem Körperbau eines Rettungsschwimmers und der Mentalität eines Hühnerwürgers. Filme für solche Zwecke macht Hollywood liebevoll und sorgfältig. Die guten versetzen ihm von hinten einen Tritt, wenn es gerade nicht aufpasst.

3

Für das alles gibt es plausible wirtschaftliche Gründe. Der Film ist auch ein grosser Industriezweig, nicht nur eine geschlagene Kunstform. Seine Techniker befinden sich in der dritten Generation, seine Kapitalanlagen sind in der ganzen Welt verbreitet, sein Bedarf für Material ist unersättlich.

Die Männer mit dem Geld und der höchsten Macht können mit Hollywood machen, was sie wollen - solange es ihnen nichts ausmacht, dass sie ihr angelegtes Kapital verlieren. Sie können über Nacht jeden Studiodirektor vernichten, Vertrag hin, Vertrag her, jeden Star, jeden Produzenten, jeden Regisseur - als Individuum. Was sie nicht zerstören können, ist das System von Hollywood. Es mag verschwenderisch, absurd, sogar unehrenhaft sein, aber es gibt kein anderes, und kein kaltblütiger Aufsichtsrat kann es ersetzen. Es ist versucht worden, aber die Effekthascher gewannen immer. Sie gewinnen immer gegen das blosse Geld. Was sie auf lange Sicht gesehen - auf sehr lange Sicht - nicht besiegen können, ist Talent, selbst schriftstellerisches Talent.

Es wird, wie ich fürchte, wirklich auf sehr lange Sicht sein. Gegenwärtig besteht keinerlei Hinweis darauf, dass der Schriftsteller in Hollywood den Punkt erreicht hat, irgendeine echte Kontrolle über seine Arbeit zu gewinnen, irgendein Recht, zu wählen, worin diese Arbeit bestehen soll (ausser Aufträge abzulehnen, was er nur in engen Grenzen tun kann), oder auch nur irgendein Recht, zu bestimmen, wie die Werte in der von dem Produzenten bestimmten Arbeit herausgestellt werden sollen. Es ist keine Garantie gegeben, dass seine besten Zeilen, seine besten Einfälle, seine besten Szenen bei der Aufnahme vom Regisseur nicht geändert oder ausgelassen oder während des späteren Prozesses des Schneidens nicht unter den Tisch gefallen lassen werden - aus dem einfachen Grund, weil die, künstlerisch gesprochen, besten Dinge in jedem Film unausweichlich jene sind, die man, mechanisch gesprochen, am leichtesten herauslassen kann.

In Hollywood wird nicht versucht, den Schriftsteller als einen Künstler, der dem Filmpublikum etwas bedeutet, auszubeuten. Man gibt sich alle Mühe, die Öffentlichkeit über seinen Beitrag zu dem, was der Film auch immer an Kunst enthält, uninformiert zu halten. Auf Plakaten und in Zeitungsanzeigen erscheint sein Name kleiner als der des Darstellers der unbedeutendsten kleinen Rolle, der das, was man Namensnennung nennt, erreicht hat. Er wird als erster verschwinden, wenn die Anzeigen um die Mitte der Woche verkleinert werden. Er wird der allerletzte sein, der in einer gesprochenen Rundfunkwerbung genannt wird.

Der erste Film, an dem ich arbeitete, wurde für die Auszeichnung mit dem Academy Award vorgeschlagen (falls das etwas bedeutet), aber ich wurde nicht einmal zu der Pressevorführung eingeladen, die unmittelbar im Studio veranstaltet wurde. Für einen anderen ausserordentlich erfolgreichen Film, der von einem anderen Studio nach einer von mir geschriebenen Geschichte gedreht worden war, wurden für die Werbekampagne Zeilen aus meiner Geschichte wörtlich verwendet, doch mein Name wurde nicht einmal in der Werbung durch Rundfunk, Zeitschriften, Plakate und Zeitschriften genannt, die ich zu hören und zu sehen bekam - und ich hörte und sah eine Menge. Diese Vernachlässigung ist für mich persönlich belanglos. Für jeden Buchautor ist es bedeutungslos, ob er von Hollywood namentlich genannt wird oder nicht. Für jene, deren ganze Arbeit in Hollywood liegt, ist es aber von Bedeutung, denn es gehört zu einem vorsätzlichen und erfolgreichen Plan, den beruflichen Drehbuchautor auf den Status eines Assistenten bei der Filmgestaltung herabzusetzen, eines Assistenten, auf den man beiläufig hinweist (wenn er im Zimmer ist), der in der Hauptsache aber ignoriert und selbst bei seinen brillantesten Leistungen sorgfältig vor jeder möglichen Anerkennung aus dem Weg geschafft wird, die sonst dem Star, dem Produzenten und dem Regisseur zufallen könnte.

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Wenn das alles zutrifft, warum sollte dann irgendein Schriftsteller mit echter Befähigung überhaupt in Hollywood weiterarbeiten? Der naheliegende Grund genügt nicht zur Erklärung. Wenige Drehbuchautoren besitzen Häuser in Bel-Air, illuminierte Schwimmbassins, Frauen in Nerzmänteln, dreiköpfiges Personal und jene Miene des leicht sauer gewordenen, müden Genies. In Hollywood kann man über das Vergnügen hinaus, in einer irrealen Welt zu leben, mit einer beschränkten Gruppe von Leuten zu verkehren, die nichts als Film denkt, spricht und trinkt, die meisten davon schlecht, und das fragwürdige Vergnügen, berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen in einigen der unverschämtesten Restaurants der Welt fressen und saufen zu sehen, für Geld jämmerlich wenig kaufen.

Ich will nicht sagen, dass die Gesellschaft in Hollywood irgendwie langweiliger oder ausschweifender ist als irgendeine Geld verdienende Gesellschaft woanders: Gott weiss, das könnte sie nicht. Aber das ist ein recht dünner Lohn für ein Leben, das der wesentlichen Arbeit an dem, was eine grosse Kunst sein könnte, gewidmet ist _... Die oberflächliche Freundlichkeit Hollywoods ist angenehm - bis man feststellt, dass fast jeder ein Messer im Ärmel versteckt hat. Die Gesellschaft von Männern und Frauen bei der Arbeit, die das Erfinden von Geschichten ernst nehmen, gibt der einsamen Seele des Schriftstellers eine blasse Wärme.

Darüber hinaus vermute ich, dass Hoffnung besteht. Es gibt mehrere Hoffnungen. Die kalte Dynastie wird nicht ewig währen, der diktatorische Produzent ist schon etwas unsicher, der überschätzte Regisseur ist schon seit langem in seinem eigenen Studio ein Witz geworden; in einiger Zeit wird nicht einmal mehr Technicolor ihn retten. Die Hoffnung besteht, dass ein morsches und zusammengeschustertes System verschwinden wird, dass die aufgeblähten Mogule des Films irgendwie lernen werden, nur Schriftsteller können Drehbücher schreiben, und dass die gegenwärtige Methode im Umgang mit diesen Männern eben die Kraft zerstört, von der Filme leben müssen.

