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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 50, Juli-September 1966

Inhalt
Brief aus Bratislava
Gespräch mit Jan Nemec
Die Schwierigkeiten, Godard zu sein
Kontinuität im deutschen Film
Der junge Törless
Rotation. Teil I


Brief aus Bratislava

Nachdem die tschechoslowakische Filmproduktion immer mehr internationale Anerkennung gefunden hat, dürfte auch ihr weniger bekannter Bestandteil von einem gewissen Interesse sein. Denn neben den Prager und Gottwaldover Studios gibt es ein weiteres in Bratislava, dem Zentrum der Slowakei, das in den letzten Jahren sechs bis sieben Spielfilme und etwa achtzig Kurzfilme jährlich produziert hat. Handelt es sich dabei nun um unbeachtliche Randproduktionen? Tatsächlich war dies noch bis vor wenigen Jahren der Fall, wenn auch von Zeit zu Zeit, sozusagen zufällig, einmal ein Film von übernationaler Bedeutung entstand. Dies waren jedoch Ausnahmen, und meistens führte dann Palo Bielik Regie, der in der Nachkriegszeit zum Nestor der jungen nationalen Filmproduktion werden sollte.

Bei der slowakischen Filmproduktion handelt es sich um eine junge Produktion, die durch die Nationalisierung der Filmindustrie zustandegekommen ist. Erste Erfolge konnte sie auf dem Gebiet des Kurzfilms in den Jahren 1950 bis 1959 verzeichnen. Bezeichnend ist, dass während dieser Periode lediglich drei nennenswerte Spielfilme entstanden sind: das Arbeiterdrama POLE NEORANE (1954, Das unbebaute Feld) von Vlado Bahna, STYRIDSATSTYRI (1957, Vierundvierzig) von Palo Bielik, ein Bericht über den niedergeschlagenen Soldatenaufstand im ersten Weltkrieg und schliesslich Frantisek Kudlacs POSLEDNY NAVRAT (1958, Die letzte Rückkehr). Daneben blieb es bei Folklore und sozialistischer Schönfärberei, meistens sehr unbeholfen und anfängerhaft zusammengebastelt. Kudlacs Film, der die Ehekrise eines durch die Resistance zusammengekommenen Ehepaares schilderte, spiegelte dabei schon stark die freimütigere Kulturpolitik, die nach dem XX. Parteitag der KPSU eingeleitet worden war, wider. Diese günstigere, schöpferische Atmosphäre fiel jedoch nicht mit dem Anbruch der neuen Periode, sondern eher mit dem Abklang der alten zusammen. Die Gründergeneration der Regie, deren begabtester Repräsentant zweifellos der imposante Einzelgänger Palo Bielik ist, musste einer neuen, zielbewussten Generation, die sich der "Volkserweckungskomplexe" der "Väter" entledigt fühlte und für die Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlichem Engagement und Formspezifik ein moderneres Empfinden hatte, allmählich weichen. Die junge Generation drängte zu einem günstigen Zeitpunkt nach vorn, nämlich Anfang der sechziger Jahre. Die ersten antidogmatischen Bestrebungen, vorübergehend allerdings durch den Gegenschlag eingedämmt, wurden dann durch die Autorität des XI. Parteitags der KPCSSR bekräftigt. Das erste Zeichen dieser neuen Periode ist Stanislav Barabas' Film PIESEN O SIVOM HOLUBOVI (1960, Das Lied von der grauen Taube), ein Film über den Widerstandskampf, mit Kinderaugen gesehen. Die realistische Gestaltung dieser Menschenschicksale hob sich wohltuend ab von dem theatralischen Pathos der üblichen Produktionen. Hier kündigten sich jene Erfolge an, deren Höhepunkt 1962 erreicht werden sollte. Von den sechs Filmen dieses Jahres können mindestens drei als überdurchschnittliche Leistungen bezeichnet werden; hiermit nahm die slowakische Produktion vorübergehend eine leitende und inspirierende Stellung innerhalb der gesamten Produktion des Landes ein.

Dieser jähe Durchbruch war das Ergebnis einer langen, künstlichen Stauung auf Grund der konformistischen Kulturpolitik, die die sogenannten heiklen Themen ausgespart hatte. Der kompromisslose Peter Solan drehte jetzt BOXER A SMRT (1962, Der Boxer und der Tod). Dieser Film schilderte eine "Grenzsituation": der Kommandant eines Konzentrationslagers wählt einen Häftling als Sparringspartner aus. Sowohl Solan als auch Stefan Uher, ein talentierter Dokumentarist, der 1962 SLNKO V SIETE (Sonne im Netz) realisierte, arbeiteten mit den Mitteln der Psychologie. "Sonne im Netz" ist eine feinfühlige Studie über Gedanken der slowakischen Jugend, aufgenommen in einer lyrischen Abart des schauspielerlosen cinéma vérité. Uher ging es um authentische Fixierung des jeweiligen Augenblicks, und er hat insoweit die Intentionen Vera Chytils und Milos Formans vorweggenommen. Die Erfolge dieses Jahres wären ohne die Leistungen der Kameramänner undenkbar.

Wichtig ist weiterhin, dass sich Schriftsteller, die den slowakischen Film bisher gemieden hatten und von ihm gemieden wurden, nun zur Mitarbeit entschlossen. "Sonne im Netz" ist das erste slowakische Beispiel dieser fruchtbaren Zusammenarbeit; das Drehbuch schrieb der renommierte Alfons Bednár. Bezeichnend für die Produktion des Jahres 1962 war auch, dass Martin Holly sogar auf dem Gebiet des reichlich strapazierten und diskreditierten Ärbeiterfilms" eine glaubwürdige Leistung gelang: HAVRANIA CESTA (Der Rabenweg). Holly realisierte Ludovit Filans gleichnamiges Hörspiel wirklichkeitsnah und ohne falsches Pathos; die Zeiten, in denen das Leben der Arbeiterklasse als magische Beschwörungsformel begriffen worden war, sollten endgültig einer vergangenen Epoche angehören.

Dem etwas mageren Jahr 1933, das nach den Höhepunkten des Vorjahres aber immer noch zwei gute Leistungen, nämlich TVAR V OKNE (Antlitz im Fenster; Peter Solan) und Josef Zachars cinéma-vérité-Produktion PSYCHODRAMA aufzuweisen hatte, folgten in den Produktionsjahren 1964/65 einige Filme, die in mehrfacher Hinsicht interessant erscheinen. Stefan Uher legte seinen neuen Film ORGAN (Die Orgel, 1964) vor, den er in Zusammenarbeit mit dem schon erwähnten Schriftsteller Alfons Bednár und dem bewährten Kameramann Szomolányix geschaffen hatte. Vor dem visuellen Hintergrund der gotischen Linien einer Kathedrale prallt die Erhabenheit der Bachschen Fugen mit der Begrenztheit und inneren Armut der üblichen Kirchenmusik zusammen. Und die Litaneien in diesem "Pfaffenstaat" - die als Zwiegespräch zwischen dem Klosterprior und dem Chor der Mönche sozusagen einen ironischen Kommentar abgeben - stehen beispielhaft für jene Engstirnigkeit, die es zu bekämpfen gilt: die zeitlosen Konstanten einer dogmatischen Denkweise. Leider fand diese intensive und authentische Studie mit ihrer abgewogenen Kompositionsarchitektur Anklang nur beim Publikum der Studiokinos. Dieser Zug zur Exklusivität findet sich übrigens bei einem erheblichen Teil der jungen Regisseure. Er erklärt sich daraus, dass die neue Regiegeneration den Gedanken einer individuellen, künstlerischen Gestaltung betont. Das Beharrungsvermögen des grössten Teils des Publikums bleibt dabei allerdings unberücksichtigt. Natürlich resultiert diese Reaktion der jungen Generation aus den allzu reglementierten Produktionsverhältnissen der Vergangenheit.

Daneben ist eine weitere Einseitigkeit festzustellen. Eine Reihe von Filmen blieb dem Themen- und Problemkreis des Personenkults oder dessen Nachwirkungen bzw. Begleiterscheinungen verhaftet, der teilweise klischeehaft oder sogar kitschig ausgeschlachtet wurde. Peter Solans PRIPAD BARNABAS KOS (Der Fall Barnabas Kos, 1694) stellt in diesem Zusammenhang ein erfreuliches Gegenbeispiel dar, eine satirische Tragikomödie, die nach einer älteren Novelle des Dramatikers Peter Karvas gedreht wurde. Es ist die Geschichte eines Karrieristen wider Willen, eines äusserst zuvorkommenden, jedoch formatlosen kleinen Mannes, der zu Zeiten des Personenkults (der ja in Wirklichkeit starken Persönlichkeiten argwöhnisch entgegentrat und den unauffälligen Durchschnitt förderte) zu hohen Ehren und Posten kommt, obwohl er sich dagegen sträubt. Ein bissiger und treffender Film über das Absurde, dessen anfängliche Folgerichtigkeit leider nicht bis zum bitteren Ende durchgehalten wird. Bahna schliesslich schilderte in NAMESTIE SVATEJ ALZBETY (Sanktannenplatz, 1965) die Geschichte einer Liebe aus der Kriegszeit, und zwar zwischen einer Jüdin und einem Ärier" in einer slowakischen Kleinstadt. Und Stanislav Barabas, der sich mit seinem TRIO ANGELOS - Gleichnis 1963 in einem Existenzialistendickicht verirrt zu haben schien, konnte nun ZVONY PRE BOSYCH (Glocken für die Barfüssigen, 1965) vorlegen, zu dem Ivan Bukovcan das Drehbuch geschrieben hatte. Dieser Film handelt von zwei Widerstandskämpfern, die einen blutjungen Soldaten der Wehrmacht festgenommen haben und nun in einem menschenleeren Bergland gegenseitig aufeinander angewiesen sind. Eigentlich ist es kein Kriegsfilm, denn der Krieg bleibt im Hintergrund; gegenwärtig sind jedoch seine Folgen - Verrohung und Entmenschlichung, denen sich die Menschen nur mit wechselndem Erfolg widersetzen können. Dieser Konflikt in einer "sartre-artigen" Situation, der durch das Erscheinen einer Frau noch verschärft wird, ist der wahre Gegenstand dieser Analyse, die vor allem in der ersten Hälfte und den Schlusssequenzen überzeugend von Barabas gestaltet werden konnte.       Pavol Branko

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Gespräch mit Jan Nemec

(Ausschnitte eines Gesprächs, das im April 1966 in Prag für FILMSTUDIO aufgenommen wurde. Gesprächspartner: Pavol Branko.)

Branco: Einige Ihrer Arbeiten wurden bereits international ausgezeichnet und haben Ihren Namen bekannt gemacht. Was halten Sie von Festivalpreisen?

Nemec: Allgemein haben die Preise und Auszeichnungen nur einen relativen Sinn. Nicht immer erhält die Qualität den Lorbeer. So erscheint mir heute Chaplins MONSIEUR VERDOUX als einer der grössten Filme aller Zeiten; diesem blieb jedoch die allgemeine Anerkennung versagt. Ich selbst habe noch einen Dokumentarfilm, nämlich PAMET NASEHO DNE (Das Gedächtnis unseres Tages), der offenbar auch Ihnen unbekannt ist, während meiner Militärzeit im Armeefilmstudio gedreht. Dieser Film fand überhaupt keinen Anklang. Dabei gehört er in dieselbe Reihe wie meine übrigen Filme und wird von demselben Zweifel an der Welt - so wie sie ist - getragen. Dieser Film basiert auf dem Kontrast, der der masslosen Grausamkeit örtlich und optisch identischer Aufnahmen entspringt. Ich benutzte bei diesem Film jene Wochenschauaufnahmen, die damals während der Befreiungskämpfe aufgenommen wurden. Nach fünfzehn Jahren begab ich mich an die damals aufgenommenen Schauplätze und suchte ihre heutige Gestalt aus dem gleichen Blickwinkel zu erfassen. Ich habe dann beim Schnitt die zeitlich auseinanderliegenden Erscheinungsformen der Wirklichkeit gegenübergestellt. Das Ergebnis war überraschend und verblüffend. Oft kommt Erhabenes zum Vorschein, oft Banales. Alles ist jedoch Bestandteil des Lebens. Sie sehen: "mein" Thema und "mein" Stil klingen auch hier an. Dynamische Wechselmontage, scharfe Kontraste, alles kommentarlos _... Und wer kennt diesen Film? Ich halte ihn für gut, und sein Schicksal bekräftigt meine Überzeugung, dass Qualität nicht immer Anerkennung findet, sondern verkannt werden und untergehen kann. Von allen Preisen, die ich erhielt, schätze ich den, den ich für "Der Bissen" erhielt, am meisten, übrigens war diese Anerkennung der erste internationale, professionelle Preis, den ein Schüler der Hochschule FAMU für eine Examensarbeit erhalten hatte. Ich drehte diesen Film im Alter von vierundzwanzig Jahren. Dieser Anfang liess mich hoffen, dass die Probleme, die mich beschäftigen, auch andere interessieren. Ich hatte also keinen aussichtslosen Weg beschritten.

Branco: Sie sprechen von "Ihren" Themen. Wie würden Sie diese formulieren?

Nemec: Sie sind mir bewusst; begriffsmässig habe ich sie nicht formuliert. Ich bin überhaupt ein Gegner von Programmen, also auch gegen die Formulierung eines eigenen Programms - das Hinterland, in dem ich mich inspirationsmässig bewege, ist für mich durch Worte nicht zu erfassen. Wenn Sie mich jetzt zu einer Definition drängen wollten, würde sie sicher nicht präzis werden. Ich kann nur sagen, dass es mich immer wieder drängt, die Werte der Welt, so wie sie tradiert werden, anzuzweifeln. Mich interessiert das Schicksal des einzelnen Menschen in der Gesellschaft, die ihn notgedrungen einschränkt, ohne die er jedoch nicht existieren kann. Es scheint mir notwendig zu sein, auf den Anteil des Menschen an der historischen Tragödie, die in der Weltgeschichte abläuft, hinzuweisen.

Branco: Ist das eine Frage der Gegenwart?

Nemec: Ich empfinde es als ein ewiges Problem, als eine sozial bedingte Bürde; sie existiert, seit sich die Gesellschaft als Gesellschaft konstituiert hat. Es ist der Zweifel an "Werten".

Branco: Also Skepsis?

Nemec: Ich wiedersetze mich diesem Wort, denn es beinhaltet Passivität, gewissermassen existentialistisches Händeringen - was wäre da wohl noch zu machen? Ich ziehe die Stimme des Protestes vor und strebe Aktivierung, nicht Ratlosigkeit an. Ich mag es nicht, irgendwie und irgendwo eingruppiert zu werden. Meine Filme sind kein Bestandteil irgendeiner Gruppe oder einer breiteren, gemeinsamen Aktion. Vielleicht haben wir jungen Regisseure auch nur gemeinsam, dass wir an der Periode des Personenkults nicht beteiligt waren - das ist kein Verdienst, wie ich betonen möchte, sondern einfach eine Frage des Alters. Wir reagieren auf diese Periode nicht kritisch, sondern eher analytisch. Für uns ist sie ein Sprungbrett, nicht Gegenstand persönlicher Auseinandersetzungen.

Branco: Im Vergleich zu anderen sozialistischen Ländern fällt jedoch auf, dass gerade hier in der CSSR die junge Generation immer mehr das Filmgeschehen zu bestimmen beginnt. Welchen Grund könnte das Ihrer Meinung nach haben?

Nemec: Diese Erscheinung ist nicht auf einen einzigen Grund zurückzuführen. Natürlich darf auch das persönliche Talent einzelner junger Regisseure nicht ausser acht gelassen werden. Im wesentlichen trafen einige glückliche Umstände zusammen, die ich so sehe:
1. Die Prager Filmhochschule hat sich zu einer der besten Schulen in der Welt entwickelt. Wir erhielten eine Ausbildung von höchstem Niveau, und zwar eine streng individuelle Vorbereitung, die der Persönlichkeit des einzelnen Rechnung trug;
2. verlief der Demokratisierungsprozess bei uns zwar weniger laut, aber dafür auch wirkungsvoller als in manchen anderen Ländern, insbesondere im Bereich der Kultur und in der Leitung der künstlerischen Verbände. Obwohl es in diesen Ländern an radikalen Deklarationen nicht mangelt, so haben doch die Vertreter älterer Konzeptionen die Schlüsselpositionen in der Kulturpolitik nicht aus den Händen gegeben - wir bezeichnen sie unter uns als "Gipsköpfe" -, während hierzulande in dieser Hinsicht ein radikaler Wandel eingetreten ist;
3. entstand bei uns zwischen den Generationen kein Zwist, und allmählich wurde auch die mittlere und ältere Generation aktiviert. So kam es zu einer Regeneration der Kräfte auch bei den Künstlern, bei denen man dies keineswegs als selbstverständlich voraussetzen konnte. Dieser Prozess wird wahrscheinlich auch für die weitere Entwicklung und den zukünftigen Aufschwung ausschlaggebend bleiben;
4. gelang es, künstlerische Arbeitsgruppen - ursprünglich dem polnischen Vorbild nachgebildet - so zu organisieren, dass sie den Anforderungen des individuellen Schaffensprozesses wirklich gerecht werden konnten;
5. spielte auch die demokratische Tradition unseres Landes eine Rolle. Ja, ja, es war eine bürgerliche Demokratie mit all ihren Beschränkungen, doch sie liess Empfindungs- und Intellektnormen entstehen, ein gewisses Klima, das, als die dogmatischen Schranken niedergerissen waren, seine Regenerationskraft durchschlagend entfalten konnte.

Sicherlich waren da noch Faktoren im Spiel, von denen wir nichts wissen - das unergründliche, in der Kunst nie restlos zu definierende Geheimnis, weshalb'eben hier und jetzt eine solche Talentkonzentration in Erscheinung getreten ist. Denken Sie an Polen nach dem Abbau der dogmatischen Schranken, der die polnische Kunst erstarken und sich nachher wieder erschöpfen liess - das sind Fragen, die restlos weder ergründet noch beantwortet werden können, denn es bleibt immer etwas Undefinierbares, das im schöpferischen Prozess begründet ist.

Branco: Müssten die Akzente nicht anders gesetzt werden, in erster Linie also die demokratische Tradition des polnischen Lebens, die die Personenkultperiode unbekümmert über Bord werfen konnte, und die verständnisvolle Kulturpolitik angeführt werden? Denken Sie auf dem Gebiet der Kunst z. B. an Capeks Persönlichkeit _...

Nemec: Die von mir gewählte Reihenfolge besagt nichts über den Rang der einzelnen Faktoren - sie sind mir in dieser Reihenfolge eingefallen. Aber Sie werden schon recht haben _... Und was Capek betrifft, so ist er für mich zwar eine künstlerische Persönlichkeit, die an der Gestaltung des demokratischen Empfindens einen imposanten Anteil hat, doch als Autor lässt er mich im grossen und ganzen kalt. Die stärksten Impulse unserer Tradition kommen meines Erachtens von Hasek und Kafka - auf sie, die ihren Weg ohne Rücksicht auf bekannte oder gerade in Blüte stehende Stile oder Strömungen gegangen sind, führe ich die Wurzeln meiner künstlerischen Prinzipien zurück. Bei Capek imponiert mir die Gefühlswelt, bei Hasek und Kafka die Elementarkraft. Und hierin können auch die spezifischen Elemente, die die aktuelle Gestalt der jungen Filmproduktion mitprägen, gesehen werden. Ich glaube nicht, dass man in anderen sozialistischen Ländern Erscheinungen dieser Art und dieser Tendenz wird finden können.

Ich selbst interessiere mich sehr für die Welt von Faulkner, Camus und Joyce, also im Grunde philosophischer Autoren, die sich nicht auf die zu erzählende Geschichte beschränken und die ihre künstlerische Sprache frei entwickeln konnten. Ich glaube jedoch nicht an beständige, dauernde Impulse - in den verschiedenen Lebensabschnitten können sie sehr verschieden sein. In der Kinematographie - Sie werden mich sicher danach fragen wollen - sind es bei den Klassikern Chaplin und Eisenstein, Buñuel natürlich auch, und dann im modernen Film Bresson und Resnais - Individualisten also, die keiner Schule oder Strömung angehören.

Branco: Nach Ihrem Film Öber das Fest und die Gäste" haben Sie nun Ihren neuen Film "Märtyrer der Liebe" begonnen. Werden Sie hier Ihre bisherigen Themen weiter entwickeln?

Nemec: Bewusst empfinde ich es nicht so. Es sind drei Mikrogeschichten, melancholische Anekdoten, drei Verteidigungen schüchterner Versager. Es soll ein grundlegend anderer Film werden - leicht, luftig. Und im Unterschied zu meinen bisherigen Filmen wird die Musik eine wichtige Rolle spielen. Ausserdem interessiert mich jetzt auch die Form des Films. Bei "über das Fest und die Gäste" habe ich bewusst nicht über die Form nachgedacht, während ich jetzt dauernd überlege, wie ich diesen Film realisieren soll. Ich werde stilisieren, etwa in der Art der Erinnerung an ältes Kino", an stumme Grotesken, an das Sentiment der Filme der dreissiger Jahre.

Branco: Ihre Filme waren bisher finanziell nicht sehr erfolgreich. Hatten Sie Schwierigkeiten bei der Vorbereitung Ihrer neuen Filme?

Nemec: Selbstverständlich, aber das ist recht so. Es darf nur nicht dahin kommen, dass ich meine künstlerischen Pläne nicht mehr in der Art, die meiner Veranlagung entspricht, verwirklichen kann. Ich halte mir immer wieder vor Augen, dass ich meine bisherigen Filme im Westen nicht hätte drehen können, von dem neuen Film ganz zu schweigen. Bei uns drehe ich ihn. Und solange die kulturpolitische Einstellung unserer Arbeit gegenüber so verständnisvoll und grosszügig bleibt, können, glaube ich, auch Regisseure meiner Art sehr zufrieden sein. Ein weiteres Drehbuch habe ich bereits fertiggestellt: "Notizen aus der Unterwelt" nach Dostojewskij. Dann arbeite ich noch an den "Legenden über den Ritter" nach einer Vorlage aus dem 12. Jahrhundert von Marie de France. Es ist ein etwas philosophischer Stoff, der von dem Widerstreit zwischen dem einzelnen und dem Königshof handelt, auf der Grenze zwischen einer Liebesgeschichte und einem Märchen. Es soll eine farbenfrohe Kostümangelegenheit in einer historisch nicht festgelegten Zeit werden. Ich bin mir natürlich darüber klar, dass meine Filme nicht jedem gefallen können. Das betrachte ich nicht einmal als Fehler, ja, ich bin sogar der Meinung, dass dies richtig ist. Worauf es mir ankommt, ist, dass auch diejenigen, die mich nicht verstehen wollen oder können, mit einem gewissen Respekt dem Film'gegenübertreten. Ich möchte, dass auch der Film mit Respekt und Ernst behandelt wird, was ja in den anderen Künsten nahezu selbstverständlich geworden ist.

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Jan Nemec wurde 1936 geboren und studierte Regie am Prager FAMU. Im Jahre 1960 entstand seine Examensarbeit SOUSTO (Der Bissen). 1964 drehte er DEMANTY NOCI (Diamanten der Nacht) und 1965 die Episode PODVONICI (Die Hochstapler) in dem Film PERLICKY NA DNE (Perlen auf dem Grund). Gleichzeitig arbeitete er an O SLAVNOSTI A HOSTECH (über das Fest und die Gäste), der im Jahre 1966 fertiggestellt wurde. Gegenwärtig dreht Jan Nemec MUCEDNICI LASKY (Märtyrer der Liebe). Autorin ist - wie schon bei Nemecs vorhergehendem Film - wieder Esther Krumbach.

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Die Schwierigkeiten, Godard zu sein (s.a. Heft 51

Ein Mörder wird von der Polizei auf der Strasse zusammengeschossen.

Onkel und Neffe erschiessen sich nach einem missglückten Überfall gegenseitig.

Die Frau, die ihren Ehemann leid ist, kommt mit ihrem Begleiter durch einen Autounfall ums Leben.

Das heruntergekommene Provinzmädchen wird von ihrem Zuhälter erschossen.

Ein junger Mann erschiesst seine Freundin und sprengt sich anschliessend in die Luft. Das sind die Schlussszenen einiger Filme von Godard. Teils lässt zwar der optische Ablauf erkennen, dass es sich um Übertragungen typischer Schlüsse aus dem harten Genre handelt, doch damit scheinen die Erklärungen erschöpft zu sein. Im folgenden soll die Frage nach dieser eigentümlichen Sterotype als Ausgangspunkt gelten für den Versuch, Godards Filme nicht aus der Perspektive Godards zu betrachten.

Plädoyer für den Tod

Die Entstehung von A BOUT DE SOUFFLE gibt einige Hinweise darauf, wo Godard, im Gegensatz zu Truffaut, die Schwerpunkte einer Geschichte sieht. Dieser Film basiert auf tatsächlichen Ereignissen, die Truffaut zu einem Treatment inspirierten, das Godard seinerseits überarbeitete. Folgendes hatte sich ereignet: Ein junger Franzose überfiel in Amerika einen drug-store, kam ins Gefängnis und wurde dann nach Frankreich abgeschoben. Während der Überfahrt lernte er eine amerikanische Journalistin kennen, die französische Schauspieler interviewen wollte. Bald nach seiner Ankunft in Paris stahl er ein Diplomatenauto. Auf der Fahrt nach Havre tötete er einen motorisierten Polizisten. Daraufhin wurde unter Einschaltung von Interpol eine Grossfahndung eingeleitet, es gab Razzien, z. B. in den Kinos am Pigalle, und die Presse brachte Sensationsberichte und seinen Steckbrief. Auf einer Yacht des Touring-Clubs in der Nähe von Concorde wurde er schliesslich festgenommen, ohne dass die Polizei zunächst wusste, wer er war.

