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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 53, April-Juni

Inhalt
Brief aus Holland
Gespräch mit Richard Brooks
Vorwort zu Lord Jim
Anmerkungen zu Brooks' politischen Abenteuerfilmen "Lord Jim" und "Die gefürchteten Vier"
Filmographie Richard Brooks
Cinema Novo
Materialien zu "Wenn Katelbach kommt"
Filmliteratur
Lots Weib
Sandra


Brief aus Holland

Wim Verstappens zweiter Spielfilm

In älteren holländischen Filmkreisen wurde Wim Verstappen noch vor wenigen Monaten als ein pathologischer Fall betrachtet: er hatte den grössten Mund, ohne jemals einen Meter Film gedreht zu haben. Er war der intelligenteste Kritiker von "Skoop", der Zeitschrift, die er mit drei anderen Schülern der Filmakademie vor einigen Jahren gründete und die jetzt die beste Filmzeitschrift in Holland ist (Ulrich Gregor meint sogar, eine der besten in Europa). Mit seinem ersten Spielfilm "Joszef Katús" wurde Verstappen im In- und Ausland bekannt. Sein zweiter Film, "Liebesgeständnisse" erlebte seine Premiere nur wenige Monate nach jenem ersten Film. Es ist eine Produktion von Scorpio, der Gesellschaft von Verstappen und Pim de la Parra, für die übrigens Jan Nemec vor einigen Wochen in Amsterdam einen Kurzfilm drehte, der in Oberhausen laufen wird.

Protagonist in LIEFDESBEKENTENISSEN ist der Schriftsteller Frank Jansen. Sein erster Roman hat soviel Erfolg, dass die Sekretärin seines Verlegers nach London reist, um die Bedingungen für die englische Übersetzung zu besprechen. Diese Sekretärin, Mascha, ist eine der beiden Geliebten von Frank, und ihre Liebe zu Frank ist geistig, so wenigstens erfährt es der Schriftsteller. Mit ihr nach London reist die andere Geliebte, Marina, die in Amsterdam ein kleines Modengeschäft hat und sich über die neueste Mode informieren will. Im Gegensatz zu Frank und Mascha ist sie sehr praktisch, und das eben sucht Frank Jansen. Während des Aufenthalts der beiden Mädchen in London kommt der englische Fotograf Peter nach Amsterdam, um seine frühere "Geliebte" Marina zu besuchen. Die Mädchen kommen früher als erwartet zurück; Mascha verliebt sich in Peter; Marina und Frank gestehen sich zum erstenmal ihre Liebe.

Es ist ein gelungener Film geworden, aber um mit seinen negativen Seiten anzufangen: die Story ist sehr dürftig. Es gibt in Holland keine guten Drehbuchautoren; das macht sich in sehr vielen Filmen bemerkbar. Einige Szenen sind viel zu lang. Zu ihnen zählen die Aufnahmen auf dem amsterdamer Flugplatz, Franks Träume von seinem Harem, den er als zentrales Thema für sein neues Buch gewählt hat; auch von den vielen Bettszenen, in denen man Frank mit verschiedenen Mädchen sieht, sind einige bestimmt überflüssig.

Viele Kritiker haben an einer gewissen billigen Sentimentalität Anstoss genommen, die im ganzen Film spürbar ist. Gerade sie aber gehört zu den stärksten Elementen des Films. Dieselben Kritiker fanden übrigens den improvisierten Dialog störend und platt; man verlangt immer noch artfilms mit literarischen Dialogen, wobei man aber vergisst, dass der Film nicht an erster Stelle für Kritiker und Cinephile gedreht wird, sondern für ein grösseres Publikum. Um noch grösseren Anklang beim Publikum zu finden, wählte Verstappen drei bekannte holländische Film- und Schauspieler für die Hauptrollen. Ramses Shaffy spielt den Held Frank Jansen, Shireen Strooker und Kitty Courbois sind Mascha und Marina. Der englische Schauspieler Michael York (er spielte schon bei Zeffirelli, Losey und Richardson) wurde für die Rolle von Peter verpflichtet. Es sollte ein Star-Film werden, ganz im Sinne der Hollywood-Tradition. Dieser Hollywoodcharakter fehlt dem Film jedoch gänzlich; die technische Perfektion, die Verstappen und de la Parra anstrebten, ist mit einem so niedrigen Budget (DM 60 000) auch kaum zu erreichen. Obwohl Mat van Hensbergens Fotografie sehr starr ist (im ganzen Film nur vier oder fünf Schwenks!), denkt man eher an einen tschechischen oder französischen Film. Im Sinne Hollywods ist natürlich das Happy-End, aber vom sehr funktionellen Gebrauch etwa der closeups, wie man ihn in Hollywood findet, ist in "Liebesgeständnisse" nicht viel zu sehen.

War "Joszef Katús" ein im Unterton sehr trauriger Film mit kleinen Experimenten im Stil, so ist "Liebesgeständnisse" eine Komödie in klarem und (für den Zuschauer) einfachem Stil geworden. Den Stars, vor allem Shaffy und Shireen Strooker, gilt die ganze Aufmerksamkeit des Regisseurs. Die Natürlichkeit ihres Dialogs mit seinen oft absurden Banalitäten wird durch die grotesken Situationen wieder aufgehoben. Dieses Gleichgewicht zwischen Realität und Phantasie wird für die Bewertung des Films durch das Publikum wahrscheinlich eine grosse Rolle spielen.       Pieter Beek
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Gespräch mit Richard Brooks

Brooks: Ich kam nach Los Angeles, um ein paar Kurzgeschichten für den Rundfunk zu schreiben. Damals schrieb ich pro Tag eine Kurzgeschichte, was ziemlich blödsinnig war, denn wer kann schon Tag für Tag eine Kurzgeschichte schreiben. Für eine Fünfzehn-Minuten-Sendung schrieb ich ungefähr 2 500 Worte. Das war damals, als NBC zwei Programme hatte, ein blaues und ein rotes (was aber nicht politisch gemeint war). Ich las die Geschichte auch selbst und bekam 25 Dollar für die ganze Sendung. Nach einem Jahr und 250 Geschichten hatte ich das einigermassen satt. Ich hatte keine Ideen mehr und fing an, mich zu wiederholen. Und ich dachte, es wäre doch eigentlich ganz schön, einen Film zu machen. Alle meine Bekannten, die beim Film waren, schienen viel Geld zu verdienen und restlos glücklich zu sein.

Ich erkundigte mich also, wie ich zum Film kommen könnte. Eines Tages sagte jemand zu mir, er hätte bei der Universal eine Verabredung für mich arrangiert. Das war 1941. Ich ging also hin, und der Produzent sagte mir: "Wir haben ein Drehbuch, aber der Dialog ist nicht besonders gut. Wir suchen jemanden, der ein paar kluge Sachen schreibt und den Dialog ein bisschen aufmöbelt." Ich fragte: "Wieviel zahlen Sie?" Und er fragte: "Wieviel wollen Sie?" Bei NBC bekam ich 125 Dollar für fünf Geschichten, deshalb sagte ich: "1500 pro Woche". Er sagte: "Sie müssen mondsüchtig sein. Das bekomme noch nicht mal ich selbst. Ich gebe Ihnen Bescheid."

Ich habe nie mehr von ihm gehört. Es vergingen zehn Tage, zwei Wochen, und ich wurde allmählich ein bisschen besorgt, weil ich verschiedene Rechnungen zu bezahlen hatte. Deshalb rief ich ihn an und sagte: "Was zahlen Sie?" Er sagte, 150 pro Woche, und ich sagte, ich nähme an. Wenigstens musste ich jetzt nur an einer Geschichte schreiben. Ich arbeitete acht Tage, dann war ich fertig. Es war ein Film mit Jon Hall, Maria Montez und Sabu. Er hiess, glaube ich, THE WHITE SAVAGE. Regie führte Arthur Lubin. Als ich im Zug nach New York zurückfuhr, las ich unter anderen Kritiken auch eine dieses Films. In dem Film kam eine Person namens Tamara vor. "Wie geht es dir heute, Tamara?" Das war die Kritik.

Ich ging also zum Rundfunk zurück, aber ich kam nicht mit der Arbeit voran. Ich schrieb einige Drehbücher für Orson Welles. Er hatte damals eine feste Sendung. Dann kam 1942 eines Tages ein Anruf von der Universal, von einem anderen Produzenten. Er sagte: "Sie haben doch an diesem Film mit den drei Stars, den wir hier gemacht haben, mitgearbeitet. Es war ein sehr erfolgreicher Film." Ich sagte ihm, dass ich den Film nicht gesehen hätte. Er sagte: "Wir haben jetzt wieder dieselben drei Stars: Jon Hall, Maria Montez und Sabu, und wir hätten gerne eine Geschichte für sie. Aber es muss etwas mit einer Wüste sein." "Gut, wir haben ja hier in den Vereinigten Staaten eine Wüste." "Aber nein. Keine Cowboys und Indianer, das ist vorbei. Nennen Sie mir eine Wüste." "Die afrikanische Wüste?" "Nein, das heisst Fremdenlegion, haben wir lange genug gehabt. Nennen Sie mir eine andere Wüste." "Australien?" Er sagte: "Gut, wer sind die Eingeborenen?" "Australier vermutlich. Ich weiss es nicht. Warum?" "Nein, nein", sagte er, "wissen Sie, die Ureinwohner, die Eingeborenen." Ich sagte, genau wüsste ich das auch nicht, aber es gäbe wohl ein paar Buschmänner oder sowas. "Vielleicht Neger?" Ich sah, dass dies nicht der richtige Mann für mich war, aber ich sagte, es müsste wohl auch Farbige dort geben. "Abgelehnt! Keine Rassenprobleme. Nennen Sie mir eine andere Wüste." "China?" ",Die gute Erde', lassen wir die Finger davon". "Wie wäre es mit Indien?" "Ja, aber im ganzen Stab gibt es keinen Engländer. Wen sollen wir also nehmen? Oberhaupt - Politik; es gibt eine Menge Ärger in Indien." Mittlerweile gingen mir die Wüsten aus, und ich sagte: "Was ist mit der Türkei? Dort gibt es auch eine Wüste." "Klingt interessant. Wer sind die Ureinwohner?" Ich sagte: "Warten Sie einen Augenblick. Ich kenne die Geschichte nicht. Ich weiss nicht, wer die Ureinwohner sind." "Ich will Ihnen was sagen, Sie schreiben die Geschichte."

Ich besorgte mir einige geographische Zeitschriften, las über die Türkei nach und stiess auf einen recht interessanten Aspekt. Nach dem ersten Weltkrieg hatte man dort versucht, die Emanzipation der Frau durchzusetzen, und viele neue Sitten wurden eingeführt, Schulpflicht, Abschaffung des Schleiers usw. Das war gut für Maria Montez. Wenigstens könnte sie auf diesem Gebiet irgendetwas tun. Ich konstruierte eine Art Geschichte und schickte sie ihm. Zwei Tage später kam ein Anruf: "Sie machen mich fertig, Mann." "Worum geht es?" "Wo sind die Araber?" "Die Araber? Es gibt in der Türkei keine Araber." "Nein, nein, Sie verstehen mich falsch. Ich meine die Burschen mit den weissen Tüchern auf Pferden." Ich blieb dabei, dass es in der Türkei keine Araber gebe. "Sie müssen verrückt sein. Aber schliesslich sitzt hier in Los Angeles ja ein türkischer Konsul. Warum rufen wir den nicht an?"

Am nächsten Tag kommt ein netter junger Mann vorbei: schwarzer Schnurrbart, ungefähr 30, 32. "Das wird für Ihr Land eine grossartige Sache", sagt der Produzent. Das sagt jeder Produzent. "Wir wollen einen Film über die Türkei machen usw. usw. Wer sind die Ureinwohner?" "Ich verstehe nicht, was sie meinen." "Na, wer die Ureinwohner sind." "Türken." "Ich meine, haben Sie nicht irgendwelchen Ärger mit dem Volk?" "Ja, wir haben gerade jetzt Ärger", sagte er. "Mit wem haben Sie Ärger?" "Wir haben einen Stamm, die Kurden, die machen gerade eine kleinere Revolte in der Wüste." "Die Kurden? Klingt irgendwie schmutzig."

"Gut, Junge", sagte er zu mir, "ich sage dir etwas. Lass uns die nordafrikanische Wüste nehmen. Ok, keine Probleme. Dort gibt es Araber, nicht wahr?" "Ja, dort gibt es Araber." "Schreiben Sie eine Geschichte."

Wieder an die geographischen Zeitschriften. Ich fand einen interessanten Aspekt. Als der Suezkanal geplant wurde, musste man zunächst feststellen, ob das wirklich eine Abkürzung bedeutete. Also wurden zwei Postschiffe von Indien losgeschickt, eins um Kap Horn herum, das andere nach Port Suez, glaube ich. Dann sollte die Ladung von Kamelen und Pferden nach Alexandria befördert werden und von dort nach London. Diese Ladung kam drei Wochen vor der anderen in London an. Ich dachte mir, der Abschnitt von Port Suez' nach Alexandria könnte interessant sein. Wissen Sie, der Pony-Express. Sabu konnte reiten. Also schrieb ich die Geschichte und schickte sie ein. Zwei Tage später: "Sie machen mich fertig." "Was ist los?" "Wo sind die Araber?" Es gibt in Afrika zwar Araber, aber sie haben mit der Erbauung des Suez-Kanals überhaupt nichts zu tun." Er sagte: "Ich werde es Ihnen beweisen." Und wir sahen uns den Film SUEZ mit Tyrone Power und Annabella an. In der zweiten Rolle tauchen sechs Kerle in weissen Tüchern auf und sprengen den Kanal. "So", sagt er, "sehen Sie?" Und er verschwindet. Ich sitze da und sehe mir den Film zu Ende an, und es ergab sich, dass diese Kerle keine Araber waren, sondern die Briten, die sich als Araber verkleidet hatten, um den Kanal zu sprengen, weil die Franzosen ihn bauten. Ich gehe also hin und erkläre ihm das, und er sagt: "Ich will Ihnen was sagen, wir rufen den Chef." Er war nur der Produzent, und er hatte wieder einen anderen Produzenten über sich. Er sagte: "Jack, ich habe diese Geschichte hier und finde sie ganz gut. Vielleicht sollten wir einen Film daraus machen." Und Jack, der eine sehr laute Stimme hat, eine, die man sogar ohne Telefon hören kann, fragte, ob irgendwas für die Montez dabei zu tun wäre. "Ja, natürlich, sie reitet auf Pferden, auf Kamelen, ganze Wolken von Schleiern, all diese Sachen. Es ist grossartig. Sabu wird getötet und ist sehr heroisch. Jon Hall wird verwundet, und sie bekommen die Post. Es handelt sich um den Pony-Express, ausser, wenn es in Afrika spielt." Und Jack (ich will seinen Namen nicht nennen) sagt: "Wann spielt die Geschichte?" "Bevor der Suez-Kanal gebaut wurde." "Wann, zum Teufel, war das?", fragte Jack. Ich stand auf und ging zur Marine.

Während des Krieges schrieb ich ein Buch mit dem Titel "The Brick Foxhole" ("Der steinerne Fuchsbau"). Es handelte von angeworbenen Soldaten, die nicht im Kampf standen, und ihrer Entartung. Später entstand nach einem Teil des Buches der Film CROSSFIRE. Mark Hellinger las das Buch, während ich noch diente. Er schrieb mir einen Brief, in dem er sagte, er könne mir vielleicht einen Job verschaffen, wenn ich heil zurückkäme. Als der Krieg vorbei war, ging ich zu Mark und schrieb für ihn. Ich schrieb u. a. Treatments für THE KILLERS, BRUTE FORCE und NAKED CITY. Er war ein feiner Kerl. THE PRODUCER ist zum grossen Teil nach seinem Vorbild geschrieben worden, das Buch kam kurz nach seinem Tod heraus, etwa 1949, 1950, glaube ich.

Für KEY LARGO, bei dem John Huston Regie führte, wechselte ich zu Warner; ich war auch noch beim Drehen dabei. Ich hatte schon beim Theater Regie geführt, aber noch nie beim Film. Es war mir klar, dass nicht immer ein John Huston meine Drehbücher verfilmen würde. Wir unterhielten uns also darüber, und er sagte: "Warum versuchst Du nicht mal die Regie zu führen?"

Während der ganzen Zeit, in der ich bei Hellinger arbeitete, hatte ich keinen Kontrakt, sondern lediglich eine mündliche Übereinkunft. Bei der MGM wollte von all den Leuten ausgerechnet Arthur Freed, der Musicals liebte, meine Filme sehen und mich bei der MGM haben. Ich war nur bereit zu wechseln, falls sie mir einen Kontrakt gaben, der es mir erlaubte, sowohl zu schreiben, als auch Regie zu führen. Sie antworteten mir, wenn ich nicht gleich beim ersten Film Regie führen könnte, dann bestimmt beim zweiten, und wenn auch das nicht klappte, könnte ich den Kontrakt brechen und weggehen.

CRISIS

Der erste Film, den ich schrieb, sollte mit Clark Gable gedreht werden, aber er oder irgendjemand anders meinte, ich sei nicht kompetent, bei ihm Regie zu führen. Das tat dann Mervyn LeRoy. Ich schrieb ein zweites Drehbuch, CRISIS. Cary Grant war derjenige, der sagte: "Wenn er ihn schreiben kann, warum sollte er nicht auch die Regie führen können; schliesslich muss er vom Filmemachen genausoviel verstehen wie jeder andere auch." Er war sehr freundlich, und ich lernte eine Menge von ihm. Ich war sehr glücklich, denn mit ihm und José Ferrer hatte ich sehr erfahrene Leute.

Frage: War es ein Originalstoff?