Und da ist die starke und schöne Hoffnung, dass die Schriftsteller Hollywoods selbst- soweit sie dazu befähigt sind - erkennen, für die Leinwand zu schreiben ist keine Arbeit für Amateure und Halbschriftsteller, deren Probleme immer von einem anderen gelöst werden. Die Schwäche der Schriftsteller in ihrer Arbeit erlaubt den überlegenen, ihnen vorgesetzten Egoisten, ihre Initiative, ihre Phantasie und ihre Integrität auszubluten. Wenn nur ein Viertel der hochbezahlten Drehbuchautoren in Hollywood ein vollständig abgeschlossenes und fotografierbares Drehbuch aus eigener Kraft herstellen könnte, mit nur soviel Einmischung und Diskussion, wie notwendig ist, um die Verpflichtungen des Studios gegenüber Schauspielern zu wahren und die Studios in angemessener Weise vor Verleumdungsklagen und Zensurschwierigkeiten zu schützen, dann könnte der Produzent seine eigentliche Aufgabe erfüllen, die verschiedenen Berufe, die gemeinsam einen Film schaffen, zu koordinieren und zwischen ihnen zu vermitteln. Und der Regisseur - der Himmel helfe seiner prahlerischen Seele - würde auf die schmähliche Aufgabe beschränkt werden, Filme so zu drehen, wie sie erdacht und geschrieben wurden - und nicht wie der Regisseur versuchen würde, sie zu schreiben, wenn er nur schreiben könnte.

Sicherlich gibt es Produzenten und Regisseure - wenn auch beklagenswert wenige -, die aufrichtig genug sind, eine derartige Veränderung zu wünschen, und befähigt genug sind, keine Furcht vor ihren Auswirkungen auf ihre Position zu haben _...

Wenn es keine Kunst des Drehbuchs gibt, liegt der Grund dafür wenigstens zum Teil daran, dass der vorhandene Fundus an technischer Theorie und Praxis, aus dem gelernt werden kann, nicht zur Verfügung steht. Es steht keine Bibliothek mit Literatur über Drehbücher zur Verfügung, weil die Drehbücher in die Studios gehören, und sie werden nur innerhalb ihrer bewachten Mauern gezeigt. Es gibt keine Sammlung kritischer Meinungen, weil es keine Kritiker für das Drehbuch gibt. Es gibt nur Kritiker für den Film als Unterhaltungskunst, und die meisten Kritiker wissen nichts von den Methoden, durch die ein Film geschaffen und auf Zelluloidstreifen festgehalten wird. Es gibt keinen Unterricht, weil niemand da ist, der unterrichten könnte. Wenn man nicht weiss, wie Filme gemacht werden, ist man nicht autorisiert, darüber zu sprechen, wie sie gebaut sein sollten; wenn man es weiss, ist man zu sehr damit beschäftigt, es zu versuchen.

Es gibt keine Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Arbeitsgebieten innerhalb der Studios selbst. Der durchschnittliche - auch der viel bessere als durchschnittliche - Drehbuchautor versteht kaum etwas von den technischen Problemen des Regisseurs und überhaupt nichts von dem überragenden Können des geschulten Cutters. Er wendet seine Kraft auf, um Einstellungen zu schreiben, die nicht aufgenommen werden können, oder die fortgeworfen würden, wenn sie aufgenommen würden; um Dialoge zu schreiben, die nicht gesprochen, Lauteffekte, die nicht gehört, und Nuancen in Stimmung und Gefühl, die von der Kamera nicht wiedergegeben werden können. Seine Vorstellung von einer wirksamen Szene ist etwas, das in ein Treppenhaus hinunter oder aus einem Rattenloch heraus aufgenommen werden muss; oder er schreibt einen Dialog derart statisch, dass der Regisseur, um ein Gefühl von Bewegung hineinzubringen, gezwungen ist, ihn aus neun verschiedenen Blickwinkeln zu fotografieren.

Tatsache ist, dass kein Teil des umfangreichen technischen Wissens, das Hollywood besitzt, einem neuen Drehbuchautor in einem Studio systematisch und als Selbstverständlichkeit zugänglich gemacht wird. Man sagt ihm, er solle sich Filme ansehen - was soviel bedeutet, wie Architektur lernen, indem man Häuser anstarrt. Und dann schickt man ihn in seinen Kaninchenstall zurück, um kleine Szenen zu schreiben, von denen ihm sein Produzent zwischen Telefongesprächen mit seinen Blondinen und Saufkumpanen sagen wird, dass sie ganz anders geschrieben werden müssten.

Die beste Hoffnung habe ich für den Schluss aufgespart. Trotz allem, was ich gesagt habe, sind die Schriftsteller in Hollywood dabei, die Schlacht um ihr Ansehen zu gewinnen. Immer mehr machen sie sich die Mittel der Effekthascher zunutze, werden selbst zu Schaustellern, zu Produzenten und Regisseuren ihrer eigenen Drehbücher. Wir wollen uns über ihre zusätzliche Bedeutung und Macht freuen und die künstlerischen Ergebnisse nicht zu kritisch überprüfen. Die Leute setzen sich durch (und manche setzen es sogar durch, gute Filme zu machen). Wir wollen uns zusammen freuen, denn die Tendenz, Schausteller zu werden, liegt durchaus innerhalb der anerkannten Tradition der literarischen Kunst, wie sie vor der Kamera praktiziert wurde.

Denn das Netteste, was Hollywood möglicherweise einfällt, von einem Schriftsteller zu sagen, ist, dass er zu gut sei, um nur Schriftsteller zu sein.

(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ullstein, Frankfurt am Main - Berlin.)
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Rückumschlag

Mein Pessimismus ist lediglich einer des Intellekts und nie einer des Willens. Je mehr der Intellekt sich des Pessimismus bedient, um den Wahrheiten des Lebens auf den Grund zu kommen, um so mehr rüstet sich meiner Meinung nach der Wille mit revolutionärem Opti- mismus.       Luchino Visconti, 1960


Destruktion des Vorhandenen
DER DAMM,

Deutschland/West, 1964. Produktion: Detten Schleiermacher; Buch und Regie: Vlado Kristl; Kamera: Gerard Vandenberg; Darsteller: Petra Krause, Vlado Kristl, Felix Potisk, Erich Glöckler.