Zu seinem Script sagte Truffaut: "Ich habe aus dieser Geschichte ein Scenario gemacht, wobei ich mich ziemlich genau an die Realität hielt. Die Person meines Gangsters war unsympathisch. Alles drehte sich um einen Kamelhaarmantel, den er aus einem Diplomatenwagen gestohlen hatte und der ihm für drei Tage das Aussehen eines gehetzten Fuchses geben sollte. Die Geschichte mit der Amerikanerin hat mich interessiert _... und ich habe mir vorgestellt, dass er das Auto stahl, um das Mädchen in Havre zu erwarten _... Da sie seine Identität nicht kennt, spielt er ihr gegenüber ständig die Rolle des Typen, der Geld und einen schönen Wagen hat _... Braunberger war sehr interessiert an dem Projekt, aber ich begann die Begeisterung zu verlieren und Notizen für LES 400 COUPS zu machen _... (Godard) hat den Schluss völlig geändert. In meinem Projekt endet der Film damit, dass der Mann eine Strasse entlanggeht und die Leute sich mehr und mehr nach ihm umdrehen, wie nach einem Filmstar, denn sein Foto bedeckt die Titelseite der Abendzeitungen. Das kann ziemlich schrecklich sein, wie eine Sache in der Schwebe. Er (Godard) hat ein gewaltsames Ende gewählt, weil er viel trauriger war als ich. Er war tatsächlich verzweifelt, als er diesen Film machte. Er hatte es nötig, den Tod zu filmen, er brauchte diesen Schluss _...

Truffauts Vorstellungen lassen ein bemerkenswertes Thema erkennen: die Gegenüberstellung von Selbstimage und Wirklichkeit gelingt erst durch das Eingreifen öffentlicher Organe (Presse und Interpol); dadurch wird jedoch ein möglicher Bewusstseinsprozess des einzelnen in Frage gestellt, denn er muss nun stattfinden unter dem ebenso gezielten wie oberflächlichen Interesse der Öffentlichkeit.

Godards Bearbeitung hat den Aspekt Truffauts beseitigt und die Geschichte wie einen Gangsterfilm enden lassen. Auffällig ist jedoch, dass Michel Poiccard, der Held des Films, nicht dem Filmgangsterklischee entspricht. Denn ob SCARFACE, LITTLE CAESAR, BABY FACE NELSON oder LEGS DIAMOND - der Filmgangster zeigte vitale Interessen, d. h. er wollte Geld und Prestige, während es Michel Poiccard fast einen ganzen Film lang um die Liebe geht. Und während der Filmgangster an seinen Tod kaum einen Gedanken verschwendet, gesteht Michel, er "denke unablässig an ihn". Die beiden Abweichungen sind bezeichnend. Dass Godard sie nicht vornahm, weil er glaubte, damit der Realität näher zu kommen, wird durch sein Desinteresse an der tatsächlichen Begebenheit bezeugt. Indem Godard aber das Ritual des gewaltsamen Todes vom Gangsterfilm übernimmt, deutet er seine besondere Konzeption an: die ständige Ahnung des Todes wird durch die Liquidierung des Opfers besiegelt, und gleichzeitig soll diese Verknüpfung glaubhaft machen, dass es für den Helden, obwohl er Ängst davor hat", kein Entkommen gibt. Da der Film überdies mit dem Satz beginnt "Es muss sein", wird in nuce sichtbar, was Godard zeigen will: eine Entwicklung, die völlig determiniert abläuft, ohne eine konkrete Determinante. Natürlich ist es Godard, der den Mechanismus steuert, doch innerhalb des Films wird keine Erklärung gegeben, das Schicksal des Helden unterliegt einer unsichtbaren Macht. Wenn A BOUT DE SOUFFLE beginnt, beginnt die Todesphase Michel Poiccards. Das gleiche gilt für VIVRE SA VIE. Die bekannte erste Einstellung setzt den Schlusspunkt unter Nanas Vergangenheit, und sie tritt ein in die Phase des Todes, an deren Ende sie erwartungsgemäss erschossen wird. Der Zuschauer kann innerhalb des Films keine plausiblen Möglichkeiten entdecken, Nanas Entwicklung aufzuhalten, denn der Film gibt keine plausiblen Gründe an, die Nanas Entwicklung bestimmen; der Zuschauer soll ihr Schicksal vielleicht nicht akzeptieren, jedenfalls aber als unbegreiflich hinnehmen.

Die Häufigkeit der Todesszenen, ihre sorgfältige Ausarbeitung und vor allem ihr stets gewaltsamer Ablauf deuten darauf hin, dass Godard den Tod nicht als ein individuelles Ereignis betrachtet, sondern als ein übernatürliches Phänomen, dem er selbständige Existenz zuschreibt. "Das Kino", so erklärt es Godard, "ist die einzige Kunst, die gemäss Cocteaus Satz den Tod bei der Arbeit filmt."

Ein Vorgänger Godards bei dieser Beschäftigung ist der von ihm bewunderte Fritz Lang. Im MÜDEN TOD sehen wir einen finsteren Mann mit Schlapphut als die Person des Todes, dessen Tätigkeit in höherer Weise sinnvoll erscheinen soll, selbst wenn sie völlig sinnlos ist. Der Tod wird als unabhängiger Wert ausgegeben, der keiner Legitimation bedarf. Ein personifizierter Tod ist in Godards Filmen bisher noch nicht aufgetreten; doch den Auftritt des Prinzips selbst ersetzt Godard durch die ständige Anwesenheit seines Instruments: des Revolvers. Dass all die Revolver nicht nur gewöhnliche Waffen sind, sondern den Tod symbolisieren sollen, beweisen die ostentativen Gesten, mit denen Godard sie vorführen lässt, und ihre Aufwertung durch suggestive Grossaufnahmen. Auf Zuschauer, denen Godards Plädoyer für den Tod entgeht, macht die Revolver-Manie vielleicht nur einen parodistischen oder verkrampften Eindruck, aber Godard verbindet mehr mit dem Revolver, wenn er den PETIT SOLDAT sagen lässt (Pistole in Grossaufnahme): "Ein schöner Gegenstand; schwarz und nicht zu korrumpieren." Inmitten einer Welt der Korruption ist wenigstens der Tod nicht zu korrumpieren - diese überlieferte und vielleicht durch eigene Unsicherheit motivierte Flucht in metaphysische Sicherheit begleitet stets die Mystifizierung des Todes.

In der Pasolini-Episode (LA RICOTTA) des Films ROGOPAG (weil von ROssellini, GOdard, PAsolini und Grigoretti) tritt Orson Welles als Regisseur auf und antwortet stellvertretend für Pasolini auf die Frage eines Reporters, wie er zum Tod stehe (dem Sinn nach zitiert): "Weil ich Marxist bin, übergehe ich den Tod." Das ist der denkbar weiteste Abstand zu Godard.

Die Transzendierung des Todes zum übernatürlichen Prinzip begründet darüber hinaus dessen moralische Integrität, was natürlich nichtssagend bleibt, solange die Anwendung auf eine konkrete Situation fehlt. Dann allerdings kann nicht nur das Sterben, sondern auch das Töten als moralischer Akt im Dienste des Prinzips erscheinen. Bezeichnenderweise ist es Godard in A BOUT DE SOUFFLE selber, der Poiccard denunziert und die Liquidation einleitet. Und PIERROT LE FOU, der sich das Gesicht mit der Farbe der blauen Blume anmalt, versäumt nicht, seine Freundin zu erschiessen, bevor er Selbstmord begeht. Am Ende von A BOUT DE SOUFFLE hat Godard einen Satz gestrichen. Während nämlich die Polizisten auf Michel zielen, sagt der eine: "Schnell, in die Wirbelsäule!" Truffaut, der seinen eigenen. Worten zufolge "sehr heftig" wurde, konnte Godard überreden, den Satz zu schneiden.

Ignorierung der Gesellschaft

Für Godard scheint die Intensität des Sterbens der Intensität der Erlösung zu entsprechen, die dem Opfer zuteil wird. Denn die Opfer kosten ihren Tod in dem Masse aus, wie sie sich ihrer Isolation bewusst geworden sind. Damit spricht Godard die psychische Disposition eines Teils seines Publikums an. Allerdings vermeidet er es, seine Individuen irgendwie im Zusammenhang mit einem Beruf, einer sozialen Stellung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen oder informellen Gruppe zu sehen. Stattdessen konstruiert er seine Figuren als absolute Individuen. (Nur die Institution der Ehe - mit Kind - wird als Möglichkeit der Integration angeboten, folglich enden UNE FEMME EST UNE FEMME und UNE FEMME MARIEE nicht mit dem Show-down; dagegen zieht die Auflösung dieser Institution in LE MEPRIS konsequenterweise den Tod der Auflöserin nach sich.) Obwohl Godard jede gesellschaftliche Bestimmung seiner Individuen leugnet, kann er doch nicht übersehen, dass sie starken Einflüssen von aussen unterliegen. Jedoch fälscht er diese Einflüsse um in metaphysische Grössen, um zu behaupten, das Schicksal des einzelnen werde auf unbegreifliche Weise determiniert ("die Dinge gehen wie sie gehen"). So entsteht der Eindruck, als könnten Michel, Arthur, Nana oder Pierrot-Ferdinand ihre Probleme nicht lösen, sondern nur durch den Tod erlöst werden.

Wenn Nana oder Michel Poiccard jeweils zu Beginn des Films keine Möglichkeit mehr haben, den Ablauf der Todesphase anders als in der vorbestimmten Richtung zu beeinflussen, so heisst das für Godards Regie: von der ersten Einstellung an wird die Handlung nur noch vorwärts entwickelt, zugespitzt und vereinfacht bis zu ihrer gewaltsamen Auslöschung. In VIVRE SA VIE und im PETIT SOLDAT machen die Einschnitte zu Anfang klar, dass Nanas Lösung aus ihrer gewohnten Umgebung und Brunos Desertion aus der Armee Godard nicht interessieren, sondern nur die Ausgangsbasis abgeben, den Mechanismus in Gang zu bringen. Auch in LE MEPRIS offenbart sich die Neigung Godards, mit einer Zäsur zu beginnen, die die Figuren zu Marionetten des Schicksals macht, und sich auf die Schilderung der Klimax zu beschränken. Die Anfangs-Zäsur hat jedoch offensichtlich noch eine andere Funktion. Sie soll im Leben des Helden einen Zeitpunkt kennzeichnen, von dem an er sich gleichermassen der Freiheit wie der Wahrheit zu nähern beginnt. Da diese Worte zwar einen guten Klang haben, aber nicht besonders verständlich sind, ist eine Zwischenbemerkung nötig. Die abstrakten Begriffsgleichungen Godards bestehen, wie jede andere Metaphysik, aus allgemeinen Hypothesen, die empirisch nicht verifizierbar sind. Für sich genommen kann man sie beliebig akzeptieren oder ablehnen, je nachdem, welche Vorstellungen man mit ihnen verbindet. Bei Filmen besteht jedoch die Möglichkeit, ihre sichtbaren Entsprechungen zu entdecken, die genauer ausdrücken, was gemeint sein soll. Der kleine Soldat Bruno weigert sich zunächst, den Rundfunkkommentator Palivoda umzubringen, denn er will seine Freiheit wiedergewinnen. Mit dem ersten Satz des Films (die Zäsur) erläutert er, wie er sich das vorstellt: "Für mich ist die Zeit des Handelns vorbei. Ich bin älter geworden _..." Und Michel Poiccard sagt ebenso resigniert: "Ich bin müde, ich möchte sterben", aber im Gegensatz zu Bruno ist er bereits frei, denn, so lautet Godards aufschlussreiche Definition, "er kann tun, was ihm gefällt, in dem Augenblick, der ihm passt." In beiden Fällen wird die Verwirklichung der Freiheit verknüpft mit der Weigerung, sich zu engagieren, zu handeln. Die Freiheit wird, wie auch im Fall von Nana S., kontemplativ vollzogen. Bemerkenswert sind, wie gesagt, die sichtbaren Konsequenzen: gezwungenermassen führt Bruno den Mordauftrag schliesslich aus, Michel tötet, um frei zu bleiben, einen Polizisten, und Nana kommt als Prostituierte um.

Die erste Konsequenz (Bruno) ist politisch: das Disengagement verhindert nicht die Verwicklung in politische Morde; die zweite (Michel) ist psychologisch: die Atomisierung der Freiheit zu lauter freien Momenten führt zum rein impulsiven Verhalten, das folgenschwere Konflikte erzeugen muss. Die dritte Konsequenz (Nana) ist sozial: die Verschiebung der Freiheit auf eine kontemplative Ebene verhindert nicht den konkreten sozialen Abstieg. Bezeichnend ist Godards Antwort. Er nimmt diese Konsequenzen in Kauf, das heisst, er sieht in der metaphysischen Verwirklichung der Freiheit einen hinreichenden Ausgleich für politische Korrumpierung, asoziales Verhalten und sozialen Abstieg. Damit plädiert Godard für die Haltung der "inneren Emigration", die sich von der Wirklichkeit zugunsten privater, freier Meditation entfernt. Im Ciné-Club Universitaire in Paris sagte Godard vor Studenten zum PETIT SOLDAT u. a.: "Ich ergreife nicht Partei. Sollen doch die Militärs engagierte Filme machen _... ich bin für die individuelle Freiheit _... Ich werfe dem Film (COMBAT DANS L' ILE von Alain Cavalier) vor, der Mode Konzessionen zu machen, indem der Geschichte ein aktuelles politisches Problem aufgesetzt wird." Dem politischen Engagement unterstellt Godard minderwertige Motive. Um das Versagen der inneren Emigranten Michel, Bruno und Nana zu rechtfertigen, versucht Godard der abstrakten Seite besonderes Gewicht zu verleihen, indem er die "Schönheit der Seele" und ähnliche unsichtbare Werte hervorhebt. Die Koppelung der inneren Entwicklung der Personen mit dem äusseren schicksalhaften Ablauf dient als Alibi für ihr (und Godards) Einverständnis mit jedem Status quo und die daraus sich ergebende Untätigkeit. Jean Collet, der ein Buch über Godard geschrieben hat (in der Reihe Cinéma d' aujourd'hui), das dem Regisseur "kongenial" ist, drückt es auf seine Weise ganz schlicht aus: "Die Erfahrung der Freiheit zieht die Erfahrung der Notwendigkeit nach sich _... am Ende der Freiheit findet man das Schicksal _... und es ist vielleicht dieses Gefühl der Notwendigkeit, das die wahre Freiheit sein wird, wogegen das Spiel nur dessen Karikatur ist." Mit dem Ausdruck "Spiel" bezeichnet Collet das scheinbar ungezwungene Verhalten vieler Figuren in Godards Filmen, das von manchen als besonders wohltuend empfunden wird. Dieser spielerische Anarchismus hebt sich in der Tat deutlich ab von gängigen Kinomustern. Er ist bei Godard immer originell und immer ein bisschen zu originell, um nicht auch ein Muster zu sein. Indem dieses Verhalten nun eingelassen ist in eine umfassendere Entwicklung, wird es nicht nur relativiert, sondern gewinnt erst von daher seine Funktion. Es soll dem übergeordneten Prozess, auf den die Individuen keinen Einfluss haben, Schönheit abgewinnen und das resignierende Einverständnis des Zuschauers herstellen.

Verleumdung der Intelligenz

Neben den Begriffen Tod, Freiheit und Liebe finden sich im philosophischen Katalog Godards Begriffe wie Wahrheit, Denken und Reflexion. Wenn der PETIT SOLDAT zu Beginn sagt "Für mich ist die Zeit des Handelns vorbei. Ich bin älter geworden", so fügt er noch hinzu: "Die Zeit der Reflexion beginnt." Und Nana in VIVRE SA VIE trifft bald in einem Cafe auf einen Philosophen, mit dessen Hilfe sie ihrerseits die Zeit der Reflexion einleitet. Worüber reflektieren der Philosoph, Nana oder Bruno? Und die andern in Godards Filmen - wie sehen ihre Reflexionen aus?

Üm sprechend zu leben, muss man den Tod hinter sich haben."
"Das Leben gibt den Frauen recht, der Tod aber den Männern."
"Die grössten Werke der Kunst, das sind die glorreichen Tage der Natur."
"Immer wenn man mit jemandem zusammen ist, ist man nicht mit ihm zusammen."
"Ich weiss nicht, ob ich unglücklich bin, weil ich nicht frei bin, oder ob ich nicht frei bin, weil ich unglücklich bin."
"Es ist logisch, dass das Unlogische dem Logischen widerspricht."
"Würde schönes Wetter sein, würde es regnen? Unmöglich, es vorauszusagen."

Diesen Reflexionen fehlt jedes individuelle Profil, daher ist es gleichgültig, von wem sie stammen; sie sind austauschbar, denn sie haben ein gemeinsames Merkmal: sie verknüpfen jeweils eine Sache mit ihrem Gegenteil. Zu jedem dieser Sätze lassen sich daher beliebig viele Pendants erfinden, von der einfachen Frage (Kommt X, kommt X nicht?) über die einfache Behauptung (Die Autos fahren auf der Strasse, dafür gehen die Fussgänger auf dem Trottoir) und den Widerspruch (Immer wenn X spricht, schweigt er) bis zum Resümée (X weiss nicht, ob er a wegen b ist oder b wegen a ist), zur Logelei (Es ist sichtbar, dass das Unsichtbare nicht sichtbar ist) und zum Ratschlag (Um alt zu werden, muss man jung bleiben).

Was Godard als Reflexionen ausgibt, sind Sätzchen, die dutzendweise kursieren, in besseren Fällen als Bonmots (Y's schönster Tag war eine Nacht) und in schlechteren als Kalauer. In die logische Struktur kann man beliebige Begriffe einsetzen, wenn sie sich nur widersprechen. Das ganze ist ein Puzzle-Spiel. In UNE FEMME MARIEE lässt nun Godard "Die Intelligenz" auftreten und sich selbst definieren. Die Intelligenz definiert sich selbst als Fähigkeit zum Leerlauf, denn Intelligenz soll heissen, eine Idee mit ihrem Gegenteil verbinden zu können. Das abstrakte Begriffssystem Godards lässt sich ableiten aus zwei Prämissen, die ihre Herkunft aus der Mystik nicht verleugnen:

Liebe ist Wahrheit
Wahrheit ist Tod (+)

Alle drei Begriffe werden von Godard positiv bewertet. Die Umkehrung dieser Urteile liefert die negativ bewerteten Begriffe:

Leben ist Lüge
Lüge ist Leiden (-)

Die bekannten Formeln und Widersprüche der Philosophie Godards entstehen durch Einsetzen beliebiger Begriffe, je nach dem, ob sie für Godard positiv oder negativ geladen sind, in das entsprechende positive oder negative Schema. Also Schönheit, Freiheit, Film, Notwendigkeit, Denken, Theater usf. So muss, weil "Leben Film ist", also Lüge, zugleich aber "Film Wahrheit ist (24mal in der Sekunde)" unter Umständen "Lüge ein Teil der Wahrheit sein", wie Nana feststellen kann. Dies Puzzlespiel stellt das metaphysische System Godards dar; unter Intelligenz versteht er die Fähigkeit, solche Formeln zu erfinden, und unter Reflexion die Fähigkeit, sie zu variieren. Das Zusammenspiel der Formeln, denen Godard offensichtlich höchsten Realitätswert beimisst (obwohl, wie gesagt, ihre konkrete Bedeutung erst in seinen Filmen zutage tritt), dient ihm nicht nur als privater philosophischer Rahmen, sondern fungiert als die Instanz, von der Godard die Determinierung der Wirklichkeit ableitet, die dadurch paradox und unbegreiflich erscheint.

Der Verwirklichung der absoluten Freiheit entsprach die konkrete Unterwerfung. Diese Ambivalenz kehrt auch im Bereich des Denkens und der Reflexion wieder. Einerseits erlangt das Denken absoluten Charakter, indem es in der beschriebenen Weise den höchsten Zugang zum Selbst- und Weltverständnis darstellt, andererseits aber enthüllt die sichtbare Kehrseite einen bürgerlichen Bildungsbegriff, der sich manifestiert in Vielbelesenheit und Anhäufung von Auswendiggelerntem. Godards Figuren lesen und zitieren alles, was Rang und Namen hat in Literatur und anderen Künsten. Hölderlin-Gedichte oder solche von Dante, Sätze von Corneille, Bernanos, Camus, Eliot, Cocteau, Lenin, Sacha Guitry, Céline und unzähligen anderen. Eddie muss aus Eluard vorlesen, UNE FEMME MARIEE ist unterlegt mit einem beliebten Beethoven-Streichquartett, Molière lebt in der Komödie wieder auf, die Seine erinnert den Kommentator an Corot, und die Augen eines Mädchens sind "velasquezgrau oder renoirgrau?" - nicht einmal, wer damit eine Vorstellung verbindet, kann es entscheiden, der Film ist schwarz-weiss, und Godard hat wieder mal in seinem Notizbuch (in dem, wie Collet mitteilte, auch noch ein Satz von Dostojewskij stehen soll) geblättert. Diese Form des Bildungsbesitzes unterscheidet sich nur insofern von der herkömmlichen (trotz der offenkundigen Tendenz zu den Klassikern), als der Besitz fliessend wird in Richtung auf die totale Verfügbarkeit sämtlicher Kulturzeugnisse. Dieser Zug ist deshalb von Bedeutung, weil Godard jeden limitierten Besitz wie auch jede Spezialisierung völlig ablehnt, worauf noch zurückzukommen sein wird. In diesem Zusammenhang resultiert daraus zunächst die in Godards Filmen erkennbare Diffamierung und Dämonisierung der empirischen Wissenschaften, die sich eben auf konkrete Teilprobleme konzentrieren. Am entschiedensten in ALPHAVILLE, der möglicherweise zur Zukunft im gleichen Verhältnis steht wie Fritz Längs Film DIE FRAU IM MOND zur heutigen Raumfahrt. Und wie manche unserer Vorfahren die erste Lokomotive dämonisierten, weil sie ihr Funktionsprinzip nicht verstanden, so dämonisiert Godard den Computer, über den Franz in BANDE A PART sagt Godard: "Die Kraft und die Originalität von Franz in unserer durch die IBMs der Funktionäre verdorbenen Zeit besteht darin _..." Die Tatsache, dass es IBMs und eine technische Entwicklung gibt, von der nicht zuletzt die Filmkunst profitiert, all das sieht Godard als Verdorbenheit. Wissenschaft und jede Art von Pseudowissenschaft werden von ihm undifferenziert behandelt. Der hilflos erscheinende Arzt in UNE FEMME MARIEE ("Wissenschaft und Vergnügen") ist ein Beispiel dafür; oder Angela, die in UNE FEMME EST UNE FEMME ein Ding ausprobiert, das "mit wissenschaftlicher Genauigkeit die positiven Tage angibt" und das nach irrsinnigem Knirschen schliesslich genau das laufende Datum produziert. All diejenigen, für die zwischen Horoskop und Astronomie, zwischen Medizin und Pseudomedizin noch kein erkennbarer Unterschied besteht, finden bei Godard ihre Meinung bestätigt.

Die Absage an die Wissenschaft ergänzt Godard durch den Hinweis auf Wunder und Geheimnisse (Wunder des Lebens, Wunder der Technik, Wunder der Liebe usf.) Arthur von der BANDE A PART wird von Godard beschrieben als "ein Junge, für den das Mysterium des Lebens nicht unbedingt _..." Auch schrieb Godard, dass es darauf ankomme "die Seele unter dem Geist hervortreten zu lassen", denn es müsse "das Herz über die Intelligenz herrschen". Zu einem ähnlichen Ergebnis kam schon Fritz Lang in METROPOLIS, wo das Herz die Arbeiter der Hand und des Geistes wieder versöhnte. In Godards Kurzfilm CHARLOTTE ET SON JULES heisst es: Älles, was eintritt, geschieht durch ein Wunder. Picasso, weisst du, was er zu Cocteau sagte: dass es ein Wunder ist, dass er in seinem Bad nicht zerfliesst." Sicherlich hat Godard das "Liebesbarometer" in der BANDE A PART nicht nur ironisch gemeint.

Die Verleumdung der Intelligenz und der Wissenschaften markiert Godards Verhältnis zur Welt, der er ein absolutes Denken und ein chaotisches Sammelsurium von Bildungsstücken als Absage an Spezialisierung und jede Art von Sachkenntnis entgegenhält.

Verteidigung der bürgerlichen Liebe

Godard verfügt über eine Reihe feststehender Motive, die das Erscheinungsbild der Zivilisation wiedergeben sollen: Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Autos, Reklamebilder und -texte, Zigaretten, Fotoapparate, Radios, die Stehlampe, Kinos und Bücher. Sie sind allgegenwärtig. In A BOUT DE SOUFFLE wird eine Liebesszene zwischen Patricia und Michel nicht nur durch ein Romeo-Julia-Bild eingefärbt, sondern auch erweitert durch die aus einem Transistorradio dringende Stimme eines Nachrichtensprechers, auf den niemand hört. Doch kommt es Godard nicht darauf an, die Produkte der Zivilisation und ihren Einfluss zu untersuchen, auch nicht darauf, sie hervorzuheben, sondern sie in radikaler Weise abzuheben. Das Zusammenmontieren von Dessousreklamen in UNE FEMME MARIEE zu einer Zeitschrift, die dann nur noch aus Reklamebildern besteht, geht genau um den fehlenden redaktionellen Teil an der Wirklichkeit vorbei. Indessen beschreibt dieses Verfahren ziemlich genau Godards Methode, alltägliche Gegenstände aus ihrem Zusammenhang zu lösen und ihnen ein ungewöhnliches Gewicht zu verleihen; er versucht nicht, wie Linder (Filmkritik 3/66) beobachtet hat, "die Fremdkörper aller Art unauffällig einzubauen", im Gegenteil. Linder macht sich somit die Perspektive Godards ohne weiteres zu eigen, der all diese Produkte tatsächlich als Fremdkörper erscheinen. Dass es sich um nicht-integrierte Bestandteile handelt, ist jedoch eine Hypothese, die erst bewiesen werden muss, ehe sich Godards Methode als kritische rechtfertigen lässt.