Brooks: Ja. Genau gesagt basierte er auf einer Idee, die irgendjemand gehabt hatte. Er spielte an einem Ort namens Basra, und alles ging etwas durcheinander, aber ich wollte so eine Geschichte machen, und ich wollte auch keine Frau dabei haben. Im Originaldrehbuch war Cary Grant ein Arzt, ein Witwer. Er hatte eine kleine Tochter von neun Jahren, fand aber nie Gelegenheit, mit ihr zusammen zu sein. Er nahm sie also in den Ferien mit nach Südamerika, und was mit dem Kind geschah, war wesentlich wirkungsvoller, als was mit seiner Braut geschah. Aber MGM dachte zu der Zeit, wenn man schon Cary Grant hat, warum sollte man da noch ein Kind hineinbringen. Eine Frau gehöre da hinein; ich sei noch recht neu und habe noch nicht so viele Filme gedreht. Jedenfalls tauchte irgendwie eine Frau in dem Film auf.

Als sie sich den fertigen Film ansahen, meinten sie, dass er aber reichlich ernst geraten sei, und dass ein ernster Film mit Cary Grant ein Reinfall werden könnte. Sie verkauften den Film also als "Der fröhliche Cary in glücklichen Flitterwochen", und natürlich sah sich niemand in den Staaten den Film an. Man zeigte ihn in England, ich glaube auch in Frankreich und Kanada. In ganz Südamerika wurde er verboten, ausserdem in Mittelamerika und Mexiko. In Italien wurde er verboten, weil der Diktator darin wie Mussolini an den Füssen aufgehängt wurde. Wo immer es irgendwelche Schwierigkeiten im Lande gab, wurde der Film verboten. Niemand hat den Film je gesehen ausser Cary und mir selbst. Aber ich bat John Huston, ihn anzusehen, und der fand, es sei ein guter Film. Das nächstemal solle ich nicht auf so viele Leute hören.

Frage: Sollte der Diktator Peron sein?

Brooks: Er sollte irgendjemand seiner Art sein. Ich konnte ihn nicht genau nach Perons Vorbild gestalten, weil grosse Studios grosse Interessen in anderen Ländern haben, nicht nur Filmtheater, sondern sie hatten auch geschäftliche Beziehungen, die sie nicht aufs Spiel setzen wollten. Sie wollen, dass jeder sie gern hat, nett zu ihnen ist. "Warum Peron?", fragten sie, "warum nicht irgendjemand? Der Kerl wird José Ferrer sein und nicht Peron, es ist also ohnehin egal." Da ich ihn also nicht wie Peron machen konnte, versuchte ich, seine Frau wie Eva Peron werden zu lassen. Ja, es sollte Peron sein, aber man merkt das im Film nicht.

Für Cary Grants Rolle legte ich einige charakteristische persönliche Gewohnheiten des Mannes fest. Er ist ein Mann mit guten Manieren, gleichgütig, wo er herstammt. Er wird entführt, aber um vier oder fünf Uhr morgens, wenn man sich normalerweise die Zähne putzt, muss er seine Zähne putzen, selbst, wenn er sich dazu von einem Eingeborenen im Zug etwas Tequila leihen muss. Später sagt er zu der Frau des Diktators, er werde die Operation durchführen, aber er wolle sein Honorar. Ich wollte ereichen, dass der Zuschauer einen Mann akzeptiert, der etwas - was auch immer - zwar missbilligt, es aber trotzdem tut, weil es für ihn eine Frage der Routine und des Prinzips ist.

Frage: Warum liessen Sie ihn nicht wissen, dass seine Frau entführt wurde, während er die für den Diktator lebenswichtige Operation durchführte?

Brooks: Für mich war in erster Linie wichtig, dass er sich dazu überwunden hat, die Operation durchzuführen. Ich wollte, dass er die Operation erfolgreich durchführt. Später, als er merkt, dass seine Frau entführt wurde, will er wieder hineingehen und den Mann erschiessen. Ich drehte diese Szene sogar: er hat eine Pistole, und man denkt, er werde den Mann töten. Die Nachricht, dass seine Frau sterben werde, wenn er die Operation durchführe, wurde ihm verheimlicht. Der Diktator musste verhindern, dass ihn diese Nachricht erreichte. Eigentlich hat also der Diktator die Frau des Doktor getötet, weil er ihn die Entscheidung nicht selbst hat fällen lassen. Aber man liess mich eine andere Szene drehen, in der er ihn nicht tötet, sondern die Drohung des Arztes, er werde ihn töten, den Diktator einen Schlaganfall erleiden und sterben lässt. Ich wollte, dass er den Diktator erst rette und dann töte; dass er ihn rette aus medizinisch-ethischen Prinzipien heraus und töte als Mensch.

Frage: War es Ihre Absicht, dass der Anführer der Revolution, Gilbert Roland, am Schluss stirbt?

Brooks: Ich hatte nie vor, so weit zu gehen. Es geht darum, dass die Opposition behauptet, nur die Sache des Volkes auf dem Herzen zu haben, und ihr Anführer zu dem Arzt sagt: "Sie mögen diesen Mann nicht. Ein kleines Abweichen des Messers entscheidet darüber, ob er stirbt oder _..." Er hat für diesen Arzt und seine Prinzipien nur Verachtung übrig, aber das erste, was er tut, als er getroffen wird, ist, um Hilfe schreien. Es war also gleich, ob er starb oder nicht. Die Kette geht weiter. Der Feind ist vernichtet worden. Roland ist der neue Anführer. Ich weiss nicht, ob er besser als der vorherige ist, aber zuerst und hauptsächlich tut er das, was wir alle tun: um Hilfe schreien, wenn wir verletzt sind.

Frage: Tatsächlich ist José Ferrer der Sympathischere.

Brooks: Viel realistischer. Zumindest hat Ferrer eine eigene Meinung über die ganze Sache, und mit dieser Meinung ist er aufgewachsen. Wenn die Opposition sagt, ihr System sei besser als das Ferrers, dann muss es auch besser sein. Er hatte nie Wert darauf gelegt, besser zu sein. Er war in ein ganzes System von Furcht und Gewalt hineingewachsen. Er stellte eine Gewalt in seinem Lande dar. Die Ziele der Revolution waren möglicherweise richtig, aber die Anführer des Putsches mussten nicht unbedingt besser als Ferrer sein. Ob sie es wirklich waren oder nicht, war nebensächlich. Nachdem einmal der politische Aspekt klargestellt war, beschränkten wir uns auf die personelle Ebene, indem wir uns mit der Ethik des Einzelnen beschäftigten und nicht mit politischen Prinzipien. Ich glaube, der Film hätte politischer werden können, wenn wir Zeit und Ort beim Namen genannt hätten.

Frage: Sollen wir mit Grant in CRISIS sympathisieren?

Brooks: Ich habe nie darüber nachgedacht, ob er sympathisch sein soll oder nicht. Meine Absicht war, und darin stimmte Grant mit mir überein, dass er ein Mensch unserer Zeit sein sollte, dass er, als Mann mit Prinzipien, der viele seiner menschlichen Regungen um seiner Karriere willen unterdrückt hatte, sein Leben aufs Spiel setzen muss. Mit anderen Worten, er hat sich unter primitiven Bedingungen zu entscheiden, die seiner Welt vollkommen fremd sind, der zivilisierten Krankenhauswelt, wo alles für ihn vorbereitet wird, wo man seine Arbeit bezahlen kann oder nicht. Plötzlich findet er sich in einer realistischen Umwelt, in der er eine Entscheidung treffen muss. Hier kann er - gleichgültig, wie er dazu steht - mit seiner Routine nichts anfangen; es geht lediglich darum, mit dem Leben davonzukommen. Die Frage ist einzig, ob er seine Arbeit erledigt, und was er danach tun wird. Wie verhält sich der Wissenschaftler in ihm und wie der Mann? Ich habe mir also wirklich nicht überlegt, ob er sympathisch sein soll oder nicht. Ich habe versucht, den Charakter Ferrers sympathischer zu gestalten, weil er mehr Schwächen und Qualitäten hatte, um die er wusste. Die Figur Grants hatte nie ihre eigenen Schwächen gekannt; demzufolge war es ihm lästig, zu einer solchen Arbeit herangezogen zu werden, in einem Raum zusammen mit einem halben Dutzend Leuten, denen er erst beibringen musste, wie eine Operation durchzuführen ist. Die Darstellung war übrigens technisch vollkommen korrekt. Grant trainierte wochenlang, um zu lernen, wie man mit diesen Instrumenten umgeht.

THE LIGHT TOUCH

Es tut mir leid, aber ich möchte nicht darüber sprechen. Cary wollte diesen Film drehen. Er lag ihm, aber er war anderweitig verpflichtet. MGM stellte also einen anderen zur Verfügung. Aber was dieser andere eben nicht hatte, war ein "light touch". Es war nicht sein Fehler, aber er passte eben nicht für die Rolle.

DEADLINE, U. S. A.

Das war der einzige Film während acht oder neun Jahren, den ich nicht bei der MGM drehte. Er war für die Fox. Sol Siegel produzierte ihn, und ich drehte ihn mit Bogey [= Humphrey Bogart]. Es ging dabei um den Untergang einer Zeitung - ein gutes Thema, das mich sehr interessierte. Die Geschichte basierte auf dem Eingehen der "New York World". Ich wollte zeigen, dass eine Zeitung, die andere Zeitungen aufkauft und so die Konkurrenz eliminiert, eine Situation schafft, in der die Freiheit der Presse zumindest eingeengt wird. Die Presse ist dann nicht frei, wenn eine Zeitung unwidersprochen schreiben kann, was sie will, sondern nur dann, wenn es auch noch eine andere Zeitung gibt, die ihren Ansichten widersprechen kann. Als die "World" aufgekauft wurde, war sie eine Zeitung, die mit verschiedenen Ansichten der anderen Zeitungen nicht übereinstimmte. Ich selbst hatte bei der "Philadelphia Record" gearbeitet, die ebenfalls einging.

Nun war aber Darryl Zanuck der unbedingten Meinung, es handele sich hier um ein reichlich kommunistisches Thema. "Wollen Sie etwa behaupten, es gebe bei uns keine freie Presse?", fragte er. "Das nicht", gab ich zur Antwort, "ich sage nur, dass die allgemeine Tendenz dahin geht." Die Story besass einige recht gute Elemente, und es freute mich, mit Bogey arbeiten zu können. Er war noch ein echter Profi. Wir wurden sehr gute Freunde. Bogey hatte "The Brick Foxhole" gelesen und es Mark Hellinger gezeigt.

BATTLE CIRCUS

Bei der Arbeit an BATTLE CIRCUS merkte ich es zuerst, und nach THE LAST TIME I SAW PARIS war ich überzeugt davon, dass ich mich von der MGM trennen musste, wenn ich meine Filme so drehen wollte, wie ich es vorhatte. Denn auch bei BATTLE CIRCUS bestand der Fehler wieder darin, dass eine völlig unmotivierte Liebesgeschichte auf einen wirklich guten Stoff aufgepfropft wurde. Alles musste den MGM-Stempel haben, jeder Film hatte ein bestimmtes Aussehen, und ich war noch nicht etabliert genug, um sagen zu können: "Das mache ich nicht", denn ich hatte etliche Rechnungen zu bezahlen und ausserdem einen Siebenjahresvertrag. MGM war stolz darauf, dass alle ihre Filme wie MGM-Filme aussahen. Die Wände waren schön sauber, die Luft war sauber, es gab keinen Staub. Sie hatten einen bestimmten Stil. Sie hatten eine gewisse Dichte im Film, die gewisse Zartheit für die Damen, die gewisse Härte für die Herren. So sah ein MGM-Film aus, und das war einer der Steine, über die ich stolperte. Deswegen ging ich zur Columbia. Ich hatte einfach keine richtige Kontrolle. Sie sagten zwar, ich könnte ihrer sicher sein, aber sie legten das nie im Vertrag fest.

Frage: Benutzte Bogart die Welt der Medizin und des Militärs in BATTLE CIRCUS als Ausweg?

Brooks: Ja. Dore Schary hatte von irgend jemandem eine Geschichte gekauft. Es gab tatsächlich eine solche Einrichtung wie die MASH, die Chirurgen direkt an die koreanischen Kriegsschauplätze flog. Die Geschichte war schon geschrieben, und sie wollten Bogey; er war einverstanden, aber mein Ziel, das ich am Ende überhaupt nicht erreicht hatte, war, Bogeys Charakter so zu gestalten, dass er niemals stark genug war, um in einer fremden Welt bestehen zu können; bis jetzt hatte er nur dort zu bestehen, wo alle Probleme vereinfacht waren. Aber im Film wurde daraus die Frage, ob er June Allyson bekäme oder nicht. Die Identifikation mit den Männern, die kämpften und "irgendwie" starben, wurde zum Thema des ganzen Films. Zu guterletzt war lediglich eine simple Abenteuergeschichte daraus geworden.

Jetzt, wo ich all diese Dinge erzähle, finde ich, die Filme sind schauderhaft. Ja, sie sind in vielem ziemlich schlecht. Aber ich bin froh, dass ich sie gemacht habe. Ich wünschte, ich hätte sie anders gemacht, aber ich glaube, es war sehr wichtig für mich, diese Filme gedreht und all diese Fehler gemacht zu haben.

TAKE THE HIGH GROUND

Es gibt Stellen darin, die mir ganz gut gefallen, aber ich bin persönlich der Ansicht, dass der Krieg gar nicht lustig ist. Es kommen einige Szenen darin vor, die durchaus witzig sind, die sogar an slapstick-Komödien erinnern, aber für mich ist der Krieg eben keine Komödie. Wenn ich Komödien über den Krieg sehe, kann ich nicht lachen. Das ist nun mal so bei mir. Für TAKE THE HIGH GROUND schrieb ich das Drehbuch nicht selbst. Aber das hat nichts zu sagen; es ist von einem guten Autor geschrieben worden, und Dore Schary war der Produzent. Aber wir führten das, was wir uns vorgenommen hatten, nicht konsequent genug durch. $4(Zurück zum Heft 68)$5

Dore war nie im Krieg und hielt es für seine Aufgabe, etwas Edles über den Krieg zu machen. Er glaubte, das bedeute, alle Personen eines Krieges heroisch zu gestalten (selbstverständlich mit Ausnahme des Feindes). Das, worum es in TAKE THE HIGH GROUND ging, war mir sehr vertraut, denn es handelte sich um das selbe Sujet wie in "The Brick Foxhole": ein Mensch, der sich anfangs für den Faschismus begeistert, der Versuch einer faschistischen Machtergreifung in einem demokratischen Land, Soldaten, die für eine Sache kämpfen, die es angeblich wert ist. Mit anderen Worten: wieviel Engagement bringt man auf, um für die Freiheit zu kämpfen? Aber es stellte sich heraus, dass der böse Unteroffizier einen guten Kern hatte, und obwohl der Film teilweise gut und realistisch war, wurden die wirklichen Fragen nie angeschnitten.

Aber alle Filme, die man dreht, sind wichtig, besonders die schwachen. Die Schwierigkeit heute ist, dass man keine Fehler mehr macht; sie sind zu teuer. Aber wie kann man lernen, ohne Fehler zu machen? Man ist doch nicht von vornherein perfekt. In jeder anderen Kunst darf man Fehler machen, und die Fehler sind wertvoll, denn kein Künstler hinterlässt nur ein Gemälde oder eine Geschichte.

FLAME AND THE FLESH

Bei Gott, ja, lassen Sie mich über THE FLAME AND THE FLESH erzählen. Der Film ist von einer Frau geschrieben und basiert auf einem französischen Film mit Viviane Romance, einer Komödie mit teilweise sehr pathetischen Stellen. THE FLAME AND THE FLESH wurde hier in England gedreht, ich glaube 1953, neunzehn Jahre nach dem anderen Film. Joe Pasternak, ein hervorragender und sehr energischer Produzent, bekam den Film angeboten und überredete das Studio, ihn zu kaufen. Wieviele andere versuchte Lana Turner damals ausserhalb der Staaten zu arbeiten, um die 18-Monats-Steuererleichterung auszunutzen. Wenn man nämlich länger als achtzehn Monate im Ausland gearbeitet hatte, brauchte man weniger Steuern zu bezahlen.

Eines Tages sagte Dore Schary zu mir: "Sie sind der richtige Mann". "Wofür bin ich der richtige Mann?" fragte ich. "Lana Turner, England, Neapel, Italien, Romantik." "Alles für mich? Soll das ein Film werden oder verreisen wir nur zusammen?" Er sagte, das sei tatsächlich ein Film. Es gab sogar ein Drehbuch, und das las ich erst einmal. Es ist schwierig genug, wenn man das Drehbuch nicht selbst schreibt, aber in diesem kamen Sachen vor wie "Du Tor, du!" oder "Wie können Sie es wagen!". Man hielt so etwas für eine zu Herzen gehende Tragödie.

Ich fragte, wo diese Geschichte herkäme. "Es war früher einmal ein sehr erfolgreicher Film." Ich fragte, ob ich den Film sehen könnte, und sie spielten ihn mir vor. Es war ein lustiger Film, voller Spasse, aber dies Drehbuch war nur öde. "Wir müssen das Buch ändern", sagte ich. "Das ist keine Tragödie, das ist sentimentaler Schmus." Aber sie sagten mir, ich verstände überhaupt nichts; Lana Turner wolle diesen Film in England drehen, und sie hätten diesen neuen jungen Mann, Carlos Thompson, der sensationell sei. Ich hatte nie von ihm gehört und fragte, wer er sei, "Er kommt aus Argentinien; ausserdem haben wir da diesen Engländer, Bonar Colleano." Jedenfalls war ich also auf einmal in einem Flugzeug nach England; wenn man nicht arbeitete, wurde man nämlich damals sofort auf Eis gelegt. Es spielte keine Rolle, wo man arbeitete. Ich war also in England, und jedesmal, wenn ich eine schlechte Szene bemängelte, kam ein Telegramm, ich solle es so drehen wie es dastünde.