Claude Debussy hat die Aufgabe des Komponierens definiert als das Durchstreichen des Bekannten und ohne weiteres Vorstellbaren; das positive Komplement dieser Definition würde heissen: die Konstruktion des Neuen. Die Konstruktion des Neuen setzt die Destruktion des Bekannten, des schon Gemachten im Regelfall voraus. In Grenzfällen aber kann der Musiker, Maler, Schriftsteller, Filmer das Durchstreichen des Vorhandenen zum Thema eines Werkes machen. Als einen solchen Grenzfall verstehe ich den DAMM von Vlado Kristl.
Es ist behauptet worden, der DAMM sei "praktisch ohne Drehbuch" entstanden (Eckhart Schmidt in "Film"). Durch solche Floskeln wird der Einsicht in die Genese des Werks nur der Weg versperrt. Es gab ein Drehbuch, ein regelrechtes fertiges Drehbuch zum DAMM - das Drehbuch war das erste und für sich auch endgültige Ziel der Arbeit am DAMM; in der literarischen "Gattung" namens "Drehbuch" hatte Kristl geleistet, was er nur vermochte. Kristl fand sein Drehbuch gut, - und es war nicht eben schlecht. Die ursprüngliche Filmidee - ein bisschen zu sehr Parabel und auch zu sentimental - trägt sich nicht als geschlossene Geschichte vor, sondern erscheint in Teil-Aktionen gespalten. Aus den Aktionen ergeben sich meist kürzere Sequenzen, auf einen oder mehrere Handlungsträger hin gruppiert. Die wesentlichen Träger der Handlung ("Hauptpersonen") sind: Sie, Er und Der Mann.
Die Schwäche des fabrizierten Textes aber war, dass sein Sinn, statt im Vollzug sich zu ergeben, der Materialstruktur weitgehend äusserlich blieb: der Text diente der Verdeutlichung und Differenzierung jener ersten Filmidee.
Glücklicherweise hat Kristl sein Drehbuch nicht als Vorlage einer Verfilmung verstanden. Vom fertigen Film, vom Ergebnis her rückwärts gesehen, mag als Zweck des Drehbuchs gelten: Fangnetz gewesen zu sein für verhältnismässig homogenes Material. Doch das gewonnene Material sollte sich nun keineswegs den Strukturen ein- und unterordnen, die dem Drehbuch Gestalt gegeben hatten. Der Film entstand am Schneidetisch.
In der Arbeit am Schneidetisch zergingen zunächst die notwendig falschen "Vorschläge" des Drehbuchs; diesen Vorgang kennt jeder auch nur halbwegs passable Regisseur als eine Selbstverständlichkeit, - er bedeutet für den DAMM noch nichts Spezifisches. Nur der hoffnungslose Arrangeur wird seine Mühe verschwenden, um einem "Vorhaben" am Schneidetisch "nachzukommen", steril und treu.
Die relevanten Unterschiede beginnen erst damit, dass man den immanenten Hinweisen, Impulsen und Wünschen des Materials erstens mehr oder weniger, zweitens aber ganz und gar folgen kann. Jenes ist, beispielsweise, der Fall unterm Arbeits-, Werk- und Denkprinzip des "camera-stylo". Astruc (1948): "Der Film ist ganz einfach dabei, ein Ausdrucksmittel zu werden, wie es alle anderen Künste zuvor, wie es insbesondere die Malerei und der Roman gewesen sind (sic!). Nachdem er nacheinander eine Jahrmarktsattraktion, eine dem Boulevardtheater ähnliche Unterhaltung oder ein Mittel war, die Bilder einer Epoche zu konservieren, wird er nach und nach zu einer Sprache. Einer Sprache, das heisst zu einer Form, in der und durch die ein Künstler seine Gedanken, so abstrakt sie auch seien, ausdrücken oder seine Probleme so exakt formulieren kann, wie das heute im Essay oder im Roman der Fall ist. Darum nenne ich diese neue Epoche des Films die Epoche der Kamera als Federhalter. Dieses Bild hat einen genauen Sinn. Es bedeutet, dass der Film sich nach und nach aus der Tyrannei des Visuellen befreien wird, des Bildes um des Bildes willen, der unmittelbaren Fabel, des Konkreten, um zu einem Mittel der Schrift zu werden, das ebenso ausdrucksfähig und ebenso subtil ist wie das der geschriebenen Sprache". - Also Film im Dienst von _...; wie die Schrift sich in ihrer Aufgabe verbraucht, so dass ihre Gestalt in ihrem Zeichenwert verschwindet, wie die Sprache aufgeht in der Aussage, dem gemeinten Sinn: so soll die Gestalt des Films dem Gehalt des Films dienen. Der Gehalt des Films liegt über dem Material, das ihn bloss trägt. Die präzise Konfiguration des Materials dient der Stringenz des intendierten "Inhalts". Um dem Inhalt Dichte, Reichtum und Genauigkeit zu vermitteln, folgt der Regisseur natürlich gern den Hinweisen und Eigenarten seines Materials.
Astrucs Programm ist durch das Datum seiner Entstehung entschuldigt. Ihm allerdings heute noch folgen, wie zu viel Regisseure und genügend Kritiker es tun, heisst, die Entwicklung der Künste ignorieren oder schlichter: nicht kennen. So enthält denn die Wendung von Enno Patalas, Resnais' HIROSHIMA, MON AMOUR sei ge- (oder gar ver-) filmtes Bewusstsein, leider nur allzu viel Wahrheit. Dagegen ist Eckhart Schmidts Behauptung, Kristl filme den Gedanken nicht mehr zutreffend. Denn für Kristl wurden die Wünsche und Impulse des Materials kategorische Imperative. Das Material und der Autor erkennen einander als gleichberechtigte Partner. Hat der Regisseur im üblichen Film sein Material bearbeitet, um ein Ziel, die "Aussage" nämlich, zu erreichen, so arbeitet Kristl zusammen mit den vorhandenen Bildern, bis sie in einem intensiven Ablauf ihr Eigenrecht finden. Es entsteht der materiale, der konkrete Film, während sonst noch das plattest-realistische Produkt abstrakt bleiben musste, weil die Bilder und Aktionen statt sich selber "Etwas" meinten.