Zunächst entsteht aber die Frage, welches Heilmittel Godard empfiehlt, um der seiner Meinung nach durch Fremdkörper deformierten Wirklichkeit zu begegnen. Ein deutlicher und unablässig wiederholter Hinweis in dieser Richtung ist das Mädchen, das sich anmutig vor einem Spiegel kämmt oder darin betrachtet, ferner ihre unschuldigen Augen, ihr natürliches Wesen und ihre rührende Unbefangenheit. Godards Frauengestalten, speziell die von Anna Karina interpretierten, propagieren das Ideal des naiven, unwissenden, unschuldigen, kindlichen und gläubigen Geschöpfs. Es sind Mädchen, die "wie Kinder im Paradies leben" (Jean Collet). Godards Therapie besteht also in der Flucht nach rückwärts. Wenn irgendeine Angela oder Nana oder Veronica einen Werbespruch für bare Münze nimmt, so gerät ihr das nicht zur Kritik an irgendwelchen Reklamemethoden, sondern nur zur Offenbarung ihres Infantilismus. Die schlichte Natürlichkeit - die Antonioni in DESERTO ROSSO als mitunter gefährliche Illusion aufdeckt - Godard proklamiert sie mit Emphase. Dem Hinweis auf die "schöne Natur" dienen sichtlich auch die verstreut auftauchenden Aktbilder in Zeitschriften oder an Wänden usf. Konsequenterweise sind die Frauen in Godards Filmen bar jeder Psychologie, und nur einer Charlotte aus UNE FEMME MARIEE glaubt man, dass sie dem Eindringen von Slogans und manipulierten Images so widerstandslos zum Opfer fällt. Hand in Hand damit geht das von Godard entwickelte Liebesideal, das sich an recht verblichene Vorstellungen anlehnt, an Novalis und die Odyssee, an Montaigne und Romeo-Julia. Die Sprache der Liebe ist für Godard die Poesie geblieben, deren Anhänger er in der peinlichen Schwimmbassinszene in ALPHAVILLE hinrichten lässt, um seine düstere Prognose zu stellen. Nur Eddie Constantine darf als Apostel die Liebe einen echten Bekehrungserfolg einheimsen. Mit dem Happyend kehrt das Paar in die alte Welt zurück.

Die Liebe ist ebenso ein absoluter Begriff in Godards Philosophie wie "das Denken" oder "die Freiheit", und das Bekenntnis zur absoluten Liebe wird nicht nur begleitet von der Rückkehr zu kindlichen Verhaltensweisen, sondern stellt selbst einen Rückgriff auf die bürgerliche Philosophie dar. (Man vergleiche ALPHAVILLE mit E. Spranger, der sagte: "Weil er der Liebe nicht mehr fähig ist, deshalb ist der moderne Mensch verkümmert" oder "Den aus der Seele stammenden Überschuss führen wir auf die Phantasie zurück. Fragmente der Welt, die wir als die offizielle Realität abstempeln, sind noch durchsetzt von spielerischen Träumen". Spranger könnte ein Godard-Apologet sein.) Zwei Filme hat Godard der Ehe gewidmet, der Institution also, die in dem breiten Spektrum sozialer Gruppen und Interstrukturen von ihm als einzige Integrationsmöglichkeit gesehen wird. UNE FEMME EST UNE FEMME beruht auf einer Idee, nach der auch de Broca LES JEUX DE L' AMOUR drehte, und zwar als eine Komödie, die Godards Film immer noch weit in den Schatten stellt. Bei Godard dreht sich alles um Angela, die unbedingt ein Kind haben will, und während de Broca diese platte Idee fast völlig fallen lässt und den tänzerischen Anarchisten Cassel zur Zentralfigur seines Films macht, walzt Godard das Sujet aus, denn es gibt ihm Gelegenheit, seine Vorstellungen von der liebenden Frau, die Mutter werden will, auszubreiten. Die Dialoge sind nicht nur streckenweise unerträglich, sie sind auch signifikant, zum Beispiel -

Angela: Ich weiss nicht, ob ich lachen soll oder _... oder _... weinen.
Emile: Auf jeden Fall finde ich eine Frau, die weint, sehr hässlich.
Angela: Das finde ich nicht _... im Gegenteil _... das sagt auch Agnes _... es ist schön, wenn eine Frau weint _... man sollte alle Frauen boykottieren, die nicht weinen. Ich bin gegen die modernen Frauen, die _... versuchen zu _... nein, so _... so geht es nicht. Ich bin gegen eine Frau, die nicht weint _... die modernen Frauen, die die Männer imitieren wollen _... ich habe genug von Euch allen, mach Dir das klar.
Emile: Euch allen?
Angela: Bin beim Kochen ganz alleine _...
Emile: Euch allen? Was soll das heissen?
Angela: Glaube nicht, dass Du der einzige Mann auf der Welt bist!
Emile: Aber was soll das heissen?
Angela: Ich will ein Kind.

Dass es wahrscheinlich nur wenige verheiratete Zwanzigjährige gibt, deren vordringlichster Wunsch ein Kind ist, ignoriert Godard, um auf die, wie er glaubt, natürliche Rolle der Frau hinzuweisen (Eine Frau ist eine Frau). Es ist schon ein Gemeinplatz, zu sagen, dass Status und Rolle der Frau jeweils sozial-kulturell definiert sind, wobei jede Gesellschaft ihre Definition als die "natürliche" betrachtet. Unter diesem Aspekt verteidigt Godard die spät-bürgerliche Ideologie, die dieselbe Spaltung von Ideal und Wirklichkeit zur Pflicht macht. Die Polemik gegen die moderne Frau wird in UNE FEMME MARIEE wiederaufgenommen. Zu diesem Zweck konstruiert Godard Charlotte als eine Kombination aus Odile (BANDE A PART) und Maschinenfrau (ALPHAVILLE). Sie ist der Typ "Frau ohne Herz" und hat einen Liebhaber; aber sie entscheidet sich ("Entscheide dich" erscheint in Lettern auf der Leinwand) und gibt ihm den Abschied. Aufschlussreich ist, was Macha Meril, die Darstellerin der Charlotte, in einem Interview zu ihrer Rolle sagte: _... Sie ist eine funktionelle Frau, im gleichen Sinn, wie man heute von Architektur sagt, sie sei funktionell. Sie ist nicht das Produkt _... eines grossen Ingenieurs, sondern ganz und gar durch die Umstände bedingt, die selbst einem Zivilisationstyp entsprechen, den er (Godard) verachtet. Sie lügt mit jedem Wort _... und es stiess mich ab, so lügen zu müssen _... ich hatte aber keine andere Wahl, denn Godard zwang mich dazu, weil es seine Idee war _... Ich war nicht, wollte nicht diese Frau sein, die ja das Ergebnis eines Ressentiments von Godard dieser oder jener Frau gegenüber war, denn ich glich ihr nicht _... Ich machte innere Kämpfe durch und war sehr unglücklich während der Proben _... Soviel ist sicher, ich habe die Absicht Godards sehr gut verstanden, aber ich empfand diese Frau _... als Fremde." Was Godard als Heilmittel empfiehlt, hat offensichtlich wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Hinter der absoluten und meist nicht zu realisierenden Liebe, da "der Tod" dazwischentritt, kommt die Institution der Ehe zur Geltung (von Beethoven untermalt oder Molière gewidmet). Ihre Auflösungserscheinen werden fatalistisch gedeutet.

Verdrehung der Realität

Godards Bearbeitung der Wirklichkeit setzt sich zusammen aus zwei Verfahren: ihrer Zerstückelung und der Neuordnung der Trümmerteile zu einer eigenen Komposition nach einem extrem subjektiven Prinzip. Das filmische Ergebnis weist infolgedessen eine Struktur auf, die der Realität fremd ist. Zum einen ist Godard zu dieser Methode gezwungen, weil er suggerieren will, die Dinge orientierten sich nach einem unbegreiflichen Gesetz, wobei schon die Tatsache, dass Godard dieses Muster selbst entwerfen muss und es nicht aus der Realität übernehmen kann, die Unwahrscheinlichkeit seiner Behauptung zeigt; zum anderen ist darin eine bewusste Fortführung des Gedankens zu sehen, dass die Darstellung sehr viel, Inhalte dagegen sehr wenig bedeuten. Godard spitzt diese Frage auf die Feststellung zu, wie Linder (a. a. O.) schrieb, "dass der Film, gleich in welcher Gattung, niemals eine eindeutige Wahrheit des Inhalts hervorbringt, sondern nur eine der richtigen Darstellung." Godards Figuren jedenfalls geben oft zu verstehen, dass sie nach der Wahrheit suchen, und Godard begreift in dieser Weise auch seine Filme, nämlich als Suche nach der totalen Wahrheit, deren Totalität indessen nicht darin besteht, dass sie formulierbar ist - dann wäre sie festlegbar und für Godard dogmatisch - sondern darin, dass sie zu einem mystischen Universalismus Zugang verschafft. Es lässt sich nicht bestreiten, dass für ein solches Vorhaben ein realistischer Stil tatsächlich ungeeignet ist, denn dieser könnte nur konkrete Teilaspekte erschliessen, die Ergänzungen, namentlich durch den Zuschauer, erforderlich werden liessen. Um wenigstens dem Anschein nach zur absoluten Wahrheit zu gelangen, muss Godard seine Filme gründlich formalisieren, d. h. er verwendet Gegenstände wie bewegliche Partikel in einem visuellen Feld und gibt zu verstehen, dass er damit zu einer eindeutigen Wahrheit, die nur eine der Darstellung sein kann, gelangt sei. Sicherlich gibt es keinen Inhalt im Film ohne seine Darstellung. Weit interessanter aber ist es, dass Godard zwar seine Gegenstände nicht unabhängig von ihrer Darstellung, wohl aber unabhängig von ihrer Herstellung zeigt. Die Methode, Gegenstände aus ihrem jeweiligen Produktionszusammenhang zu lösen, nur die Produkte zu erfassen, nicht aber die Bedingungen, unter denen sie entstehen, und die daraus resultierende Neigung, lediglich ihren Reizwert zu aktualisieren, weist auf die phänomenologische Betrachtungsweise Godards hin. In dieser Sicht muss der Zusammenhang der Realität als ein Chaos von Fremdkörpern erscheinen. Godards Aufforderung zu einer "neuen" Sehweise, die alle Gegenstände im Licht einer phänomenalen Naivität betrachtet, ist ein Appell zum ständigen, passiven Staunen und, da nach der völligen Formalisierung an jedem Ereignis nur noch dessen spontane Reizstruktur zur Kenntnis genommen wird, ein Appell zur Gleichgültigkeit gegenüber allen konkreten Implikationen der Realität. Von diesem Verhaltensschema samt seinen Konsequenzen legen Godards Figuren ein beredtes Zeugnis ab. Aber auch der Zuschauer soll an die neue Sehweise gewöhnt werden, denn sie liegt Godards besonderer Dreh- und Montagetechnik zugrunde, die letzlich nicht Formen über Inhalte stellt, sondern Inhalte beseitigt. Eine Szene aus LE PETIT SOLDAT kann als Beispiel dienen:

Zur Zeit des Algerienkrieges gerät Bruno, der nach seiner Desertion in Genf gegen die algerischen Aufständischen arbeitet, in die Hände der FLN-Rebellen. Er wird in ein Appartementhaus gebracht und in einem Badezimmer mit Handschellen angekettet. Einige Male fährt ihm einer der FLN-Leute mit einem Streichholz unter der Hand her und achtet darauf, dass keine Verbrennungen entstehen. Dann bindet man Bruno ein nasses Tuch um den Kopf. Als er unvermutet entkommen kann, findet sich nicht die geringste Spur einer Verletzung, geschweige denn einer Folterung. Zwischen diese Einstellungen schneidet Godard noch mehrmals ein und denselben Schwenk einer Aussenwand des Hauses. Wer also wissen wollte, ob und in welchem Masse die FLN-Leute in Genf ihre Gefangenen gefoltert haben, der durfte beruhigt nach Hause gehen. Godards Verzerrung der Realität ist die Folge seiner Bemühung, eine athletische Umschreibung des Begriffs Folter zu geben. Und um nun voll erfassen zu können, was Linder (a. a. O.) zu diesem Punkt zu sagen wusste, muss man sich vor Augen halten, dass z. B. die Proteste gegen den Algerienkrieg nicht zuletzt aufgrund realistischer Filme und Pressefotos vom Kriegsschauplatz zustandekamen. Linder jedoch glaubte feststellen zu dürfen, dass "eine ungebrochen quasi-dokumentarische Darstellung der Folter, gleich der Art und Weise, in der man etwa die Kamera vor einen Apfel stellt und das Bild des Apfels erhält, die Folter verniedlichen" würde. Womöglich wäre eine realistische Darstellung für Linder "die Fortsetzung (der Folter) mit anderen Mitteln", womit sich ganz neue Perspektiven ergeben, Filme wie LAS HURDES von Buñuel oder NUIT ET BROUILLARD von Resnais zu beurteilen.

Wenn Godard isolierte Oberflächenstücke der Welt in seinen Filmen einfängt, so geschieht dies entsprechend spontan und improvisiert. Nicht improvisiert dagegen sind die Auftritte der Personen. Im Endergebnis sind die Einzelszenen sogar oft theatermässig gegeneinander komponiert: VIVRE SA VIE besteht aus 12 Kapiteln; zu LE MEPRIS notierte Godard ins Scenario: "Der Film ist geteilt in 15 Sequenzen, die untereinander mehr oder weniger verbunden sind, von denen aber jede in jeder Bearbeitung eine sehr starke unabhängige Existenz entwickelt." UNE FEMME MARIEE ist harmonisch aus 9 Teilen komponiert, und zu UNE FEMME EST UNE FEMME erklärte Godard: _... wie in der Commedia dell' arte paradieren Harlekin und Colombine, genau festgelegte Gesten nachvollziehend." Godard versteht es zu inszenieren, doch verlieren diese Inszenierungen nie ihren künstlichen Charakter als theatralische Auftritte. Ob Franz und Arthur (BANDE A PART) den Tod von Billy the Kid aufführen oder eine Einlage als Stier und Matador geben oder einen Madison tanzen, ob Jack Palance (LE MEPRIS) als Diskuswerfer im Vorführstudio auftritt oder Paul und Camille als Olympier durch ihre Wohnung wandeln, ob Nana (VIVRE SA VIE) um einen Billardtisch tanzt oder Veronica (LE PETIT SOLDAT) voller Hingabe auf einem Sofa, ob Charlotte (UNE FEMME MARIEE) zu einer Kicherplatte durch die Zimmer läuft oder Emile (UNE FEMME EST UNE FEMME) mit dem Fahrrad über die Bühne fährt - mit all dem weist Godard sich als ein begabter "metteur en scène" aus. Denn während der Realist etwas zeigen will, was schon da ist, will der "metteur en scène" etwas aufführen, was noch nie da war.

Diese Form des Kino-Theaters hat seine gute Tradition, auch in den "big one-million-dollar"-Filmen, und es lässt sich nicht bestreiten, dass Godard es oft billiger und besser macht. Immerhin unterstreicht er selbst, dass er dazu Menschen braucht, "deren Beruf es ist, Schauspieler zu sein". Godards Absichten reichen jedoch über die Unterhaltung hinaus. Seine Filme wollen als realistische verstanden werden, obwohl sie offensichtlich aus der Realität gefilterte Spektakel sind; freilich könnte Godard ohne diesen Anspruch seine Philosophie nicht aufrechterhalten. Wenn aber seine eigenen Filme Wirklichkeit behaupten sollen, muss er Dokumentarfilme wie z. B. die von Leacock als unrealistisch einstufen, denn Godard und Leacock lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. In dem Kurzfilm LE GRAND ESCROC filmt eine Amerikanerin mit Namen Patricia Leacock den grossen Gauner, weil sie die Wahrheit filmen will. Der grosse Gauner fälscht Banknoten, wie er behauptet, um sie an Bettler zu verschenken. Patricia Leacock fragt und filmt. Am Ende stellt sich heraus, dass alles nicht stimmt; der grosse Gauner hat nur so getan, als wäre er einer, so dass das Filminterview nicht "die Wahrheit", sondern "die Lüge" ist. Dazu erklärt Godards Stimme im off: "Die ganze Welt ist ein Theater, und alle Männer und Frauen sind einfach Schauspieler mit ihrem Auftritt und ihrem Abgang. Und in seinem Leben spielt ein Mensch viele Rollen." Wenn die ganze Welt ein Theater ist, dann, so geht die Schlussfolgerung, sind auch theatralische Spektakel realistisch. In diesem kleinen Film kristallisiert sich Godards Verdrehung der Realität als Kern seiner Philosophie heraus. Die Realität, so behauptet Godard, erscheint auf der einen Seite als Transzendenz, auf der andern dagegen als spielerisches und ständig neu kostümiertes Theater. Infolge dieser Spaltung finden sich auf der Seite der Transzendenz ein: das Schicksal, das absolute Denken, die reine Liebe und die universale Wahrheit. Auf der sichtbaren Seite, dem Theaterboden mit wechselnden Schauspielern, plazieren sich, und zwar von Godard immer in totaler Weise verstanden: Disengagement, Individualismus, bürgerliche Liebe und Kulturzeugnisse. Infolge dieses dualistischen und, da der Schwerpunkt auf der Transzendenz liegt, mystischen Weltbildes hält Godard Filme, die die Realität verdrehen, für realistisch.

Mystifizierung des Kinos

Godard erklärte gelegentlich: "Wozu nehmen, haben, wissen. Man muss leben, sehen, sein." Entgegen der Tatsache, dass in fast allen Berufen inzwischen mehr konkretes Wissen verlangt wird als jemals zuvor, plädiert Godard dafür, nichts zu wissen und stattdessen zu "sein", was immer das heissen mag. Er spricht seine Aversion gegen sachliche Festlegungen und begrenztes Wissen offen aus. Sein Ersatz besteht aus dem Leerlauf von Paradoxien und dem wahllosen Zitieren von "Bildungsgut". Auf diesen Punkt war zurückzukommen. Das mystische Streben nach Absolutheit und universaler Gültigkeit lässt ihn nicht nur jeden relativen Besitz ablehnen, auch jede Erkenntnismöglichkeit wird bestritten. Godards Sprachgebrauch lässt nicht einmal die Erkenntnis zu, dass die Erde rund ist, sondern beharrt darauf, man könne nur sagen, die Erde ist die Erde, und was rund ist, ist rund. In LE MEPRIS möchte Paul Javal von seiner Frau wissen, warum sie ihn nicht mehr liebt - eine einfache Frage, die sich beantworten lässt, denn Camille sagt nicht, sie wüsste es nicht, sondern weigert sich, eine Erklärung zu geben. Es handelt sich also um eine konkrete Frage, nicht um eine unendliche wie etwa die'von A, ob B ihn immer lieben wird. Aber all diejenigen in Godards Filmen, die konkrete Fragen stellen, werden düpiert, denn für Godard, der die Erklärbarkeit der Welt verneint, sind solche Fragen ein Horror. Darauf aufbauend bestreitet Godard die Möglichkeit einer Veränderung. Der geflügelte Ausdruck "Denunzianten denunzieren, Einbrecher brechen ein _..." aus A BOUT DE SOUFFLE stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Während man vernünftigerweise sagen kann, wer einbricht, ist ein Einbrecher, lässt Godard sagen, wer ein Einbrecher ist, bricht ein. Im ersten Fall ist die Möglichkeit einer Veränderung gegeben, denn ein Dieb, der nicht mehr stiehlt, ist keiner mehr; im anderen Fall aber muss er stehlen, denn er ist zum Dieb gestempelt, die Bestimmung ist schicksalhaft, der Ausdruck offenbart Godards Fatalismus.

Die Neigung zur Totalität setzt sich fort in Godards Verhältnis zum Film. Es ist nicht erstaunlich, dass er einen Film machen möchte, der mehrere Tage dauert. Godards Filmkritiken zeigen, dass sie absolut esoterisch sind; sie messen einen Film nicht an der Wirklichkeit, sondern an anderen Filmen. Beide Tatsachen illustrieren, dass Godards Kino die Wirklichkeit quantitativ wie qualitativ ersetzen soll; und wenn Godards Filme für Zuschauer gemacht sind, so in erster Linie für den Zuschauer Godard. Die Frage nach dem Zugang zur Wirklichkeit findet somit auch im Falle dieses Regisseurs ihre - im übrigen lang überlieferte - Antwort: während der Realist die Wirklichkeit primär als diese selbst erfährt und erst sekundär durch ein reproduzierendes Medium (Film, Literatur usf.), sieht Godard die Wirklichkeit primär durch ihre vielfältigen filmischen Reproduktionen und erst sekundär - wenn überhaupt - als unmittelbare Realität. Er gleicht dem Schriftsteller, der zuhause aus hundert Büchern einen Roman über Spanien schreibt und behauptet, allein die Kunst der Darstellung treffe die ganze Wahrheit. Je reizvoller diese totale Wahrheit ist, um so weniger glaubwürdig pflegt sie zu sein, und wenn Godard den filmisch vermittelten Zugang zur Realität überdies noch zum einzig wahrhaftigen erklärt und damit das Kino mystifiziert, so bedarf das Resultat einer solchen Formhysterie erst recht der Untersuchung.

Die Verdrehung der Realität mit den beschriebenen Folgen propagiert Passivität und Resignation und, ergänzend dazu, die psychische Flucht aus der Wirklichkeit. Diese Flucht erscheint zugleich als eine in den Tod wie ins Kino, mit anderen Worten, als Flucht in den hundertfachen Kinotod. Denn die Kehrseite der Mystifizierung des Todes ist die Mystifizierung des Kinos, das zum Surrogat der Realität wird. Innerhalb der Filme schlägt sich Godards Verlangen nach Totalität nieder als Neigung, keine Genre einen Film lang einzuhalten, sondern alle möglichen zu mischen zu einer gigantischen Oper von Komödie, Tragödie, Western, Musical, Dokumentar-, Problem-, Gangster- und Fictionfilm.

Godards Kino-Tod-Esoterik fand Resonanz. Noch schlichte Sätze wie "Das Leben ist das Leben" wurden wie magische Zauberformeln repetiert, und keine Figur aus seinen Filmen wurde so sehr zum Idol wie Godard selber. Er, ein reaktionärer Ideologe und verführerischer Mystiker, fand mehr Weihen als Kritik, und seine Filme erwiesen sich als hervorragend geeignet, die Probleme und Unsicherheiten mancher seiner Bewunderer zu absorbieren. Allerdings nur für zwei Stunden.       Hans Wolfgang Hank

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Kontinuität im deutschen Film

Als 1945 das Dritte Reich unterging, ging mit ihm auch jener Greuel zu Ende, der zwölf Jahre lang "Deutsche Kunst" genannt worden war, und die Hoffnung war berechtigt, dass neben den "Deutschen Kunstschaffenden" wie Blunck, Breker, Mjölnir, Thorak und Ziegler auch jene "Deutschen Filmschaffenden" wie Froelich, Harlan, Liebeneiner, Lützkendorf, Rabenalt, Ritter, Ucicky und Weidenmann für immer in der Versenkung verschwinden würden. Doch die Hoffnung trog.

Während in den anderen Künsten versucht wurde, die Barbarei der NS-Kunst zu eliminieren und neu zu beginnen, trat der Film ungeniert das Erbe jener dunklen Zeit an. In Westdeutschland gab es lediglich in den ersten Jahren nach 1945 einige wenige gutgemeinte Versuche, "die Vergangenheit zu bewältigen", die Gegenwart zu bewältigen ist nie versucht worden. Der Neorealismus, jene Kunstströmung, mit der der italienische Film die faschistische Erbschaft der "weissen Telefone" ausschlug, jener geistige und künstlerische Befreiungsakt hat in Deutschland zu keiner Zeit eine Chance gehabt.

Gerade das italienische Beispiel macht deutlich, welche Möglichkeiten nach 1945 auch für den deutschen Film bestanden. Man mag gegen die neorealistische Theorie Einwände erheben, doch können zwei Dinge nicht geleugnet werden: dass der Neorealismus zu einer fruchtbaren geistigen Diskussion über die künstlerischen Möglichkeiten des Mediums Film geführt hat und dass seine Initiatoren mit dem ernsthaften Willen zu einer künstlerischen Wahrheit zu Werke gingen.

Von all dem war im westdeutschen Film nach dem Kriege nichts zu spüren. Die Selbstbesinnung, eine geistige Befreiung fand nicht statt. Warum? Es mögen verschiedene Ursachen dafür verantwortlich sein. Schliesslich entstand der Neorealismus in Italien auch nicht mit dem Ende des Faschismus von einem auf den anderen Tag. In der Theorie war er bereits lange vorher - während des Faschismus - diskutiert und erarbeitet worden. Etwas Vergleichbares hat es während des Dritten Reiches in Deutschland nicht gegeben; sei es, weil die deutschen "Filmschaffenden", die, wenn man ihren heutigen Bekundungen und denen ihrer Populärbiografen Glauben schenken will, zu 98% gegen den Nationalsozialismus eingestellt waren, doch nicht so überzeugt und mutig waren wie die italienischen, antifaschistisch orientierten Künstler; sei es, weil das faschistische Regime in Deutschland rigoroser war und die persönliche Freiheit mehr einengte als das in Italien.

Dem westdeutschen Nachkriegsfilm fehlte es an neuen Ideen und an neuen Leuten, die fähig und bereit waren, diese Ideen zu realisieren. Regisseure und Drehbuchautoren des Nachkriegsfilms waren zum überwiegenden Teil bereits im Dritten Reich in diesen Disziplinen tätig; sie hatten ihre geistige Erziehung und künstlerische Ausbildung in jener faschistischen Zeit erhalten. Dies Handikap war so drückend, dass selbst die gutwilligsten unter ihnen - wie Helmut Käutner - es nicht zu überwinden vermochten. DES TEUFELS GENERAL zeugt so wenig von einem geistigen Durchdringen des faschistischen Problems wie DER SCHWARZE KIES das künstlerisch gültige Portrait einer bundesrepublikanischen Wirklichkeit liefert. Umso bewunderungswerter ein Mann wie Wolfgang Staudte, dem es mit ROTATION und DER UNTERTAN gelang, sich von der Vergangenheit zu lösen. Doch ist Staudte die Ausnahme, und beide Filme wurden bezeichnenderweise von der Defa produziert.

Für die übrigen Regisseure und Drehbuchautoren hat das Jahr 1945 nicht existiert. Sie drehten nach dem Kriege ihre Filme so, wie sie es während des Dritten Reichs gewohnt waren. Die personale Verflechtung zwischen den Schöpfern des NS-Films und des westdeutschen Nachkriegsfilms ist so stark, dass man ohne Übertreibung von einer kontinuierlichen Fortführung des Films im Dritten Reich in Westdeutschland sprechen kann. Gewiss hat man auf einige zeitbedingte Nuancen verzichten müssen, so auf antisemitische Tendenzen und auf Angriffe gegen die nunmehr verbündeten Westmächte. Doch sonst ist alles erhalten geblieben: die Heimatfilme, die Melodramen, der Antikommunismus, die Verehrung autoritärer Persönlichkeiten und Systeme, die Liebe zur deutschen Wehrmacht, die Betonung des deutschen Gemüts und der billige Verwechslungs- und Bauernschwank; selbst den Arztfilm gab es bereits im Dritten Reich.