Das einzig Interessante bei diesem Film ist folgendes: Bonar Colleano sollte bei einem Autounfall umkommen, und wir hatten eine Menge Schwierigkeiten in Neapel. Jeder war damals in Schwierigkeiten. Dieser Thompson lief gerade vor irgendeinem Mädchen davon, Lana hatte Schwierigkeiten mit ihrem Tarzan, der gerade in Italien war. Colleano hatte Schwierigkeiten mit jedem. Er hatte da ein recht nettes Mädchen, das in Cannes einmal ihren Bikini hatte fallenlassen. Ich glaube, sie beging Selbstmord. Sie war wohl schwanger, damals in Neapel. Sie war gekommen, um Bonar zu treffen, der natürlich überzeugt war, dass er nicht der Vater sei. Ich gab ihr etwas Geld, damit sie nach Rom fahren konnte. Sie war ein einsamer, trauriger Mensch. Bonar heiratete dann ein anderes Mädchen.

Während er auf dieses Mädchen wartete, hatte er noch eine Menge anderer Interessen. Er pflegte zum Beispiel in seinem kleinen Wagen durch die Strassen zu rasen. Eines nachts gegen vier oder fünf Uhr morgens rief mich Pasternak an. "Wir haben ernsthafte Schwierigkeiten; hilf mir!" Natürlich hatte er auch Schwierigkeiten. Jeder hatte die. "Komm mal ins Krankenhaus!" Ich fragte, was mit ihm los sei. "Mit mir nichts, ich bin nicht krank. Hier liegt jemand anders." Ich ging also ins Krankenhaus, und da lag Bonar Colleano. Er hatte versucht, in den zweiten Stock hinaufzuklettern, wo sein Mädchen wohnte. Er klopfte eine Weile ans Fenster, fiel dann hinunter und zerschlug sich sein Gesicht. Und so lag er da im Krankenhaus, ohne Gesicht, nur mit Bandagen.

Die Gesellschaft machte sich Sorgen, wie es weitergehen sollte. Er kam nämlich in vielen Szenen des Films vor. Er spielte die Rolle, die Michel Simon gespielt hatte. Ich fragte den Arzt, ob er es überleben würde. "Sicher wird er es überleben, aber es wird einen Monat dauern, bis man den Verband wieder abnehmen kann." "Wie wird er dann aussehen?" "Im Moment können wir ihm jedes beliebige Gesicht geben, denn er muss irgendwie zusammengeflickt werden." Das war eine schwierige Entscheidung, denn Bonar Colleano hatte sich immer gewünscht, gut auszusehen. Er glaubte, nur das hindere ihn, ein Star zu werden. Nun bot sich die Gelegenheit. Er hätte ein Teenageridol werden können; er hätte aussehen können wir Robert Taylor, aber wir mussten ihn wieder so wie früher zusammenflicken, um den Film fertigstellen zu können. Diese Entscheidung wollte ich wirklich nicht treffen, weil ich überzeugt war, dass er eine Schönheit hätte werden können! Sie holten einen Gesichtschirurgen aus dem Urlaub in Schottland und entschieden, ihn so wie früher wieder herzurichten. Das ist das einzig Interessante an diesem Film. Es ist ein scheusslicher Film, ein verheerendes Zeug, in dem Lana hin und wieder etwas Interessantes tut. Nicht einmal die 18-Monats-Klausel wurde erfüllt. Kein Mensch bekam irgendwelche Steuererleichterungen. Es war ein totaler Fehlschlag.

THE LAST TIME I SAW PARIS

Der Film war teilweise gut, teilweise aber viel zu sentimental. Er ging auf eine Kurzgeschichte von Scott Fitzgerald "Babylon Revisited" zurück. Man hatte das Drehbuch von den Brüdern Epstein gekauft; das waren sehr gute Autoren. Dore Schary, der damals das Studio leitete, glaubte, dass zu jenem Zeitpunkt jeder Film eine finanzielle Katastrophe werden müsste. Aber schliesslich, "Liebe ist Liebe;" "ein Baum ist ein Baum, ein Fels ein Fels. Dreh ihn in Griffith Park."

Das hatte ich schon mal gehört. Es war eine vierzig Jahre alte Tradition bei der MGM, dass man für Aussenaufnahmen dorthin geschickt wurde. Griffith Park lag ziemlich abseits. Sicher, "Liebe ist Liebe", das stimmt. Aber diese Geschichte war untrennbar mit den zwanziger Jahren verbunden. Ich lernte soviel daraus, dass ich ablehnte, als man mir später anbot, THE FOUR HORSEMEN neu zu verfilmen. Das ist nämlich eine Geschichte, die ohne den ersten Weltkrieg überhaupt keinen Sinn hat. Was soll man denn mit den freundlichen Deutschen, den freundlichen Argentiniern und den freundlichen Franzosen anfangen? Das ist kein romantischer Krieg mit romantischen Idealen - nein, ein Krieg ist ein Krieg, da gibt es keinen Unterschied.

Die Besetzung für THE LAST TIME I SAW PARIS war bereits festgelegt, als ich kam, und ein neues Buch, das die Geschichte in den zweiten Weltkrieg verlegte, war ebenfalls schon in Arbeit. Das ist ein Grund dafür, dass der Film sich von meinen übrigen unterscheidet. Der Hauptgrund, allerdings ist, dass die Leiter des Studios damals viel zu sentimental waren. Ich hatte damals noch keinen wirklich erfolgreichen Film gedreht, das heisst, meine Filme hatten noch nicht viel Geld eingespielt. Es drehte sich für mich nur darum, beschäftigt zu bleiben. Zum Teil war das mein Fehler. Ich kann ihnen nicht die Schuld geben. Sie hatten eben ihre Politik. Ich hätte mich nicht so schnell damit abfinden dürfen. Es stimmt, dass der Film schon sehr früh schlecht wird, er fällt auseinander. Alles versinkt in Rührseligkeit. Das ist weder Fitzgerald noch sonst etwas.

BLACKBOARD JUNGLE

Ich hatte immer noch den Siebenjahresvertrag, als ich auf das Drehbuch von BLACKBOARD JUNGLE stiess. Aber damals machte es mir nichts aus, ihn vorzeitig zu beenden. Ich wusste, dass ich gehen würde, sobald die Gelegenheit käme. Das wäre dann das Ende gewesen. Ich wollte mich einfach nicht mehr mit der Art abfinden, in der die MGM über Fotografie, Schnitt, Besetzung oder was auch immer bestimmte. Aber bei diesem Film hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, zu sagen, dass ich nur so und nicht anders drehen wolle.

Es war ein billiger Film. An sich wollte man ihn nicht zur Vorführung bringen, weil "New York" meinte, das sei ein schrecklicher Film, und es sei für niemanden gut, ihn anzusehen. "New York" schickte mir eine zusätzliche Szene, in der Glenn Ford, der Lehrer, zur Polizei oder zum Bürgermeister geht und sagt: "Sie glauben, wir hätten Schwierigkeiten hier. Sie sollten sich erst einmal die Jugendkriminalität in Russland ansehen!" Ich fragte: "Was hat Russland mit dieser Geschichte zu tun? Ich kenne so etwas. Ich war als Kind selbst in solchen Schulen und weiss, wie es dort zugeht. Warum reden Sie also von Russland?" "Wir wollen nicht, dass irgendjemand glaubt, wir kritisierten Amerika." "Was ist falsch daran, Amerika zu kritisieren? Wir sind Amerikaner. Dore, ich werde diese Szene nicht drehen, dafür holt euch einen andern!" "Und was sollen wir machen, wenn das amerikanische Publikum sagt, dass sei scheusslich und ausserdem gelogen?" Ich bestand darauf, diese Szene nicht so zu drehen, weil sie einfach furchtbar war. "Wenn das Publikum den Film nicht mag, kann ich nichts dafür." Wir veranstalteten also eine Testvorstellung, und natürlich ging alles gut. Man änderte überhaupt nichts. Man schrieb nur ein Vorwort, das ursprünglich nicht da war, um von vornherein allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Darin stand, dass nicht alle unsere Schulen so wären und ähnliches Zeugs.

Man fragte mich, mit welchem Recht ich Amerika in diesem Licht zeige. Ich antwortete, dass es nicht darum ginge, ob ich das Recht dazu habe, sondern darum, ob es die Wahrheit sei. Wie behandeln wir denn die Wahrheit? Wenn Sie irgendeine Tageszeitung nehmen und ins Ausland schicken, ist das schon Amerika? Ist Amerika nur ein Film? Amerika, das ist eine Million Filme, eine Million Überschriften und Millonen Menschen. Glauben Sie etwa, Mickey Maus sei Amerika? Amerika besteht aus einer Million Einzelheiten, und dies ist eine davon, dazu eine sehr geringe. Wenn es schlecht ist, wollen wir es verbessern. Wenn es eine Lüge ist, wird sich sowieso niemand den Film ansehen. Nur wenn man die Wahrheit verschweigen will, ist man in Schwierigkeiten. Man sagte mir, so etwas gäbe es nicht: An dem Tag, als der Film zum erstenmal in New York lief, wurde ein Lehrer erstochen und von einem Dach geworfen.

Es gibt keine einfache Lösung. Ich möchte, dass die Leute sagen: "So einfach ist das nicht." Ich will nicht, dass man aus dem Kino kommt und sich sagt: "Na also" und dann das Ganze vergisst. Mir wäre es lieber, wenn die Leute heimgingen und sich fragten: was kann man dagegen tun? Was tun wir? Was tue ich selbst? Sogar in BLACKBOARD JUNGLE war das die einzige Folgerung. Die Geschichte hatte kein Ende. Der Negerjunge sagt zu dem Lehrer: "Wir sehen uns wieder." Das ist alles.

Frage: Aber in BLACKBOARD JUNGLE bieten Sie doch so etwas wie eine Lösung an. Sie sagen, dass man die Schüler erreichen kann.

Brooks: Ja, aber nicht, dass sie erreicht worden sind; ich habe nur gesagt, dass sie erreicht werden können und manchmal erreicht werden. Aber das ist nur der Anfang. Der Film wurde in Georgia verboten, weil ein Neger im Klassenzimmer sass. Man musste bis zum Obersten Gerichtshof des Staates Georgia gehen, bevor der Film dort vorgeführt werden konnte. Ich wusste damals nicht, wie ernst der Kampf um die Rassenintegration geführt wurde. Für mich war sie ganz selbstverständlich, denn als ich in die Schule ging, hatten wir Negerkinder in der Klasse. Aber ich möchte nicht, dass irgendjemand aus dem Kino geht und glaubt, ihn ginge das Problem nichts mehr an.

Diesen Film drehte ich mit viel weniger Überlegung als irgendeinen meiner anderen Filme. Für mich war es fast ausschliesslich eine gefühlsmässige Erfahrung. Ich hatte vor, diesen Film als eine Folge von Hammerschlägen zu gestalten, die genau an der richtigen Stelle sitzen mussten. Ich brauchte darüber noch nicht einmal nachzudenken, ich fühlte einfach, wann diese Stellen gekommmen waren.

An einen Zwischenfall erinnere ich mich besonders. Ein Junge lässt ein Messer fallen, und ein anderer hebt es auf. Daraufhin ergreift ein Junge, der bis dahin als Klassentrottel galt, in seiner Verwirrung die amerikanische Fahne, die in einer Ecke steht. Er stösst sie dem Jungen in den Bauch, und der lässt das Messer fallen. Man sagte mir: "Wie können Sie für so etwas die amerikanische Fahne benutzen? Man wird uns aus dem Land werfen." Ich antwortete: "Warum sollte man die amerikanische Fahne nicht benutzen können, um barbarische Handlungen zu verhindern? Kann eine Fahne einen besseren Zweck erfüllen?"

Glenn Ford bekam die Rolle, weil niemand sonst sie spielen wollte. Damals spielte er gerade in einem Film bei der MGM mit Eleanor Parker. Es ging dabei um irgendeinen sterbenden Sänger. Glenn war damals bei einigen Produzenten schlecht angeschrieben; er war so ein Kerl mit langen Haaren.

Ich sagte ihm, dass er sein Haar abschneiden müsse. Er war gerade von der Marine gekommen. "Wenn Sie bei der Marine mit solchen Haaren herumgelaufen wären, hätte man Sie dran aufgehängt. Sie müssen einen Mannschaftshaarschnitt haben." "Niemand wird wissen, wer ich bin", beschwerte er sich. "Das ist gut so", antwortete ich. "Jetzt kennt Sie jeder, aber es nützt Ihnen überhaupt nichts. Schneiden Sie es also ab." Der Produzent sagte mir, ich solle nicht zu weit gehen. Wir sassen herum, als ob wir beim Zahnarzt wären, und versorgten Glenn Ford mit Whisky. Er trank fast einen Liter, und jedesmal, wenn wir wieder ein Stück abgeschnitten hatten, sagte er, wir sollten aufhören, und sah in den Spiegel. Wir versuchten vergeblich, ihm den Spiegel abzunehmen. Können Sie sich vorstellen, dass es fast drei Stunden dauerte, bis sein Haar geschnitten war?

Frage: Gefiel Ihnen der Film?

Brooks: Ja. Ich glaube, es war ein recht guter Film. Etwa drei Jahre, bevor ich BLACKBOARD JUNGLE drehte, hatte ich ein Musikstück gehört, als ich spät in der Nacht von einem Pokerspiel heimkam. Einer dieser kleinen Sender hatte das Stück gespielt, und der Rhythmus hatte mir sehr gefallen. Ich konnte mich nicht mehr an den Titel erinnern. Als ich das Buch zu BLACKBOARD JUNGLE schrieb, fragte ich, ob man mir das Stück besorgen könnte. Schliesslich erschienen sie mit der Platte "Rock around the dock". Ich spielte dann diese Platte sechs bis acht Stunden täglich in meinem Büro, während ich an dem Buch schrieb. Ich spürte, dass diese Musik für die Haltung junger Leute bezeichnend war. Während wir drehten, spielte ich die Platte ziemlich oft im Atelier, auch während der Dialoge, so dass die Bewegungen der Schauspieler etwas von diesem Rhythmus mitbekamen. Später strich ich den Dialog dann an einigen Stellen.

Die Gesellschaft wollte nicht viel Geld für die Musik ausgeben, und ich fragte, warum wir nicht einfach Schallplatten dafür benutzten. Der Leiter der Musikabteilung sagte mir, wir könnten die Rechte für den Film für 5000 Dollar und die für die Platte für 7500 bekommen. Das bedeute eine Verschwendung von 2500 Dollar, denn seiner Ansicht nach habe diese Musik nicht die geringste Wirkung. Als dann der Film herauskam, verkaufte der Produzent über eine Million Platten in vier Monaten.

Sofort nach Erscheinen meines Filmes kamen viele Filme über Jugendkriminalität heraus, da er ein grosser Erfolg war. Aber ich hatte einen Film über einen Lehrer machen wollen und ganz und gar nicht über Jugendkriminalität. Wenn Sie den Film wiedersehen, achten Sie einmal darauf, wie die Handlung immer wieder auf den Lehrer zurückkommt. Kann dieser Mensch in der Situation, mit der er konfrontiert wird, bestehen? Er könnte sich an einen anderen Ort versetzen lassen und hätte damit vielleicht sogar recht, aber will er das auch? Für ihn ist das nicht nur eine Frage des moralischen Rechts oder Unrechts, er möchte auch herausbekommen, ob er fähig ist, sich dieser Anforderung zu stellen. Die meisten der folgenden Filme über irgendwelche Kerle, die durch die Gegend strolchten und sich gegenseitig mit Fahrradketten verprügelten, hatten überhaupt keine Bedeutung, weil sie sich keine lohnenswerte Aufgabe stellten. BLACKBOARD JUNGLE war nicht einfach ein Film über Gewalttätigkeit. Das heftigste an ihm war die Musik.

THE LAST HUNT

Es reizte mich, einen Western zu machen, aber ich wollte nicht den üblichen machen, über einen Mann, der schneller als der andere ziehen kann. Nicht, dass daran irgendetwas falsch wäre, aber mir war klar, dass ich nicht genug über die Techniken des Westerns wusste. Meine Geschichte lässt sich nicht in die gängigen Kategorien des Western einordnen, weil sie in jener Periode der amerikanischen Geschichte spielt, in der die Siedler, die nach dem Westen kamen, in einem Zeitraum von nur zehn bis zwölf Jahren sinnlos, nur zu ihrem eigenen Vergnügen, etwa zwei bis drei Millionen Büffel dahinschlachteten. Das Fleisch verdarb. Damit nahm man den Indianern, die fast ausschliesslich von den Büffeln lebten, nahezu jede Möglichkeit zu überleben. Dies führte ausserdem zu einer Änderung des damals recht wilden Rechtswesens. Die eine Rolle wollte Peck spielen, die des jungen Mörders sollte Monty Clift übertragen werden; aber die MGM hatte gerade einen Film gemacht mit Robert Taylor und dem anderen (Stewart Granger - die Red.): ALL THE BROTHERS WERE VALIANT.

Man sagte mir also: "Diese beiden zusammen sind sensationell, aber Sie müssen die Sache umdrehen. Der Mörder soll den Guten und der Gute den Schurken spielen." Bob Taylor war sehr gut in dem Film, aber das Publikum wollte ihn damals nicht als Schurken akzeptieren.

Wir gingen nach Süd-Dakota, wo es die grösste noch existierende Herde gibt, etwa dreitausend Stück. Jetzt gibt es ein Gesetz: Wegen der damaligen Schlachterei darf man heute keinen Büffel mehr anrühren. Jedes Jahr allerdings werden die wilden Büffel und ein paar alte Kühe erschossen, deren Fleisch die Sioux bekommen. Wir drehten zu der Zeit, als wieder so eine Aktion im Gange war. Man sieht unseren Schauspieler, das Gewehr im Anschlag; die Kamera steht hinter ihm und fängt so auch den Büffel ein. Etwa einen halben Meter von der Kamera stand ein Scharfschütze mit einem 303er Gewehr, der die Schüsse abgab, die man sieht. Auf die Art wurden etwa sechzig oder siebzig Büffel getötet. Sie fielen ganz einfach um.