Das konkrete, materiale Filmwerk reproduziert nichts mehr; es ist darum gänzlich verschieden von der Art Film, die Kracauer als Norm vorschwebt. Die ehrenwerte Aufgabe, physische Realität (im Sinn von "Aussenwelt") zu erretten, hat abgedankt. Das Bild selber, das Material des Autors macht sich jetzt geltend als physische Realität, die es zu retten heisst. Film wird aus einem Abbild nun zu einem Bild, zu einem Seh-Objekt. Zur physischen Realität des Bildes gehört, muss man 's betonen, ausser Licht, Schatten, Raum, Bewegung usw. selbstverständlich auch der sogenannte Inhalt des Bildes - allerdings bleibt die Semantik eine Bild-Dimension unter anderen; alle Dimensionen (Parameter) des Bilds sind durchaus gleichberechtigt, - wenn auch in sich von unterschiedlichem Wert. Würde man dagegen der Semantik eine Grund- oder besser Fundamental-Funktion zuerkennen, wäre unweigerlich das Bild als Abbild definiert. Doch hat sich im konkreten, materialen Film das Bild von seiner Abbildfunktion genau so gelöst, wie das epische Imperfekt von seinem ursprünglichen Sinn, tatsächlich vergangenes Geschehen zu bezeichnen.
Freilich trifft diese Behauptung durchaus auch auf andere Filme zu. Unmöglich z. B., in den "gegenständlichen" Bildern von Leger's BALLET MECANIQUE realistische oder irgend interpretierende Abbilder zu sehen _... beim Anblick der sich ewig (?) wiederholenden Frau kommt es uns niemals in den Sinn, dass ihr vergebliches (?) Steigen die Mühen des Sisyphus widerspiegeln könnte. Was wir in Wirklichkeit sehen, ist nicht so sehr eine dem Leben entnommene Figur, die eine gespenstische Treppe hinaufsteigt, vielmehr die Bewegung des Steigens selber. Der Nachdruck auf deren Rhythmus vernichtet die Realität der Frau, die sie ausführt, so dass sie sich aus einer konkreten Person in den blassen (?) Träger einer bestimmten (!) Art von Bewegung verwandelt" - zur Hälfte hat Kracauer mit diesen Sätzen recht, wenn auch sein Befund den spezifischen Sinn der "realistischen" Bilder missdeutet, wenn auch seine Wertung völlig fehlgeht. Die in Leger's Film neu konstituierte Eigenart (und Wirkung) der Bilder zeigt sich gerade in der genuinen Spannung, wie sie entsteht aus dem ursprünglichen Charakter der Bilder und ihrer neuen Funktion unter dem mechanisch-fremden Prinzip. Die "Bewegung des Steigens selber" hätte sich geometrisch oder sonstwie ausdrücken lassen, ginge es nicht tatsächlich um ein bestimmtes Steigen: das Steigen der Frau in eben den Momenten, die man sieht. Falsch wäre nur, diese isolierten Momente entweder metaphorisch oder als Phasen eines "natürlichen" Vorgangs zu deuten. Die Bilder des BALLET MECANIQUE, aus welchen Bereichen auch immer sie stammen, sollen sich je spezifisch bewähren unter dem Prinzip, das ihnen als Entwurf vorausging.
Darin aber unterscheiden sich das BALLET MECANIQUE und der DAMM grundsätzlich. Kristls Bilder, obgleich weder Abbild eines realen noch Abbild eines imaginierten Geschehens, bewahren doch alle Dimensionen und alle Kräfte, die ein Bild nur haben kann. Ihr Verständnis setzt darum "analogisch" unsere natürliche Seh- und Lebenserfahrung voraus. Nur wäre es verfehlt, im DAMM eine Geschichte bruchstückhaft, eigenwillig vorgetragen und so interpretiert finden zu wollen. Der fertige Film erweist die noch im Drehbuch vorausgesetzte Geschichte als geschickte Fiktion: Hilfskonstruktion, um aktions- und reaktionsgeladene Bilder, um volldimensioniertes Material zu gewinnen. Dasselbe gilt für die Personen (oder "Rollen"): Vlado Kristl oder Petra Krause Interpreten zu nennen, wäre Unfug. Die Geschichte, die Rollen, die Handlungen und ihre Antwort - all dies ist jetzt nicht mehr im Ernst gemeint, nicht Aufgabe, Sinn, Aussage des Films, sondern spielt mit, wirkt mit an der Strukturierung und dichten Ordnung des Ablaufs. Die Bilder, statt im Ensemble ein Ganzes zu bezeichnen, haben ihren ganzen Sinn an Ort und Stelle im Ablauf. Sie verweisen auf ihren eigenen Zusammenhang. Sie fordern das genaue Hinsehn. Ihr Verständnis ergibt sich einzig und allein im Nachvollzug. Nachvollzogen wird ihr subjektiv-gestisch strukturierter Ablauf. Subjektiv-gestisch strukturiert heisst: weder auf ein mechanisches Prinzip hin geordnet (wie das BALLET MECANIQUE) noch "komponiert" (wie etwa DOG STAR MAN von Stan Brakhage), sondern hie et nunc, Bild für Bild, Bild gegen Bild, momentan weiter entwickelt. Dabei können die verschiedenen Vektoren oder Parameter des Bildes jeweils punktuell oder für ganze Passagen die Führung übernehmen - ein Beispiel aus der Literatur wäre Heissenbüttels Zeile "Ton: Fingerton Fingertown Fingerland Händeland handlang langhändig eingehändigt eingehängt eingekrümmt Kreis" (usw.). Fast stets jedoch leistet in den Bildfolgen des DAMM die Dimension "Inhalt" die Hauptarbeit bei der Strukturierung des Ablaufs; (Strukturierung des Ablaufs hat selbstverständlich nichts zu tun mit der Grund- oder Fundamentalstruktur des Bildes (oder eben Abbilds!), die gleichsam vertikal geleistet wird. Für die Grundstruktur hat der "Inhalt" gerade keinen Vorrang (s. o.)