Noch deutlicher ist die Kontinuität im Stil der Filme ersichtlich. Filme wie AVE MARIA (1953) von Alfred Braun oder DER STERN VON AFRIKA (1956) von Alfred Weidenmann könnten ebensogut 1943 gedreht sein. Man kann hier von einem "Spätufastil" sprechen. Würde man diese Situation auf den Bereich der bildenden Künste übertragen, so würde das bedeuten, dass Professor Ziegler seine langweiligen Nuditäten oder Professor Thorak seine überdimensionalen Heldenköpfe weiterhin in deutschen Kunstausstellungen zur Schau stellen dürfte.

Kein Wunder, dass sich die Reprisen aus der NS-Zeit so nahtlos in die Filmprogramme der Nachkriegszeit einreihen liessen. Das filmische Bewusstsein hatte sich nicht geändert. Die wohlvertrauten Klischees blieben erhalten. Nur auf einem Gebiet vollzog sich äusserlich eine Wandlung: in der Darstellung des Sexuellen, das im Dritten Reich streng tabuiert war, wurde man freizügiger, wenn auch nicht aufrichtiger.

Der Eindruck der Kontinuität wird noch dadurch verstärkt, dass etwa 90% der Filme der NS-Zeit Unterhaltungsfilme waren, deren Inhalt nicht aktuell politisch war. Besonders seit Ende 1942, seit sich das Kriegsgeschehen gegen Deutschland wandte, nahm der Anteil der Unterhaltungsfilme an der Gesamtproduktion noch zu. Man wollte der vom Krieg bedrängten Bevölkerung die Flucht in eine Filmtraumwelt lassen. Der Unterhaltungsfilm wurde offiziell als "wehrpolitisch wertvoll" bezeichnet, woraus ersichtlich wird, dass auch der Film mit unpolitischem Inhalt durchaus ein politischer Film war.

Doch auch die Regisseure und Autoren nationalsozialistischer Tendenzfilme kehrten nach und nach alle zum Nachkriegsfilm zurück. Das führte mitunter zu makabren Resultaten: 1941 liess der Regisseur Günther Rittau zu Grossdeutschlands Ehren U-BOOTE WESTWÄRTS rauschen; 1960 liess ihn die Bundeswehr SPIONAGE drehen, in dem Ägenten, die im Dienste östlicher Auftraggeber stehen, geschickt, aber auch rücksichtslos vor allem die Arglosigkeit einiger Bundeswehrangehöriger ausnutzen und sie zum teils unbewussten Verrat militärischer Geheimnisse veranlassen", wie es so plastisch heisst. Richard Häussler drehte die nationalsozialistischen Propagandafilme BLUTENDES DEUTSCHLAND und DEUTSCHES LAND IN AFRIKA und 1951 den Dokumentarfilm KREUZWEG DER FREIHEIT über das "Schicksal der deutschen Ostgebiete", den selbst der katholische Film-Dienst als äufdringlich tendenziös" ablehnte. 1940 schrieb Gerhard T. Buchholz das Drehbuch zu dem antisemitischen und antienglischen Film DIE ROTHSCHILDS, 1952 inszenierte er den anti-DDR-Film POSTLAGERND TURTELTAUBE. Den mit dem Bundesfilmpreis 1957 ausgezeichneten Film STRESEMANN hatte Alfred Braun gedreht, der seinerzeit u. a. Regieassistent bei JUD SÜSS und zusammen mit Veit Harlan Drehbuchautor von KOLBERG war. Auch sonst fehlte es nicht an bundesrepublikanischen Ehrungen: 1964 zeichnete der damalige Bundesinnenminister Hermann Höcherl Paul Hartmann für "langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film" aus; Hartmanns hervorragendes Wirken bestand u. a. auch in Sätzen wie: "Solange man einen Staat baut, gibt es nur das Werk. Steht er einmal fest und gesichert da, dann darf es Menschlichkeit geben, eher nicht!" Werner Krauss, der mit der Darstellung mehrerer Juden in JUD SÜSS eine der widerlichsten Taten im NS-Film vollbrachte, erhielt 1956 gar das Grosse Bundesverdienstkreuz. Diese Liste trauriger Kuriositäten liesse sich beliebig verlängern.

Eine Änderung trat im westdeutschen Film erst um das Jahr 1960 ein. Es erfolgte die Öffnung nach dem Westen. War bis dahin der westdeutsche Film ein Epigone des Films im Dritten Reich, so wurde er nun ein Epigone des westlichen Films - des amerikanischen, englischen und französischen. Der heimische Strickstrumpf wurde beiseite gelegt und der Anschluss an den internationalen Markt gesucht. Die neue Idee, die man hatte, bestand darin, sich an erprobte ausländische Erfolge anzuhängen. Vor Jahrzehnten wurde England von einer Welle von Edgar-Wallace-Filmen überschwemmt, und dank Goldmanns roten Taschenkrimis haben die Wallace-Romane in Deutschland ein beträchtliches Publikum. Also bereitete man aus diesen Geschichten von vorgestern jene Sex-and-crime-Serie auf, die die Besucher wieder in deutsche Filme lockte. Und aus dem Western, der beständigsten und erfolgreichsten aller Filmgattungen, mischte man mit dem erzgebirgischen Melodramentum eines Karl May in der kargen Landschaft Jugoslawiens das Gebräu, das endlich wieder die Millionen in die deutsche Kinokasse fliessen liess. Der deutsche Film, jahrelang als toter Hund angesehen, schien gerettet. Doch blieb er in Wahrheit so anachronistisch wie eh und je. Denn er lebte aus zweiter und dritter Hand.

In den beiden folgenden Tabellen ist der Anteil der Spielfilme, bei denen Regisseure und Drehbuchautoren beteiligt waren, die bereits im Dritten Reich in diesen Sparten tätig waren, für die Jahre 1946 bis 1960 aufgeschlüsselt. Die zweite Tabelle mit den entsprechenden Zahlen für die Defa soll dabei als Vergleichsmaterial dienen.

Im einzelnen sind die Zahl der Spielfilme und ihr prozentualer Anteil an der Jahresspielfilmproduktion aufgeführt, und zwar der Spielfilme, bei denen

Spalte I: der Regisseur oder mindestens einer der Drehbuchautoren,
Spalte II: der Regisseur,
Spalte III: a) mindestens ein Drehbuchautor,
            b) alle beteiligten Drehbuchautoren bereits im 3. Reich in diesen Disziplinen gearbeitet haben.

In Spalte IV ist der verbleibende freie Rest aufgeführt. Allerdings ist beider Tabelle über den westdeutschen Film zu berücksichtigen, dass die Bezeichnung "freier Rest" insofern missverständlich ist, als sich diese Zahlen nur auf Regie und Drehbuch beziehen und den sehr erheblichen Einfluss der Produzenten und Verleiher ausser acht lassen, die zum grossen Teil ebenfalls in der nationalsozialistischen Zeit im Filmgeschäft tätig waren.       Hans-Peter Kochenrath

Die Filmproduktion in Westdeutschland und die der DEFA

Nachtrag aus Heft 51:

Liste der Drehbuchautoren und Regisseure, die sowohl im nationalsozialistischen Spielfilm als auch im Nachkriegsfilm tätig waren.
(«A» = Autor, R = Regisseur)

Albin, Hans «A+R» Alten, Jürgen von «A+R» Andam, F. D. «A» Andreas, Fred «A»
Anton, Karl «A+R» Baky, Josef von «R» Barlog, Boleslav «R» Bastian-Klinger, Vineta «A»
Beckmann, Hans Fritz «A» Below, Stefanie von «A» Bertram, Hans «A+R» Beste, Konrad «A»
Beyer, Hans-Joachim «A» Bloy, Ursula «A» Boese, Carl «A+R» Bolvary, Geza von «R»
Bortfeldt, Kurt «A» Bratt, Harald «A» Brauer, Peter Paul «R» Braun, Alfred «R»
Braun, Curt J. «A» Braun, Harald «A+R» Buch, Fritz Peter «A+R» Buchholz, Gerhard T. «A+R»
Budjuhn, Horst «A» Burri, Emil «A» Camerini, Mario «A+R» Clever, Willy «A»
Collande, Volker von «A+R» Cortan, F. B. «A» Cziffra, Geza von «A+R» Dalman, Josef «A»
Deppe, Hans «A+R» Diller, Charlotte «A» Dörfler, Ferdinand «A+R» Dortenwald, R. «A»
Ebermeyer, Erich «A» Eckardt, Felix von «A» Eggebrecht, Axel «A» Eichberg, Richard «R»
Elling, Alwin «A+R» Emo, E. W. «A+R» Engel, Erich «A+R» Engels, Erich «A+R»
Eplinius, Werner «A» Erfurth, Ulrich «A+R» Fechner, Ellen «A» Feltz, Kurt «A»
Fentsch, Erna «A» Fichelscher, Walter F. «A» Fischer, Hanns H. «A» Fitz, Hans «A»
Forst, Willi «A+R» Forster, Walter «A» Francke, Peter «A» Fräser, Georg «A»
Fredersdorf, Herbert B. «R» Fröhlich, Gustav «A+R» Froelich, Carl «R» Frowein, Eberhard «A+R»
Füringk, Marlies «A» Gallone, Carmine «R» Geis, Jacob «A» Gillmann, Karl Peter «A+R»
Goetz, Curt «A+R» Gribitz, Hans «A» Hainisch, Leopold «R» Hallig, Christian «A+R»
Hansen, Rolf «A+R» Harbou, Thea von «A» Harlan, Veit «A+R» Hartl, Karl «A+R»
Hasselbach, Ernst «A» Häussler, Johannes «A+R» Helwig, Paul «A» Heuser, Kurt «A»
Hilpert, Heinz «R» Hinrich, Hans «A+R» Hömberg, Hans «A» Hoffmann, Kurt «R»
Hollander, Walther von «A» Holman, Josef A. «A+R» Hübler-Kahla, J. A. «A+R» Hurdalek, Georg «A+R»
Huth, Jochen «A» Jacoby, Georg «A+R» Jacques, Norbert «A» Janssen, Walter «R»
Kästner, Erich «A» Käutner, Helmut «A+R» Kahn, Edgar «A» Kampendonk, Gustav «A»
Kay, Juliane «A» Keienburg, Ernst «A» Keindorff, Eberhard «A» Kernmayr, H. G. «A»
Kirchhoff, Fritz «A+R» Klaren, Georg C. «A» Klein, Charles «A» Klingler, Werner «R»
Köllner, H. F. «A» Kollo, Willi «A» Kreker, Erwin «A+R» Kritz. Hugo M. «A»
Kröhnke, E. «A» Krohmann, Odo «A» Külb, Karl Georg «A+R» Kuhlmey, Jochen «A»
Kuhnert, A. Arthur «A» Kutter, Anton «A+R» Lacmüller, H. «A» Laforgue, Leo de «A+R»
Lamac, Carl «R» Lamprecht, Gerhardt «R» Liebeneiner, Wolfgang «A+R» Lieck, Walter «A»
Lingen, Theo «A+R» Linnekogel, Otto «R» Lippl, A. J. «A» Lix, Alexander «A»
Lüthge, Bobby E. «A» Lützkendorf, Felix «A» Marischka, Ernst «A» Marischka, Hubert «A+R»
Marschall, Hanns «A» Martin, Paul «A+R» May, Paul (= Ostermayr, Paul) «A+R» Menzel, Gerhard (Pseud.: Ammeis) «A»
Meyer, Johannes «R» Meyer, Rolf «A+R» Müller, Hans «R» Müller L.A.C. (= Lacmüller) «A»
Nebhut, Ernst «A» Neumann, Günter «A» Neumeister, Wolf «A» Norman, Roger von «A+R»
Oberländer, Heinrich «A» Osten-Sacken, Maria v. d. «A» Pabst, G. W. «R» Pauck, Heinz «A»
Paul, Heinz «A+R» Perkonig, Josef Friedrich «A» Petersson, H. G. «A» Pewas, Peter «R»
Pfeiffer, Hermann «R» Piel, Harry «R» Pinelli, Aldo von «A» Rabenalt, Arthur Maria «R»
Rausch Theo «A» Reinecker, Herbert «A» Reissmann, Rolf «A» Riedel, Richard «A»
Rittau, Günther «A+R» Ritter, Karl «R» Röbbeling, Harald «A+R» Rösler, Jo Hans «A»
Rühmann, Heinz «R» Salomon, Ernst von «A» Scheu, Just «A» Schmid-Wily, Ludwig «A»
Schreyvogel, Friedrich «A» Schweikart, Hans «A+R» Schwenzen, Per «A» Seitz, Franz «A+R»
Sibelius, Johanna «A» Staudte, Wolfgang «A+R» Stecket, Leonhard «R» Stemmle, Robert A. «A+R»
Stöckel, Joe «A+R» Stöger, Alfred «R» Stroux, Karl Heinz «A+R» Tanzler, Franz «A»
Tjadens, Herbert «A» Tourjanski, Viktor «A+R» Trenck, Peter (Kampendonk, Gustav)«A» Trenker, Luis «A+R»
Ucicky, Gustav von «A+R» Ulbrich, Walter «A» Utermann, Utz «A» Vaszary, Johann «A»
Verhoeven, Paul «A+R» Walter, Kurt E. «A+R» Waschneck, Erich «R» Weidenmann, Alfred «A+R»
Weiss, Helmut «A+R» Witt, Herbert «A» York, Eugen «R» Yost, Tibor «A»
Zibaso, Werner P. «A»
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Filmkritiken

Der junge Törless
(Nachtrag s. Heft 51 )

Deutscher Film (1966) nach dem Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" von Robert Musil; Drehbuch und Regie: Volker Schloendorff, Buchbearbeitung: Herbert Asmodi; Kamera: Franz Rath; Musik: Hans Werner Henze; Darsteller: Mathieu Carrière, Marion Seidowsky, Bernd Tischer, Alfred Dietz; Verleih: NORA.

Der junge deutsche Film beginnt furios. Ich kenne nach Wolfgang Staudtes Üntertan" keinen zweiten deutschen Film der Nachkriegszeit, der eine literarische Vorlage so kongenial ins Bild umgesetzt hat wie Volker Schloendorffs "Der junge Törless" den Roman von Robert Musil.
Volker Schloendorff, 1939 in Wiesbaden geboren, kommt nicht, via Öberhausen", vom Kurzfilm. Er hat seine letzten Gymnasialjahre, sein Studium und seine Film-Lehrzeit in Frankreich absolviert. Bei "Letztes Jahr in Marienbad" war er Assistent von Alain Resnais. Louis Malle diente er, zuletzt in "Viva Maria", in der gleichen Funktion. Der "Maghrebinier" Gregor von Rezzori nennt ihn in seiner Tagebuch-Klatsch-Reportage von den Dreharbeiten zu diesem Film ("Die Toten auf ihre Plätze") den "Treuesten der Treuen" und rühmt seine Besessenheit bei der künstlerischen Arbeit. Zerwürfnisse mit Louis Malle, die Rezzori andeutet, scheinen, wenn sie überhaupt in diesem Ausmass bestanden haben, inzwischen bereinigt zu sein. Jedenfalls ist Louis Malle Co-Produzent seines Films. Das hat, wie man mutmassen darf, bei der Einladung nach Cannes sich nicht gerade unvorteilhaft ausgewirkt, wo es einem deutschen Kulturdiplomaten vorbehalten blieb, sich bei der Vorführung zu blamieren, während alle Welt endlich einen Silberstreifen am deutschen Filmhorizont entdeckt zu haben glaubte. Aber ein solcher Vorfall bringt einen Film ins Gespräch. Schloendorff wird im Ernst nicht behaupten können, das Glück sei ihm bisher nicht hold gewesen. Er gewann den Wettlauf um die Rechte an dem Musilschen Roman gegen die Konkurrenz des Italieners Luchino Visconti, und er erhielt für sein Drehbuch eine Förderungsprämie des Bundes. Noch vor der Uraufführung kam schliesslich auch schon der erste - und sicher nicht der letzte - Preis, der Max-Ophuels-Prix in Nantes.
Aber Glück allein tut es nicht. Die Wahl der Musilschen Vorlage verrät Kühnheit, subtiles literarisches Verständnis und hohe Intelligenz - diese Kombination ist, im deutschen Film, selten genug. Dass jemand Musil verfilmt, ist eigentlich schon eine Sensation. Dass jemand den Stoff durch eine Modernisierung nicht um jeden Sinn bringt, macht die Sensation nahezu perfekt.
Musils Roman erschien 1906. Er ist autobiographisch geprägt; Musil war selber Zögling eines Kadetten-Internats in der k.u.k.-Monarchie. Musil beschrieb damals die pubertären Irrungen und Wirrungen des jungen Schüler. Aber dem Leser von heute, mag er auch die psychologischen Feinheiten der Erzählung bewundern, wird "Törless" doch vor allem als eine "Vorahnung" der Diktatur und der Herrschaft des Sadismus erscheinen. Fritz von Unruh, der zur gleichen Zeit wie Musil in einer preussischen Kadettenanstalt gedrillt wurde, hat in seinem Buch "Der Sohn des Generals" die unvorstellbare Brutalität dieses Erziehungssystems als die Vorstufe der Konzentrationslager beschrieben. Das ist ein Urteil, gewonnen aus den Erfahrungen und der Distanz eines halben Jahrhunderts. Musils Text bestätigt, auch ohne die spezifisch preussischen Attribute, die prinzipielle Richtigkeit dieser These. Schloendorffs Film ist im Kern auf ihr aufgebaut. Er übernimmt die Handlung des Romans fast seitengetreu. An zwei Stellen ändert er bewusst die Vorlage. Die homosexuelle Bindung des jungen Törless an das Opfer, den Mitschüler Basini, wird im Film allenfalls angedeutet. Die Lynchjustiz der Mitschüler dagegen, die Musil nur als Möglichkeit voraussieht, wird im Film tatsächlich vollzogen. Basini hängt gefesselt, halb totgeschlagen und fast erstickend, wie ein Stück Schlachtvieh in der Turnhalle des Internats. Das ist die entscheidende Szene des Films. Alle bestechend komponierten Sequenzen bereiten sie vor, führen mit gerade mathematischer Genauigkeit darauf hin. Die bleigraue Atmosphäre, die Schloendorff vom ersten bis zum letzten Bild erzeugt, vermittelt dem Betrachter das Bewusstsein der nahenden Katastrophe. Die Internatsschüler erscheinen vor diesem Hintergrund im wesentlichen nur als die folgsame und verfügbare Masse. Nur vier Schüler gewinnen ein eigenes Profil: Törless (Matthieu Carrière, zuletzt Darsteller des Toni Kröger in Rolf Thieles gleichnamigem Film), Beineberg und Reiting, die eigentlichen Peiniger Basinis, und Basini selber. Der junge Marian Seidowsky, der ihn spielt, vollbringt für mein Gefühl die eindrucksvollste schauspielerische Leistung. Carrière als Törless ist schön, stolz und hochmütig. Seidowsky zeigt Unterwürfigkeit und Feigheit, Angst, Anmassung, Dreistigkeit und, für Momente, Sehnsucht nach Freiheit, Freundschaft und Geborgenheit.
Den Film als pure politische Parabel zu deuten, halte ich für gefährlich. Basini ist nicht absolut gleichzusetzen mit "dem Juden", der äusgerottet" werden muss. Zwar gilt er Beineberg und Reiting als "minderwertig", und insofern weist seine Behandlung schon auf jenes "Herrenmenschen-Denken" hin, dem die Vernichtung ünwerten" Lebens überhaupt nicht mehr bewusst wird. Aber Basini ist tatsächlich ein Dieb. Er hat in der Nacht einem Mitschüler Geld gestohlen - und die fürchterliche moralische Rigorosität junger Menschen muss sich bis zu einem gewissen'Grade daran entzünden. Der Umschlag von der Verachtung in Hass und Sadismus ist nur in seinem Ergebnis, nicht aber in den Details seiner Entstehung ausdeutbar. Etwas problematisch wird die Figur des jungen Törless am Ende des Films. Je nach der inneren Einstellung wird man das Versagen der Intellektuellen, aber auch die Erkenntnis des Bösen aus seiner Haltung ablesen wollen. Beides trifft jedoch nicht die geistige Situation des Musilschen Romans von 1906. Er ist eben kein "Lehrstück", sondern eine "Vorahnung". Die Position des Protagonisten kann nicht deutlicher werden. Alles andere ist die Anwendung unserer Erfahrung oder Überzeugung.
Als künstlerische Schwächen des Films wären höchstens die nicht immer vollkommen gesprochenen Dialoge zu bezeichnen. Wenn man, wie Schloendorff, auf der einen Seite mit jungen Menschen arbeitet, auf der anderen die Musilschen Texte fast wörtlich übernimmt, ergeben sich hier naturgemäss bestimmte Schwierigkeiten. Dass sie bis auf einen kleinen Rest getilgt sind, beweist nur die Fähigkeiten des jungen Regisseurs auch auf diesem Gebiet.
Schloensdorffs "Törless" gegen Schamonis "Es" auszuspielen, halte ich für absurd. Es liefe am Ende auf den Vorwurf hinaus, Schamoni habe sich kein Drehbuch vom literarischen Rang einer Musil-Erzählung geschrieben. Schamonis Film ist in fast verwirrendem Masse vielseitig, Schloendorffs fast beängstigend geschlossen. Sein nächstes Projekt ist Kleists "Michael Kohlhaas".       Walter Schmieding

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Rotation Ein Film von Wolfgang Staudte

(Fortsetzung )

Strasse vor einem Fabriktor (Tag - Aussen - Winter)
165. Die Kamera fährt auf das Fabriktor zu, vor dem, wie zufällig, drei Arbeiter stehen und sich unterhalten.
Im Näherkommen sieht man, dass neben dem Tor eine Tafel angebracht ist mit dem weithin sichtbaren Text:
"Wir stellen ein: Werkmeister, Monteure, Dreher, Fräser. Meldungen im Personalbüro."
Die Kamera ist an den Streikposten vorbei dicht an das Schild herangefahren.
Stimme des 1. Arbeiters: Schön war 's ja, wat?
166. Hans Behnkes Kopf fährt herum.
167. Der 1. Arbeiter: Hier kannste nich rin, Kollege.
Stimme von Hans, trotzig: Warum denn nicht?
Der 1. Arbeiter: Hier ist Streik.
168. Ein zweiter Arbeiter, der auf einem Mauerabsatz gesessen hat, steht auf und schlendert zum Fabriktor. Zu Hans und dem 1. Arbeiter herantretend, sagt er: Die wollen uns die Löhne kürzen, aber daraus wird nichts.
Der 1. Arbeiter: Die Sache muss erst geklärt sein. Vorher geht hier keiner rein.
Hans Behnke versucht, an den beiden vorbei zum Eingang zu kommen und sagt entschlossen: Egal - ich muss Arbeit haben.
Die Stimme des 3: Arbeiters, höhnisch und laut: Haste gehört, hier muss eener Arbeit haben.
169. Aus einem Hauseingang lösen sich zwei weitere Streikposten und kommen langsam auf die Kamera zu.
170. Gegen Hans, der jetzt von etwa fünf drohenden Gestalten umstellt ist. Einer von ihnen sagt: Sei still. Was meinst Du, warum wir hier stehen? Hier ist Streik, Mensch - begreifst Du nicht? Ist doch auch Deine Sache.
Hans: Meine Sache - ich habe einen Jungen - und der ist krank - und der muss gesund werden - das ist meine Sache!
Der 1. Arbeiter versucht es noch einmal im guten, wobei er Hans fast freundschaftlich am Arm fasst: Los - los, mach hier keine Dummheiten! - Hans reisst sich los und widert heftig: Fass mich nicht an!
Eine Stimme: Der wird auch noch pampig.
171. Gegen einen Mann, der schnell die Strasse überquert und auf die Kamera zugelaufen kommt. Er ruft schon von weitem: Hau ihm doch aufs Maul!
172. Ein Arbeiter hat Hans mit beiden Händen am Rockkragen gepackt und zischt: Streikbrecher - Du Hund - uns in den Rücken fallen, was!
Hans macht sich mit einem Ruck frei und schlägt dem Angreifer die Faust mitten ins Gesicht.
173. Gegen einen Polizisten, der eine Trillerpfeife ansetzt.
174. Gegen die Gruppe. Hans ist im Handgemenge nicht sichtbar. Musik setzt ein.
Die Gruppe löst sich auf. Die Männer laufen nach allen Seiten auseinander. Dadurch wird der Blick auf Hans Behnke frei, der bewusstlos auf dem Pflaster liegt.

    Überblendung.

Montage
175. Rotationsmaschine, über die rotierenden Walzen laufen Zeitungen mit Schlagzeilen: "WAHLSIEG DER NAZIS" "HITLER AN DER MACHT" "DER REICHSTAG BRENNT" "TRIUMPF DES WILLENS! 1934" "1935! DIE SAAR IST FREI!"
(Badenweiler Marsch bei "Hitler an der Macht")

    Überblendung.