Das Publikum konnte das nicht sehen. In England wurden die meisten Szenen mit den Büffeln herausgeschnitten, in den Staaten konnte man es nicht ertragen, weil man sich selbst schuldig fühlt. Jeder Vater hat ein Gewehr. "Komm, Sohn, gehen wir etwas schiessen." Man geht irgendwohin und schiesst - meistens trifft man sich dabei gegenseitig. In meinem Film aber wird gesagt, dass de schmutzige Ausrottung der Büffel eine Schande war. Mein Film sollte die Leute so betroffen machen, dass sie sagten, das wäre damals ein Verbrechen gewesen. Man war aber so betroffen, dass man nicht einmal den Film ansah. Geschäftlich war es ein totaler Reinfall, aber wenn Sie den Film in der Urfassung sehen, werden Sie finden, dass es ein interessanter Film geworden ist.

Frage: Nach den vielen Schiessereien auf Büffel wird man um das erwartete Showdown geprellt.

Brooks: Das ist richtig. Ich glaube, ich habe die Regel durchbrochen, aber ich habe etwas sehr Wichtiges dabei gelernt: wenn man im Film mit einem traditionellen Stoff zu tun hat, soll man das Publikum nicht darum bringen, denn der Western mit seinen Schiessereien ist - wie das Musical - eine erdichtete Geschichte, und dabei sollte es bleiben. Wenn man die Realität gestalten will, so, wie der Westen wirklich war, sollte man das mit kleinem Budget tun und keine Wunder erwarten.

Frage: Haben Sie am Ende des Films Mitleid mit der Figur, die Robert Taylor darstellt?

Brooks: Ja. Ich kann nicht sagen, ob er ein guter oder ein schlechter Mensch war. Ich sah ihn als einen Menschen, der nicht zu sich selbst finden konnte. All sein Töten hat ihm nichts eingebracht. Es gab keine Lösung für ihn, nicht einmal den Ruhm eines Showdown. Er erfror einfach wie ein Fossil, fast wie ein Büffel.

SOMETHING OF VALUE

Ein Bestseller, und als ich damit nach Afrika kam, lachte man mich geradezu hysterisch aus. Man lachte den Romanautor und mich aus, weil ich mit dem Buch nach Kenia ging. Es war verrückt; ich hatte endlich einen Stoff bekommen, den ich für interessant hielt, aber ich glaube, das darin behandelte Thema interessierte niemanden auf der Welt. Damals fragte niemand danach. Sicher, alles hat jetzt seine Bestätigung gefunden, genau wie wir es damals zeigten: wenn Schwarz und Weiss sich nicht arrangieren, muss der Weisse das Land verlassen. Genau das wollte ich in dem Film sagen. Ich mochte Sidney Poitier darin sehr gern, und auch Rock Hudson war ausgezeichnet.

Ich hatte viele Nachforschungen angestellt. Ein Buch, das ich damals las, hatte bereits 1907 alle Probleme vorausgesagt, die sich in Kenia ergeben würden, falls man sich nicht in Acht nähme. Es stammte von Winston Churchill, und 1956, als wir den Film drehten waren viele seiner Voraussagen eingetroffen. Ich schrieb ihm und fragte, ob er nicht ein Vorwort schreiben wolle, in dem er seine damaligen Aussagen aus der Sicht von heute behandele. Schliesslich sagte er zu - Wunder aller Wunder - und schrieb etwas. Wir schickten ihm einen Kameramann ins Haus, um sein Vorwort aufzunehmen. Wir brachten diese Version in einer Testvorstellung heraus. Damals hatte man bei der MGM eine Kommission von vierzehn Leuten, die sassen um einen Tisch herum, und einer sagte dann, er hätte etwas gegen die Musik in der sechsten Rolle; ein anderer sagte, sein Zahnarzt verabscheue den Film, und irgendeiner fragte, was das Zeug mit Churchill in dem Film solle; wer wisse schon, wer Winston Churchill sei. Es würde den Film restlos verderben, wenn da irgendein Engländer rede. Sie schnitten die Szene einfach raus. Ich glaube, Churchill schwor sich damals, nie wieder an einem Film mitzuwirken, solange er lebte, und das hat er meines Wissens auch nie getan.

Frage: Im ersten Teil des Films ist das Haus permanent aus einer sehr niedrigen Perspektive aufgenommen, und als der erste Angriff erfolgt, geht die Kamera immer tiefer.

Brooks: Ja, das war beabsichtigt. Ich habe versucht, so viele Bilder wie möglich mit dem Angriff auf das Haus zu verbinden. Es war ein ziemlich deutliches Symbol. Als der Angriff aufgehört hat, sieht sich die von Sidney Poitier dargestellte Person im Spiegel. Als er den Spiegel zerbricht, ist das kein mutwilliger Akt, bei dem man irgendetwas zerstört, sondern er kann in diesem Moment einfach nicht sein Spiegelbild ertragen, deshalb "bricht" er es. Aus seinem Schuldgefühl heraus will er sich nicht sehen.

Er stand zwischen den rebellierenden Afrikanern und den konservativen, engherzigen Kaukasiern. Er zeigte die neurotischen Impulse eines Menschen, der zwischen politischen und persönlichen Bindungen in einen Zwiespalt gerät. Poitier war nie in Afrika gewesen, und an der Art wie er ging, merkte man, dass er kein Afrikaner war. Ich machte ihn über Oberst lan Henderson mit den Mau Mau bekannt. Henderson hatte erwartet, der Krieg werde zwei Jahre früher enden. Er hatte General China und dessen Leute mit ihren Familien kommen lassen; sie waren zu Tausenden. Eines Morgens verlor einer der Soldaten die Nerven: ein Mann verliess das abgegrenzte Gebiet und wurde erschossen. Deshalb dauerte der Krieg zwei Jahre länger. Wir verwendeten diesen Zwischenfall im Film. Henderson nahm uns mit zu einer Mau Mau-Feier, und Poitier musste erfahren, wie sehr sich die Neger Amerikas von ihren Ursprüngen entfernt hatten. Es wurde ihm klar, dass ein echter Fortschritt nur durch Bildungsmöglichkeiten erreicht werden kann. Was die Neger - nicht nur in Amerika - vordringlich brauchen, sind Bildungsmöglichkeiten.

Ich wollte zeigen, dass der Afrikaner wirklich des weissen Mannes Bürde ist - wörtlich und physisch verstanden. Deshalb liess ich Rock Hudson Sidney tragen. Dieser Einfall, den weissen Mann den schwarzen tragen zu lassen, wurde mir in vielen Staaten der USA sehr übelgenommen.

THE BROTHERS KARAMAZOV

Die Russen wollten, dass ich diesen Film in der Sowjetunion drehte, aber "New York" meinte, das würde dann ein kommunistischer Film werden. Ich meinte: "Es ist schon geraume Zeit her, dass Dostojewski gestorben ist. Wie soll ich hier Russland nachschaffen können? Ich müsste alles bei Nacht oder in Innenräumen drehen. Es ist unmöglich." Aber man sagte mir, ich solle den Film drehen und mich von den Russen fernhalten.

Einiges andern Film ist gut, einiges ist schlecht. Aber als ich den Film drehte, lernte ich etwas Wichtiges über Klassikerverfilmungen dazu: wenn man eine solche Vorlage verfilmt, muss man die Geschichte in die passenden Bilder umsetzen können; nicht etwa, weil viele Leute das Buch gelesen haben und dem zustimmen sollen, was ich beizubehalten versuche, denn die meisten erinnern sich nicht genau oder machen sich eine andere Vorstellung. Aber mir wurde klar, dass das Stück oder der Roman, weil sie geschriebenes oder gesprochenes Wort sind, sich zuerst an den Intellekt wenden; sie werden zuerst mit dem Verstand aufgenommen. Wenn man sie geschickt zusammenstellt, kann die zweite Reaktion gefühlsmässig sein. Ganz im Gegensatz dazu, und das lernte ich bei der Arbeit an diesem Film, wendet sich der Film, der ja hauptsächlich mit Bildern arbeitet, zuerst an das Gefühl, denn die erste Reaktion auf Bilder ist immer eine emotionale. (Wenigstens ist das meine Ansicht; ich weiss nicht, ob irgendjemand darin mit mir übereinstimmt.) Wenn die Bilder vernünftig zusammengestellt sind, sprechen sie eventuell auch den Intellekt an. Alle Filme reden zuviel, meine besonders. Bilder dagegen sind eine internationale Sprache, sie müssen nur richtig gestaltet und zusammengestellt sein, so dass jeder sie versteht und Zugang findet.

Frage: Für THE BROTHERS KARAMAZOV erfanden sie die sich kreuzende Beleuchtung in Farbe?

Brooks: Ja, dort wandte ich sie zum erstenmal an.

Frage: Benutzten Sie die Farben symbolisch? Sie sind ziemlich aufdringlich.

Brooks: Ich habe sie entsprechend ihrer Bedeutung für uns eingesetzt. Wir haben sogar vorher Tests durchgeführt, um herauszubekommen, ob die Farben, die wir auf der Leinwand sahen, in uns das Gefühl erzeugten, das wir uns vorstellten. Nicht jeder mochte die Farben, als er sie sah. Einige fanden sie zu prätentiös oder anmassend. Ich merkte allerdings, dass später viele meine Methode übernahmen. Natürlich gelang es ihnen besser, als uns.

CAT ON A HOT TIN ROOF - SWEET BIRD OF YOUTH

Beides sind recht gute Filme, aber es ist schwierig für mich, Tennessee Williams zu dramatisieren, weil er ausgesprochen für die Bühne schreibt. Ich halte ihn für einen brillanten Autor, aber es ist nicht ratsam, all seine Worte im Film zu verwenden. Wussten Sie, dass er an CAT ON A HOT TIN ROOF etwa 1 700 000 Dollar verdient hat? Und das war das einzige, was er gesagt hat? "Was habt ihr bloss mit meinem Stück gemacht? Ihr habt es hingeschlachtet!" Selbstverständlich haben wir die ganze Zeit mit ihm in Verbindung gestanden. Er wusste in jeder Phase genau, was wir vorhatten.

Frage: Ein vorrangiges Thema scheint zu sein, wie sich das Privatleben eines Menschen zu seinem Auftreten in der Öffentlichkeit verhält.

Brooks: Ich glaube, dass sich die Menschen sowohl im Privatleben als auch in der Öffentlichkeit seltsam benehmen. Weder in dem einen noch in dem anderen sind sie sich selbst gegenüber ehrlich; besonders aber in ihrem öffentlichen Auftreten, da sie sich ein Bild von ihrer Person machen, dem sie entsprechen müssen.

Frage: Das wird sichtbar in der Szene von SOMETHING OF VALUE, in der Hudson Dana Wynter zurückweist. Er kommt sich wegen der Dinge die er tun muss, schmutzig vor.

Brooks: Das stimmt, und es trifft auch zu für CAT ON A HOT TIN ROOF in der Szene zwischen Vater und Sohn im Keller, die im Stück nicht enthalten war.

Frage: Wahrscheinlich hatten Sie nicht die Möglichkeit, an Williams' Stücken sehr viel zu ändern.

Brooks: Nicht sehr viel. In CAT ON A HOT ROOF habe ich versucht, alle Absichten und den grössten Teil des Dialogs zu übernehmen. Ein paar Szenen habe ich hinzugefügt. Meiner Meinung nach war das Thema der latenten oder sogar offenen Homosexualität für diese Geschichte nicht notwendig. Darüber hinaus hat man im Theater ein vorbereitetes Publikum, aber wenn die Leute ins Kino gehen, und es ist da ein Mann auf der Leinwand, der dauernd sagt, nein, er wolle nicht mit Elisabeth Taylor ins Bett gehen, dann werden die Leute bestimmt pfeifen und schimpfen. Sie können sich mit dem Helden nicht identifizieren, weil sie mit ihr ins Bett gehen wollen. Wenn Paul Newman sagt: "Nein, Liebling, ich denke an Skipper", dann lachen sie furchtbar. Ich musste es also so gestalten, dass Brick Maggie nicht etwa zurückstösst, weil er sie nicht lieben kann, sondern weil er sie für schuldig an Skippers Tod hält.

Tennessee sagte mir am Telefon, er sei mit der Lösung völlig einverstanden. Wir haben uns nie getroffen, und ich habe das Stück nie gesehen.

SWEET BIRD wollte ich nicht drehen. Ich hielt es für ein gutes Stück, aber ich glaubte, dass mittlerweile zuviele Imitationen seines Werkes erschienen waren. Sehr viele seiner Stücke waren verfilmt worden, und einige davon liefen gleichzeitig in Wiederaufführung.

Frage: In SWEET BIRD OU YOUTH hatten Sie einen weit einfacheren Kamerastil als in CAT, die Kamera war ausgeglichener.

Brooks: Bei diesem Film ging das, vor allem, weil ich in SWEET BIRD häufiger die Szene wechseln konnte. In CAT gab es einen Schauplatz, und ich war entschlossen, Williams' Stück nicht zu zerstören, indem ich ihn erweiterte. Er hatte ein Proszenium, ich hatte und wollte keines; aber ich wollte ebenfalls das Gefühl vermitteln, dass nur ein Schauplatz vorhanden sei. Wir hatten also einen Hauptschauplatz: den ersten Stock mit den Schlafzimmern, das Erdgeschoss und einen Keller.

Wegen der vielen Dialoge musste ich die Kamera bewegen. In SWEET BIRD konnte ich ganze Dialogpassagen durch ein Bild ersetzen und deshalb eine wesentlich einfachere Kameratechnik anwenden. Bei CAT dagegen wusste ich, dass man sich nicht nur die Dialoge anhören konnte. In vielen Szenen waren viele Leute gleichzeitig auf der Bühne, und ich wollte nicht, dass sie aus dem Brennpunkt gerieten. Deshalb entschied ich, sie durch Lichteffekte herauszunehmen und bei Bedarf wieder aus der Dunkelheit hervorzuholen. Ich habe versucht, das zum Stilprinzip zu erheben, um die zahlreichen Auftritte und Abgänge zu vermeiden.

Dann bestanden noch die Schwierigkeiten mit der Tonaufnahme. Jeder spricht gleichzeitig; auf der Bühne lässt sich das unterscheiden, aber es gibt ein einziges Durcheinander, wenn man es aufnimmt. Irgendjemand sagte mir, das Mikrofon habe kein Gehirn. Wenn man es in einen Raum stellt, wo fünf Leute sprechen, hört das Mikrofon alle fünf. Das Gehirn dagegen schaltet automatisch drei von vier Leuten aus. Dasselbe gilt für Auge und Kamera. Auf der Bühne wählt man selbst aus. Obgleich man mehrere Personen sieht, schaut man nur auf einen bestimmten Menschen und wird jeweils veranlasst, auf einen anderen zu schauen. Im Film zwingt man das Auge, zu sehen, was es sehen soll.

Frage: Warum führten Sie den Prolog im Stadion ein?

Brooks: Es gibt im Stück eine sehr lange Passage, in der erzählt wird, wie Brick sein Bein gebrochen hat, aber ich konnte keine lange Rede gebrauchen, die nur beschreibt, wie irgendjemand sein Bein brach. Ich wollte ihn nicht auf dem Höhepunkt seiner Karriere zeigen, sondern in einem leeren Stadion, in dem er irgendetwas sucht; somit ist man darauf vorbereitet, dass dieser junge Mann irgendwie nicht zurechtkommt. Der Traum vom vergangenen Ruhm beginnt zu verblassen.

Statt dass irgendjemand Brick dauernd die Krücke wegzieht, liess ich ihn die Treppe herunterkommen, sogar ohne Krücken, was ihm natürlich sehr schwerfiel. Ich liess ihn in den Keller gehen, den untersten Teil des Hauses, dort sollte sich das neue Verhältnis zwischen Vater und Sohn anbahnen und sich dann später gewissermassen zur nächsthöheren Stufe entwickeln. Auch das Äussere des Hauses gehörte zum Bühnenbild.

Frage: Warum liessen Sie das Grammophon im Keller die kleine klimpernde Klaviermelodie spielen?

Brooks: Der Vater ist ein rauher, realistischer Mensch, aber als er erfährt, dass er bald sterben muss, als er dieser Zukunft entgegenzusehen hat, wird ihm klar,, dass sein bisheriges Leben recht leer war. Als Vorbereitung auf die Szene, in der der Junge herunterkommt, wollte ich von der Musik her eine gefühlsmässige Reaktion auf die Vergangenheit dieses Mannes hineinbringen. Während er hin und her geht, legt er diese Platte mit der alten Melodie auf, die das Publikum gefühlsmässig vorbereitet, ohne dass es sich darüber klar wird, warum es sich fragt, was eigentlich mit diesem alten Mann los ist, ober als Kind irgendetwas geliebt hat, ob er immer nur verfolgt wurde, ob er immer ein reicher Mann war. Ich habe versucht, das Publikum auf die Vergangenheit des Vater vorzubereiten. Inmitten all seiner Besitztümer war er noch von ihr umgeben.

Frage: In SWEET BIRD war die Beleuchtung sehr weich, warm und zurückhaltend. Warum wählten Sie diese Beleuchtung, besonders für die Schlafzimmerszene?

Brooks: Nun, die Prinzessin ist so etwas wie eine romantische Figur. Sie mag im Geschäftsleben realistisch sein, aber in ihrem persönlichen Leben ist sie sehr unrealistisch. Es ist ein sehr herber Film, und ich sah nicht ein, warum die Fotografie genau so herb wie der Inhalt sein musste. Ich sagte mir, dies ist ein sehr herber Film, der mit Haschisch, Kastration, Bastarden, lasterhaften Politikern und was weiss ich noch alles zu tun hat. Ich wollte das alles weich und in schönen Farben haben. Diese Person sieht eben alles so schön und will, dass die Welt so ist.