!) Bewegung, Volumina, Lichtwerte usw. präzisieren dann die Funktion des "Inhalts", werden also niemals separat behandelt als ästhetisch schöner Verputz, - wie etwa in Kawalerowicz's MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN. Man könnte sagen: alle Dimensionen des Bilds bekommen einen poetisch-semantischen Wert, insofern sie, statt den Betrachter in seiner ästhetischen Distanz zu belassen und irgend zu "befriedigen", in den Betrachter eindringen und seine Erfahrung konzentrieren, komprimieren, organisieren. Wie der Filmautor mit seinem wachen Bewusstsein das Material durchdrungen hatte; wie er sein Bewusstsein dem Material einverleibt hatte, damit die Bilder zu sich selber kämen, so bietet sich jetzt der Film dem Betrachter dar als Vorschlag und Bewegungsplan neuer Erfahrungen, die dem Betrachter durch den Film jetzt möglich werden.
Einen konkreten Film zu gestalten, gibt 's natürlich viele individuelle Möglichkeiten. Meist werden sich sogar für ein und dasselbe Werk verschiedene Organisationspläne durchdringen, - so dass es geradezu Schwäche verriete, liesse sich die poetische Gestaltung manifest und linear auf eine interpretierende Formel beziehen. Das eingangs genannte Thema des DAMM: Destruktion, sollte man darum vielleicht mit mehr Vorsicht bezeichnen als ein zentrales Motiv, das die Verfahrensweise des Autors bei der Strukturierung seines Films entscheidend bestimmt hat. Es entsprang aber nicht der Willkür des Autors, sondern gehört zu den Imperativen des Materials. Filmbilder sind heute durch Gebrauch, Verbrauch und Missbrauch in ungezählten Leinwandwerken aufgeladen mit Bedeutung. Repetition wäre noch das kleinere Übel gegenüber der Gefahr, der Prätention und der Lüge zu verfallen. Doch auch Repetition ist schon Lüge. Die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und gegenüber dem Material hat Kristl gezwungen, seine Pläne und Wünsche dem Urteil des Materials zu unterwerfen, - sie zu korrigieren und notfalls aufzugeben. Parabel, Geschichte, Heiterkeit, wohldefinierte Personen, abgeschlossene, "sinnvolle" Situationen usw.: all das liess sich nicht halten. Eine wachsame Idiosynkrasie verbot am Ende jedes Vertrauen in jede Bedeutung, weil sie prätentiös, ungedeckt sein könnte. Die Antwort des Autors auf diese Situation hätte Resignation oder destruktive Wut heissen können; als noch sinnvolle Aufgabe bot sich an die konsequente Destruktion: Destruktion als Grenzfall einer Konstruktion; Destruktion als Katharsis. Der DAMM prüft stellvertretend alle Bilder aller Filme auf ihre Haltbarkeit hin. Die Bilder werden jeder ungedeckten Behauptung entkleidet. Sie werden gepresst und zerschlissen, bis nur noch das wirklich Haltbare bleibt. Einige Methoden dieser Läuterung sind: Wiederholung, Erprobung bestimmter (oder ähnlicher) Bilder in verschiedenen Zusammenhängen - wodurch sich ihre Eindeutigkeit dementiert. Oder überlange Dauer: eine zunächst scheinbar "schöne" Einstellung bleibt bis zum Überdruss stehen. Oder Verdoppelung: ein plötzliches Ereignis etwa wird zusätzlich durch Ton akzentuiert und dadurch ad absurdum geführt; eine Zugfahrt, die optisch ihr ganzes Geräusch sowieso schon impliziert, wird in der nichtsnutzigsten Kino-Manier durch Ton "ergänzt", - und das heisst aufgehoben. Eine Ton-Schleife währt bis zum Erbrechen; kommt später wieder; dann noch einmal. Situationen werden zerstückelt: sie scheinen in Auflösung begriffen oder sich vergeblich zu konsolidieren. Die gleiche "Ergebnislosigkeit" wie im technischen oder dramaturgischen Detail so auch im "Inhalt" und im Ganzen: die Personen verstehen sich nicht, die Geschichte kommt zu keinem Ende. Doch der Ärger des Betrachters wird besiegt von der Erkenntnis: der Film hat in jedem Fall recht. Ein solcher Film ist ein Prozess, dessen Ende niemals präzise absehbar ist; es gibt hier keine definitive Entwicklung; das Ende wird vom Autor des Filmes "gesetzt". Die "Setzung" gibt sich ehrlich als solche zu erkennen: der Film hört auf mit völlig neuem Material. Die Menschenmenge, selten genug im Bild, war bisher distanziert, war neutral, war in der Position des Zuschauers. Der Schluss des Films bezeichnet den Punkt, wo die Zurückhaltung der Menge in Beteiligung und das heisst Aggression übergehen könnte. Das Ende, indem es ganz neue Fragen stellt, und indem es den Ablauf mit dem bisher ausgesparten Material konfrontiert, setzt nachträglich die Vorzeichen um und neutralisiert den letzten Rest von positivem Sinn, der sich durch alle Negationen hindurch dennoch ausgebildet hatte.       Otmar Engel
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Nicht versöhnt