Treppe eines Hauses (Abend)
176. Lichtschalter. Die Hand von Hans Behnke drückt auf den Knopf des Schalters. Es wird hell. Er geht die Treppe aufwärts.
177. Die Wohnungstür im ersten Stock steht halb offen. Das Türschild neben der Wohnung trägt den Namen SALOMON. Der Wohnungsinhaber steht vor der Tür und arbeitet am Schloss herum. Hans grüsst vorbeigehend: 'n Abend.
Er bleibt dann aber stehen, tritt an den alten Salomon heran und fragt: Na, wo fehlt 's denn?
Salomon grüsst zurück: Guten Abend, Herr Behnke.
Gleichzeitig grüsst die innen im Korridor stehende Frau Salomon: Guten Abend.
Der alte Salomon fährt fort: Danke, es geht schon. Wir kriegen den Schlüssel nicht raus.
Hans Behnke hat einen Blick auf das Schloss geworfen und schiebt den alten Salomon beiseite: Na, das werden wir gleich haben. Zeigen Sie mal den Schraubenzieher her.
178. Er öffnet die Tür weiter, so dass sie jetzt hinten angelehnt ist und der ganze Eingang frei wird.
Salomon geht in die Wohnung hinein und sagt dabei ängstlich: Bitte, bemühen Sie sich nicht _...
Frau Salomon, fast gleichzeitig: Das können Sie doch nicht, Herr Behnke.
Hans stellt sich beleidigt: Wieso kann ich das nicht? Ich bin gelernter Schlosser.
Salomon will das scheinbare Missverständnis aufklären: Wir möchten Ihnen keine Unannehmlichkeiten machen.
179. Hans hat schon angefangen, am Schloss zu arbeiten und antwortet: Ist nicht der Rede wert.
Frau Salomon: Wir sind Juden _...
Hans: Weess ick - na, und? - Vorschriften machen lasse ich mir nicht - das ist bei mir nicht drin.
Da geht das Treppenlicht aus, aber gleich darauf wieder an. Die Treppe herunter kommt das Geräusch von Schritten. Hans hört mit der Arbeit auf, zögert einen Augenblick unschlüssig, geht in die Wohnung hinein und brummt dabei: Mache ich besser von innen.
180. Die Treppe herunter kommt ein Hausbewohner und geht achtlos an der angelehnten Wohnungstür vorbei.
181. Hans hält den Schlüssel, den er herausgezogen hatte, in der Hand und sagt dabei: Hab ihn schon, ist bloss 'ne Kleinigkeit, der Bart müsste ein bisschen abgefeilt werden. Das mache ich Ihnen noch heute abend.
Dabei öffnet er die Tür und tritt auf den Treppenflur hinaus. Der alte Salomon trippelt ihm ein paar Schritte nach: Ich danke Ihnen - ich danke Ihnen.
Und Frau Salomon fügt hinzu: Sie sind ein guter Mensch, Herr Behnke.
182. Behnke ist schon im Begriff, die Treppe weiter aufwärts zu steigen und ruft gemütlich zurück: Sie meinen wohl, ich bin ein guter Schlosser. Na ja, das ist auch was wert.

Küche der Wohnung Behnke (Abend)
183. Lotte Behnke in der Küche. Der Tisch ist schon gedeckt. Sie stellt gerade eine Schüssel mit Essen auf den Tisch. Da hört man von der Korridortür her Schlüsselgeräusch und Schritte. Während Lotte zum Herd zurückgeht, ruft sie: Komm schon, Hans. Wo hast Du denn gesteckt? Ich bin schon lange fertig.
184. Hans erscheint in der Küchentür, geht auf Lotte zu, die wieder am Herd steht, und grüsst: Tag, Lotte. Ich hab' noch 'nen Auftrag gekriegt. Bei Salomons war das Schloss kaputt.
Dabei geht er auf sie zu, nimmt sie bei der Schulter und will sie zu sich umdrehen, um ihr einen Begrüssungskuss zu geben. Das gelingt nur unvollkommen, denn Lotte sträubt sich ein bisschen und sagt mit gespielter Ungeduld - in Wirklichkeit würde sie das Ausbleiben der gewohnten Begrüssungszärtlichkeit sehr vermissen: Na, fang' schon an, sonst wird das Essen kalt.
185. Hans setzt sich an den Küchentisch, nimmt den Deckel von einer Terrine und erkundigt sich dabei: Was gibt s denn?
Und während er sich Essen auf den Teller legt: Was macht Helmuth?
Hans fängt an zu essen. Vom Herd her antwortet Lottes Stimme: Der schläft schon. - Wie war 's heute?
Hans, essend: Wagner meckert wieder rum, wie immer - zu wenig Leute - Facharbeiter sind gesucht.
Er fasst in die Tasche und holt seine Lohntüte heraus: Ich steh' gut da, durch die Überstunden, 50% Zuschlag. Das rechnet.
Er hat die Lohntüte auf den Tisch gelegt, und während er sie weiter in ihre Richtung schiebt, sagt er auffordernd: Da, Dein Wirtschaftsgeld, zähl' mal.
186. Lotte ist an den Tisch herangetreten, schüttet das Geld auf den Tisch und zählt: 60 - 70 - 75 - 78 fünfundzwanzig -
187. Hans: Steck' aber auch wieder was in die Urlaubskasse. - Du, da ist doch in B. so'n KdF-Bad - ick weess nicht - ob det nur für Pg's ist - oder auch für einfache Volksgenossen - ich werd' mich mal _...
Es klingelt an der Wohnungstür.
Lotte, da Hans eine Bewegung zum Aufstehen macht: Lass, ich geh' schon. Korridor der Wohnung Behnke (Abend)
188. Lotte öffnet die Wohnungstür.
Draussen steht ein Herr und erkundigt sich, nachdem er mit Heil Hitler! gegrüsst hat: Frau Behnke?
Und als Lotte geantwortet hat: Ja, bitte _... fährt er fort: Ist Ihr Mann zu Hause? Lotte tritt zurück und gibt den Eingang frei: Bitte _...
Der Herr tritt ein und sagt, halb entschuldigend: Ich hätte ihn gern mal gesprochen, bloss einen Augenblick.
189. Lotte öffnet die Tür zum Wohnzimmer und sagt mit einer auffordernden Bewegung: Geh'n Sie solange hier rein. Mein Mann kommt gleich.
Der Herr tritt ein.
Lotte wendet sich zum Korridor zurück und, während sie zur Küche geht, ruft sie: Hans!

Küche der Wohnung Behnke (Abend)
190. Hans und Lotte in der Küche. Hans steht gerade auf und fragt ohne sonderliche Begeisterung: Wer ist denn das? Was will der denn?
Lotte: Ich weiss nicht _... der sieht so nach Partei aus - mit Heil Hitler und Hakenkreuz und so _...
Hans: So 's richtig - diese Schnüffler - hab' ich sowieso gefressen. Bei uns im Betrieb stecken se doch ihre Neese in jeden Dreck.
Lotte: Sei vorsichtig, Hans.
Hans: Bin ick _... aber Heil Hitler! sag' ich nicht - nicht ums Verrecken.
Lotte: Hans _...
Hans, beruhigend: Lass mal _...
Er verlässt die Küche.

Wohnzimmer der Wohnung Behnke (Abend)
191. Auf den Besucher, der sich interessiert im Zimmer umsieht.
192. Hans betritt das Zimmer.
193. Der Herr grüsst ostentativ: Heil Hitler!
Hans markiert schlecht und recht ein lautes Niesen. Dann, während er ein Tuch aus der Tasche zieht: Der verdammte Schnuppen.
Mit einer auffordernden Bewegung lädt er zum Sitzen ein: Bitte schön.
Aber der Herr lehnt ab: Nein, danke, ich möchte Sie nicht aufhalten. Ich komme von der Fachgruppe.
Hans reagiert abwartend. Der Herr lässt den Blick über die Zimmereinrichtung schweifen und findet anerkennend: Nett haben Sie es hier.
194. Hans spielt den Gleichgültigen, ist aber doch ein bisschen stolz: Na ja, es macht sich - ist auch schon alles bezahlt, zum Glück.
Der Herr hält es für nötig, Hans zu belehren: Ja, wir haben alle Glück, dass wir die neue Zeit erleben dürfen. Aber das ist ja erst der Anfang - sagen Sie, Herr Behnke, was ich fragen wollte: wo waren Sie gestern abend?
195. Hans sieht erstaunt auf und meint nicht allzu freundlich: Das ist aber 'ne ulkige Frage. Hab' ich was ausgefressen?
Der Herr von der Fachgruppe lacht ein bisschen gezwungen: Sie haben wohl ein schlechtes Gewissen?
Hans: Ich? Nee, nee!
Der Ton des Besuchers ändert sich und wird steif und förmlich: Gestern abend war Versammlung von der Fachgruppe, wie Sie wissen. Wir haben Ihren Namen auf der Anwesenheitsliste vergeblich gesucht.
Hans: Ja - ich war auch nicht da.
Der Herr: Eben.
196. Hans, ziemlich brüsk und ablehnend: Ja, ich hatte Frühdienst heute.
Der Herr gibt etwas gedehnt zu: Ach so - na ja -
Aber dann hält er es für nötig, Hans einmal den Standpunkt klarzumachen:
_... aber trotzdem, jeder einzelne muss alle Kräfte anspannen für den Führer. Erscheinen ist Pflicht, Herr Behnke.
Dann bekommt sein Ton etwas Lauerndes: Tja! - Hübsche Bilder haben Sie hier.
Sein Blick streift die Wände ab. Er will scheinbar ganz ins Private übergehen. Aber Hans lässt sich nicht täuschen und pariert den Angriff, bevor er kommen kann: Ach so - Sie meinen, da fehlt noch ein Führerbild. Ich hab' schon lange was Passendes gesucht, wissen Sie, so'n billiges Ding will ich mir nicht hinhängen. Wenn schon, denn muss es was Richtiges sein.
Der Herr wendet sich zum Gehen.

Korridor der Wohnung Behnke (Abend)
197. An der Wohnungstür, die Hans geöffnet hat, bleibt der Herr noch einen Augenblick stehen und sagt so nebenbei: Sie haben übrigens nie geflaggt, Herr Behnke. Wenn Sie keine Fahne haben sollten, veranstalten wir mal 'ne Sammlung - extra für Sie.
Hans, neugierig: Woher wissen Sie denn das?
Der Besucher: Was?
Hans: Na, das mit der Fahne - mein' ich.
198. Der Besucher - sein Tonfall hat etwas Lauerndes: Och - das fällt einem doch auf, wenn man so spazieren geht. Sieht 'n bisschen kahl aus. Finden Sie nicht?
Hans, betont harmlos: Ach so - ja, das ist wahr.
199. Der Herr, das Gespräch abbrechend: Na, denn nichts für ungut. Heil Hitler! Herr Behnke.
In diesem Augenblick ist das Treppenlicht ausgegangen und Hans überhört bewusst den Hitler-Gruss: Warten Se - ich mache Ihnen Licht.
Hans drückt wieder auf den Lichtknopf - das Licht brennt - und der Herr sagt: Danke.
Damit wendet er sich zum Gehen.
200. Hans schliesst die Tür. In dem Augenblick kommt Lotte aus der Küche: Hans, Hans _...
Hans ist von seiner Leistung begeistert und sagt: Haste gehört, Lotte _...
Dann abfällig: Bei mir doch nicht.
Lotte erkundigt sich neugierig: Was wollte er denn nun wirklich?
Hans: Ach, das war natürlich so'n Fachschaftsfritze, der wollte bloss 'n bisschen schnüffeln.
Lotte, jetzt doch etwas besorgt: Sei bloss nicht zu unvorsichtig.
Hans: Ach wo! Jetzt muss ich mir erst mal 'nen kleinen Korn bewilligen - auf den Schreck.
Lotte: Iss doch erstmal zu Ende.
Hans wendet sich dem Wohnzimmer zu und, während er die Tür öffnet, sagt er: Nee, nee, mir ist der Appetit vergangen.

Im Treppenhaus (Abend)
201. Der Besucher ist scheinbar wieder zurückgekehrt und hat horchend an Behnkes Wohnungstür gestanden. Jetzt wendet er sich und geht auf leisen Sohlen die Treppe hinunter.

Wohnzimmer Behnke (Abend)
202. Hans schaltet den Radioapparat ein. In seiner Hand hält er eine Kognakflasche - Weinbrand Verschnitt - und ein Glas. Er schenkt sich das Glas voll und, zu Lotte gewandt, sagt er: Prost, Lotteken!
In diesem Augenblick meldet sich der Radioapparat, und die bekannte Stimme des Ansagers wird hörbar: _... eine Wiederholung unserer Übertragung aus Nürnberg. Wir schalten um auf Nürnberg. - Ein gewaltiges Rauschen - vieltausendfaches Heilrufen und entfernte Marschmusik, darüber die Stimme des Reporters: Nürnberg 1935! Reichsparteitag der Freiheit!

    Überblendung.

Rotationssaal des Völkischen Beobachter (Tag)
203. Zwei Herren gehen langsam durch den Raum, ihr Gespräch ist nicht zu verstehen.
(Das Heil-Geschrei geht über in Maschinengeräusch.)
Der Personalchef des Völkischen Beobachter hält sich höflich auf der linken Seite. Im Vorbeigehen weist er diskret auf einzelne Arbeiter, denen dann der andere einen prüfenden Blick zuwirft. Er hält eine Liste in der Hand, auf der er die Namen kontrolliert. Hans an der Maschine kommt ins Bild.
204. Ein Arbeiter neben Hans fragt mit einer Kopfbewegung nach den beiden: Wer ist denn det?
Hans, nach einem flüchtigen Blick:
Kenn' ick nicht.

Büro des Personalchefs (Tag)
205. Der Personalchef komplimentiert den anderen Herrn, einen Angehörigen des SD, in sein Büro.
206. Der SD-Mann erkundigt sich beiläufig: Und an wen haben sie gedacht, als Nachfolger für Wagner?
207. Der Personalchef überlegt: Ich hatte an Behnke gedacht - sehr tüchtig und gewissenhaft, der Mann.
208. Der SD-Mann tritt näher an den Schreibtisch heran, blättert in seiner Liste und erkundigt sich: Pg?
Der Personalchef, als ob er sich entschuldigen müsste: Noch nicht.
Der SD-Mann blättert in einem Aktenstück: Behnke - Behnke - da war doch etwas _...
Der Personalchef, eifrig: Wenn Sie wünschen, lasse ich ihn rufen.
Und dann vorsichtig fragend: Liegt etwas gegen ihn vor?
Der SD-Mann winkt ab: Nein, nein, lassen Sie, ich möchte ihn ganz gern mal sprechen _...
und als er den Personalchef zum Klingelknopf tasten sieht, fügt er schnell hinzu: Aber nicht jetzt _... es eilt nicht _... gelegentlich mal.

    Überblendung.

Korridor der Wohnung Behnke (Tag)
209. Hans an der Wohnungstür. Er zieht die Zeitung heraus, die im Türschlitz steckt, legt sie auf ein Garderobentischchen und ruft zurück: Wiedersehen, Lotte!
Stimme Lottes: Wiedersehen, Hans.
Hans geht durch die Tür und zieht sie hinter sich ins Schloss.

Strasse vor dem Haus Behnke (Tag - Aussen)
210. Kurt steht im Hausflur des gegenüberliegenden Hauses, eng an die Wand gedrückt, und beobachtet _...
211. _... die Haustür, aus der Hans herauskommt und die Strasse entlanggeht.
212. Kurt sieht Hans nach, wartet bis er verschwunden ist, dann überquert er die Strasse und verschwindet im Hauseingang.

Treppenabsatz vor der Wohnung Behnke (Tag)
213. Türschild - Kurt klingelt und sieht sich, während er wartet, unruhig um. (Schritte von innen).
Lotte öffnet, sieht ihn erschrocken an und tritt schnell zurück. Kurt verschwindet in der Tür.

Küche in der Wohnung Behnke (Tag)
214. Während Lotte und Kurt hereinkommen, sieht sie ihn von der Seite her an und sagt, nichts Gutes ahnend: Du hast Dich ja so lange nicht sehen lassen.
Kurt, ausweichend: Ich hatte viel zu tun _... Ich komme auch bloss auf einen Sprung.
Lotte ist am Tisch stehengeblieben: So früh - was ist los?
Kurt antwortet mit einer Gegenfrage: Hat einer nach mir gefragt?
Lotte: Nach Dir nicht. Gestern war einer hier von der Fachgruppe, der wollte zu Hans. Was ist, Kurt?
Kurt: Ich geh' gleich wieder.
Da Kurt ihre Frage zum zweiten Mal nicht beantwortet, wartet Lotte ab, bis er von allein sprechen wird: Willst Du was essen?
Kurt schüttelt den Kopf: 'ne Tasse Kaffee, wenn Du welchen hast.

Rotationssaal des Völkischen Beobachter (Tag)
215. Eine Gruppe Arbeiter, sitzend und stehend, macht Frühstückspause, unter ihnen Hans.
1. Arbeiter: Und das Reichssportfeld - was sagst Du dazu?
2. Arbeiter: Die Anlage ist Klasse.
1. Arbeiter zum 3. Arbeiter: Warst Du mal da?
216. 3. Arbeiter: Ick bleibe lieber auf meinem Balkon.
1. Arbeiter: Da werden die andern staunen - worauf Du Dich verlassen kannst.
4. Arbeiter, phlegmatisch: Meinetwegen.
217. 3. Arbeiter: Denkste, die kommen her? Da wird ein Tamtam gemacht und Geld rausgeschmissen, und wenn es soweit ist, gibt es nischt wie Absagen. Die haben Adolf gefressen.
5. Arbeiter: Denn kann der Herr Reichssportführer Freundschaftsspiele veranstalten - Pankow gegen Wilmersdorf. Ein vorbeigehender Arbeiter: Ihr könnt nischt wie meckern.
218. Hans, der auf seine Uhr gesehen hat: Also, dann woll'n wir mal wieder - die Pause ist um.
Stimme hinter ihm: Heil Hitler!
219. Die Arbeiter streben auseinander, um ihre Arbeitsplätze aufzusuchen. Auch Hans will sich umdrehen, aber ein Mann tritt auf ihn zu und fragt: Herr Behnke?
Hans sieht den Mann nicht gerade sehr wohlwollend an: Stimmt.
220. Der Mann dirigiert Hans etwas abseits, zieht dabei einen Ausweis und sagt: Einen Augenblick, ich hätte gern eine Auskunft.
Er hält Hans den Ausweis vors Gesicht. Hans: Ach so - SD.
221. Der SD-Mann baut sich vor Hans auf, lässt eine Pause eintreten und fragt dann unvermittelt: Wo ist Kurt Blank?
Und als Hans ihn einigermassen verständnislos ansieht: Das ist doch Ihr Schwager.
Hans, ohne viel Entgegenkommen: Ja. - Was weiss ich, wo der ist. Zu Hause vielleicht.
Der SD-Mann beobachtet Hans scharf: Und wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?
Hans sagt unentschlossen: Das kann so vier, fünf Monate her sein, genau weiss ich es nicht mehr.
Der SD-Mann, mit scheinbarer Sachlichkeit, aber reichlich aggressivem Ton: Also Sie behaupten, Sie haben keinen Kontakt mit ihm gehabt. Und Sie können nicht angeben, wo er sich jetzt aufhält?

Küche der Wohnung Behnke (Tag)
222. Kurt und Lotte stehen sich nahe gegenüber. Sie hat die Augen fest auf sein Gesicht geheftet. Er gibt sich Mühe, ruhig und beherrscht zu sprechen: In die Tschechoslowakei will ich. Lotte: Und wie willst Du durchkommen?
Kurt, vage: Ich muss eben sehen.
Lotte: Du wirst Geld brauchen.
Dabei dreht sie sich um und geht zu einer Kommode. Stimme Kurts: Nein, lass man, es geht schon.
Lotte holt einen Briefumschlag aus einer Schublade heraus, holt Geldscheine heraus und sagt: Unsinn! Hier - nimm. Das kannst Du kriegen.
223. Lotte reicht Kurt die Scheine. Er fragt unsicher: Und was wird Hans sagen?
Lotte: Nimm man. Das ist doch selbstverständlich.
Kurt nimmt das Geld, steckt es in die Tasche und sagt: Kuck mal vorsichtig aus dem Fenster - ob da einer ist -
Er wendet sich zum Ausgang. Lotte folgt ihm. Da hört man aus der Kammer, die sich an die Küche anschliesst, Helmuths Stimme. Er singt: - Lied vom Edelweiss. -
Lotte hält inne, dreht sich um. Sie verliert die Nerven und schreit: Halt den Mund!
Aus der Kammer kommt Helmuths beleidigte Stimme: Warum denn, Mutter? Das singen doch alle.
Lotte beherrscht sich mühsam und ruft begütigend: Aber nicht so früh, Helmuth.

Korridor der Wohnung Behnke (Tag)
224. Kurt steht schon an der Wohnungstür und hat die Klinke in der Hand. Lotte tritt zu ihm - in einer Aufwallung von Angst und Zärtlichkeit fasst sie seinen Arm: Ach, Kurt.
225. Kurt lässt die Türklinke los, wendet sich seiner Schwester voll zu und fasst sie bei beiden Schultern. Er sagt beruhigend: Mach' Dir keine Sorgen.
Er lässt sie los, öffnet geräuschlos einen Türspalt, zögert horchend einen Augenblick und geht schnell hinaus. Lotte schliesst leise die Tür hinter ihm.

Treppe im Hause Behnke (Tag)
226. Kurt geht leise und auf Geräusche horchend die Treppe abwärts.

Personalbüro des Völkischen Beobachter (Tag)
227. Auf die Tür, durch die gerade Hans Behnke hereinkommt, in dem gleichen Augenblick, in dem der Personalchef: Herein! gesagt hat.
228. Die Augen des Personalchefs gleiten flüchtig über eine Liste in seiner Hand. Mit einer nachlässigen Bewegung fordert er Hans Behnke zum Sitzen auf. Dann lehnt er sich zurück: Also Pg. Behnke, ich habe Sie rufen lassen _...
229. Hans stellt richtig: Ich bin nicht Pg., Herr Wedemeyer.
230. Der Personalchef sieht scheinbar überrascht auf: Ach so, Sie sind nicht Pg. Das ist aber dumm. Wenn Wagner ausscheidet _... Ich hätte Sie eigentlich als Rotationsmeister _... Schade, das wird natürlich nicht _... Zu dumm, tut mir leid für Sie.
Und dann erkundigt er sich, es klingt beinahe naiv, so harmlos scheint die Frage gestellt: Warum sind Sie eigentlich nicht in der Partei? Sind Sie etwa dagegen?
231. Hans: Warum denn?
232. Der Personalchef scheint von der reichlich dürftigen Antwort durchaus befriedigt zu sein: Das wäre ja auch lachhaft. Sehen Sie, ich verstehe ja, dass jemand erst dann der Partei beitreten will, wenn er hundertprozentig von der Grösse der Idee überzeugt ist. Und da Sie es sind - warum wollen Sie abseits stehen?
233. Hans sieht scheinbar ganz verständnislos auf und sagt - es hört sich an, als ob er beleidigt ist: Na, ist doch Sperre, denk' ick.
234. Der Personalchef, etwas aus dem Konzept gebracht: Ach so, ja _... Aber das ist ja nur vorübergehend. Ich will natürlich keinen Druck ausüben, aber schliesslich sind wir ein nationalsozialistischer Führungsbetrieb. Wir stehen in vorderster Reihe -
Sein Tonfall nimmt den Ausdruck des Bedauerns an: Ich könnte mir vorstellen, dass es eines Tages überhaupt schwierig sein wird _... für mich, Sie zu halten.
Der Personalchef macht eine kurze, aber bedeutungsvolle Pause.
235. Hans setzt unsicher zu einem Einwand an, aber _...
236. _... der Personalchef fährt schon lebhaft und eindringlich fort: Sie wollen doch nicht als Einzelner beiseite stehen, wenn sich das ganze Volk geschlossen zum Führer bekennt. Hat das Deutschland Hitlers sich nicht die Achtung, ja sogar die Sympathien der ganzen Welt erworben? Bedenken Sie doch - Olympische Spiele in Berlin! Die Völker der Welt werden unsere Gäste sein. Haben nicht 51 Nationen ihre Zusage gegeben. Das wird ein gigantisches Schauspiel werden mit einer eminent wichtigen aussenpolitischen Bedeutung.

Montage
237. Die Olympia-Glocke schwingt mächtig aus. Man liest die Inschrift: ICH RUFE DIE JUGEND DER WELT. - Das Glockengeläut geht über in einen vielstimmigen Chorgesang: Die Olympische Hymne. -

238. - 248. Die Walzen der Rotationsmaschinen rotieren. Schlagzeilen von Rekordleistungen. Goldmedaillen für Amerika, England, Frankreich, Deutschland usw. Archivmaterial der Olympischen Spiele Berlin. Das Olympische Feuer verlischt.

    Überblendung.

Wohnzimmer der Wohnung Behnke (Tag)
249. An der Wand des Zimmers hängt jetzt das Hitlerbild. Es ist eine ausgesprochene Sonntagsvormittags - Stimmung. Hans Behnke sitzt am Kaffeetisch in der guten Stube, - schlürft seinen Kaffee und liest die Zeitung. Er ist in Hemdsärmeln. Seine Jacke hängt über der Stuhllehne. Lotte beginnt schon, das Geschirr zusammenzuräumen. Hans hat scheinbar etwas Interessantes in der Zeitung gefunden: Du, Lotte, hör' mal, was hier steht.
250. Lotte unterbricht resolut: Also entweder wird jetzt gefrühstückt oder gelesen.
Dabei will sie ihm die Kaffeetasse wegräumen. Das lässt sich Hans aber nicht ohne weiteres gefallen: Nicht doch - nicht doch so stürmisch.
Er hält die Tasse fest und trinkt schnell aus. Jetzt nimmt Lotte ihm die Tasse aus der Hand und stellt sie zum anderen Geschirr aufs Tablett.
251. Hans: Was ist denn los?
Lotte: Nichts, was soll denn los sein?
Hans: Na, weil Du 's auf einmal so eilig hast.
Lotte, keinswegs unfreundlich: Ich möchte auch mal mit dem Haushalt fertig werden - ich muss noch _...
252. Hans horcht plötzlich auf: Die Post. Die Stimme Lottes, die fortfährt: Ich muss noch abwaschen und die Betten machen.
Hans ist währenddessen aufgestanden und hat das Zimmer verlassen. Die Kamera bleibt auf dem leeren Stuhl, über dessen Lehne die Jacke hängt. Man sieht am linken Rockaufschlag das Parteiabzeichen.
253. Gegen die Tür, in der Hans erscheint. Er hat eine Zeitung "Der Maschinenmeister" unter den Arm geklemmt und studiert im Gehen den Inhalt einer Postkarte. Er ruft durch die offene Zimmertür Lotte zu: Sag' mal, kennst Du einen Otto Bertram?
254. Lotte kommt mit dem leeren Tablett aus der Küche zurück und meint: Otto Bertram - das ist doch mein Grossvater.
Hans: Der schreibt uns aus Prag.
Lotte räumt am Tisch das letzte Geschirr weg und weist ihn zurecht: Red' doch keinen Unsinn, der ist doch seit zwanzig Jahren tot.
Hans, noch mit dem Karteninhalt beschäftigt, sagt gedankenlos: Versteh' ich nicht. Er schreibt aber hier, dass es ihm gut geht.
255. Lotte will sich nicht auf Rätselraten einlassen, sie nimmt Hans die Karte aus der Hand: Zeig' mal her! -
Dann stellt sie fest: Das ist doch die Handschrift - die ist von Kurt.
256. Hans wollte sich gerade wieder hinsetzen, aber jetzt tritt er zu Lotte und sieht ihr über die Schulter: Hat er es also doch geschafft.
Lotte, mit ehrlicher Anteilnahme: Ich habe mir doch manchmal Sorge gemacht.
Hans fasst ihre Hand, um sich die Karte wieder besser ins Blickfeld zu rücken: Was schreibt er denn noch? - "Ich glaube bestimmt, dass wir uns bald wiedersehen werden." - Na hoffentlich, ist ja auch nicht schön, wenn man sich so rumtreiben muss. Er könnte doch jetzt hier 'ne prima Stellung haben.
257. Lotte, sichtlich erleichtert und fröhlich: So - jetzt muss ich aber schnell Geschirr abwaschen.
Damit verlässt sie das Zimmer.
258. Hans, in verändertem Ton: Geschirr wasch' ich. Mach' Du mal die Betten, und der Helmuth kann Geschirrabtrocknen helfen.
Während er ebenfalls das Zimmer verlässt, ruft er laut: Helmuth!