Frage: Fiel die Wahl nur im Hinblick auf die vollen Kassen wieder auf Newman für die Rolle des Helden?

Brooks: Nein, lange bevor ich damit zu tun bekam, war er bereits für das Stück vorgesehen. Aber ich holte Paul speziell für CAT, weil ich die Kamera minutenlang auf ihn richten konnte: in vielen Szenen hatte er nichts zu sagen; in ihm fand ich eine sehr interessante Persönlichkeit, die etwas denken konnte und bei der die Kamera es auch registrierte. Damals war er noch kein grosser Star.

Frage: Waren die Rückblenden in SWEET BIRD ihre Idee?

Brooks: Ja, ich wollte sogar noch mehr Rückblenden machen und das durch Schnitte erledigen, aber man sagte mir, das Publikum wolle wissen, wo man sich befinde und was geschehe. Wir sollten nicht anfangen, Kunst zu drehen.

Frage: Wollten Sie den Film in Cinemascope drehen?

Brooks: Ich wollte niemals irgendetwas in Cinemascope drehen, aber man macht es eben heute. Ich habe den Kampf aufgegeben. Ich drehte ELMER GANTRY in der normalen 3:4 Grösse, aber man führte ihn einfach falsch vor. Was hat es für einen Sinn, eine Nahaufnahme von jemandem zu komponieren, wenn man später auf der Leinwand nur seinen Mund sieht? Mann kann die Entwicklung nicht aufhalten. Später hat man allerdings die neuen Panavision-Linsen erfunden, die nicht mehr verzerren, was eine grosse Verbesserung gegenüber dem Cinemascope bedeutete. Aber ich finde nicht, dass es zur Komposition einer Szene beiträgt, es sei denn, es handele sich um eine Massenszene. Wenn Sie sitzen, und ich stehe, und ich will eine Nahaufnahme machen, dann ist das unmöglich, solange ich nicht die Kamera sehr tief herunternehme, um uns beide ins Bild zu bekommen. Wenn ich aber hinuntergehe, muss ich ein Stück der Decke mit aufnehmen oder weiter weggehen. Wenn ich es aber unbedingt in Nahaufnahme drehen will, muss eine der beiden Personen sich vorbeugen. Das ist nicht richtig, die Szene wirkt gezwungen. Die Personen müssen aufstehen, aber ich kann sie nicht aufstehen lassen. Als ich dann in SWEET BIRD auf solche Szenen mit zwei Personen stiess, hatte ich keine Schwierigkeiten. Ich war für die Entwicklung dankbar.

Ich hatte für SWEET BIRD einen anderen Schluss, aber der Produzent war dagegen. Ich wollte, dass Chance Wayne folgendes tut: kein Mensch sagt: "Haben Sie Mitleid mit mir, weil ich diesen kleinen Fehler habe." Jeder hat seinen kleinen Fehler. Kein Mann wartet darauf, kastriert zu werden. Er mochte etwas ähnliches erwarten, aber er war doch eigentlich nicht darauf gefasst. Ich wollte ihn also noch etwas mehr tun lassen; ich wollte, dass er den Zusammenstoss sucht. Aber bei der MGM meinte man, es sei schlimm genug, diesen Film überhaupt zu drehen.

Er kommt zu dem Haus und ruft das Mädchen. Der Bruder taucht mit den anderen auf, sie zerren ihn zum Auto und fallen über ihn her. Die Kastration muss man nicht sehen, denn sie zerschlagen zunächst sein Gesicht, bevor sie ihr Werk vollenden. Genau da blende ich ab. In meinem ursprünglichen Schluss blende ich gleich auf die Fähre über. Am Anfang des Films sah man die Fähre, während sie ankommen. Sie müssen mit derselben Fähre wegfahren. Die Prinzessin und Lucy fahren mit dem Auto weg und halten für einen Moment an. Einmal auf der Fähre angekommen, sind sie aus der Stadt heraus. Sie sind sehr erleichtert und zünden sich Zigaretten an. Das Boot fährt langsam ab, lässt ein Signal ertönen und verlässt seine Bahn etwas, weil ein Müllschiff vorbeifährt. Auf diesem Schiff ist Chance Wayne; das ist alles. Es wird kein weiteres Wort gesprochen, denn am Anfang des Films sagt der alte Mann zu seiner Tochter: "Willst du, dass er die Stadt auf einem Müllschiff verlässt?" Aber die MGM meinte, das könne man nicht machen. Er sei doch wegen des Mädchen gekommen, und nun kriege er sie nicht. Sie versprachen mir zwar, sie würden mich die Szene nach der Testveranstaltung drehen lassen, aber das haben sie natürlich nie getan.

ELMER GANTRY

Bei ELMER GANTRY hatte ich die vollständige Kontrolle. Ich drehte ihn für United Artists, weil kein anderes Studio ihn machen wollte. Wir mussten für ELMER GANTRY lediglich ein paar kleine Szenen ändern, und das nur wegen der Schwierigkeiten mit der Zensur. Ich glaube, es wurden dann noch ein paar Schnitte verlangt; vor allem eine Stelle wurde unglücklicherweise überall herausgeschnitten und zwar in der Szene am Ende nach dem Brand, als der Zeitungsmann zurückbleibt und zu Gantry sagt: "Bis bald, Bruder!", und Gantry sagt auch: "Bis bald" und geht davon. Die Kamera folgt ihm, und damit endet der Film. Ursprünglich hatte ich den Zeitungsmann sagen lassen: "Bis bald, Bruder!", und Gantry dreht sich um und sagt: "In der Hölle, Bruder!", weil er wusste, wohin er ging.

Aber bei allen Zensurstellen sagte man mir, das könne ich nicht tun. Das würde bedeuten, dass der Mann nicht bekehrt worden sei. Ich entgegnete, gerade darum gehe es ja, er wisse, dass er nicht bekehrt worden sei. Er weiss, dass er kein guter Prediger ist. Das ist seine einzige Bekehrung. Er lehnt es ab, Prediger zu bleiben. Er wird wieder ein Reisender, ein Verkäufer, ein Erzähler schmutziger Geschichten. Das kann er, darin ist er gross, aber er sollte nicht die anderen Leute quälen. Er kann ihnen wertlose Ware verkaufen oder einen schmutzigen Ofen oder sie im Kartenspiel betrügen, aber er soll sie nicht in Dingen betrügen, an die die Leute glauben. So konnte ich es jedoch nicht drehen, das ist einer der Kompromisse. Es gab noch einige andere, aber es ist der erste amerikanische Film über dieses Thema, der mehr ist als ein blosses Spektakel. Das ist wichtig, weil der nächste, der so einen Film drehen will, zumindest offene Türen vorfinden wird und etwas besseres machen kann als ELMER GANTRY, indem er das Thema etwas ernsthafter behandelt.

Frage: Als Gantry am Schluss die Szene verlässt, konzentriert sich die Kamera auf einen Krankenwagen mit einem Kreuz. Wollen Sie damit sagen, dass dies nur eine Art von Kreuz ist, nur eine Möglichkeit der Hilfe? Ist es so wie in CRISIS, wo jeder nach dem Arzt ruft, wenn er verletzt ist?

Brooks: Ja. Eigentlich wollte ich noch mehr sagen, aber ich blieb dann dabei. Wäre der Schluss so geblieben, wie er ursprünglich gedacht war, hätte die Szene eine wesentlich grössere Bedeutung bekommen. "Wiedersehen in der Hölle, Bruder!" Jeder von uns braucht irgendeine Hilfe. Einige finden sie in Christus, einige in ihrem Konto, bei einer Frau oder einem Mann; es ist gleichgültig, wo man diese Hilfe findet. Wichtig ist nur, dass wir sie haben, wenn wir sie brauchen. Bedenklich wird es erst dann, wenn jemand sagt, es gibt nur eine Hilfe für dich, nämlich meine. Man hüte sich vor solchen Menschen.

Frage: Wollten Sie sagen, dass eine Missionierung, die auf dem Papier ein fortschrittlicher Standpunkt gegenüber der Religion zu sein scheint, tatsächlich extrem konservativ ist?

Brooks: Das ist die Bedeutung der Szene, in der Gantry den Journalisten mit der Frage festlegt: "Glauben Sie, dass die Bibel lügt?" Entweder stimmt er dem voll zu oder überhaupt nicht. Das ist der Standpunkt der Fundamentalisten. So gesehen, wird der Mann in der Hölle brennen; das wäre der konservative Standpunkt. Tatsächlich liegt die Macht darin, dass man sagt: "Hier ist das Buch, und es bedeutet Wort für Wort, Komma für Komma genau das, was ich sage." Die Tatsache, dass es zweitausend Interpretationen dafür gibt, hat damit nichts zu tun.

Frage: Stimmt es, dass Sie in ELMER GANTRY recht häufig andeuten, diese Art der Missionierung sei der Vorläufer des McCarthyismus?

Brooks: Ich wollte sagen, dass er von reaktionären Kräften so praktiziert wurde, wie das schon immer geschah. Auch Billy Sunday wurde so eingesetzt. Alle dreissig Jahre gibt es eine neue Generation, die diese Erfahrung noch nicht gemacht hat. Es scheint wie ein Zwang zu sein, dass die Menschen plötzlich in einen Strudel von Massenhysterie geraten, in der sie versuchen, ihre Probleme in der Menge zu lösen. Ich habe bewusst nicht gesagt, was sie suchten, sondern mich beschäftigte der Missbrauch, der mit der Unsicherheit dieser Menschen getrieben wurde. In meiner Schulzeit lernte ich von Bacon mehr darüber als von irgendjemand anderem.

Frage: Wenn Elmer die Menge in das Bordell führt, ist es doch nicht wirklich ein sozialer Fortschritt, sondern der Wille zu zerstören.

Brooks: Ja, eigentlich handelt es sich um Lynchjustiz. Sie brauchen irgendeine Macht, die ihnen sagt: "Wenn wir diesen Man verprügeln, geht es uns allen besser." Genau das ist es.

Frage: Warum placierten Sie die weggeworfene Zigarette so früh in der Sequenz mit dem Wunder, statt das später separat zu tun?

Brooks: Ein alter Filmtrick. Ich wollte nicht, dass das Publikum auch nur eine Sekunde ruhig sitzt. Die Hauptsache ist, dass der alte Mann sein Gehör wiederbekommt. Aber ich wollte, dass beides gleichzeitig geschieht; es ist derselbe Trick, wie wenn die Schurken jemanden auf die Schienen binden, der Held kommt, und der Zug nähert sich. Ich wollte nicht, dass das Publikum denkt, die Hauptsache sei, er werde gerettet. Ich wollte sie spüren lassen, dass irgendetwas nicht stimmt, dass irgendetwas Schreckliches geschehen wird.

Frage: Wollten Sie eine kausale Verbindung zwischen dem Wunder und der Zerstörung herstellen.

Brooks: Nein, das Wunder ist etwas, wonach wir immer suchen. Irgendwo, irgendwie brauchen wir es, wir hoffen darauf. Aber wenn wir dieses Wunder erleben, wird gleich danach immer eine Art Krise oder ein Unglück auftauchen. Das wollte ich damit ausdrücken. Ich wollte, dass das Publikum das Ausbrechen des Feuers bemerkt, während sie sagt: "Gott ist hier. Wir brauchen keine Furcht zu haben." Aber sie brechen in Panik aus, sie reissen einander in Stücke. Da weiss sie, dass sie verloren ist.

Frage: Die Versammlung, die in Panik ausbricht, handelt also vernünftiger als sie es tut?

Brooks: Natürlich; man kann nicht nur darüber nachdenken, was gut für die Welt ist, man muss handeln. In den letzten fünf Jahren haben Sie fünfzehn Filme gesehen, in denen Jesus das Kreuz zur Richtstätte trägt; die Leute weinen und lassen ihn vorbeiziehen. Sie spüren, dass er wirklich eine heilige Gestalt ist. Und dennoch kreuzigen sie ihn. Wer hilft ihm? Unterstützt ihn irgendjemand? Wer sind all diese Leute, die sagen, sie glauben? Man kann sie weinen sehen: sie glauben und tun nicht das geringste. Zweihundert Jahre dauert es, bis sie etwas tun. Wir sehen sie zu Tausenden, während die Kamera vorbeifährt; in ihren Augen stehen Tränen und Hoffnung, Wissen und Verzweiflung, aber niemand rührt eine Hand. Der einzige, der wirklich etwas fühlte, war vermutlich Barrabas.

Frage: In ELMER GANTRY wird der Schnitt wie ein Motiv eingesetzt. Burt Lancaster geht immer aus dem Bild, bevor Sie schneiden, auch im letzten Bild. War das Absicht?

Brooks: Ja. Ich hatte beschlossen, diesen Mann, wenn nur irgend möglich, nicht aus dem Blickfeld der Kamera zu lassen, so dass alles wie von seinem Standpunkt aus gesehen wird, denn er ist die Hauptfigur, die die Handlung zusammenhält. Ich wollte nicht schneiden, wenn er auf mich zukam, um irgendetwas zu tun. Manchmal ging er aus dem Brennpunkt, während er auf uns zukam, denn man kann eine Person nicht sehr lange im Brennpunkt halten. Aber das störte mich nicht.

Frage: Die Technik der begrenzten Beleuchtung aus KARAMAZOV haben Sie hier noch stärker eingesetzt. Viele Nahaufnahmen, besonders, wenn Lancaster Geschichten erzählt, sind gegen einen vollkommen unbeleuchteten Hintergrund gedreht, wenn man das auch nicht immer bemerkt.

Brooks: Das stimmt. In unseren Tagen mit den grossen Leinwänden besteht das Hauptproblem darin, den Raum auszuschalten, nicht, ihn einzubeziehen. Ich wollte nicht, dass irgendetwas von ihm ablenkt. Ich wollte, dass man ihn ansieht, in ihn hineinsieht. Mit Hilfe des Lichtes liess ich die Farben um ihn herum ziemlich oft verschwinden, so dass er fast wie eine Kamee wirkt.

Man glaubt dadurch, an einem Geheimnis teilzuhaben. Nach einiger Zeit fragt man sich, vielleicht unbewusst, woher das Licht kommt, und was es aufdeckt.

Es gab ein Geheimnis und ein Geheimnis in einem Geheimnis, so dass die Schale um diese Gestalt langsam entfernt wird, bis sie schliesslich offen daliegt, bis sie in der letzten Szene in hellem Tageslicht dasteht.

(Das Interview wurde während der vorbereitenden Arbeiten zu LORD JIM aufgenommen. Gesprächspartner waren Ian Cameron, Mark Shivas, Paul Mayersberg und V. F. Perkins. Der Nachdruck aus MOVIE No. 12, Frühjahr 1965, erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ian Cameron und MOVIE. Übersetzung: Wolfram Tichy)
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Vorwort zu LORD JIM       Richard Brooks

Warum nimmt man einen Roman, der von Leuten im Jahre 1900 und ihrer Zeit erzählt, und macht aus ihm vierundsechzig Jahre später einen Film? Warum "Lord Jim"? Und warum mein Engagement? Warum habe ich drei Jahre und vier Monate auf Schreiben, Vorbereiten und Filmen verwandt? Warum habe ich eine hervorragende Besetzung und eine englische Mannschaft erfahrener Techniker verpflichtet und sie mit mehr als vier Tonnen an Ausrüstung und Apparaten fünfzehntausend Kilometer weit in die Häfen und Dschungel von Südostasien befördert, in ein Land, in dem ständig Krieg, Gefahr und fünfzig Grad Hitze herrschen? Vielleicht, weil wir alle glaubten, dass LORD JIM mehr sein könnte, als nur noch ein Film. Vielleicht wollten wir das Dokument einer menschlichen Erfahrung festhalten, die von Joseph Conrads Geschichte inspiriert war. Was für eine Geschichte? Eine Erzählung von grossen Abenteuern, von Romantik und Liebe? Ja, das auch, aber es sollte noch mehr sein. Ich glaube, dass man beim Lesen von Joseph Conrads Werken mit dem Leben in Berührung kommt.

Morton D. Zabel, Literaturkritiker und Lehrer, schrieb über Conrad: "Das traurige Los des Menschen, den das Leben unerbittlich ausschliesst und ihm den Halt und den illusorischen Schutz von Freundschaft, Ansehen oder Liebe versagt, trat jetzt als das charakteristische Thema seiner (Conrads) Bücher hervor. Ibsen, Gide, James, Mann und Kafka haben sich erfolgreich mit demselben Thema beschäftigt. Es taucht auf bei Joyce, Hemingway, Dos Passos und anderen - aber es ist zweifelhaft, ob irgendeinem von ihnen eine so dramatische Version dieses Themas gelungen ist wie Conrad."

In einem der aufschlussreichsten Bücher über Conrad und sein Werk schrieb der Engländer Jocelyn Baines: "Zufall und Schicksal sind Kräfte, die gemeistert und beherrscht werden müssen. Feigheit angesichts der entscheidenden Prüfung gehörte zu Jims Schicksal, und nur, indem er sein Schicksal besiegte, konnte er sein Vergehen büssen. Ein Akt der Feigheit musste mit einem Akt höchsten Mutes gesühnt werden."

Ich hoffe inständig, dass der Film, der so weite Reisen und so viel Zeit in Anspruch nahm, Conrads "Lord Jim" gerecht wird: ihm gerecht werden muss allerdings nicht immer ein Facsimile bedeuten. Man kann genau das übertragen, was Conrad schrieb. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass auch in dem Film das Transparente, Leuchtende oder auch nur die Absicht des Romans, des geschriebenen Werkes steckt. Es war und ist unser erklärter Vorsatz, die Absicht, die Conrad mit "Lord Jim" verfolgte, im Film zu gestalten. Conrad schrieb in einem Stil, der sich besonders für die Romanform eignet. Wir aber müssen einen filmischen Stil verwenden, der geeignet ist für ein ganz verschiedenen Kulturkreisen angehörendes Kinopublikum mit einem Dutzend unterschiedlicher Sprachen (vielleicht 300 verschiedenen Dialekten, für ein Publikum mit unterschiedlichem Niveau, wo viele nie lesen gelernt noch je erfahren haben, welche geistigen Prozesse die Kunst des Lesens ausgelöst hat. Und doch wünsche ich mir, dass mein Film imstande ist, all diesen Menschen - gleich welcher Rasse, Nationalität, sozialen Herkunft oder religiösen Erziehung - die Geschichte von Conrads "Lord Jim" zu erzählen.