Deutschland/West, 1965. Produktion: Straub-Huillet; Buch und Regie: Jean Marie Straub nach dem Roman "Billard um halb zehn" von Heinrich Böll; Kamera: Wendelin Sachtler; Darsteller: Henning Harmssen, Heinrich Hargesheimer, Chargesheimer, Martha Ständner.

"Ich glaube, Herrn Straubs schwacher Punkt ist die Tatsache, dass er, um seine Vorstellungen von Film zu realisieren, fremde ,Stoffe' braucht", schrieb Heinrich Böll, der Hauptgeschädigte, - und gab Jean-Marie Straub den Rat, seine "Stoffe" selber zu suchen, zu finden oder zu erfinden. "Sie liegen wirklich auf der Strasse." Tatsächlich hat der 32jährige französische Cineast Jean-Marie Straub bisher immer nur Böll gesucht und gefunden. Vor zwei Jahren machte er aus Bölls "Hauptstädtischem Journal" den Kurzfilm "Machorka-Muff"; diesmal zeigte er in einer Sonderveranstaltung der "Berlinale" seine Filmversion des Böll-Romans "Billard um halbzehn", der er den Titel "Nicht versöhnt" gegeben hat. Wie es nun so geht mit "historischen Stunden" - man erfährt immer erst nachher, dass es eine war und dass man sagen kann, man sei dabei gewesen - die Besucher haben am 4. Juli im Berliner "Atelier am Zoo", wenn schon nicht den "grössten deutschen Film seit Murnau und Lang" (Michel Delahaye), so vermutlich doch die einzige Vorführung von "Nicht versöhnt" gesehen. Nach dem Willen des Böll-Verlegers Dr. Witsch soll die Kopie vernichtet, nach Bölls Vorschlag drei bis vier Jahre irgendwo gelagert werden. Straub selber ist mit dem Film in der Schweiz verschwunden. So endet also die Geschichte der bisherigen Böll-Verfilmungen, 1962 von Herbert Vesely mit dem "Brot der frühen Jahre" begonnen, ziemlich trostlos. Die Schuld daran trägt, auch wenn Dr. Witsch sich etwas barbarisch gebärdet hat, doch Jean-Marie Straub.
Weil er einen Stoff von Böll wählte und nicht selbst etwas erfand? So einfach liegen die Dinge nicht. Es ist das gute Recht eines Filmregisseurs, einen Roman zu adaptieren; Viscontis "Leopard", Bressons "Tagebuch eines Landpfarrers" oder Staudtes "Untertan" sind schliesslich auch Romanverfilmungen. Und ein Regisseur kann bei der Verfilmung auch die Intentionen eines Romans in ihr Gegenteil verkehren und dennoch einen überragenden Film schaffen: Josef von Sternberg hat es mit dem "Blauen Engel" bewiesen. In dem einen Fall, sagen wir "Untertan", hat der Regisseur die literarische Vorlage Heinrich Manns kongenial in einen Film verwandelt, im "Blauen Engel" hat sich die künstlerische Kraft des Regisseurs an der Vorlage entzündet. Bei Jean-Marie Straub ist beides nicht bemerkbar.
Nun kann man einwenden - und es wurde auch gesagt und geschrieben - Straub hätte eigentlich nur den zweiten Weg gehen können, weil Bölls Roman doch, halten zu Gnaden, ein verkorkstes Buch und leider sein schwächstes Werk sei. Richtig ist, dass es nicht sein bestes ist, aber immerhin doch nicht so schwach, dass es der Verbesserung durch Jean-Marie Straub bedürfte. Die selbstquälerische, die theologische Tiefe des Romans hat Straub nicht gespürt oder nicht ermessen - jedenfalls ist in seinem Film nichts von ihr erkennbar. Er übernimmt eigentlich nur das äussere Handlungsmodell - die Geschichte von den drei Generationen der Familie Fähmel und ihren Bemühungen um Bau, Zerstörung und Wiederaufbau der Abtei St. Anton - um daran seine neue Bildersprache zu demonstrieren. Der Jammer ist nur, dass er diese Bildersprache nicht beherrscht, dass er bestenfalls ein Gestammel äussert, ja, dass sie vielleicht gar nicht existiert.
Die Meinungen gehen in diesem Punkt auseinander; einige Kritiken fanden die optische Gestaltung des Films "gut und neu" und verdammten ihn nur wegen seiner unmöglichen Dialog- und Darstellerführung oder, wie Enno Patalas formulierte, wegen der "Abwesenheit einer solchen". Peter W. Jansen wollte, wenn "Nicht versöhnt" ein Stummfilm wäre, dem "outrierten Experiment", der "verwegenen Rebellion" den Respekt nicht versagen. Andere Rezensenten lobten die "intelligente Mosaik-Technik", die "formale Schönheit" oder Straubs "Talent für Bild-Rhythmus", und Enno Patalas dozierte, Straubs reifer gewordene Bildsprache böte "nicht das Abbild der Wirklichkeit, sondern in ihm (?) die Spuren der Anwesenheit von Menschen: kaum eine Einstellung, die sich nicht, während sie steht "entleerte", Platz liesse für den Gedanken, kaum eine, die nicht am Ende zugemacht würde, Identifikation verhindernd, der Lüge der Kontinuität sich verweigernd".
Wie sieht diese Bildsprache, dieser Bildrhythmus in Wirklichkeit aus? Straub zerlegt die Handlung des Romans in ungezählte ganz kurze Szenen - "Partikel" sagt man ja wohl - die er hintereinander montiert. Der schlichten Handlung des Films zu folgen, ist - sofern man den Roman nicht kennt - damit fast schon unmöglich. Diese neue Erzählstruktur aktiviert natürlich die Vorstellungskraft des Betrachters, weil ihm gar nichts anderes übrig bleibt, wenn er überhaupt etwas begreifen will. Aber ähnliches erreicht ja auch jedes Silbenrätsel in einer Illustrierten. Brecht, den Straub wohl als sein grosses Vorbild empfindet - aber warum verfilmt er dann Böll? - bietet ja nicht etwa wirre und wirr aneinandergefügte Szenen, aus denen der Besucher sich das Stück zusammensuchen muss, sondern einen ganz klaren, fast schon zu klaren Handlungsablauf, aus dem der Zuschauer seine Schlüsse ziehen soll. Straub, der das offenbar verschmäht, hält aber auch wenig von wechselndem Schnitt-Rhythmus. Fast alle seine Szenen sind abrupt kurz; kein Gedanke daran, er könne in einer längeren Sequenz etwa eine Reihe von kurzen, blitzschnellen Bildassoziationen einmünden lassen. Er behält, ohne Rücksicht darauf, dass die verschiedenen Entwicklungsstadien einer Handlung und ihre Bedeutung auch einen Wechsel in der Länge einer Szene verlangen können, seine Technik bei. Warum? Ich fürchte, weil er andere Szenen gar nicht gestalten kann.
Denn er hat noch immer den gleichen Aufbau: er baut die Kamera so auf, dass sie den Ausschnitt einer Szenerie - eine Zimmerecke, einen Hauseingang, eine Strassenseite - erfasst, und er lässt die Darsteller dann vor die Kamera treten, einen kurzen Dialog sprechen und wieder abtreten. Kaum einmal eine Fahrt der Kamera, kaum einmal veränderte Einstellungen innerhalb einer Szene. Wechsel von Grossaufnahmen und Totalen, keine "Gänge" der Schauspieler. Das wäre doch, zum Teufel, nicht alles "Papas Kino" sondern Beherrschung des Handwerks, die Straub da zeigen könnte. So unbeholfen, kurzatmig und stereotyp kann man doch die Kamera nicht einsetzen, so armselig doch nicht schneiden, wenn man sich nicht dem Verdacht aussetzen will, man bemäntele mit der Formel von der neuen Erzählstruktur nur das eigene Unvermögen,
Bei der Dialog- und Darstellerführung - oder vielmehr: "der Abwesenheit einer solchen" - hat man Straub seine Manöver nicht abgenommen. Sie ist unsäglich dilletantisch - und Straub setzt vor seinen Film ein Wort von Brecht, der Schauspieler solle seine Rolle "zitieren". Das heisst bei ihm, dass - bis auf den Hamburger Journalisten Henning Harmsen - alle seine Laiendarsteller wie etwa Chargesheimer ihre Texte aufsagen, als handle es sich um die erste Leseprobe für den Theaterabend einer rheinischen Kolpingfamilie. Dieses "Geleiere", so schrieb Patalas, verstelle den Blick auf die Qualitäten des Films. Aber hier verdeckt nur das eine, nicht zu verleugnende Übel das andere, die im Kern genauso dilletantische optische Gestaltung.
Was am meisten für Straub einnimmt, ist sein Mut, Filme zu drehen und die Zähigkeit, mit der er seine Pläne auch verwirklicht. Es muss ihn unerhörte Anstrengungen gekostet haben, als einzelner, ohne jede Unterstützung, diesen Film zu machen; freilich ist er darüber, so scheint 's, auch zu einem Mann geworden, der sich an keine Verträge hält, keine Absprachen kennt und unbeirrbar nur seine eigene künstlerische Grösse verkündet, eine Art Cinéasten-Mischung zwischen de Gaulle und Cassius Clay. In der verzweifelten Situation, in der er sich jetzt befindet, regt sich menschliche Sympathie für ihn wie für jeden Aussenseiter. Seinen Film vor der Vernichtung bewahren zu helfen, ist publizistische Anstandspflicht. Ihn hoch zu loben aber wäre absurd.       Walther Schmieding
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Die süsse Haut