Die Kammer von Helmuth Behnke (Tag)
259. Helmuth sitzt am Tisch - er ist etwa 7 Jahre alt und trägt die Uniform des Jungvolks. Er ist gerade damit beschäftigt, Zigarettenbilder einzukleben. An den Wänden seines Zimmers hängen ein paar Postkarten von Hitler und Baidur v. Schirach, eine Landkarte, ein ausgefranster Indianerschmuck, ein paar Tierbilder, eine Schulmappe und ein Lineal. Noch einmal klingt von draussen die Stimme des Vaters: Na, wird 's bald?
Und Helmuth bequemt sich, seine interessante Beschäftigung zu unterbrechen und dem Ruf des Vaters Folge zu leisten. Er steht auf und verlässt seine Kammer.

Küche der Wohnung Behnke (Tag)
260. In der Küche ist Hans schon mit dem Geschirrabwaschen beschäftigt. Helmuth kommt und sagt: Du, Vater, haste nich wieder 'n paar Zigarettenschecks?
Hans antwortet: Erst nimm mal das Handtuch und trockne ab.

Schlafzimmer der Wohnung Behnke (Tag)
261. Lotte, damit beschäftigt, die Betten zu machen, ruft: Schmeisst aber nichts kaputt, Ihr Männer.
Die Stimme von Helmuth klingt zurück:
Wir passen schon auf.

Küche der Wohnung Behnke (Tag)
262. Der kleine Helmuth will soeben einen Teller nehmen, um ihn abzutrocknen, da wendet sich Hans um sagt: Nee, nee. mach Du mal nur die Messer, Gabeln und Löffel. Wenn ich was zertöppere, da traut sich Mutter nichts zu sagen.
Die Stimme von Lotte klingt aus dem Schlafzimmer herüber: Hast du 'ne Ahnung. Dir hau' ich genau so die Jacke voll wie dem Helmuth.

Schlafzimmer der Wohnung Behnke (Tag)
263: Lotte hat gerade die Betten gemacht - da erscheinen Vater und Sohn an der Tür. Sie schleichen sich von hinten an Lotte heran. Hans umfasst sie plötzlich unvermutet und sagt lachend: Na - versuch 's doch mal - hau doch, wenn De kannst.
Lotte versucht, sich aus der Umklammerung zu befreien, und ebenfalls lachend stösst sie hervor: Hans - Du Feigling - lass mich los! - Ihr Banditen!
264. Helmuth springt übermütig von einem Bein aufs andere und schreit: Feste, Vater, feste.
265. Lotte wehrt sich lachend und ruft zu Helmuth herüber: Schämst Du Dich nicht? Zwei gegen einen. Hilf mir lieber.
266. Helmuth lässt sich das nicht zweimal sagen, und mit einem Hechtsprung landet er auf dem Rücken seines Vaters. Hans verliert dadurch die Balance, und im nächsten Moment liegen alle drei prustend, lachend und tobend in den frisch gemachten Betten. Lottes komisch entrüsteter Schrei ist aus dem Menschenknäul zuerst zu hören: Seid Ihr denn ganz wahnsinnig geworden? Das Bett _...
Hans, unter dem Siegesgeheul Helmuths: Wer wollte uns denn die Jacke voll hauen, was? Sie doch nicht, Fräulein.
Lotte gelingt es nicht, sich zu befreien: Lass mich los - lass mich los!
Hans: Erst ein Kuss.
Lotte: Das ist Erpressung!
Hans: Ist es auch, Fräulein Blank.
Während Hans ohne Erfolg versucht, die sich sträubende Lotte zu küssen, hat Helmuth offensichtlich von der Strasse her ein Geräusch gehört, springt vom Bett herunter und läuft zum Fenster. Die Kamera ist seiner Bewegung gefolgt. Man sieht, wie Helmuth interessiert auf die Strasse hinunterblickt. Darunter der komisch entrüstete Ruf von Hans: Au, au, Du kratzt ja, Du Biest.
Die Stimme von Lotte: Ich beisse auch, wenn Du mich nicht loslässt!
Helmuth, am Fenster, schreit aufgeregt: Au - Mensch, prima! SS mit 'nem Auto und 'ne Masse Leute.
267. Gegen das Bett. Hans und Lotte, durch Helmuth aufmerksam gemacht, unterbrechen ihre Toberei, und Hans steht auf. Während er zum Fenster geht, sagt er: Vor unserem Haus? Was ist denn da schon wieder los?
Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster sagt er in völlig verändertem Ton: Lotte, komm mal her.
Lotte tritt zu ihm ans Fenster.

Strasse vor Hans Behnke (Tag - Aussen)
268. Von oben gesehen: Ein Lastkraftwagen, auf dem etwa 25 Menschen stehend zusammengepfercht sind. Um den Wagen herum stehen SS-Leute in abwartender Haltung. Die wenigen Strassenpassanten beachten das gewohnte Bild nicht. Aus dem Haus heraus führen zwei andere SS-Männer die alten Salomons, die zu ihren Leidensgenossen auf den Lastkraftwagen verladen werden.

Schlafzimmer der Wohnung Behnke (Tag)
269. Hans schliesst das Fenster, und Lotte haucht, von dem Gesehenen tief beeindruckt: Die Salomons. -
Wortlos verlässt Hans das Schlafzimmer.
270. Lotte steht noch einen Augenblick ratlos da. Von aussen hört man das Startgeräusch des Lastwagens. Auch sie verlässt das Schlafzimmer und sagt leise zu Helmuth: Los, geh in Deine Kammer.

Wohnzimmer der Wohnung Behnke (Tag)
271. Hans Behnke - mit quälenden Gedanken beschäftigt - geht im Wohnzimmer auf und ab. Fast im Vorbeigehen schaltet er absichtslos an dem Radioapparat herum. In der Mitte des Zimmers bleibt er plötzlich stehen. Sein Blick bleibt an dem Hitler-Bild hängen. Inzwischen ist das Radio warm geworden, und aus dem Lautsprecher klingt die Stimme des Pfarrers, der zum Abschluss der Evangelischen Morgenfeier das Gebet spricht: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld _...
Hans wendet sich um und schaltet das Radio brüsk ab. Die Stimme, die mit entfernter Harmoniumbegleitung unterlegt ist, bricht mit den Worten ab:
_... wie wir vergeben _...

Küche der Wohnung Behnke (Tag)
272. Lotte mit verweinten Augen. Auch sie ist mit ihren Gedanken nicht bei ihrer Arbeit. Mit fast automatischen Bewegungen trocknet sie die Teller und Tassen ab.

Korridor der Wohnung Behnke (Tag)
273. Hans kommt ins Bild, nimmt den Hut vom Garderobenhaken und sagt, zur Küche gewendet: Ich geh' 'ne Molle trinken.
Er verlässt die Wohnung.

    Das Bild blendet ab.

Lagerplatz der Hitlerjugend (Tag - Aussen)

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274. Gegen eine Gruppe von HJ. Die Formation marschiert in Dreierreihen eine Landstrasse an einem Wäldchen entlang. Die Jungen singen das Lied "Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt _..."
Auf die Kamera zukommend, die Kamera begleitet den Weg der marschierenden Gruppe, bis sie auf eine andere Formation von Hitlerjungen trifft, die in Reih und Glied am Rande des Wäldchens angetreten sind. Die Kamera bleibt auf der angetretenen Formation. Während das Lied der Weitermarschierenden verklingt, hört man die Stimme des Bannführers Udo, der eine Instruktionsstunde abhält: Wie nannte man früher das Protektorat Böhmen und Mähren? Wie aus einem Munde klingt es: Die Tschechen
275. Bannführer Udo vor der angetretenen Formation in. Rührstellung. Er überlegt einen Augenblick und stellt dann eine neue Frage: Und wer ist Richard Wagner?
276. Wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort eines ungefähr 12-jährigen Jungen in der ersten Reihe, der dabei Haltung annimmt: Gauleiter des Traditionsgaues München-Oberbayern, bayerischer Minister des Innern.
277. Bannführer Udo ist einen Augenblick von der Schnelligkeit und Präzision der Antwort überrumpelt. Dann erklärt er bedeutsam: Nein - der Gauleiter von München heisst Adolf Wagner. Richard ist der Lieblingskomponist unseres Führers.
Und seine nächste Frage lautet: Welches ist die grösste Schande für Deutschland?
Lässig weist er mit der Hand auf irgendeinen Jungen, von dem er eine Antwort haben möchte.
278. Aber die ganze Gruppe antwortet geschlossen, beinahe mit der automatischen Reaktion eines Sprechchors: Das Versailler Diktat.
Udo überlegt befriedigt und fragt weiter: Warum ist die germanische Rasse wertvoller als alle anderen?
Wieder kommt die Antwort wie eingelernt: Wir sind Herrenmenschen.
Udo überlegt etwas recht Schwieriges: Wie heisst der Erfinder der Glühlampe? Erst nach langem Zögern meldet sich eine einzelne Stimme: Edison.
279. Udo macht eine eindrucksvolle Pause und stellt dann streng richtig: Falsch. Die Glühlampe ist keine amerikanische Erfindung. Sie wurde zuerst von dem Deutschen Heinrich Göbel erfunden.
Und dann geht er wieder zum Politischen über: Seit wann ist Österreich ins Reich heimgekehrt?
Er zeigt mit der Hand nach rechts, wo die kleineren Jungens stehen: Du.
Eine helle Jungenstimme antwortet: Am 13. März 1938.
Udo: Also schon ein ganzes Jahr. Gut, Helmuth Behnke. Und wer weiss die Hauptstadt von Norwegen?
280. Die Gruppe steht in verlegenem Nachdenken da, aber die Frage scheint allzu schwierig zu sein. Udo hat eine ganze Weile gewartet, aber es kommt keine Antwort. Er stellt nun die nächste Frage: Und von Schweden?
Und als weiterhin Stille herrscht, hört man seine Stimme: Na, und von Belgien?
281. Udo findet das Versagen der Gruppe anscheinend nicht weiter tragisch, und nach einem kurzen: Hm! prüft er weiter: Wer hat Amerika entdeckt?
282. Lautlose Stille, bis sich endlich aus dem hintersten Glied eine schüchterne Stimme meldet: Karl May.
Ein paar Jungens lachen. Und dann findet sich einer, der es besser weiss: Columbus!
283. Udo, mit dem Wissensstandard der Jungen zufrieden, schliesst die Instruktionsstunde ab: Na endlich. - Genug für heute.
Dann wendet er sich zu den Fähnleinführern, die in seiner Nähe stehen und respektvolle Haltung annehmen, als er sich zu ihnen umdreht: Also wegtreten lassen und Kampfgruppen einteilen. Kampfgruppe rot bezieht Stellung - Kampfgruppe blau hat zu stürmen.
Die Befehlsempfänger grüssen militärisch und laufen aus dem Bild. Udo, der ungefähr 21jährige Bannführer, winkt seinem ein paar Jahre jüngeren Adjutanten. Dieser spritzt an seine linke Seite. Beide gehen langsam einen kleinen Hügel hinan, auf dem auch das Banner der Hitlerjugend aufgepflanzt ist.
284. Im Weitergehen sagt Udo vertraulich: Du, ich kann 's gar nicht abwarten. Der Adjutant: Mir geht 's genau so, ich versteh' auch die Langmut von unserem Führer nicht.
Udo: Sei man still, der weiss schon, was er macht. Denk' mal an den Westwall _...
Der Adjutant: Na, soweit sind wir noch nicht. Erst kommen mal die Polen ran. Und die Engländer! Nächsten Monat geht 's los mit dem Spezial-Kursus - Fallschirmabsprung!
285. Udo: Weisst Du, nee, ich will auf der Erde bleiben - ich will das von nahem sehen, wie die Pollacken rennen _... Lange kann das ja sowieso nicht mehr dauern.
Der Adjutant: Klar, die Transporte gehen Tag und Nacht. - Oder glaubst Du an Manöver?
Udo: Natürlich handelt es sich um Manöver.
Der Adjutant: Ist das Dein Ernst?
286. Udo bleibt stehen und wird dienstlich: Nein, aber mein Befehl! Du hast auch an Manöver zu glauben, verstanden!
Die Stimme einer Ordonnanz: Bannführer!
287. Gegen die Ordonnanz, die in militärischer Haltung meldet: Kampfgruppen Rot und Blau haben Stellung bezogen.
288. Auf Udo mit seinem Adjutanten. Udo, leutselig: Na, dann wollen wir uns den Zauber mal ansehen.
289. An einem Waldrand erscheint aus der Deckung heraus der Kopf eines Hitlerjungen, der mit Begeisterung brüllt: Sprung auf - marsch, marsch!
290. Etwa 15 bis 20 Hitlerjungen kommen auf die Kamera zugestürmt.
In den Händen halten sie Holzkeulen. Dicht vor der Kamera werfen sie die Keulen wie Handgranaten und werfen sich gleich darauf zu Boden.

Kampfgelände (Tag - Aussen)
291. Eine Granate explodiert, wirft eine Fontäne von Dreck und Erdreich in die Höhe. - Das Geräusch der Detonation geht über in das Maschinengeräusch der Rotationsmaschine. -

Montage
292. - 325. In schneller Folge erscheinen die Schlagzeilen der Zeitungen, die die markanten Ereignisse des Krieges bis zum Jahre 1943 bekanntgeben:
"Soldaten der deutschen Wehrmacht überschreiten die polnische Grenze."
Über die Rotationswalzen rollen die Schlagzeilen:
"England erklärt den Krieg!"
"Frankreichs Kriegserklärung!"
Im folgenden sehen wir Schnittbilder aus dem Betrieb einer Zeitungsdruckerei. Der Fernschreiber notiert:
"Warschau bombardiert."
Die druckfeuchte Korrekturfahne trägt die Schlagzeile:
"Blitzkrieg in 18 Tagen."
Eine andere:
"Polen zerschmettert."
Hier beginnt die Musik des kitschigen Kriegsschlagers "Lili-Marlen" durch das Maschinengeräusch des Betriebes zu dringen.
In der Expedition berichten die Zeitungen:
Äm Westwall nichts Neues. - Ruhe vor dem Sturm."
Dann folgen in schnellen Schnitten in der Redaktion, in der Druckerei, am Fernschreiber, in der Expedition und an vielen Stellen des Betriebes die Meldungen über den Blitzkrieg in Belgien, Luxemburg, Frankreich. "Stukas gegen Rotterdam." "Waffenstillstand." "Der Führer in Paris." "Coventry."
Und wieder die Walzen der Rotationsmaschine:
"Verbände der deutschen Wehrmacht überschreiten die sowjetrussische Grenze!"
Der Fernschreiber meldet:
"Kriegserklärung an Amerika."
"Kriegshetzer Roosevelt."
Auf den Transportbändern rollt es vorbei:
"Luftpiraten bombardieren Kirchen und Krankenhäuser der Reichshauptstadt."
Und zwischen all diesen Schlagzeilen der Maschinenmeister Hans Behnke in Ausübung seiner "Pflicht". - Von weither dringt anschwellend das Heulen einer Sirene - Entwarnung.

Wohnzimmer Behnke (Nacht)
326. Die letzte Zeitung aus der vorhergehenden Montage liegt auf dem Tisch im Wohnzimmer Behnke. Die Schlagzeile verkündet:
"DIE SCHLACHT UM STALINGRAD."
Die Zeitung wird durch Zugluft vom Tisch geweht. Die Kamera schwenkt mit und erfasst, über den Boden gleitend, Papier- und Pappfetzen und Scherben von zerbrochenen Fensterscheiben. Kamera schwenkt weiter auf das Fenster. Die Verdunkelungspappen sind herausgerissen, die Vorhänge zerfetzt und die Fensterscheiben zerbrochen. Von der Strasse her flackert Feuerschein eines brennenden Hauses über Möbel, Wände und Decke. Man hört das Aufschliessen der Korridortür und das Absetzen von Koffern. Gleichzeitig die Stimmen von Hans und Lotte.
Stimme von Lotte, die anscheinend gerade die Küche kontrolliert und erleichtert feststellt: Hier ist alles in Ordnung, bloss das Licht funktioniert nicht.
Gleich darauf betritt Hans das Wohnzimmer und kommt ins Bild. Er sieht den angerichteten Schaden und flucht: Ach du Donnerwetter! So ist 's richtig. Die Stimme von Lotte: Das ist ja eine schöne Bescherung.
Hans ist ans Fenster getreten: Die ganze Verdunkelung ist weggerissen.
327. Lotte tritt neben ihn ans Fenster und blickt auf die Strasse hinunter. Hans wendet sich zu ihr und fragt: Wo ist denn Helmuth?
Lotte beruhigt ihn: Der hilft da drüben löschen und Möbel bergen.
In Hans' abschliessender Stellungnahme zu den Folgen des Angriffes liegt doch eine gewisse Erleichterung: Das hat ganz schön gerumst. Na ja, es hätte noch schlimmer kommen können.
Eine Männerstimme antwortet: Es kommt noch schlimmer - verlasst Euch drauf.
328. Im Türrahmen steht Kurt Blank und fügt hinzu: Viel schlimmer.
329. Hans hat Kurt noch nicht erkannt. Er geht auf die Tür zu und fragt: Wer ist denn da?
Lotte ist auch einen Schritt vorgetreten. In einer Mischung von Überraschung, Sorge und Freude stösst sie hervor: Kurt!
330. Hans tritt unbefangen an Kurt heran, nimmt ihn bei den Schultern und sagt: Mensch, Kurt - Du bist im Lande. Wie bist Du denn überhaupt hier reingekommen.
Kurt kommt gar nicht dazu zu antworten, so schnell folgen Fragen und Ausrufe der beiden anderen aufeinander.
Auch Lotte ist jetzt an Kurt herangetreten und sagt in impulsiver Freude: Kurt - das ist aber schön, dass Du da bist! Hans: Bist Du denn nicht Soldat?
Lotte stösst einen überraschten Schrei aus: Du hast ja - einen Vollbart - Kurt, siehst Du aber komisch aus.
Hans hat, um Kurt besser betrachten zu können, seine Dynamo-Taschenlampe in Betrieb gesetzt und lässt den Lichtschein auf sein Gesicht fallen.
331. Kurt dreht den Kopf zur Seite und macht eine abwehrende Bewegung. Hans lässt die Lampe erlöschen - er bezieht Kurts Bewegung auf die Verdunkelungspflicht und sagt: Ach so.
Kurt stellt ironisch fest: Der Vollbart ist des deutschen Mannes Zier.
332.Hans denkt sofort wieder an praktische Dinge und fragt: Hast Du Hunger?
Kurt wehrt ab: Nee, lass man.
Hans: Aber ich - Lotte, mach' mal was zu essen.
In diesem Augenblick klopft es. Und eine Männerstimme ruft: Herr Behnke!
333. Lotte dreht sich zu Hans um, der eine Bewegung zur Tür macht: Soll ich _... ?
334. Kurt macht eine hastige Bewegung, mit der er sie aufhält und sagt leise und eindringlich: Lass keinen rein, Lotte - ich bin nicht da.
Lotte flüstert unwillkürlich auch: Wieso? Kurt, immer noch gedämpft, aber durchaus beherrscht und leichthin: Ach - nichts weiter. Ich bin bloss so schlecht rasiert - ich möchte mich so nicht zeigen.
Lotte zögert noch einen Augenblick. Hans hat plötzlich verstanden - er stösst ein gedehntes: Ach so! aus. Von draussen ist wiederholtes Klopfen und wieder die ungeduldige Stimme zu hören: Behnke! - Herr Behnke!
335. Lotte wendet sich automatisch zur Ausgangstür, dreht sich aber dann wieder Kurt zu und fragt leise und eindringlich: Kurt - was ist denn?
Kurt fasst sie bei der Schulter, schiebt sie der Tür zu und sagt leise: Los - mach' erst mal _...
Hans wendet sich Kurt zu: Getürmt?

Treppenhaus (Nacht)
336. Vor der Wohnungstür Behnke steht ein Mann in Zivil mit einem Luftschutzhelm. Er klopft noch einmal heftig. Er ruft noch einmal: Herr Behnke! und beugt sich dann horchend an die Tür.
Gleich darauf öffnet sich die Tür. Lotte steht im Türrahmen. Der Luftschutzwart fragt: Ist Ihr Mann nicht da?
Lotte zögert einen Augenblick verwirrt: Nein - äh, warum denn?
Der Luftschutzwart: Es müssen alle ran - drüben Nummer neunzehn _...
Er macht ganz selbstverständlich Anstalten, in die Wohnung reinzugehen: Ist bei Ihnen was passiert?
337. Lotte versperrt ihm den Weg und sagt hastig: Nein - nein, bei uns ist alles in Ordnung.
Sie schiebt ihn fast zur Tür hinaus und sagt: Ich komme gleich mit.

Wohnzimmer Behnke (Nacht)
338. Gegen das Fenster, von dem sich die Umrisse der beiden Männer gegen den Widerschein einer Feuersbrunst abheben. Ihre Unterhaltung ist gedämpft und voller Erregung.
Kurt: Es muss aber morgen Nacht sein.
Hans: Was ist es denn?
Kurt antwortet: Das weiss ich eben nicht. Ich glaube, der Druckbügel der Farbwalze. Ich bin ja kein Fachmann, aber Du - für Dich ist es eine Kleinigkeit.
339. Hans, nach einigem Nachdenken: Eine Kleinigkeit, die mich den Kopf kosten kann.
Dann, mit einem plötzlichen Entschluss, fügt er hinzu: Nein, Kurt, ich kann das nicht - ich habe Familie - ich habe eine Verantwortung.
Kurt nimmt ihm das Wort ab: Verdammt nochmal - ja, die hast Du - die haben wir alle!
Er fasst Hans bei der Schulter und sagt eindringlich: Mensch - Hans, bist Du wirklich so verstockt oder stellst Du Dich nur so? Was denkst Du Dir eigentlich, warum ich damals gegangen bin?
340. Hans, ausweichend: Na ja - weil Du _... Du musstest eben _...
Kurt lässt ihn nicht weiterreden: Nee - nicht aus Angst. Wenn ich Angst hätte, da wäre ich heute nicht hier. Was glaubst Du wohl warum _...
341. Hans macht sich frei und will Kurt unterbrechen: Das ist ja auch reiner _... Kurt: Lass mich ausreden. Was glaubst Du wohl - warum riskieren wir unseren Kopf? Weil wir auch eine Verantwortung kennen. Weil wir es für unsere Pflicht halten, den anderen - Menschen, wie Du, - die Augen zu öffnen, damit sie sehen, was das für ein Verbrechergesindel ist, das seine Macht nur mit Galgen, Mord und Konzentrationslagern aufrecht erhält. Wie lange wollt Ihr denn das noch mitmachen? Wie lange willst Du denn noch an Deiner gottverdammten Lügenmaschine stehen? Dass Ihr überhaupt noch schlafen könnt! Eure Schuld _...
342. Hans begehrt auf: Schuld? Schuld? Ich habe den Krieg nicht gewollt - ich habe ihn auch nicht gemacht. Aber ich kann es auch nicht ändern. Ich tue meine Pflicht so gut _...
Kurt: Deine Pflicht?
Je mehr Hans fühlt, dass er im Unrecht ist, um so hartnäckiger verteidigt er seinen Standpunkt: Jawohl, meine Pflicht! Die Sorge für Lotte - für Deine Schwester - und für meinen Jungen _... Denkst Du vielleicht, ich habe nicht darüber nachgedacht? Ich habe nie in meinem Leben etwas Unanständiges getan, und ich habe es nicht nötig, mir von Dir Vorwürfe machen zu lassen. Verstanden?
343. Kurt winkt plötzlich ab und huscht zur Tür. Während er horchend davor stehen bleibt, zischt er: Still!
344. Hans wartet einen Augenblick und horcht ebenfalls. Als er sieht, dass Kurts Spannung sich lockert, fährt er in erregtem Flüsterton fort: Du tauchst hier einfach bei Nacht und Nebel auf und verlangst Sachen, die uns alle ins Unglück stürzen können - und die keinem auf der Welt was nützen. Oder glaubst Du, dass der Krieg dadurch nur einen Tag eher aus ist? Dass auch nur ein Menschenleben dadurch geschont wird? Nee, Kurt! Während draussen an der Front deutsche Soldaten sterben _...
345. Kurt fährt dazwischen: Deutsche Soldaten! Ist der Tod eines französischen Soldaten, eines Russen, eines Amerikaners, eines Engländers vielleicht weniger furchtbar? Sind denn nicht hier wie dort Menschen, - arbeitende Menschen - mit den gleichen Wünschen, mit den gleichen Hoffnungen, der gleichen Sehnsucht nach Frieden, Arbeit und Brot - genau so wie Du und ich, Hans?
346. Hans ist von dem Gesagten beeindruckt, aber er wehrt sich gegen alles, was diese Erkenntnis für ihn bedeuten würde. Er schweigt.
347. Einfach und leise fügt Kurt hinzu: Ich liebe die Menschen. Siehst Du, Hans, das ist die Front, an der ich stehe.
348. Gegen Hans, der noch immer schweigt. Die Stimme von Kurt liegt über dem Bild: Und wo stehst Du? An Deiner Rotationsmaschine und fabrizierst Lügenmeldungen, Hassgesänge und Hetzartikel.
Hans, unsicher: Und wenn es rauskommt?
Kurt, überredend: Wir sind doch keine Kinder. Es ist alles genau besprochen - hier ist die Adresse -
Er reicht Hans einen Zettel: Merke sie Dir - und - na?
Hans liest die Adresse auf dem Zettel und sagt zögernd und unentschlossen: Ja _...
Kurt: So - gib her.
Er zerreisst den Zettel in kleine Stücke: Also morgen abend neun Uhr.
350. Hans, vor die klare Entscheidung gestellt, versucht doch wieder auszuweichen: Du, Kurt, ich möchte doch lieber nicht.
Kurt, schneidend ironisch: Ah - jetzt also plötzlich wieder nicht. Vielleicht kannst Du die Adresse jetzt besser verwenden.
Hans versteht nicht ganz genau, was das heissen soll, aber er spürt, dass Kurt ihn beleidigen will: Was willst Du damit sagen?
351. Hans tritt drohend an Kurt heran. Kurt, in der Absicht, Hans noch mehr zu reizen: Was hältst Du von einer netten kleinen Denunziation? Es soll sogar das Kriegsverdienstkreuz dafür geben. Hans verliert die Beherrschung und schreit: Was - für so einen Lumpen hältst Du mich?
352. Er stürzt sich auf Kurt und packt ihn am Hals. Kurt versucht, ihn abzuwehren: Lass mich los!
Hans: Nimmst Du das zurück?
Kurt stösst Hans zurück: Still, Lotte kommt.
Die beiden Männer fahren auseinander, sie richten ihre Jacken zurecht, und keiner will, dass Lotte etwas von der Auseinandersetzung erfährt.
353. Gegen die Tür, durch die Lotte das Zimmer betritt. Ihre erste Sorge gilt Kurt: Kurt - was ist denn? Irgend etwas stimmt doch wieder nicht mit Dir _...?