Es ist ein immenser Unterschied, ob man eine Geschichte in einem Buch oder einem Film entwickelt. Ein Buch ist etwas Geschriebenes. Das Mittel der Verständigung sind Worte. Damit Worte verstanden werden, müssen sie den Geist des Lesers erreichen. Deshalb ist die erste Reaktion beim Lesen eines Buches eine geistige. Wenn die Worte und Ideen geschickt und kunstvoll verbunden sind, kann die zweite Reaktion eine gefühlsmässige sein.

Ein Film ist das Gegenteil. Worte, Dialoge, Ausdrücke sind zweitrangig. Bei einem Film erinnern wir uns an das, was wir gesehen haben. Bilder. Ein Film hat hauptsächlich mit Bildern zu tun. Die Reaktion auf einen Film ist, wie die auf Musik, primär gefühlsmässig. Wenn alle Bilder geschickt und kunstvoll verbunden sind, kann die zweite Reaktion eine geistige sein.

Es ist deshalb notwendig, eine Übertragung von Worten in Bilder vorzunehmen. In jeder Übertragung geht einiges verloren und wird - vielleicht - einiges gewonnen. Es ist nie genau dasselbe, wenn aber die Absicht verwirklicht wurde, lassen sie sich am Ende doch eng zusammenführen.

Conrad schrieb in einem seiner brillanten Vorworte: "_... Dichtung muss wie Malerei, wie Musik, wie jede Kunst die Beziehung eines Temperamentes zu all den anderen unzähligen Temperamenten sein, deren feine und unwiderstehliche Macht vergehenden Ereignissen ihre wahre Bedeutung gibt und die moralische und emotionelle Atmosphäre von Zeit und Ort schafft." "_... Jede Kunst wendet sich vorwiegend an die Sinne _... Meine Aufgabe, die ich zu erfüllen versuche, besteht darin, mit der Macht des geschriebenen Wortes, hören, fühlen, vor allem aber, sehen zu machen! Das - und nicht mehr, aber das bedeutet alles!"

Hören, sehen, fühlen: das also soll das Ziel dieses Films sein. In den vierzig Jahren seit Conrads Tod hat sein Werk nicht an Bedeutung verloren, sondern eher gewonnen. Mit Glück, Wahrnehmungsvermögen, Geschicklichkeit und harter Arbeit können wir vielleicht eine neue Generation vieler Völker Conrads "Lord Jim" hören, fühlen und sehen lassen.

Unter den verschiedenen Themen, die in "Lord Jim" berührt werden, habe ich eins nie vergessen, seit ich den Roman zum erstenmal in der Schule gelesen habe: der Mann, der eine zweite Chance sucht und findet. Dies ist ein Thema, eine Lebensnotwendigkeit, die den meisten Menschen vertraut ist. Wer unter uns, ob Mann, Frau oder Kind, ob schwach oder stark, reich oder arm, mächtig oder machtlos, gleich welcher Rasse, Nationalität, Kultur, Religion, zivilisiert oder nicht, gebildet oder nicht - wer von uns hat nicht eine zweite Chance ersehnt? Wer von uns hat nicht etwas getan, dessen er sich schämen muss? Wer hat nicht gegen die Regeln der Menschlichkeit verstossen? Wer hat nicht schon eine Schwäche gezeigt, die verborgen in seinem Inneren frass? Haben wir nicht alle manchmal versucht, "alles in Ordnung zu bringen" - für uns selbst, meine ich? Das ist der Kern der Sache. Das ist es, was aus Lord Jim einen Jedermann macht.

Selbstverständlich ist der Film von der Form her nach wie vor eine Abenteuergeschichte. Natürlich gibt es exotische, von Leben pulsierende Schauplätze mit Tempelruinen und alten Stammesriten. Und auch Romantik. Denn Jim war eine romantische Gestalt, die sich selbst romantisch sah, als die heroische Person, den glanzvollen Ritter, der eines Tages Ruhm, Ansehen, Reichtümer und - vor allem - Ehre gewinnen würde. Und wenn ihn, anlässlich einer frühen Prüfung, ein Charakterfehler verrät, tut Jim das, was ihm jeder von uns wünscht: er "bringt alles in Ordnung".

Was den Stil des Films betrifft, wie soll ich es ausdrücken, ohne dass man mich missversteht oder etwas überbewertet? Ich habe schon gesagt, warum ich es unmöglich fand, den Stil oder die Form der Novelle ins Filmische zu übertragen. Ich glaube nicht, dass Kamerawinkel oder Schnittmethode oder spezielle Effekte den sogenannten Stil ausmachen.

Vielleicht sage ich am besten: der Stil bin ich selbst. Der Stil dieses Films Lord Jim bin ich, jetzt, in diesem Abschnitt meines Lebens, was immer ich gelernt, gedacht, empfunden, gehofft oder gefürchtet habe, welche kleinen Siege ich gewonnen und wieviele Niederlagen ich erlitten habe. Der Stil, das sind meine Hoffnungen - ja, das ist das Wort - Hoffnungen.

Vielleicht ist die Hoffnung der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier. Tiere können Hunger, Durst, Furcht oder Stolz empfinden. Tiere können sich an die Vergangenheit, das Gefühl bei einem Windstoss, an Schmerz erinnern, die Befriedigung des Begehrens haben - in den meisten Dingen ist der Mensch fest mit dem Tier verbunden, in allen ausser einem - nur der Mensch kennt die Bedeutung der Hoffnung.

Ohne Hoffnung sinkt der Mensch auf die Ebene des Tieres zurück.

Mit der Hoffnung kann der Mensch die Wahrheit über sich selbst suchen, kann sie finden, sie anerkennen, ihr ins Gesicht sehen und irgendetwas für sie tun' Mit der Hoffnung kann er ein besserer Mensch werden. Das ist die Geschichte von LORD JIM. Es sollte die Geschichte von Jedermann sein.

(Nachdruck aus MOVIE Nr. 12, Frühjahr 1965; Übersetzung: Wolfram Tichy)
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Anmerkungen zu Brooks' politischen Abenteuerfilmen "Lord Jim" und "Die gefürchteten Vier"       Wolfram Schütte

Richard Brooks letzte Filme (wie auch einige seiner früheren, die bei uns bekannt wurden) sind gleichermassen verwirrend für den, der ihren Abenteurercharakter goutieren möchte, wie für den Betrachter, dessen Blick sich gerade an dieser Abenteuerlichkeit irritieren lässt. Dem Publikum, das Film als naive Freude an Aktion, Rasanz und handlungsreicher Bewegung erlebt, fallen Lücken in der Psychologie der Personen auf, gradlinige Handlung wird durch Reflexion und grössere Dialogpartien retardiert. Einer Haltung, die im Film mehr sieht (oder doch sehen möchte), als das Vergnügen der Zerstreuung, kann es leicht geschehen, gerade an der Vordergründigkeit dieser Werke festzuhalten, und was sie dort vermisst gegenüber Filmen, die ihr ästhetisch durchgebildet erscheinen, rechnet sie dem mangelnden Können des Regisseurs an. Beide Wege zu Brooks führen zu zwiespältigen Erfahrungen. Es fragt sich, ob diese Zwiespältigkeit seinen Filmen (zumindest den beiden letzten) inhärent ist; ob, was auf den ersten Blick Scheitern genannt wird, auf den zweiten als das Eigentümliche und als Ausdruck einer bestimmten - und zu bestimmenden - Intention des Regisseurs erkannt werden muss.

Brooks zählt zu jener Gruppe von amerikanischen Regisseuren und Drehbuchautoren, die, wiewohl von Hollywood vermittelt, sich gegen dessen Charakter als "Traumfabrik" sperrten. Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor, hat er nie sein soziales Engagement, sein Interesse an der realistischen Darstellung gesellschaftlicher Vorgänge und Konflikte verleugnet oder es verloren, wie etwa Vincente Minelli nach der Hexenjagd McCarthys, in die auch Brooks verwickelt war.

In der ersten Phase seines Schaffens, die Werke wie DEADLINE, USA und BLACKBOARD JUNGLE umschliesst, hatte Brooks seine Sujets aus der unmittelbaren Gegenwart (zumeist der USA) genommen. Seit seiner Adaption von Dostojewskis "Brüder Karamasoff" (1958) wandte sich der Regisseur ausschliesslich literarischen Stoffen zu, die er selbst für den Film bearbeitete. So etwa zwei Bühnenstücke von Tennessee Williams und einen Roman Sinclair Lewis. "LORD JIM" ist nach Conrads Roman entstanden. (Brooks hat aber auch andere literarische Momente aus Conrads Werk im Film verwandt, beispielsweise die berühmte Schlusspassage aus "Youth".) Dem letzten, erst jüngst gelaufenen Film Brooks, "Die Gefürchteten Vier", liegt eine Romanvorlage zugrunde.

Warum Brooks sich 1958 historischen Stoffen zuwandte und daran bis heute festhielt, ist noch ungeklärt und verdient eine genauere Untersuchung. Sicher ist aber, dass man diese Wendung zu historisch-literarischen Sujets nicht als Fluchtweg aus einer unmittelbaren Aktualität zeitadäquater Stoffe in das unverfängliche Gebiet der Historienmalerei missverstehen darf. Denn zumindest in seinen letzten beiden Filmen - die mir aus dieser Phase bekannt sind - hat er die literarische Vorlage inszeniert mit dem Blick auf die Gegenwart.

Für Kracauer, in seiner "Theorie des Films", sucht sowohl der Film wie auch der Roman Leben in seiner Fülle darzustellen. Den entscheidenden Unterschied sieht Kracauer aber darin, dass sich das von der Kamera eingefangene und reproduzierte Leben als ein materielles Kontinuum von physischen Dingen entfaltet, während der Roman in erster Linie ein geistiges Kontinuum darstellen will.

Diese Schwierigkeiten, von einem künstlerischen Medium ins andere überzuwechseln, mussten angesichts des Oeuvres J. Conrads um so grösser sein, als "die doppelte Faszination, die von seinem Werk ausgeht, darauf beruht, dass es einerseits auf der soliden Grundlage dessen steht, was Fontane die ,wundervolle Detailkenntnis' zu nennen pflegte, und dass anderseits jedes Detail darin über die blosse Abbildung hinaus expressiv ist." (G. Blöcker)

Richard Brooks, Regisseur und Drehbuchautor, hätte leichthin das subtile Handlungsgewebe der epischen Vorlage zerreissen und auf die pure Faktizität der Handlungsführung reduzieren können. Die Fülle der vorwiegend exotischen Schauplätze, die bewegende Geschichte jenes einsamen Menschen: das alles sind Momente, die ihm fraglos entgegengekommen wären (und die er auch nicht aus dem Auge verlor). Aber diese Form der Adaptation - man könnte sie positivistisch nennen, weil sie nicht nach dem geistigen Gehalt der Dichtung fragt, sondern nur nach deren materialem Wert - hat Brooks verschmäht; eine der üblichen misslungenen Verfilmungen wäre die notwendige Folge gewesen. Aber Brooks verzichtete auch bewusst darauf, den epischen Organismus einfach (sofern das möglich wäre) ins Optische umzusetzen. Die metaphysischen Intentionen des Romanciers hätten sich schwerlich realisieren lassen, ohne gegen das Minimum an Psychologie und Wahrscheinlichkeit zu verstossen, die ein realistischer Film verlangt, um glaubwürdig zu sein. So ist etwa - um ein Beispiel anzuführen - die Gestalt des Kapitäns Brown auf den Charakter eines skrupellosen, zynischen Freibeuters zusammengeschrumpft, der aber, mit der Hellsichtigkeit des Bösen, die schwache Stelle Jims erkennt und ihm deshalb überlegen ist. Im Buch hatte Conrad diese Figur, die aus ähnlichen Gründen wie Jim zum Aussenseiter der Gesellschaft geworden war, als Kontrastfigur eingeführt. Die Sympathie, gründend in der Verwandtheit beider Lebenswege, ist es, die Jims zweites Versagen im Roman verständlich macht. Was hier als Ausdruck tragischer Ironie erscheinen konnte - dass dem bis ans Ende der Welt Geflüchteten in einem "zufällig" auftauchenden anderen sein eigenes Schicksal begegnet -, im Film wäre dies, unvermittelt durch den erzählerischen Perspektivismus Conrads, der für Distanz und abwägende Überlegung bewusst Raum schafft, als Unwahrscheinlichkeit und Konstruiertheit billiger Kolportage erschienen. Die Reduktion dieser Gestalt auf ihre realistischen Momente, gerade auch innerhalb des Handlungsgefüges, war also notwendig und bedingt von der filmischen Form.

Derart hat Brooks den Roman grundsätzlich seiner spekulativen Momente entäussert, ohne ihn aber der gewiss naheliegenden Kolportage anheimzugeben. Vielmehr verdeutlicht seine Adaptation eine Möglichkeit, Conrads Roman heute zu lesen, ihn nach den historischen Erfahrungen der Zwischenzeit erneut und gewandelt zu verstehen. Damit ist aber nicht eine äusserliche Aktualisierung gemeint, denn davon sieht Brooks ebenso ab wie von der sklavischen Verfallenheit an das nun einmal vorgegebene epische Gebilde. Sein Versuch greift auf Konstellationen, Situationen und Charaktere des Romans zurück, deren Latenz zu seiner Darstellung sein interpretierender Blick heraufholt.

So nimmt der junge Seeoffizier zusehends psychopathische Züge an. Je mehr sich sein Ich an seine ehemaligen Versagen fixiert, desto aussichtsloser erscheint jede Möglichkeit, durch befreiendes Handeln aus dem Circulus vitiosus seiner sich perpetuierenden Lebenskrise auszubrechen. Auf diese Weise verschärft er die subjektive Problematik verlorener Ehre zur objektiven Frage nach der Treue Jims zu denen, die sich ihm anvertrauten und für die er Verantwortung übernommen hatte. Wenn Jim, in einem Augenblick irreparabler Feigheit, das Schiff verlässt und die Mekkapilger, die er wenige Augenblicke zuvor noch seiner Treue versichert hatte, dem drohenden Untergang überlässt, liegen über dem tobenden Ozean dichte Schleier des Nebels. Nebelschwaden ziehen dann auch über den Fluss, wenn Jim jene Eingeborenen wieder verrät, die ihm ihr ganzes Vertrauen geschenkt haben.

In optischen Korrespondenzen erscheinen dadurch jene Szenen, in denen Jim, aller Klarheit seines Bewusstseins beraubt, traumatisch seiner Schuld verfällt und sich - sei es aus Angst oder falschem Mitleid - für seine Feinde entscheidet, die die Hautfarbe mit ihm teilen, anstatt seinen eingeborenen Freunden beizustehen. Auch an verschiedenen anderen Stellen durchschlägt die brisante politische Thematik den Schein reiner Abenteuerlichkeit; so etwa, wenn die Forderung, der Kapitän müsse mit seinem Schiff untergehen, aus der Sphäre ethischer Normen auf den realistischeren Boden ökonomischer Überlegung zurückgeholt wird: für die Versicherungsgesellschaften ist damit die Gewähr gegeben, dass ein Schiff unter allen Umständen gerettet wird. Übrigens hat Brooks die Liebesepisode Jims mit dem Eingeborenenmädchen der starken Melodramatik entäussert, die sie im Roman besass. Dass er gerade diese Szene (Jims Abschied vor seinem Tod) - sie wäre in jedem "Hollywoodspektakel" ohne Striche und Modifikationen übernommen worden - radikal veränderte, zeigt, wie bewusst er Abschweifungen ins nebensächliche Private, wie er das Ornament ausgespart hat.

Man kann hier hinter der realistischen Geschichte dieses zweifachen menschlichen Scheiterns die Umrisse eines parabolisch dargestellten historischen Verhältnisses erkennen: Kritik am Kolonialismus der Vergangenheit und an dem der Gegenwart. Auch Jims Unterstützung der Eingeborenen, sich gegen den Terror, den ein Landesfürst über sie verhängt hat, aufzulehnen, spiegelt jüngste historische Vorgänge - so etwa die Unterstützung der USA beim Sturz Diems. Der englische Kritiker Paul Mayersberg hatte schon zu Brooks Film SOMETHING OF VALUE geschrieben, dass sich die Hauptperson zunehmend sicher werde über die Position des Weissen Mannes in Afrika, "dass er endlich die Rolle des Herren aufgeben und Verbündeter werden müsse". ("Movie" No. 12)- Gedanken, die ebenfalls in LORD JIM vor grosser Bedeutung sind. Auch sprach dort Mayersberg von Brooks "allegorischem Stil", in dem er die "menschlichen Probleme" darstelle.

Dieser Hinweis auf allegorische Momente in Brooks Werk wurde schon fruchtbar bei der Betrachtung von LORD JIM; umsomehr aber auch, wenn man seinen letzten Film, "Die gefürchteten Vier" verstehen will. Es ist - und das wird leicht übersehen - ein komplizierter Film, so leicht er sich auch geben mag. Nicht nur lässt Brooks seine Stars gegen das eigene Image anspielen (vor allem Lee Marvin und Robert Ryan); auch das Western-Genre, zu dem der Film durch Lokalkolorit, historischen Abstand und seine Typengruppe zu zählen scheint, wird von innen aufgelöst. Hier wie schon in THE LAST HUNT ("Satan im Sattel", 1955) stellt er das Sujet des Western vom Kopf auf die Füsse, ersetzt er Mythologisierung durch kritischen Realismus. Aber es geht Brooks in den "Gefürchteten Vier" ebensowenig wie in diesem früheren Film ausschliesslich darum, eine möglichst abenteuerliche, exotisch-reizvolle Story realistisch zu erzählen. Vielmehr hat er in seinem letzten Werk die gewiss unbedeutende literarische Vorlage konsequent umstrukturiert, so dass, was hier als historische Anekdote erscheint, zugleich das Modell der gegenwärtigen politischen Situation der USA auf dem asiatischen Kriegsschauplatz entwirft.