LA PEAU DOUCE, Frankreich 1965; Regie: François Truffaut; Drehbuch: F. Truffaut und Jean-Louis Richard; Kamera: Raoul Coutard; Musik: Georges Delerue; Produktion: Filme du Carosse, S.E.D.I.F.; mit Jean Desailly, Nelly Benedetti, Françoise Dorleac, Sabine Haudepin.

Wie in seinem letzten langen Spielfilm JULES ET JIM behandelt Francois Truffaut nun auch in LA PEAU DOUCE die Erlebniswelt der Frau. Ähnlich oberflächlich hat der Regisseur selbst geurteilt. Wie viele seiner Kollegen liebt es Truffaut, nur vage Äusserungen über seine Filme von sich zu geben. So hat er gesagt, JULES UND JIM erzähle von der Liebe auf dem Lande, LA PEAU DOUCE hingegen berichte von der Liebe in der Stadt. Mit dieser Bemerkung wird geschickt übergangen, dass zwischen den beiden Filmen fast eine Welt liegt. Ohne Zweifel ist der Film aus dem Jahre 1961 die Arbeit eines brillanten Filmerzählers. Bei seinem jüngsten Werk darf man gleiches konstatieren, vermehrt aber um das ausgereifte Talent eines Analytikers.
Die Fabel, die Truffaut im altbewährten Dreieck erzählt, ist denkbar einfach und nicht minder banal: Pierre Lachenay, ein Intellektueller, der eine literarische Zeitschrift ediert und von Zeit zu Zeit ein Buch veröffentlicht, lernt eines Tages bei einem Flug nach Lissabon eine Airhostess kennen, an die er sich recht ungeschickt in einem Hotelaufzug heranmacht. Er verliebt sich in das Mädchen Nicole und bald erfährt man, dass er sie zu seiner Geliebten gemacht hat. Seiner Frau Franca bleibt das Verhältnis ihres Mannes nicht lange verborgen, und Lachenay droht die Scheidung. Darauf macht er Nicole einen Heiratsantrag, den diese resolut ablehnt. Bevor er sich wieder mit seiner Frau arrangieren kann, begibt sich Franca in ein Restaurant, in dem Pierre täglich zu speisen pflegt und erschiesst ihn mit einer Schrotflinte.
Nach der Aufführung von LA PEAU DOUCE in Cannes wurden nicht wenige kritische Stimmen laut, die Truffaut vorwarfen, er habe das Terrain der "Nouvelle Vague" verlassen und mit dieser Arbeit einen oberflächlichen Film, ja ein langweilendes Melodrama gemacht. Die Unzufriedenen sprachen von Verrat, denn vergebens suchten sie nach den formalen Schnörkeln, denen Godard manchmal heute noch nachhängt und die einzelne Cinéphile als die grosse Offenbarung der jungen französischen Cinéasten empfinden. Die Krise der "Nouvelle Vague", heute unverkennbarer denn je, ist nicht zuletzt eine Krise der formalen Ausdrucksmöglichkeiten. Es hat sich gezeigt, dass nur wenige Regisseure sich mit den Jahren behaupten konnten. Vor allem diejenigen, die sich auf die geschmäcklerische Marotte eingelassen hatten und nur diese allein im Auge behielten, versagten kläglich. Ein exemplarischer Fall ist Claude Chabrol, der nach anfangs interessanten Filmen seit geraumer Zeit dem absoluten Kommerz huldigt, weil er in eine Sackgasse geraten ist. Truffaut hat man nach LA PEAU DOUCE auch nachgesagt, er habe sich den ehernen Regeln der Filmindustrie gebeugt, die er einstmals bekämpft hat. Zweifellos ist die Geschichte von Pierre Lachenay, betrachtet man sie mit abgestumpftem Blick, ausgesprochen alltäglich und erweckt den Anschein, als bekenne sich Truffaut zum poetischen Realismus, jener Strömung des französischen Films, die der Regisseur und seine Kollegen aus den Redaktionsstuben der "Cahiers du Cinéma" unter dem Oberbegriff "Tradition der Qualität" mit Vehemenz kritisiert haben. Die berauschend schönen Elemente dekadenter Romantik, die an JULES UND JIM so sehr geschätzt werden, fehlen in LA PEAU DOUCE gänzlich. Lachenay, gewissermassen ein Mann im besten Alter, ist weit entfernt von den Liebhabern der "Nouvelle Vague". Die Masslosigkeit der Emotion eines Jules oder Jim, an der beide scheitern, fehlt ihm. Er ist ein Mann, der im Berufsleben den kalkulierten Erfolg einheimst. Gefühle zählen bei ihm wenig, und sein letzter Essayband behandelt bezeichnend das Thema "Balzac und das Geld" und keineswegs - was seine Leser eigentlich erwartet hätten - "Balzac und die Liebe". Zum Fetisch derjenigen avanciert, die bildungsbeflissen kulturellen Ereignissen nachjagen, um sich selbst die Aura der expertierten Mitredner zu geben, ist Lachenay quasi ein Handlungsreisender in Sachen Bildung.
An Lachenays Gestalt lässt sich kaum etwas entdecken, was sie von den übrigen Vertretern des gutsituierten Mittelstandes unterscheiden würde. Dass er ein respektierter Mann aus dem Bereich des sogenannten kulturellen Lebens ist, gibt ihm keineswegs den Anstrich des Ungewöhnlichen. Sein Privatleben bewegt sich in reichlich gewöhnlichen Bahnen. Das befreundete Ehepaar Odile/Michel kommt zu Besuch. Stumpfsinnig betrachtet man gemeinsam das Fernsehprogramm und spricht anschliessend über banale Alltagserlebnisse. Eine Autopanne von Michel im Nuttendistrikt Rue Saint-Denis wird zum Gesprächsgegenstand des Abends; gequält versucht die Plauderrunde, aus diesem nichtssagenden Ereignis eine kleine Sensation zu machen, weil das kleinbürgerliche Bewusstsein am schlüpfrigen Aspekt der Begebenheit seine Freude hat. Truffaut bekundet grosses künstlerisches Raffinement, indem er eine oft gerügte dramaturgische Untugend vieler Regisseure zu seinen Gunsten nutzt. Der Betrachter seines Films wird bewusst zur Identifikation eingeladen. Die Welt des Pierre Lachenay soll ihm vertraut sein, so dass er sie fast als die eigene empfindet. Seine soziale Existenz wird in zwei Teilabschnitten umrissen. Das erfolgsträchtige Berufsleben mit seinen zahllosen Reiseverpflichtungen korrespondiert mit seinem Privatleben, das anfangs noch von einer bürgerlich gesicherten Welt kündet. Aber der Schein trügt. Lachenays geistige Heimat wird sehr schnell offenkundig. Er erweist sich als ein Mann mit ausgeprägt patriarchalischen Zügen, der seiner Frau ein ausgesprochen fades und eintöniges Eheleben bietet.