Heim der Hitlerjugend (Tag)
354. Bannführer Udo Schulze vor einer Gruppe Hitlerjungen, die in Doppelreihe angetreten sind. Rechts und links von Udo stehen zwei Fähnleinführer. Er trägt eine Leutnantsuniform der Infanterie, an der Brust das EK I. Sein linker Arm steckt in einer Binde. Udo beendet seine Ansprache: Er ist männlich und deutsch, als Führer eines grossen und tapferen Volkes ganz auf sich allein gestellt, diesen Kampf zu bestehen und dem übermächtig drohenden Feind die Stirn zu bieten. Und ebenso männlich und deutsch ist es, einem solchen Führer zu folgen, bedingungslos und treu, ohne Ausflüchte und Einschränkungen, und jedes Gefühl der Schwäche und Wankelmütigkeit von sich abzuschütteln. Es darf keinen Deutschen geben, der nicht zum fanatischen Widerstand bis zum Endsieg entschlossen und bereit ist. Wir vertrauen auf unser Glück und auf unsere Kraft, aber wir wissen auch, dass immer neue Gefahren uns umlauern. Auch unter uns sind Schwächlinge und Feiglinge, die nicht die Kraft haben, den uns aufgezwungenen Krieg durchzustehen bis zum Endsieg. Immer wieder versuchen dunkle Elemente, Landesverräter und vom Feind bezahlte Agenten, dem Deutschen Volk in seinem heiligen Abwehrkampf in den Rücken zu fallen.
355. Auf die angetretene Hitlerjugend. Stimme Udos: Jungens, haltet die Augen offen. Erst in der vorigen Woche ist ein Hitlerjunge, durch dessen Wachsamkeit ein Sabotageakt verhindert wurde, mit dem Verdienstkreuz 2. Klasse ausgezeichnet worden.
356. Udo fährt abschliessend fort: Vergesst nicht: Jeder von Euch ist ein Soldat des Führers!

Kellerraum (Nacht)
357. Gegen die getünchte Wand eines Kellers fallen die Schatten einer Schnellpresse und die einiger Gestalten, die um die Maschine herumstehen. Einer der Schatten ist über die Maschine gebeugt und nimmt Handgriffe daran vor. - Klirren von Eisen, Geräusch von Handwerkszeug, das auf einen Tisch gelegt wird. - Der über die Maschine gebeugte Schatten richtet sich auf, setzt mit einem Handgriff die Presse in Gang. - Maschinengeräusch setzt ein. - Dann stellt eine uns bekannte Stimme, es ist die Stimme von Hans, fest: Läuft wieder einwandfrei. Der Schatten bewegt sich an der Wand entlang aus dem Bild. Die Kamera schwenkt auf die Schnellpresse, über die rotierenden Walzen laufen Flugzettel:

DIE WAHRHEIT ÜBER STALINGRAD.
DER ATLANTIKWALL-BETRUG.
SCHLUSS MIT DEM WAHNSINN DES HITLERKRIEGES.

    Überblendung.

Rotationsmaschine
358. - 364. über die Walzen der Rotationsmaschine des "Völkischen Beobachter" laufen Zeitungen mit den Schlagzeilen

DER KRIEG AUF DEM HÖHEPUNKT.
NEUE OFFENSIVE IM OSTEN.
375.000 BRUTTOREGISTERTONNEN VERSENKT.
WIEDER 37 TERRORBOMBER ABGESCHOSSEN.
DEUTSCHE LUFTABWEHR UNÜBERWINDLICH.
HUNGERSNOT IN ENGLAND.

DEM ENDSIEG ENTGEGEN.

Gang im Verlagsgebäude des "Völkischen Beobachter" (Tag)
365. An der Wand eines kleinen Vorplatzes, auf den zwei Gänge münden, ist eine Gedenktafel mit den Namen der Arbeiter und Angestellten des "Völkischen Beobachter" angebracht, die während des Krieges gefallen sind. In grossen Lettern am Kopf der Tafel:
ES FIELEN FÜR FÜHRER UND REICH:
Die Kamera fährt zurück. Dadurch kommt Hans Behnke ins Bild, der während der Arbeitspause eine Zigarette raucht. Ein Arbeiter tritt zu ihm und sagt: Du, Hans, sollst mal zu Wedemeyer kommen.
Hans wirft seine Zigarette weg: Was will er denn?
Arbeiter: Weiss ich nicht.
Hans und der Arbeiter schlendern aus dem Bild.

Wohnzimmer Behnke (Tag)
Helmuth sitzt am grossen Mitteltisch über eine Denksportzeitung gebeugt. Dann hebt er den Kopf und ruft: Mutter - Fluss in Sibirien mit zwei Buchstaben?
Aus der Küche kommt Lottes Stimme: Wir haben ja 'nen Atlas.
Helmuth geht zum Bücherschrank und ruft dabei zurück: Du weesst aber auch gar nichts.
Während Helmuth schon den Atlas herauszieht die Stimme von Lotte: Und Du bist nur zu faul nachzusehen.
Dabei fallen zwischen den Büchern ein paar Zettel heraus und flattern auf den Boden. Helmuth hebt die Flugzettel auf.
367. In Helmuths Gesicht tritt eine plötzliche Veränderung ein. Er starrt auf die Zettel in seiner Hand und murmelt, leise vor sich hinlesend: Schluss mit dem Wahnsinn des Hitlerkrieges.

Küche Behnke (Tag)
368. Lotte steht mit dem Rücken zur Tür und ist damit beschäftigt, Wäsche zu bügeln. Nach kurzer Zeit kommt Helmuth in die Küche und will wortlos in seiner Kammer verschwinden. Ohne sich umzuwenden, fragt Lotte: Na, hast Du es rausgekriegt?
Helmuth, schon an der Tür zu seiner Kammer, antwortet bedrückt: Ich hab' keine Lust mehr.

Büro des Personalchefs vom "Völkischen Beobachter" (Tag)
369. Der Personalchef steht am Fenster, ohne zu sprechen. Am Tisch, mit dem Gesicht der Tür zugewendet, der gleiche SD-Mann, der Hans schon einmal verhört hat. Auf dem Tisch liegt so, dass jeder Eintretende es sofort sehen und lesen kann, ein Flugblatt. Es klopft. Der SD-Mann ruft auffordernd: Ja.
370. Die Tür wird geöffnet, Hans kommt herein. Mit einem kurzen Blick hat er das Gefährliche der Situation erkannt und grüsst: Heil Hitler!
371. Die beiden anderen grüssen zurück. Zuerst der Personalchef: Heil Hitler!
Dann der SD-Mann: Heil!
372. Kamera seitwärts, schwenkt mit dem näher an den Tisch herantretenden Hans Behnke mit und fährt an Hans vorbei bis - Gross - auf das auf dem Tisch liegende Flugblatt zu, so dass die Schrift deutlich lesbar wird:
SCHLUSS MIT DEM WAHNSINN DES HITLERKRIEGES!
373. Hans hat offensichtlich das Flugblatt sofort erkannt. Während jetzt der SD-Mann zu sprechen beginnt, versucht Hans, ihn anzusehen, sein Blick irrt aber unwillkürlich wieder zu dem Flugblatt zurück. Er bemüht sich, nicht mehr hinzusehen, dadurch bekommt seine Haltung etwas Gekrampftes. Stimme des SD-Mannes: Pg. Behnke, ich habe hier wieder eine Anfrage - nach der Adresse Ihres Schwagers _... Haben Sie inzwischen was von ihm gehört?
Hans: Schon lange nicht - seit Jahren nicht.
374. SD-Mann: Und Sie haben sich gar nicht um ihn gekümmert? Das ist doch ziemlich ungewöhnlich, nicht wahr?
375. Hans macht eine kaum spürbare Pause, - er weiss nicht, worauf der andere hinaus will und fürchtet, etwas Falsches zu sagen, was dem Gegner einen neuen Angriffspunkt geben könnte. Dann sagt er unsicher: Meine Frau hat schon immer gewartet _...
Der SD-Mann wiederholt den Text mit einer geringfügigen Abwandlung: Ach so, Ihre Frau hat auf ihn gewartet. Hans entgeht der Falle und stellt richtig: Nee, auf 'ne Nachricht hat sie gewartet.
376. SD-Mann: Und Sie selbst?
377. Hans, dessen Blick schon wieder auf das Flugblatt abgeirrt ist: Natürlich auch, aber - wir haben uns nicht so besonders gut gestanden.
378. Der SD-Mann versucht, Hans zu bluffen, indem er ihm jetzt noch die Möglichkeit gibt, seine Aussage unauffällig zu erweitern oder zu ändern: Streit gehabt oder Meinungsverschiedenheiten? Politische?
Er spricht schon weiter, bevor Hans antworten kann: Sie können es ruhig zugeben. Sowas kann ja vorkommen. Na?
379. Hans: Ich wüsste nicht, was ich da angeben soll.
380. Der SD-Mann ist scheinbar völlig überzeugt. Mit seiner weiteren Frage scheint er bei Hans förmlich Rat zu suchen: Natürlich - wissen Sie, es ist nur merkwürdig, hier nach dem Protokoll hat Ihre Frau eine ganz andere Aussage gemacht.

Wohnzimmer Behnke (Tag)
381. Ein anderer SD-Mann steht vor Lotte und sagt ungläubig: Und Sie haben inzwischen nichts von ihm gehört? Ihr Mann hat uns aber etwas ganz anderes gesagt.
382. Lotte, überzeugt: Das ist unmöglich, das muss ein Irrtum sein.
Der SD-Mann, schnell: Aber Sie haben Ihrem Bruder doch geschrieben.
Lotte, heftig: Wie soll ich ihm denn schreiben, ich habe doch keine Ahnung, wo er ist.
383. Der SD-Mann: Na, regen Sie sich man nicht auf. Wir werden ihn schon finden - auch ohne Sie. -
Sich abwendend fügt er noch mit drohendem Unterton hinzu: Heil Hitler!

Büro des Personalchefs vom "Völkischen Beobachter" (Tag)
384. Der SD-Mann nickt Hans Behnke verabschiedend zu und sagt, halb entschuldigend: Also gut, Pg. Behnke - Sie wissen ja, was sein muss, muss sein. Hans wendet sich schon ab und will zur Tür gehen. Die Kamera schwenkt mit. Da hört er die Stimme des SD-Mannes: Kennen Sie das Dings da?
385. Der SD-Mann hat das Flugblatt vom Schreibtisch genommen und hält es Hans hin. Hans schüttelt den Kopf: Nee - nee, das ist ja _...
Der SD-Mann lässt das Blatt wieder auf den Tisch fallen: Danke - das habe ich mir gedacht.

Heim der Hitlerjugend (Tag)
386. Über einen Tisch ist eine Hakenkreuzfahne gehängt. Auf dem Tisch ist ein blumengeschmücktes Führerbild aufgestellt. Dicht neben dem Tisch steht Bannführer Udo Schulz und liest mit pathetischer Stimme ein paar Satze aus dem Grossen Gelöbnis. Er schlägt das Heft zu, legt es auf den Tisch.
387. Udo nimmt Haltung an und spricht der im Halbkreis um den Tisch aufgestellten Gruppe Hitlerjungen eine Schwurformel vor: Schwört Ihr, immer an Euer Volk zu denken und zuletzt an Euch?
388. Die Hitlerjungen antworten im Chor: Wir schwören!
389. Udo: Schwört Ihr, dem Führer bedingungslos zu folgen und zu dienen? Die Hitlerjungen, im Chor: Wir schwören!
390. Udo: Schwört Ihr Eurem Führer Treue bis zum Tode?
Die Hitlerjungen, im Chor: Wir schwören!

Dienststelle des Sicherheitsdienstes (Tag)
391. Hinter einem Schreibtisch sitzt der Chef des Sicherheitsdienstes. Er ist ein jovialer, gemütlich aussehender Mann, dem man seinen Beruf nicht ansieht. Er könnte ein Rektor a. D. sein. Er hebt sich halb aus seinem Sessel, macht eine auffordernde Bewegung und sagt: Bitte, nehmen Sie doch Platz.
392. In der Mitte des Zimmers steht Lotte Behnke. Sie macht unsicher einige Schritte auf den Stuhl zu, der auf der anderen Seite des Schreibtisches steht und setzt sich zögernd mit dem Rücken gegen die Tür. Die Kamera gleitet mit Lottes Bewegung zurück, so dass der Chef des Sicherheitsdienstes ins Bild kommt. Dieser lehnt sich zurück, schlägt ein Aktenstück auf, das er vor sich auf dem Tisch liegen hat, und fängt in ganz normalem Gesprächston an: Ich habe Sie gebeten _... Es handelt sich um eine Auskunft, - eigentlich nicht so wichtig _...
Lottes Haltung ist gespannt, denn sie erwartet einen Angriff.
393. Er seufzt und wirft ihr einen verständnisvollen Blick zu - mit wieviel lästigen Dingen und Bagatellen wird er schliesslich hier behelligt. Dann entschliesst er sich zu sprechen: Also - Frau Charlotte Behnke, ja, geborene _...
394. Lotte antwortet kurz: Blank.
Stimme des SD-Chefs: Richtig - richtig - Blank _... und Ihr Mann ist doch Pg.?
Lotte, genau so kurz: Ja.
395. Der SD-Chef schlägt das Aktenstück zu und lehnt sich zurück. Er scheint jetzt endlich zum Thema kommen zu wollen: Sagen Sie, was für Leute wohnen eigentlich in Ihrem Haus? Ist Ihnen vielleicht irgend etwas aufgefallen - ich meine, was die Stimmung anbetrifft und so?
396. Lotte verharrt einen Augenblick überlegend, schüttelt ein wenig den Kopf, - da hört man schon die Stimme des SD-Chefs: Na ja, es hätte doch sein können _... Natürlich, man kümmert sich nicht viel um die Leute im Haus.
397. Gegen den SD-Chef, der sich bei seinem nächsten Satz zu der Schublade seines Schreibtisches herunterbeugt, scheinbar nur, um das Aktenstück wieder einzuschliessen: Man hat ja wirklich andere Sorgen heutzutage.
In diesem Augenblick schwenkt die Kamera nach unten und erfasst die Hand des SD-Chefs, die auf einen der unter der Tischplatte befestigten Klingelknöpfe drückt.
398. Lotte, durch seine Jovialität getäuscht, sagt erleichtert, nur um etwas zu sagen: Ich komme ja auch kaum mit einem zusammen _...
399. Während der SD-Chef sich schwerfällig von seinem Sessel erhebt und um den Schreibtisch herum langsam zur Zimmermitte geht, bestätigt er ihr scheinbar ohne einen Hintergedanken: Eben, Sie kommen mit keinem zusammen - höchstens im Luftschutzkeller. Und was da so rumgequatscht wird in der sogenannten Hausgemeinschaft, das kennt man ja.
Die Augen des SD-Chefs gehen in Richtung der Tür. Man hört, dass die Tür geöffnet wird.
400. Im Türrahmen steht Kurt. Er wird von einem SS-Mann weiter ins Zimmer hineingeschoben. Durch die offenstehende Tür erkennt man noch einen zweiten SS-Mann, der ebenfalls im Flur bleibt. Kurt steht zusammengesunken da. Er ist augenscheinlich in einem der üblichen SS-Verhöre furchtbar zugerichtet worden. Währenddessen hört man die Stimme des SD-Chefs, der seine Rede fortgesetzt hat, als habe sich an der Situation nichts geändert: Nichts als Scherereien und unnötige Arbeit hat man damit.
401. Gegen Lotte, die noch immer am Schreibtisch sitzt mit dem Rücken zur Tür. Es ist ganz still geworden. Lotte verharrt noch wenige Sekunden in ihrer Stellung, dann spürt sie, dass hinter ihrem Rücken irgend etwas vorgegangen ist und wendet den Kopf. Im nächsten Augenblick ist sie aufgesprungen, und, von dem furchtbaren Anblick ihres Bruders erschüttert, ruft sie: Kurt!
402. Mit einer Schnelligkeit, die man dem schweren Mann nicht zugetraut hätte, ist der SD-Chef neben Lotte und überfällt sie in völlig verändertem, schneidendem Ton mit der Frage: Und Sie wollen behaupten, Sie haben Ihren Bruder seit Jahren nicht gesehen?
Lotte versucht, ohne auf seine Frage zu reagieren, an ihm vorbei auf Kurt zuzulaufen und ruft entsetzt Kurt, mein Gott
Bevor sie weitersprechen kann, hat der SD-Chef sie brutal beim Arm gepackt und herumgerissen. Dicht vor ihr stehend, schreit er sie an: Antworten Sie!
403. Auf Kurt, der in gespannter Haltung nahe an der Tür steht. Seine Augen sind auf Lotte gerichtet, als ob er ihr mit aller Kraft die richtige Antwort suggerieren möchte. Die Stimme Lottes, erbittert: Ich habe ihn nicht gesehen! Das Gesicht Kurts entspannt sich kaum merklich. Es ist die Antwort, die er erhofft hat. Nach diesem Augenblick der höchsten Konzentration verfällt sein Gesicht, und seine Augen schliessen sich halb. Stimme des SD-Chefs, wütend: Abführen!
Kurt wird von den zwei SS-Männern, die im Flur gewartet haben, aus dem Zimmer herausgerissen. Die Tür schliesst sich, man liest:
"Heil Hitler! ist dein Gruss!"

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Küche Behnke (Nacht)
404. Auf dem Küchentisch liegt eine amtliche Mitteilung, in nüchternem Beamtendeutsch abgefasst, aus der zu ersehen ist, dass der Untersuchungsgefangene Kurt Blank einem Herzschlag erlegen ist. Die Einäscherung ist erfolgt. Die Kosten gehen laut beiliegender Aufstellung zu Lasten der nächsten Angehörigen. Im Nichteintreibungsfalle erfolgt Zwangsvollstreckung. Der aufgerissene Briefumschlag liegt daneben. Da setzt aus nächster Nähe das anschwellende Pfeifen eines Wasserkessels ein.
Die Kamera schwenkt langsam über ein paar abgestellte Teller und Tassen auf den zweiflammigen Gaskocher, auf dem der Wasserkessel steht und immer stärker den Dampf ausstösst.
405. über den Wasserkessel auf Lottes Gesicht, die abwesend auf den Brief starrt. Das immer schriller ansteigende Pfeifen des Wasserkessels dringt nicht in ihr Bewusstsein. Sie wendet sich um und verlässt mit schleppenden Schritten die Küche.

Wohnzimmer Behnke (Nacht)
406. Hans steht regungslos am Fenster, mit dem Rücken zur Kamera. Das Geräusch des Wasserkessels dringt von der Küche her durch die Wohnung.

Schlafzimmer Behnke (Nacht)
407. Lotte steht in der Mitte des Zimmers und wirft sich plötzlich - am Ende ihrer Beherrschung - aufschluchzend auf das Bett.

Küche Behnke (Nacht)
408. Gegen die Kammertür, die sich öffnet. Helmuth Behnke (jetzt etwa 13 Jahre alt) in der üblichen HJ-Uniform, kommt in die Küche, und während er zum Tisch mit dem Gaskocher geht, ruft er laut: Mutter! Hörst Du denn nicht - das Wasser kocht.

Wohnzimmer Behnke (Nacht)
409. Jetzt steht Hans Behnke einige Schritte vor der Wand, an der das Hitlerbild hängt. Von der Küche her ebbt das Geräusch des Wasserkessels ab und hört dann ganz auf.
410. Das Gesicht von Hans Behnke, das völlig leblos erscheint. Seine Augen starren ins Leere. Plötzlich verzerrt sich sein Gesicht in rasender Wut. Man fühlt, dass er mit aller Heftigkeit zuschlägt.
411. Die Faust Hans Behnkes zerschmettert die Glasscheibe des Hitlerbildes. Die Scherben fallen klirrend zu Boden.
412. Im Türrahmen steht Helmuth Behnke, der ungläubig, entsetzt und fassungslos auf das zertrümmerte Bild starrt. Mit einem Ruck wendet er sich um, läuft aus dem Zimmer. Man hört seine Schritte im Korridor, und gleich darauf wird die Wohnungstür heftig ins Schloss geworfen.

Schlafzimmer Udo Schulze (Nacht)
413. Es ist so dunkel, dass die Gegenstände im Zimmer kaum zu erkennen sind. Vom Flur hört man ein zaghaftes Klingeln. Erst nach einem abermaligen, etwas dringlicher werdenden Klingeln flammt das Licht einer Nachttischlampe auf, und gleich darauf erscheint das verschlafene Gesicht des Bannführers Udo Schulze im Lichtkreis der Lampe. Verschlafen erhebt er sich und verlässt das Zimmer. Die Kamera folgt ihm. Von der Wohnungstür her hört man gleich darauf den überraschten Ausruf aus seinem Munde: Helmuth!? Nanu, was willst Du denn noch so spät? Komm rein, mein Junge.
Udo kommt mit Helmuth ins Zimmer, er hat ihn bei der Schulter gefasst und schiebt ihn vor sich her. Dabei sagt er: Na, was hast Du denn auf dem Herzen?
Udo hat Helmuth losgelassen, geht zum Bett und setzt sich auf die Bettkante. Helmuth ist ein paar Schritte von ihm entfernt stehen geblieben. Udo sieht Helmuth an. Er ist noch müde und muss gähnen. Während er nach einer Zeitung greift, die auf dem Nachttisch liegt, sagt er nachlässig: Wie siehst Du denn aus? Hast Du was angestellt?
414. Offensichtlich erwartet Udo keine sensationellen Mitteilungen. Er hat den Blick von Helmuth gewandt und fängt an, die Zeitungsüberschriften zu überfliegen. Dabei sagt er: Hast Du Krach gehabt zu Hause?
Als keine Antwort erfolgt, nimmt er an, dass er so ungefähr das Richtige getroffen hat und fährt, Zeitung lesend, gedankenlos tröstend fort: Na, na, so schlimm wird es schon nicht sein, also los, erzähl' schon.
415. Auf Helmuth, der noch immer an derselben Stelle steht und in starrer, verkrampfter Haltung auf Udo starrt. Udos Stimme fährt, während ein Zeitungsblatt raschelnd umgewendet wird, fort: Wir sind alle keine Engel - brauchen wir auch nicht. Was hast Du denn ausgefressen?
Helmuth setzt zu einer Antwort an, aber er spricht nicht.
416. Udo ist immer noch mit seiner Zeitung beschäftigt. Jetzt fällt ihm auf, dass Helmuth noch immer nicht antwortet. Er sieht auf, schiebt die Zeitung beiseite und fragt, jetzt aufmerksam und ganz bei der Sache: Hat Dein Vater Dich verhauen? Soll ich mal mit ihm sprechen.
417. Helmuth stösst impulsiv verzweifelt heraus: Nein - nein - ich gehe nie wieder nach Haus. Kann ich nicht hier bleiben - bei Dir?
418. Udo, jetzt ganz wach, hat die Hände auf die Knie gelegt und sieht Helmuth scharf an: Natürlich kannst Du hier bleiben - wenn es sein muss.
Er steht auf, macht einen Schritt auf Helmuth zu und sagt nett und kameradschaftlich: Aber das ist doch alles dummes Zeug. Also nun mal los - was gibt 's denn?
Udo wartet einen Augenblick, dann wird er ungeduldig und sagt in dienstlichem Ton - aber nicht unfreundlich: Los - erstatte Bericht! Dienstlicher Befehl!
419. Auf Helmuth Behnke, der dienstliche Haltung annimmt und starr und korrekt meldet:
Hitlerjunge Behnke erstattet Meldung: _...