Wollte man diese allegorischen Momente bündeln, die Parallelitäten zwischen dem Handlungsgeschehen und dem Modell, das ihm zugrundeliegt, pointieren, so könnte man folgendes grobes Muster herausarbeiten:

Wenn nicht schon die Modellhaftigkeit der Geschichte diese Deutung suggerierte, die sehr ausführlichen, breit reflektierenden Dialogpartien unterstützen und befördern sie in gleichem Masse. Sie schiessen oft über die unmittelbare Bedeutung hinaus, die sie im realen Handlungsgeschehen besitzen, ihre Nähe zur augenblicklichen politischen Diskussion leuchtet auf.

Man könnte, wenn man die beiden letzten Filme Brooks' unter diesem Aspekt betrachtet, mit Vorsicht und Bedacht, von einem Verfahren sprechen, das dem V-Effekt Brechts nicht gar so ferne steht. Das Aktuelle und Konkrete wird ins Historische übersetzt, das Historische aber aktuell umfunktioniert: in beiden Fällen, damit sich die realen politischen Grundstrukturen umso deutlicher vor dem Hintergrund des Fremden abheben können. Gewiss aber ist hier jene List politischer Vernunft mobilisiert, die die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit genau kennt. Und sie dort zu sagen weiss, wo sie ihre Feinde am wenigsten vermuten: im Abenteuerfilm, im Western - vorausgesetzt, der Blick, allzu sehr an die Erwartungen des Genres gewöhnt und ihnen verhaftet, durchschlägt die vergangene Erfahrung und erkennt das Neue und die politischen Konterbande, die Brooks Abenteuerfilme mit sich führen.
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Filmographie Richard Brooks

geb. am 18. Mai 1912 in Philadelphia
Mehrere Theaterinszenierungen in New York (1940); Dialoge zu SIN TOWN (1942); Mitarbeit bei WHITE SAVAGE (1943); MY BEST GAL (1943); COBRA WOMAN (1945);

Literarische Arbeiten
"Brick Foxhole" (1945); "Boiling Point" (1948); "The Producer" (1951).

Drehbücher

SWELL GUY, 1947, Universal. Regie: Frank Tuttle; Buch: Richard Brooks; n. e. Stück von Gilbert Emery; D.: Sonny Tufts, Ann Blyth.
BRÜTE FORCE, 1947, Universal. Regie: Jules Dassin; Buch: Richard Brooks; Prod.: Mark Hellinger; D.: Burt Lancester, Ann Blyth, Yvonne de Carlo, Hume Cronyn, Ella Raines, Charles Bickford.
TO THE VICTOR, 1948, Warner. Regie: Delmer Daves; Buch: Richard Brooks; D.: Denis Morgan, Viveca Lindfors.
KEY LARGO, 1948, Warner. Regie: John Huston; Buch: Richard Brooks n. e. Stück v. Maxwell Anderson. K.: Karl Freund; D.: Humphrey Bogart, Lauren Bacall, Edward G. Robinson, Ciaire Trevor, Lionel Barrymore.
MYSTERY STREET, 1950, MGM. Regie: John Sturges; Buch: Richard Brooks und Sydney Boehm n. e. Geschichte v. Leonard Spigelgass; K.: John Alton; D.: Ricardo Montalban, Sally Forrest, Bruce Bennett, Elsa Lanchester, Jan Sterling, Marshall Thompson, Betsy Blair.
STORM WARNING, 1950, Warner. Regie: Stuart Heisler; Buch: Richard Brooks und Daniel Fuchs; Prod.: Jerry Wald; D.: Ginger Rogers, Donald Reagan, Doris Day, Steve Cochran.
ANY NUMBER CAN PLAY, 1950, MGM. Regie: Mervyn LeRoy; Buch: Richard Brooks n. e. Roman v. Edward Harris Heath; Prod.: Arthur Freed; D.: Clark Gable, Alexis Smith, Wendell Corey, Audrey Totter, Mary Astor.

Filme
CRISIS, 1950, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. e. Geschichte von George Tabori. Prod.: Arthur Freed. K.: Ray June; M.: Miklos Rosza; D.: Cary Grant (Dr. Eugene Ferguson), José Ferer (Raoul Farrago), Signe Hasso (Isabel Farrago), Paula Raymond (Helen Ferguson), Ramon Navarro (Colonel Adragon), Antonio Moreno (Dr. Niera), Leon Arnes (Sam Proctor), Gilbert Roland (Gonzales). 95 Min.
THE LIGHT TOUCH, 1951, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. e. Geschichte von Jed Harris und Tom Reed; Prod.: Pandro S. Berman; K.: Robert Surtees; M.: Miklos Rosza; D.: Stewart Granger (Sam Conride), Pier Angeli (Anna Vasarri), George Sanders (Felix Guignol), Kurt Kasznar (Mr. Aramescu), Joseph Calleia (Lt. Massiro), Larry Keating (Hawkley), Rhys Williams (McWade), Norman Lloyd (Anton), Mike Mazurki (Charles). 107 Min.
DEADLINE, USA, 1952, Fox. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks; Prod.: Sol. C. Siegel; K.: Milton Krasner; M.: Cyril Mockridge; D.: Humphrey Bogart (Ed Hetcheston), Ethel Barrymore (Frau Garrison), Kim Hunter (Nora), EdBegley (Frank Allen), Warren Stevens (Burrows), Paul Stewart (Thompson), Martin Gabel (Rienzi), Joseph de Santis (Schmidt), Joyce Mackenzie (Kitty Garrison Geary), Audrey Christie (Frau Willebrandt), Fay Baker (Alice Garrison Geary), Jim Backus (Cleary). 87 Min.
BATTLECIRCUS,1952, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. e. Geschichte von Allen Rivkin und Laura Kerr; Prod.: Pandro S. Berman; K.: John Alton; M.: Lennie Hayton; D.: Humphrey Bogart (Major Jed Webbe), June Allyson (Lt. Ruth McCara), Keenan Wynn (Sgt. Orvil Statt), Robert Keith (Lt. Col. Hillary Walters), William Campbell (Cpt. John Rustford), Patricia Tiernan (Lt. Rose Ashland), Adele Longmire (Lt. Jane Franklin). 87 Min.
TAKE THE HIGH GROUND, 1953, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Millard Kaufman; Prod.: Dore Schary und Herman Hoffman; K.: John Alton; M.: Dmitri Tiomkin; D.: Richard Widmark (Sgt. Thorne Ryan), Karl Maiden (Sgt. Laverne Holt), Carleton Carpenter (Merton Tolliver), Elaine Stewart (Julie Mollison), Russ Tamblyn (Paul Jamison), Jerome Courtland (Elvin Carey), Steve Forrest (Lobo Naglaski), Robert Arthur (Don Dover). Farbe; 101 Min.
FLAME AND THE FLESH, 1954, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Helen Deutsch n. e. Roman v. Auguste Bailly; Prod.: Joe Pasternak; K.: Christopher Challis; M.: Nicholas Brodszky; Gedichte: Jack Lawrence; D.: Lana Turner (Madeline), Pier Angeli (Lisa), Carlos Thompson (Nino), Bonar Colleano (Ciccio), Charles Goldner (Mondari), Peter Illing (Peppe), Rosalie Crutchley (Francesca), Marne Maitland (Filiberto). Farbe; 104 Min.
THE LAST TIME I SAW PARIS, 1954, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Julius J. u. Philip G. Epstein n. e. Geschichte von F. Scott Fitzgerald; K.: Joseph Ruttenberg; M.. Conrad Salinger; D.: Elizabeth Taylor (Helen Ellswirth), Van Johnson (CharlesWills), Walter Pidgeon (James Ellswirth), Donna Reed (Marion Ellswirth), Eva Gabor (Lorraine Quarl), Kurt Kasznar (Maurice), George Dolen (Claude Matiene), Roger Moore (Paul), Celia Lovsky (Mama). Farbe; 116 Min.
THE BLACKBOARD JUNGLE, 1955, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. e. Roman v. Evan Hunter; Prod.: Pandro S. Berman; K.: Russell Harlan; M.: Charles Wolcott; D.: Glenn Ford (Richard Dadier), Anne Francis (Anne Dadier), Louis Calhern (Jim Murdock), Margaret Hayes (Louis Hammond), John Hoyt (Warneke), Richard Kiley (Joshua Y. Edwards), Emile Meyer (Halloran), Warner Anderson (Dr. Bradley), Sidney Poitier (Gregory Miller), Vic Morrow (Artie West), Dan Terranova (Belazi), Rafael Campos (Pete Morales). 94 Min.
THE LAST HUNT, 1955, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. d. Roman v. Milton Loft; Prod.: Dore Schary; K.: Russell Harlan; M.: Daniele Amfitheatroff; D.: Robert Taylor (Charlie Gilson), Stewart Granger (Sandy McKenzie), Lloyd Nolan (Holzfuss), Debra Paget (Indianermädchen), Russ Tamblyn (Jimmy), Constance Ford (Peg), Joe De Santis (Ed Black), Ainslie Pryor (indianischer Agent). Farbe; 98 Min.
THE CATERED AFFAIR, 1956, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Gore Vidal n. e. Fernsehstück v. Paddy Chayefsky; Prod.: Sam Zimbalist; K.: John Alton; M.: Andre Previn; D.: Bette Davis (Frau Hurley), Ernest Borgnine (Tom Hurley), Debbie Reynolds (Jane Hurley), Barry Fitzgerald (Onkel Jack Conlon), Rod Taylor (Ralph Halloran), Robert Simon ((Halloran), Madge Kennedy (Frau Halloran), Dorothy Stickney (Frau Rafferty), Joan Camden (Alice), Ray Sticklyn (Eddie Hurley), Jay Adler (Sam Leiter). 94 Min.
SOMETHING OF VALUE, 1957, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. e. Roman v. Robert C. Ruark; Prod.: Pandro S. Berman; K.: Russell Harlan; M.: Miklos Rosza; D.: Rock Hudson (Peter McKenzie), Dana Wynter (Holly Keith), Wendy Hiller (Elizabeth Newton), Sidney Poitier (Kymani), Juano Hernandez (Njogu), William Marshall (Anführer), Robert Beatty (Jeff Newton), Walter Fitzgerald (Henry McKenzie), Michael Pate (Joe Matson), Ivan Dixon (Lathela). 113 Min.
THE BROTHERS KARAMAZOV, 1958, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: R. Brooks n. d. Roman v. Dostojewski: Adaption: Julius J. u. Philip G. Epstein; Prod.: Pandro S. Berman; K.: John Alton; M.: Bronislau Kaper; D.: Yul Brynner (Dmitri Karamazov), Maria Schell (Grushenka), Ciaire Bloom (Katya), Lee J. Cobb (Fjodor Karamazov), Richard Basehart (Ivan Karamazov), Albert Salmi (Smerdjakov), William Shatner (Aljoscha Karamazov), Judith Evelyn (Mme. Anna Hohlakov), Harry Townes (Ippolit Kirillov). Farbe; 145 Min.
CAT ON A HOT TIN ROOF, 1958, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks u. James Poe n. d. Stück v. Tennessee Williams; Prod.: Lawrence Weingarten; K.: William Daniel; M.: Tonbandaufnahmen, da während des Musikerstreikts in Hollywood gedreht; D.: Elizabeth Taylor (Maggie), Paul Newman (Brick), Burt Ives (Big Daddy), Judith Anderson (Big Mama), Jack Carson (Cooper), Madeleine Sherwood (Mae), Larry Dates (Dr. Baugh), Vaughn Taylor (Diakon Davis), Patty Ann Gerrity (Dixie). Farbe; 108 Min.
ELMER GANTRY, 1960, United Artists. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. d. Roman v. Sinclair Lewis; Prod.: Bernard Smith; K.: John Alton; M.: Andre Previn;D.: Burt Lancaster (Elmer Gantry), Jean Simmons (Schwester Sharon Falconer), Arthur Kennedy (Jim Lefferts), Shirley Jones (Lulu Bains), Dean Jagger (William L. Morgan), Patti Page (Schwester Rachel), Edward Andrews (George Babbitt), John McIntyre (Pfarrer Pengilly), Hugh Marlowe (Pfarrer Garrison), Everett Glass (Pfarrer Brown), Michael Whalen (Pfarrer Philips), Phillip Ober (Pfarrer Planck), Wendell Holmes (Pfarrer Ulrich), Barry Kelley (Capt. Holt), Rex Ingram (schwarzer Priester), Casey Adams (stummer Mann). Farbe; 145 Min.
SWEET BIRD OF YOUTH, 1961, MGM. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. d. Stück v. Tennessee Williams; Prod.: Pandro S. Berman u. Kathryn Hereford; Regieass.: Hank Moonjean; K.: Milton Krasner; M.: Robert Armbruster; D.: Paul Newman (Chance Wayne), Geraldine Page (Alexandra Del Lago), Ed Begley ("Boss" Finley), Rip Torn (Thomas J. Finley jr.), Shirley Knight (Heavenly Finley), Mildred Dunnock (Tante Nonny), Madeleine Sherwood (Fräulein Lucy), Philip Abbott (Dr. George Scudder), Corey Allen (Scotty), Barry Cahill(Bud), Barry Atwater (Ben Jackson), Charles Arndt (Bürgermeister Hendricks). Farbe; 120 Min.
LORD JIM, 1965, Columbia. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. d. Roman v. Joseph Conrad; Prod.: Richard Brooks; K.: Frederick A. Young; M.: Bronislau Kaper; D.: Peter O'Toole (Jim), James Mason ("Gentleman" Brown), Jack Hawkins (Marlow), Eli Wallach ("General"), Paul Lukas (Stein), Daliah Lavi (Mädchen), Akim Tamiroff (Schomberg), Curd Jürgens (Cornelius). Farbe.
THE PROFESSIONALS, 1966, Columbia. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. e. Roman v. Frank O'Rourke; Prod. :Pax Enre; D.: Burt Lancaster (Dolworth), Lee Marterprises; K.: Conrad Hall; M.: Maurice Jarvin (Fardan), Robert Ryan (Ehrengard), Woody Strode (Jake), Jack Palance (Raza), Claudia Cardinale (Maria), Ralph Bellamy (Grant), Joe De Santis (Ortega). Farbe; 117 Min.

In Arbeit
IN COLD BLOOD, 1967. Regie: Richard Brooks; Buch: Richard Brooks n. d. Roman v. Truman Capote; Prod.: Pax Enterprises; D.: Robert Blake, Scott Wilson, Paul Stewart, Ruth Storey. Farbe.
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Cinema Novo

I

Lima Barretos O CANGACEIRO war der erfolgreichste Versuch eines erfolglosen Unternehmens: der Wiederbelebung des brasilianischen Films zu Beginn der fünfziger Jahre. Die damals geweckten - und ebenso enttäuschten - Hoffnungen haben sich inzwischen auf eine Reihe junger Filmmacher (Durchschnittsalter 32 Jahre) übertragen, die seit einiger Zeit in Brasilien ohne und gegen den kommerziellen Apparat Filme drehen. Um diesen Kreis der Aussenseiter vom traditionellen brasilianischen Film abzuheben, gab ihm 1962 ein Kritiker den Namen "Cinema Novo". Anlässlich der XVI. Berlinale wurde in einer Retrospektive eine typische Auswahl aus der mittlerweile etwa 50 Lang- und Kurzfilme umfassenden Produktion des Cinema Novo vorgestellt und dem europäischen Betrachter damit die Gelegenheit geboten, zu sehen und zu vergleichen.

Brasilien, bis 1815 portugiesische Kolonie, dann unabhängiges Königreich und seit dem 15. 11. 1889 Republik mit einer föderalistischen Struktur nach dem Modell der USA, besteht aus 22 Staaten, vier Territorien und einem Bundesdistrikt (der Hauptstadt Brasilia). Zwei Drittel des Landes, Norden und Zentralwesten, sind nahezu unbewohnt; von den ca. 80 Millionen Einwohnern leben 92 Prozent in dem breiten Küstengürtel, der den Nordosten, Osten und Süden des Landes umfasst, das heisst im wesentlichen die Staaten Rio Grande do Norte, Pernambuco, Bahia, Minas Gerais, Sao Paulo, Guanabara mit Rio de Janeiro, Paranà und Rio Grande do Sul. Am dichtesten besiedelt ist mit 14 Millionen Einwohnern das Industriezentrum von Sao Paulo, das sich von den Landstrichen Bahias so gründlich unterscheidet wie das Ruhrgebiet von Sizilien. Bodenreform, breitere Industrialisierung und Beseitigung der Korruption heisst das ständige Sozialprogramm, an dem die verschiedenen Regierungen bisher scheiterten, sei es weil sie die Feudalinteressen vertraten wie Vargas, sei es weil sie das Land in wirtschaftliche Anarchie zu stürzen drohten wie Goulart, der ehemalige Präsident aus der brasilianischen Arbeiterpartei. Rassenkonflikte dagegen kennt Brasilien nicht, obwohl die Bevölkerung zu 60 Prozent aus Europäern und zu 40 Prozent aus Afrikanern, Mestizen, Ureinwohnern und Asiaten besteht; der Sklavenhandel wurde 1850 abgeschafft und 1888 verboten, ein Ereignis, unter dem die Monarchie zusammenbrach. Aus den Gegensätzen in der brasilianischen Geographie und Sozialstruktur, im Klima und in den kulturellen Traditionen erklärt es sich, dass die Filme des Cinema Novo weder in ein thematisches noch in ein formales Schema einzuordnen sind. Insbesondere können jene Definitionen vorwiegend europäischer Kritiker nur schwer überzeugen, die den Namen "Cinema Novo" ausschliesslich den ,Armut-und-Dreck-Filmen' vorbehalten wissen wollen, in denen sie das ,typische' Gesicht Brasiliens zu sehen glauben.