Obwohl er eigentlich als Intellektueller aufgeklärt sein sollte, verrät sein ganzer Habitus die Geisteshaltung eines vergangenen Jahrhunderts. Solange der Haushalt versorgt ist, seine kleine Tochter Sabine genügend Zerstreuung und seine Frau den ihr gebührenden Spielraum für ihre kleinen Launen hat, glaubt er an sein vorbildliches Eheleben. Die Rolle, die Franca in Pierres Existenz spielt, ist nicht die einer emanzipierten Partnerin. Er hat einmal von ihr Besitz ergriffen, und seitdem ist sie ein Bestandteil von vielen im reibungslosen Ablauf seines Alltagslebens geworden. Wird diese scheinbare Harmonie durch ein unvorhergesehenes Ereignis gestört, reagiert Pierre kolerisch. Beispielsweise in der Sequenz, in der Lachenay, der soeben nach Hause gekommen ist, nach dem Verbleiben seiner Tageszeitung "Le Monde" fragt, da er sie nicht finden kann. Die Folge dieser vergeblichen Suche nach dem Journal ist eine Szene, die er Franca macht. Empört verlässt er die Wohnung und knallt die Tür hinter sich zu. Diese kleine Randepisode wirkt fast wie eine Vorwegnahme der folgenden Auseinandersetzungen, in deren Verlauf Pierre versuchen wird, sich mit dem Vorgefallenen zu seinem eigenen Vorteil zu arrangieren. Nachdem die Scheidung von Franca eine beschlossene Sache ist, bereitet sich Pierre darauf vor, die Brücken hinter sich abzubrechen, und wendet sich an einen Makler, um sich eine neue Wohnung zu kaufen. Er bildet sich ein, dass er Nicole nach der Trennung von Franca sogleich in eine neue Ehe nach gehabtem Muster integrieren kann. Jedoch hat sie ihn nach seiner phrasenhaften Einladung zum Drink an der Bar schon bald durchschaut. Im anschliessenden Gespräch mit ihr plaudert Pierre nahezu ausschliesslich aus der eigenen Schule und gibt sich jede erdenkliche Mühe, um seine Persönlichkeit so vorteilhaft wie möglich in den Vordergrund zu stellen. Welchen Part Nicole spielen soll, zeigt sich auf einer Reise nach Reims, wo Pierre einen Film über Andre Gide einführen soll. Im Doppelzimmer eines mittelprächtigen Hotels soll sie auf ihn warten, bis er seinen Verpflichtungen nachgekommen ist. Dort wird es Nicole in der unfreiwilligen Isolierung klar, dass sie an der Welt des Mannes kaum partizipieren darf. Lediglich das Warten auf die Liebesbezeigungen ihres Partners bleibt ihr gestattet. Auf der Rückfahrt nach Paris kommt Pierre für eine Nacht in einem Landgasthof unter. Das provozierte Liebesglück auf dem Lande, dem ein bitteres Erwachen im Schlafzimmer von Franca folgt, hinterlässt letztlich nur einen schalen Vorgeschmack auf ihr zukünftiges Verhältnis, über diese Tatsache vermögen auch die kurzen Augenblicke der vorgegebenen Unbeschwertheit beim Fotografieren im Wald nicht hinwegzutäuschen. Als sich Pierres Pläne mit Nicole nicht realisieren lassen, versucht er wiederum, den Weg des geringsten Widerstands einzuschlagen. Er bemüht sich nun um die Aussöhnung mit seiner Frau, aber ein Zufall - eine nicht zustande gekommene Telefonverbindung mit Franca - macht ihm einen Strich durch die Rechnung.
Nur an der Oberfläche offeriert Truffaut eine glatte, wohlgefällige Fabel. Die Details aber lassen erkennen, wie weit die Intentionen des Regisseurs gehen. Seine dialektische Methode, eingeschliffene Bewusstseinshaltungen durch überraschende Konfrontationen in Frage zu stellen, lässt sich sehr gut an dem Erlebnis Francas mit einem Strassenpassanten verdeutlichen. Nachdem Franca den Laden verlassen hat, in dem sie sich die von Nicole und Pierre gemachten Fotos aushändigen liess, betrachtet sie die einzelnen Bilder. Als sie sich nach einer auf den Boden gefallenen Aufnahme bückt, spricht sie ein Mann an, der mit den üblichen Floskeln einen Flirt einleiten will. Der andere Pierre Lachenay, der die Frau ebenfalls als williges Sexualobjekt betrachtet, ist völlig konsterniert, als Franca ihn beschimpft und seine dominierende Rolle bezweifelt, indem sie ihn mit empörten Bemerkungen vor einen Spiegel zerrt, der ihn sein schäbiges Gesicht erkennen lassen soll. Eingeschüchtert sucht er sein Heil in der Flucht. Diese Sequenz erinnert ein ein ähnliches Erlebnis Nicoles in Reims, die, des Wartens auf Pierre im Hotel überdrüssig, in der Dunkelheit umherläuft und ebenfalls von einem Mann angepöbelt wird. Solche Kontrastbilder, die jene eingangs erwähnten Kritiker Truffauts Lügen strafen, erweisen sich als ideale Regulative, die vollkommen die brüchige Realität der Welt der Pierre Lachenays deutlich machen. Die Schlusssequenz, in der Franca ihren Mann mit einem Jagdgewehr erschiesst, erklärt schliesslich auch die von Truffaut eingeräumte Möglichkeit zur Identifikation mit seinem Protagonisten. Durch die letzten Einstellungen, die absichtlich durch Überschneidungen zerdehnt sind, zwingt er zur Reflexion über das Vorgefallene und dessen Kausalität, denn das Ende kommt wie ein Schock. Lachenay ist die Möglichkeit genommen, seine Philosophie zu korrigieren. Der Betrachter hingegen vermag zu lernen, falsches soziales Verhalten zu revidieren. Selten wurde in einem Film die "Botschaft" so intelligent zum Ausdruck gebracht. In diesem Rahmen ist es nur allzu verständlich, warum Truffaut auf alle liebevoll ersonnenen Verweisungen und Anspielungen der "Nouvelle Vague" bewusst verzichtet hat. Aus der Rohschnittfassung von LA PEAU DOUCE wurden mehrere Einstellungen genommen. So auch die Szene, in der Nicole und Pierre bei einem Zeitschriftenstand in Orly im Sortiment kramen. Er sucht nach ARSENE LUPIN, sie nach einer Taschenbuchausgabe von BANDE A PART. Im Hintergrund überblickt Alfred Hitchcock als Titelbild einer Wochenzeitschrift die ganze Szenerie. Die Beschränkung Truffauts auf das Wesentliche, die in einer fast asketisch zu nennenden filmischen Form zum Ausdruck kommt, gereicht LA PEAU DOUCE zum Vorteil. Ohne Zweifel ist dieser Film das Werk eines grossen Regisseurs.       Klaus Hellwig
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