Maschinenhaus des "Völkischen Beobachter" (Tag)
420. Den Gang entlang kommen auf die Kamera zu drei SS-Männer in Dienstuniform. Zwei von ihnen tragen Stahlhelm, der Vorgesetzte trägt Mütze. Die Kamera fährt vor ihnen her durch den Gang - durch einen Vorraum zum Maschinensaal und weiter in den Maschinensaal hinein. Hin und wieder kreuzen Angestellte und Arbeiter den Weg der SS-Männer. Am Eingang zum Maschinensaal bleiben, ohne jegliche Aufforderung, die beiden SS-Männer zur Sicherung an der breiten Flügeltür stehen, während der Vorgesetzte allein seinen Weg fortsetzt. Am Ende der Fahrt baut sich der Sturmführer drohend auf und sagt seitlich an der Kamera vorbei: Heissen Sie Behnke'?
421. Gegen einen Teilausschnitt der Rotationsmaschine, vor der Behnke steht, offensichtlich damit beschäftigt, eine Reparatur vorzunehmen. Er wendet sich ruhig um, blickt erstaunt und voller Unruhe auf den SS-Mann, dessen Stimme zu hören ist: Kommen Sie mit! Behnke geht aus dem Bild, und die Kamera stösst schnell auf die Rotationsmaschine zu, durch deren Walzen ein Plakat läuft:
Grossveranstaltung in den Eisenwerken. Wilhelm Furtwängler und die Berliner Philharmoniker. Die 5. Symphonie von Beethoven für die Belegschaft der Siemenswerke.
Gleichzeitig ertönen die ersten Akkorde der Schicksals-Symphonie Beethovens, die während der Überblendung weiterklingt.

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Dienststelle des Sicherheitsdienstes (Tag)
422. Gegen einen grossen Radioapparat, aus dem die Klänge der 5. Symphonie Beethovens tönen. Die Kamera schwenkt hoch und trifft auf das schwammige Gesicht des SD-Chefs, der sich umwendet und feststellt: Beethoven. - Fünfte.
Dann nach einer Pause: Na? Jetzt habe ich Ihnen aber lange genug Zeit gelassen.
423. Hans Behnke sitzt auf einem Stuhl und, ohne den SD-Chef anzusehen, antwortet er nach einer kleinen Pause verstockt: Ich habe alles gesagt.
424. Der SD-Chef: Sie leugnen also. Sie haben diese Hetzblätter nicht in Ihrer Wohnung gehabt.
425. Behnke, unentschlossen: Nein.
426. Gegen den Schreibtisch, auf dem die Flugblätter liegen. Unter der Tischplatte erkennt man die Knöpfe einer Klingelanlage. Die Hand des Chefs greift ins Bild, und während sie auf einen der Knöpfe drückt, hört man seine Stimme: Nun, das weiss ich aber besser.
427. Die Tür wird geöffnet. Ein SS-Mann lässt Helmuth Behnke herein und schliesst hinter ihm die Tür. Helmuth Behnke grüsst mit einem vorschriftsmässigen Hitlergruss, und dann trifft sein Blick auf seinen Vater.
428. Hans Behnke erhebt sich langsam und starrt fassungslos auf seinen Jungen.
429. Das Gesicht Helmuth Behnkes, dessen Blick angstvoll vom SD-Chef zu seinem Vater flattert. Die Stimme des SD-Chefs: Nun?
430. Behnke wirft einen kurzen Blick auf den SD-Chef. Er lässt den Kopf sinken; er gibt das Spiel auf.
431. Das hilflose, verzweifelte Gesicht Helmuth Behnkes. Dazu die triumphierende Stimme des SD-Chefs: Das genügt.

    Langsame Durchblende.

In der Gefängniszelle (Nacht)
432. Gegen die Wand der Zelle. Wieder werden die Inschriften sichtbar, die wir zu Beginn der Rückerinnerung verlassen haben. Die Klänge der 5. Symphonie werden vom realen Kampflärm, der von aussen in die Zelle dringt, übertönt.
- Die Kamera fährt zurück und erfasst den Häftling Behnke, der sich der Tür zuwendet. - Schlüssel- und Türgeräusche.
Gleichzeitig hört man die Stimme eines SS-Mannes: Los - raus, Du Hund!
Wieder ist das durchdringende Geräusch einer Trillerpfeife zu hören. Der SS-Mann kommt ins Bild und stösst Hans Behnke brutal aus der Zelle.

Strasse (Nacht - Aussen)
433. Durch einen Brückenbogen der Stadtbahn auf eine Strasse gesehen (Die Strasse ist erfüllt vom Lärm des Kampfes, der auf dem Höhepunkt steht.) - Autowracks - ein brennender Panzer und vereinzelte Opfer des Kampfes. In geduckter Haltung rennt eine Frau quer über den Damm. Es ist Lotte. Die Kamera folgt ihrem Weg und erfasst einige Gestalten, die unter dem Brückenbogen schutzsuchend zusammengedrängt stehen. Hier hält auch Lotte keuchend und erschöpft einen Augenblick ein. Sie stösst hervor: Wisst _... Ihr _... etwas _... Moabit - ist es schon frei?
Eine der Gestalten: Woll'n Se da etwa hin?
Lotte: Ich muss _...

Im Gefängnishof (Nacht - Aussen)
434. Eine kleine Gruppe von SS-Männern steht mitten auf dem Hof. Zwei Maschinengewehre sind mit Schussrichtung gegen eine Mauer aufgestellt. Einer der Männer lässt eine kurze Garbe gegen die Mauer prasseln - MG-Feuer - Da blickt ein anderer auf und ruft sichtlich befreit: Na endlich _...
435. Etwa 80 Häftlinge, Männer und Frauen, kommen, von SS-Posten eskortiert und zu einem engen Haufen zusammengedrängt, über den Hof auf die Kamera zu. Da versucht einer der Häftlinge, seinem sicheren Schicksal zu entgehen, löst sich aus der Menge und hetzt über den Platz. Zwei, drei Schüsse fallen - der Flüchtende überschlägt sich und bleibt regungslos liegen.
436. Die Gruppe der SS-Männer hat den Vorgang verfolgt. Einer stellt ungerührt fest: Der konnte es nicht mehr abwarten.
Kaum hat der Mann ausgesprochen, - stürzt er wie vom Blitz gefällt nach vorn über. Im gleichen Augenblick hört man aus der Nähe heftiges Maschinenpistolenfeuer. Da schreit schon einer:
Die Russen!
Ein anderer: Deckung!
Die SS-Männer werfen sich auf den Boden - streuen auseinander - reissen die Maschinengewehre herum und erwidern das Feuer. - MG-Schüsse.
437. Gegen die Gefängnismauer, über die sowjetische Soldaten entern.
438. Gegen die Häftlinge, die völlig erstarrt scheinen. Nur die Posten erwidern das Feuer aus ihren Maschinenpistolen. Plötzlich stürzen einige beherzte Männer auf den einen Posten und entwaffnen ihn. Für die anderen ist diese Tat das Signal, nach allen Seiten auseinanderzustieben, teils um sich in Sicherheit zu bringen - teils aber auch, um noch andere der SS-Posten unschädlich zu machen. Hans Behnke ist unter den letzteren.
439. In der Mitte des Hofes liegen neben den Maschinengewehren gefallene SS-Männer. Aus einem wird das Feuer noch erwidert.
440. An der Gefängnismauer. Ein sowjetischer Soldat bricht getroffen zusammen. Die Kamera fährt dicht an sein junges Gesicht heran,

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Hauskeller (Tag)
441. Die Kellertreppe herunter kommen Udo Schulze und dicht dahinter Helmuth Behnke. Beide sind ausser Atem, kampfgeschwärzt und abgerissen. Udo lässt sich auf eine Kiste fallen: Hier ist kein Aas _...
Dabei blickt er sich suchend um, dann keucht er weiter: Aus - Feierabend, - Dein treuer Vater.
442. Helmut lehnt, ebenfalls schwer keuchend, an der Wand und blickt aus dem Kellerfenster auf die rauchende Strasse. Man hört die Stimme Udos: Glück muss der Mensch haben. -
443. Udo zieht einen alten Reisekorb aus einer Ecke hervor und kramt darin herum.
444. Helmuth blickt aus dem Fenster und sagt, ohne sich umzuwenden: Warum kommen die andern denn nicht? Die Stimme Udos: Die werden nicht mehr können. Sind gefallen - oder getürmt. Is ja auch scheissegal jetzt. Los, runter mit den Klamotten - hier ist alles, was das Herz begehrt _... Zivil ist Trumpf!
Helmuth blickt sich um, und in seinem Gesicht spiegelt sich fassungsloses Staunen.
445. Udo hat seinen Uniformrock ausgezogen und wirft ihn in hohem Bogen von sich.
446. Der Uniformrock mit dem EK I fliegt in die Kellerecke.
447. Helmuths Gesicht. Eine Welt bricht zusammen. Er ist keines Wortes und keiner Bewegung fähig. Die Stimme Udos: Nu mach' schon - hier ist 'ne alte Hose - auch für Dich - der Iwan kann jeden Augenblick hier sein.
448. Udo steht in Unterhosen im Keller und steigt in eine alte Zivilhose. Wütend sagt er: Mensch - Helmuth, worauf wartest Du denn noch - vielleicht auf den Endsieg oder worauf sonst noch?
449. Helmuths erstarrtes Jungengesicht. Die frivole Stimme Udos fährt fort: Also ich hau' ab - mach' was De willst - Heil und Sieg - und fette Beute.
Helmuth blickt aus dem Kellerfenster. Die Kamera fährt langsam an Helmuth Behnke heran. Tränen laufen ihm über das Gesicht, - dann bricht er in heftiges, erschütternd kindliches Weinen aus.
Die Strasse überquert die groteske Gestalt Udos in Zivilkleidern, die ihm viel zu weit sind.

    Überblendung.

Brandenburger Tor (Nacht - Aussen)
450. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor im flackernden Schein der brennenden Stadt. - Symphonische Musik. -
451. (Tag) Die gleiche Einstellung. Durch die dichten Rauchschwaden bricht das Sonnenlicht und lässt die bizarr zerschossene Quadriga erkennen. An ihrer Spitze weht die rote Fahne.

    Überblendung.

Strasse (Tag - Aussen)
452. Ein langer Zug gefangener Soldaten schleppt sich müde durch eine Strasse, die das tragische Bild erbitterter Kämpfe zeigt. Die Kamera gleitet näher und erfasst Helmuth Behnke, der mit leeren Augen starrend in der Reihe mitgeht.
453. Eines der unzähligen Opfer dieses Wahnsinns ist Lotte Behnke. Sie liegt getroffen am Strassenrand - wie so viele.

Im Rotationssaal

454. Das Radwerk der Rotationsmaschine steht still. Dann beginnt es langsam anzulaufen. Schneller - immer schneller. - Musik und Maschinengeräusch. - Die Kamera erfasst die Walze, über die die erste Meldung läuft:
8. Mai 1945. Die deutsche Wehrmacht hat kapituliert!

S-Bahnhof Friedrichstrasse
455. Gegen die Oberfläche des schwarzen Wassers, das träge auf die Kamera zuströmt. Ein einsamer Stahlhelm treibt vorbei.
456. Das Wasser fällt langsam. Die Bahnhofsuhr und an der linken Bildkante ein Schild mit der Aufschrift:
Zug fährt nach Oranienburg.
tauchen auf.
457. Das Wasser fällt langsam. (Schnittbild.)
458. Gegen die langsam strömende Wasseroberfläche. Die Wagendächer tauchen auf. Ein Koffer, Fetzen von Lumpen und unkenntliche Gegenstände aller Art schwemmen vorbei.
459. Schnittbild.
460. Aus der sinkenden Wasseroberfläche taucht das Bahnhofsschild auf: FRIEDRICHSTRASSE.
Die fast unkenntliche Gestalt eines. Ertrunkenen hängt über dem Schild.
461.-463. Schnittbilder
464. Gegen die Tunnelwand mit ihren grossen Reklameflächen. Ein Paar schön gemalte Frauenbeine und die Aufschrift: BEMBERG SEIDE.
Langsam sinkt der Wasserspiegel.
465. Das Häuschen des Bahnhofsvorstehers. Das Wasser fliesst kreisend durch die Fenster ab. Das Diensttelefon mit dem Pult taucht auf. Eine Thermosflasche schlenkert im Wasser.
466. Gegen die Treppenstufen mit dem Knipserhäuschen. Aus der unkenntlichen Masse von Gepäck, Schlamm und angeschwemmten Gegenständen aller Art heben sich die Konturen eines Kinderwagens ab.
467. Das Wasser sinkt und gibt den Blick auf die Scheibe eines S-Bahnwagens frei. Das bekannte Plakat für Spionageabwehr mit der Aufschrift: PST! wird sichtbar. Die Kamera schiebt sich an die Scheibe heran und erfasst im Innern des Wagens die glitschignassen Körper der Ertrunkenen, die als fast unkenntliche Masse den Boden des Waggons bedecken.

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Im Rotationssaal
468. Die Rotationsmaschine arbeitet. Eine Schlagzeile wird sichtbar und nennt die Zahl der in den KZ's umgekommenen Millionen Menschen. Eine weitere Zahl nennt die Millionen der Vermissten. Und eine dritte Zahl die der Millionen Toten des 2. Weltkrieges. Mit einem musikalischen Akzent erscheint gross und mahnend das Wort: NÜRNBERG.

Nürnberger Gerichtssaal
469. Gegen den Richtertisch. In Anwesenheit der vier alliierten Ankläger wird das Urteil verkündet: To death by hanging!

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Im Treppenhaus zur Wohnung Behnke (Abend)
470. Das Bild ist leer. Nach geraumer Weile kommt Helmuth Behnke langsam die Treppe herauf. Er trägt einen zerrissenen Infanterie-Rock und eine alte Zivilhose. Inge, ein junges Mädchen, folgt ihm und, als sein Schritt langsamer wird, kommt sie an seine Seite. Aufmunternd sagt Inge: Na?
Helmuth bleibt jetzt stehen und stösst plötzlich hervor: Ich kann es nicht! Komm', Inge _... Lass mich.
471. Aber Inge versperrt ihm den Weg und sagt eindringlich: Helmuth, das ist feige - und ausserdem ist es ein Unrecht gegen Deinen Vater.
Helmuth: Das weiss ich gar nicht. Es ist viel besser für ihn, wenn er glaubt, dass ich tot bin. Und wenn _...
Inge, resolut: Ach, jetzt gibt es kein Wenn und kein Aber - einmal musst Du es doch. Du wirst doch Deines Lebens nie mehr froh - und ich auch nicht, Helmuth.
473. Helmuth blickt Inge einen Augenblick an, und dann kommt er zu einem Entschluss: Du hast recht, Inge - Ich danke Dir auch.
Inge: Na endlich!
Damit wendet sie sich um. Man hört sie die Treppe hinunterlaufen und ihre ihre Stimme: Wir sehen uns morgen.
Helmuth blickt ihr noch einen Augenblick nach und steigt dann mit einem sichtbaren Entschluss die letzten Stufen hinauf.

Küche Behnke (Abend)
474. Hans Behnke hat gerade das Geschirr abgetrocknet und stellt es jetzt umständlich in den Schrank zurück. Da klingelt es sehr zaghaft. Behnke hat es nicht eilig. Er stellt erst den Teller, den er in der Hand hat, in den Schrank und schlürft dann zur Tür.

Korridor Behnke (Abend)
475. Behnke kommt und öffnet ahnungslos die Tür. Im Halbdunkel des Treppenhauses steht sein Sohn Helmuth.
476. Hans Behnke sieht seinen Sohn lange an. In seinem Gesicht ist keine Bewegung.
477. Auch Helmuth versucht, seine Erregung mit aller Gewalt zu verbergen. Abwartend gespannt blickt er auf seinen Vater.
478. Dann sagt Behnke verhalten: Komm rein.
Helmuth geht an ihm vorüber, und der Alte schliesst die Tür.
479. Helmuth versucht, in dem Gesicht, in der Haltung seines Vaters zu erkennen, was er zu erwarten hat. Aber Behnke geht an ihm vorbei in die Küche, und Helmuth folgt zögernd.

Küche Behnke (Abend)
480. Helmuth, der an der Tür stehengeblieben ist, beginnt endlich zu sprechen: Ich _... ich _... wenn Du willst, geh' ich gleich wieder.
481. Behnke blickt unsicher in der Küche umher, bis sein Auge auf dem Geschirr haften bleibt. Sein Glück und seine Verwirrung finden in einer belanglosen Feststellung ihren Ausdruck: Ich war gerade beim Abtrocknen.
482. Helmuth erträgt die Spannung nicht mehr und sagt leise in unterdrückter Erregung: Sag' doch mal was _... oder schmeiss' mich doch raus meinetwegen _... oder _...
483. Da ist es mit der Beherrschung Behnkes vorbei. Er reisst seinen Jungen an sich, und unter Freudentränen poltert er los: Du dummes Luder - Helmuth - Du Idiot - was redest Du denn da für einen Quatsch zusammen - Junge - mein Helmuth Du lebst _... Du bist da _...
Der Rest seiner Worte geht in einem befreienden Tränensturz unter. Es ist das erste Mal seit vielen Jahren, und dieses Weinen ist erlösend. Es ist endlich der Ausbruch des Leidens vergangener Jahre.
484. Helmuth ist von dem plötzlichen Nervenzusammenbruch seines Vaters beunruhigt und streicht ihm scheu über das Haar. Behnke, der am Tisch zusammengebrochen war und die Hände vor das Gesicht presst, richtet sich jetzt auf und sagt - fast über sich selbst ärgerlich: Ach, das sind die Nerven, die Nerven sind das - weiter nichts.
In verändertem Ton fügt er hinzu: Ich stelle nur schnell die Teller weg.
485. Behnke am Schrank. Während er das Geschirr abstellt, sagt er: Ich muss ja jetzt alles alleine machen _... Mutter ist _...
486. Helmuth unterbricht ihn mit einem leisen: Ich weiss.
Da der Alte sich erstaunt umwendet und fragend seinen Sohn ansieht, beginnt dieser zu reden: Ich bin schon seit sechs Wochen hier. Ich war in Russland.
Der alte Behnke ist erstaunt, beinahe entrüstet: Schon sechs Wochen? Und da kommst Du erst heute?
Helmuth leise: Ich war schon oft vor Deiner Tür, aber ich bin immer wieder umgekehrt. Ich hab' nicht den Mut gehabt. Und ich wäre auch heute wieder zu feige gewesen, wenn nicht Inge - wenn ich es ihr nicht versprochen hätte
487. Der Vater sieht seinen Sohn forschend und verwundert an: Inge?
Helmuth versucht, sich unbefangen zu stellen, und erklärt nebenbei: Das ist die Schwester von meinem Freund, bei dem ich wohne - gewohnt habe.
Der Vater geht auf Helmuth zu und sagt lebhaft: Aber warum denn? Warum denn nur? Warum bist Du denn nicht zu mir gekommen - zu Deinem Vater?
Helmuth: Ich wusste nicht _... ich dachte, sowas kann man nie verzeihen.
488. Behnke macht eine Bewegung, mit der er alle Gedanken dieser Art wegwischen will: Ach, Junge _... verzeihen müsst Ihr.
489. Hans Behnke spürt, dass der Blick seines Sohnes mit einem besonderen Ausdruck, den er sich zunächst nicht erklären kann, auf seinem Gesicht ruht: Weshalb siehst Du mich denn so an? Dann begreift er und fährt mit der Hand übers Gesicht: Ach so - das ist nicht so wichtig. Das ist längst verheilt. Die hatten manchmal eine etwas unfreundliche Art, wenn sie was wissen wollten. Und dann spricht er mit der alten Wärme und Herzlichkeit weiter: Ach, Junge, dass Du wieder da bist. Ich hab 's ja gewusst. - Da fällt mir ein - ich habe ja was für Dich. Komm' mit - oder bleib' hier. Ich hol 's schon.
Helmuth bleibt zurück und setzt sich - das erste Mal sich zu Hause fühlend - auf einen Stuhl.

Schlafzimmer Behnke (Abend)
490. Hans Behnke öffnet den Kleiderschrank - da hängen die Kleider seiner Frau. Seine schwere Hand streicht zärtlich über ein Kleid - er steht einen Augenblick regungslos, dann nimmt er einen Anzug aus dem Schrank, der zwischen den Kleidern gehangen hat, und verlässt das Schlafzimmer.

Küche Behnke (Abend)
491. Helmuth Behnke sitzt noch immer auf dem Küchenstuhl. Als er seinen Vater zurückkommen hört, steht er auf und wendet sich ihm zu.
492. Hans Behnke, den Anzug über dem Arm, geht auf seinen Sohn zu, und während er ihm den Anzug reicht, sagt er: Hier - zieh' mal an. Ich glaube, der passt. Die Hose wird auch lang genug sein. Probier' mal.
Helmuth probiert die Länge der Hose, indem er sie bei den Enden der Hosenbeine fasst und die Arme ausstreckt. Die Länge ist ausreichend, und er sagt strahlend: Passt bestimmt!
493. Behnke macht sich am Herd zu schaffen und nimmt die Ringe aus dem Feuerloch heraus.
494. Behnke legt etwas Holz auf. Die Flammen beginnen zu prasseln. Dabei fährt er fort: Du, Helmuth, wir beide zusammen! Jetzt geht 's los - jetzt hat das doch wieder einen Sinn. An Onkel Kurt kannst Du Dich wohl nicht erinnern - das war ein Kerl. Weisst Du, was er mal gesagt hat?
Nach einer kleinen, nachdenklichen Pause, während er das Feuer schürt, fährt er fort: Ich liebe die Menschen, hat er gesagt. Damals habe ich ihn nicht gleich verstanden. Aber dann später _... In diesem Augenblick hat er sich zu Helmuth gewandt und ruft in freudiger Überraschung: Helmuth, der passt ja wie angegossen! Du bist ja ein richtiger Mann geworden!
Während er sich auf den nächsten Küchenstuhl setzt, sagt er: Komm' doch mal her.
Helmuth ist zu ihm getreten. Und der Alte wiederholt noch einmal nachdenklich, während er seinen Sohn ansieht: Ein richtiger Mann.
Dann fährt er fort: Ja, jetzt beginnt das Leben für Dich. Das Leben kann sehr schön sein, Helmuth, sehr schön. Ich habe lange darüber nachgedacht - Zeit hatte ich ja genug. In meiner Zelle - da standen Namen an den Wänden. Erst waren es nur Namen, dann wurden es Schicksale - Leidensgefährten - Menschen wie du und ich aus der grossen Familie aller Völker - Franzosen, Polen, Russen, Italiener, Holländer. Sie haben alle gelitten, unvorstellbare Qualen erduldet - sind gestorben, nur weil sie nicht schuldig sein wollten - nicht vor einem irdischen Richter oder vor einem himmlischen, sondern nicht schuldig vor der kommenden Generation. Wenn man sein Amt niederlegt, hat man Rechenschaft zu geben dem, der es übernehmen soll. Siehst Du, Helmuth, einmal denen, die nach uns kommen, eine Welt zu hinterlassen, die frei ist von Gefahr und Not - ich glaube, darauf kommt es an. Verstehst du das?
Helmuth: Ich weiss es, Vater.
Der alte Behnke drückt seinem Jungen fest die beiden Hände, und in einem veränderten Ton sagt er: Komm, jetzt wollen wir diesen Plunder verbrennen - der kommt in den Ofen.
Dabei ist der aufgestanden - hat die über dem Stuhl liegende Uniform genommen und geht jetzt zum Ofen. Die Kamera schwenkt mit. Am Ofen wendet sich Behnke nochmals seinem Jungen zu und murmelt: Ein richtiger Mann.
495. Helmuth ist aufgestanden. Während er sich an herunterblickt, sagt er: Das ist der erste Anzug in meinem Leben, Vater.
495 A. Der Alte nimmt die Uniform und schmeisst sie ins Feuer: Und das ist die letzte Uniform - in deinem Leben! Die Kamera fährt schnell auf die auflodernde Uniform zu.

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Montage
In der folgenden kurzen Schnittmontage aus Archivmaterial und Meldungen der verschiedenen Nachrichten-Agenturen wird die Weltsituation - das Wiederaufleben der Kriegsdrohungen - beleuchtet.
496. Das brennende Haus eines griechischen Dorfes. Tote auf der Strasse. Soldaten gehen in Deckung nach vorn. Die nüchterne Stimme eines Kommentators: Griechenland! Amerikanischer Waffentransporter in Athen eingetroffen.
497. Kampfbilder vom chinesischen Kriegsschauplatz. Die Stimme eines Kommentators: China! Aus dem Hauptquartier. Tschiang Kai Schek dementiert die Verwendung von Giftgas.
498. Die Freiheitsstatue im New Yorker Hafen. Dazu eine Stimme: Amerika! Allgemeine Wehrpflicht eingeführt.
499. Spanische Offiziere grüssen mit erhobenem rechten Arm: Die Stimme des Sprechers: England nimmt Handelsbeziehungen mit Franko-Spanien auf.
500. Der Greifer einer Rotationsmaschine transportiert eine Zeitung mit der Schlagzeile: über dreissig Millionen Menschen Opfer dieses Krieges.
501. Bikini. Ein ungeheurer Rauchpilz schiesst an der Explosionsstelle nach oben. Der Sprecher: Atomforschung - die wissenschaftliche Grundlage des neuen Krieges.
502. Kampfbilder aus Tel Aviv und Jerusalem. Der Sprecher: Palästina! - Tel Aviv mit Bomben belegt.
503. - 507. Die Walze einer Rotationsmaschine. In kurzen Schnitten die Schlagzeilen:

DER KALTE KRIEG.
BERLINER KRISE.
DIE RUSSEN VERLASSEN DEN KONTROLLRAT.
DER KAMPF UM BERLIN.
LUDWIGSHAFEN: DIE ERSTEN OPFER DES NEUEN KRIEGES?

    Langsame Überblendung.

Sommerliche Landschaft (Aussen)
508. Inge kommt von der Endstation einer Strassenbahn am Rande der Stadt schnell auf die Kamera zugelaufen, bleibt dort stehen und sagt in fröhlicher Überraschung: Ich hätte Dich beinahe nicht erkannt - Du hast ja einen so schönen Anzug an. Lass Dich doch mal ansehen.
509. Helmuth steht vor Inge. Er trägt den Anzug, den ihm sein Vater geschenkt hat. Er antwortet: Den habe ich von meinem Vater.
Inge betrachtet ihn anerkennend, bis ihm die Besichtigung zu lange dauert. Er nimmt Inge bei der Hand und sagt lächelnd: Komm.
Die Kamera schwenkt mit den Beiden. Sie gehen eine Birkenallee entlang und entfernen sich langsam.
ENDE.

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