"Brasilien besteht nicht nur aus Hunger und Dürre", erklärte Paulo Cezar Saraceni. So erscheint es zweckmässig, den Namen "Cinema Novo" einfach als eine Art Marke zu betrachten, die für Brasilien eine Epoche ,neuer Filme' bezeichnet. Ihren Äusserungen zufolge wollen die Autoren des Cinema Novo realistische Filme machen oder, wie Glauber Rocha es ausdrückt, "die Wirklichkeit entschleiern durch die Wahrheit des Films". Tatsächlich geht es bei diesem Engagement nicht nur darum, das einheimische Kino vom Odium des ewigen Karnevals zu befreien, sondern weit eher um den Versuch, Brasilien in seiner aktuellen Situation zu zeigen, um den Versuch einer Selbstdarstellung also. Da diese Selbstdarstellung überdies kritisch sein soll und an die Adresse der Öffentlichkeit gerichtet ist (Glauber Rocha: "Filmen heisst, den Menschen ihre Lage bewusst machen in Brasilien."), fordert das Ergebnis zu zwei Überlegungen heraus: Welche Mittel und Methoden wenden die Regisseure des Cinema Novo an, damit ihr privates kritisches Bewusstsein zu einem öffentlichen wird? Und: Wie weit reproduziert sich umgekehrt das öffentliche Bewusstsein in dem seiner Kritiker? Anders ausgedrückt: Gelingt es den Filmen des Cinema Novo, die darauf aus sind, "einen Beitrag zur Revolution zu leisten" (Glauber Rocha), die Klischees ihrer Gesellschaft zu durchbrechen, oder demonstrieren sie einmal mehr die Vitalität jener Denkweisen, die zu beseitigen sie ausgezogen sind? Ohne eigene Kenntnis der spezifisch brasilianischen Verhältnisse ist es kaum möglich, darauf eine schlüssige Antwort zu geben; sie wird für verschiedene Regisseure verschieden ausfallen und bleibt einer geschlossenen Darstellung des Cinema Novo vorbehalten. Im Rahmen dieser kurzen Betrachtung soll, wenn auch unter Berücksichtigung der Fragestellung, nur versucht werden, charakteristische Züge einzelner Filme aufzuzeigen und Schwerpunkte hervorzuheben. Dabei lohnt es sich, von einer Tatsache auszugehen: Obwohl die O-CANGACEIRO-Episode auf manchen der jungen Regisseure einen spürbaren Einfluss auszuüben scheint, ist das Experiment des Cinema Novo insgesamt ein Experiment vor dem nahezu leeren Hintergrund der brasilianischen Filmgeschichte, deren Tristheit ein wichtiger Impuls war für das Entstehen des Cinema Novo.

II

Der erste brasilianische Film wurde 1900 gedreht und zeigte den Besuch des Präsidenten Campos Salles in Argentinien - das Kino begann als Berichterstattung. Wie die Brüder Lumière in Paris, so filmte in Rio der Portugiese Antonio Leal Stadtbilder und Strassenszenen, die dem Publikum im "Paris no Rio" vorgeführt wurden, dem ersten Kino der damaligen Hauptstadt. Sechs Jahre später war Leal der schlichten Wochenschauen müde und drehte, inspiriert durch ein aufsehenerregendes Verbrechen in Rio, den Drei-Spulen-Film OS ESTRANGULADORES (Die Würger, 1906); anschliessend ging er zu Romanverfilmungen über. In der Zwischenzeit hatte sich die Filmproduktion weiter verzweigt; nicht nur in Rio, auch in Sao Paulo, Bahia, Minas Gerais und Pernambuco wurde gedreht, doch die grosse Ausdehnung des Landes verhinderte eine kontinuierliche Entwicklung. In Sao Paulo gründeten Gilberto Rossi und José Medina die Rossi-Filmgesellschaft, andere Produktionsgruppen entstanden in Recife und Cataguazes. Mit Humberto Mauro tat sich schliesslich in den zwanziger Jahren ein Regisseur hervor, dessen Filme ein überdurchschnittliches Profil aufwiesen; er betrieb mit dem Regisseur Adhemar Gonzaga und der Schauspielerin Carmen Santos die Cinedia-Filmgesellschaft. Da Humberto Mauro noch lebt, wird er von den Cinema-Novisten als ein Nestor und Inspirator der brasilianischen Filmkunst verehrt. In den zwanziger Jahren wurden, wie seither nicht wieder, in Brasilien jährlich bis zu hundert Filme gedreht (heute ca. 40), und das Ende dieser enthusiasmierten Epoche kam erst mit dem Tonfilm. Ein avantgardistisches Werk des Privatmanns Mario Peixoto markiert Höhepunkt und Ausgang des brasilianischen Stummfilms: LIMITE (Die Grenze, 1929).

Mit dem Durchbruch der Tontechnik gewann der kommerzielle Film an Bedeutung und damit die Filmproduktion der USA. Sie eroberte den brasilianischen Markt und verdrängte allmählich die einheimische Produktion, unterstützt vom Gesetzgeber, der die billigen und politisch ungefährlichen Hollywoodimporte begünstigte. Die Folge war' der Zerfall des brasilianischen Produktionsapparates. Immer mehr fehlte es an ausgebildeten Technikern und brauchbaren Studios, nicht zuletzt auch an einem geeigneten Verleihsystem, denn das vorhandene war ganz in der Hand der Amerikaner. Eine Zeitlang konnte die Cinedia einen Marktanteil behaupten, indem sie die Tontechnik dazu benutzte, ein spezifisch brasilianisches Filmgenre zu pflegen: als Mischung aus amerikanischem Musical und brasilianischen Radiosendungen war das Carnaval-Musical entstanden. Filme wie Gonzagas ALO, ALO, BRASIL (1935) oder ALO, ALO, CARNAVAL (1937) begannen, die dominierende Rolle zu spielen; sie sollten die Eigenart des brasilianischen Films auf Jahre hinaus prägen. In den 40er Jahren bedurfte es der Gründung einer neuen Gesellschaft, um das rasch in Klischees erstarrte Genre wettbewerbsfähig zu halten. Das Erbe der Cinedia trat die Atlantida-Cinematografica an. Ihr erster Film MOLEQUE TIAO (Moleque der Lausejunge, 1943) war ein grosser Erfolg, da er die Schablonen des Carnaval-Musical zu vermeiden wusste, ohne die Grenzen des Musikfilms zu durchbrechen. Den kommerziellen Höhepunkt dieser Serie erlebte die Atlantida mit CARNAVAL NO FOGO (Karneval im Feuer, 1949). Indessen konnte dieser Erfolg nicht darüber hinwegtäuschen, dass Brasilien in zwei Jahrzehnten zu einer Filmprovinz herabgesunken war, beherrscht von ausländischen Konzernen und unfähig, etwas anderes als Musikfilme herzustellen, denn der eigene Nachwuchs kam ausschliesslich vom Rundfunk oder Musiktheater und kannte keine filmischen Ambitionen.

So war die Situation, als es dem italienischen Ingenieur Franco Zampani gelang, ein neues Unternehmen ins Leben zu rufen. Der entscheidende Anstoss war die Rückkehr Alberto Cavalcantis aus Europa. Cavalcanti brachte sein technisches Personal mit und übernahm die Direktion der neugegründeten "Companha Vera Cruz", für die Zampani kostspielige Ateliers mit einer umfangreichen Ausrüstung bauen liess. Die "Vera Cruz" war seit den zwanziger Jahren wieder der erste Anlauf zu einer nationalen Filmkunst, und alle Hoffnungen vereinigten sich auf dieses Unternehmen; ihr Scheitern musste deshalb besonders schwere Enttäuschungen auslösen. Zunächst aber wurde in den Studios intensiv gearbeitet. 1953 kam Cavalcantis O CANTO DO MAR (Das Lied des Meeres) heraus, und im gleichen Jahr stellte Lima Barreto, der mit SANTUARIO (Heiligtum, 1951) bereits einen Kurzfilm gemacht hatte, O CANGACEIRO fertig, der vielleicht das grösste Echo fand, das ein brasilianischer Film verzeichnen konnte. Durch einen Fehler in der Verleihplanung unterlag dann die "Vera Cruz" gegen die nordamerikanischen Konzerne, so dass die Gesellschaft mit den ersten Filmen auch schon die letzten gedreht hatte. Über die Folgen schreibt der brasilianische Kritiker David E. Neves: "Mit dem Ende der ,Vera Cruz' 1953 (heute nur noch eine Erinnerung, wenn auch Ausrüstung und Ateliers weiter benutzt werden) und der nachlassenden Aktivität der Atlantida, mit dem häufigen Auftauchen und Verschwinden anderer Unternehmen wie Maristella, Multifilmes, Kinos-Filmes, ,erlebte' der brasilianische Film in dramatischer Weise ,seinen Tod', der jetzt endgültig und unwiderruflich erschien. Das heisst: In dieser Zeit wurde die Selbstzerstörung zu einer natürlichen Erscheinung und Empfindung. Nur vereinzelt gab es gut gemeinte Filme, die aber nicht immer die Bedürfnisse ihrer Zeit widerspiegelten. Von den technisch sauber gemachten Carnaval-Musicals war man zu einer oberflächlichen Produktion übergegangen, die bald völlig zur ,chanchada', zur seichten Musikschnulze wurde, deren schlechte Qualität dem billigen Witz der Handlung entsprach."

Geblieben war indes die staatliche Filmmassnahme, dass brasilianische Filme nur in einer Staffel mit sechs ausländischen gezeigt werden durften (inzwischen abgeschafft); geblieben war jene Absurdität, unter der das Cinema Novo noch heute leidet: Mangels einer eigenen Rohfilmindustrie muss Rohfilm aus dem Ausland bezogen werden, doch ist der Zoll für,Rohfilm höher als der für fertige Importkopien. Seit 1962 existiert zudem ein Gesetz, wonach 40 Prozent der Steuersumme aus den Verleiheinnahmen auf eine Spezialbank überwiesen werden müssen, wo das Geld zwar Eigentum des Einzahlers bleibt, jedoch nicht ohne Genehmigung abgehoben werden darf. Als Nelson Pereira dos Santos 1955 daranging, RIO QUARENTA GRAUS (Rio 40 Grad) zu drehen, jenen Film, der seitdem als Vorläufer und Anfang des Cinema Novo betrachtet wird, musste er nicht nur auf jede staatliche Unterstützung verzichten, auch die Tradition des brasilianischen Films bot kaum Anknüpfungspunkte. So entstand das Cinema Novo praktisch aus dem Nichts.

III

RIO QUARENTA GRAUS ist ein Querschnittsfilm. Auf den Vorspann mit verschiedenen Flugtotalen von Rio folgt eine Reihe von Episoden, die untereinander nichts weiter verbindet als die Tatsache, dass sie sich alle an einem Tag in Rio ereignen: Negerjungen verkaufen Erdnüsse; ein Marinesoldat will ein Mädchen nicht heiraten, das von ihm ein Kind kriegt; Badegäste am Strand der Copacabana; ein Fussballspieler bewährt sich im Stadion und wird verkauft; ein Bewohner der Favela (= Elendsviertel) streunt durch die Stadt; die Ankunft eines Politikers, der sich speziell für schöne Frauen interessiert; ein Farbiger mit seiner weissen Verlobten; eine kranke Mutter schliesslich, deren einziger Sohn von einem Lastwagen überfahren wird. Diese Episoden werden nicht nacheinander erzählt, sondern untereinander vermischt, entweder indem sie sich kreuzen - der Favelado begegnet den Erdnussverkäufern - oder indem sie ineinandergeschnitten werden. Der Film verzichtet bewusst auf eine zeitliche Dimension, alles soll nebeneinander geschehen (im Raum), nichts nacheinander (in der Zeit); jede Episode könnte innerhalb des Films auch früher oder später erscheinen, ohne die Struktur zu verletzen. Infolge dieser Perspektive fehlt nicht nur jeder einzelnen Geschichte die Schärfe sozialer Kritik, im Gegenteil, statt Kritik formuliert der Film ein Ordnungsbild, in dem die Extreme den Rahmen bilden. Er verhilft dem Zuschauer damit zur Position jenes imaginären Betrachters, der selbst scheinbar ungebunden den grossen Plan überblickt und sagen kann: So ist das Leben. Im Film resultiert die Austauschbarkeit der Teile aus der Dramaturgie des gemeinsamen Ortes, woraus wiederum die Austauschbarkeit der Personen folgt, die nun figurieren müssen, um die Skala menschlicher Verhältnisse zu vervollständigen. Dementsprechend kann sich der Betrachter darauf beschränken, das Auf und Ab einzelner Lebenssituationen in der Paradoxie der Gleichzeitigkeit zu beobachten. Die Schnitte des Films folgen genau dieser Maxime: Jorge, der versucht, eine Strassenbahn zu erreichen, wird plötzlich von einem Lastwagen überfahren, worauf im selben Moment ein Schnitt ins Fussballstadion führt, wo Begeisterung tobt, weil Foguinho gerade das entscheidende Tor geschossen hat. An dem Fehlen einer zeitlichen Dimension in diesem Stadtpanorama liegt es, dass die sozialen Verhältnisse als Konstanten einer unveränderlichen Ordnung erscheinen; die Individuen können zwar in ihr die Plätze wechseln, nicht aber die Ordnung selbst. Der Schluss des Films ist offene Resignation: die Kamera erhebt sich über den Carnavalstanz in Cabucu und fährt langsam hoch durch die Dunkelheit über das Gesicht der aus einem Fenster schauenden einsamen Mutter bis zu einer Totalen vom nächtlichen Rio, untermalt von der noch hörbaren Sambamusik des Carnaval. Schauplatz und Struktur entschlüsseln den Film; er enthält nicht nur einen Teil der Realität, sondern auch die Stellungnahme des Regisseurs; nicht nur, wie es ist, sondern auch, dass es nicht zu ändern ist. Eine Ausgangsfrage war: Wie weit reproduziert sich das öffentliche Bewusstsein in dem seiner Kritiker?

Weltbekannt wurde Pereira dos Santos Film VIDAS SECAS (Trockene Leben, 1963) nach dem gleichnamigen Roman von' Graciliano Ramos. Auch VIDAS SECAS ist gekennzeichnet durch eine Erzählweise, die nicht in der Zeit strukturiert ist. Im Unterschied zu RIO QUARENTA GRAUS funktioniert jedoch hier das Fehlen einer zeitlichen Dimension als bewusstes Stilmittel, um Verhältnisse zu erfassen und die Art und Weise, wie die Personen innerhalb des Films sich daran anpassen. Insofern enthält auch VIDAS SECAS nicht nur einen Teil der Wirklichkeit, sondern ebenso eine ,Stellungnahme' dazu, diesmal allerdings relativiert als eigentümliche Reaktion der von der Wirklichkeit Betroffenen. Roman und Film schildern eine Landarbeiterfamilie im Nordosten Brasiliens, die vor der heissen Steppenlandschaft des Sertao flieht ohne Aussicht, ihr jemals zu entkommen. Mit seiner Frau Vitoria, zwei Kindern, einem Papagei und der Hündin Baleia hat Fabiano seine Hütte verlassen, um einen besseren Platz zu suchen. Nach einem zermürbendem Marsch durch die Hitze lässt sich die Familie völlig erschöpft auf einem leerstehenden Bauernhof nieder, wo sie ein Jahr bleibt. Als die nächste Trockenzeit kommt, brechen Fabiano und seine Familie wieder auf, begleitet von der lebenslänglichen Hoffnung auf ein besseres Land. Bereits der Romanautor erzählt diese Ereignisse "zeitlos". Die Kapitel sind überschrieben: Aufbruch - Fabiano - Gefängnis - Sinha Vitoria - Das jüngere Kind - Der ältere Junge - Winter - Das Fest - Baleia - Abrechnung - Der gelbhäutige Soldat - Die Welt, mit Federn bedeckt - Flucht. Wie im Roman wechselt Pereira dos Santos die Erzählperspektiven des Films, indem er sie der jeweils subjektiven Sicht einer Person anpasst. Der Roman schildert sogar das langsame Sterben der Hündin aus deren eigener Sehweise, auch das versucht Pereira dos Santos, mit "subjektiver" Kamera. Wie auf diese Weise im einzelnen, so wird andererseits insgesamt die Umwelt perspektivisch aus ihrer Bedeutung für die Beteiligten erfasst. So spiegelt sich schliesslich die Landschaft des Sertao im Verhalten seiner Bewohner und das Bewusstsein der Bewohner in der Eintönigkeit des Sertao. Die Zeit erscheint darin - nämlich in beidem - als unendliche Grösse, unendlich durch die ewige Wiederholung ein und desselben Kreislaufs, der "Aufbruch" und "Flucht" identisch werden lässt. Die erste Einstellung des Films zeigt die flache Steppe, in der sich die Familie langsam aus der Totalen nähert - in der letzten Einstellung entfernt sie sich, ebenso langsam und in dieselbe Totale.

Das Fehlen eines differenzierten Zeitbegriffs äussert sich somit auf verschiedene Weise: In RIO QUARENTA GRAUS als Subjektivität des Regisseurs, in VIDAS SECAS als ein eine Landschaft und seine Bewohner charakterisierendes Merkmal.

IV

Paulo Cezar Saraceni ist vielleicht der politisch engagierteste unter den Regisseuren des Cinema Novo. In seinen beiden Spielfilmen PORTO DAS CAIXAS (Verbrechen in Caixas, 1961) und 0 DESAFIO (Die Herausforderung, 1965) jedenfalls ist der politische Appell unüberhörbar; er stellt den Zuschauer vor die Alternative, entweder für oder gegen den Fortschritt einzutreten. In ARRAIAL DO CABO (Das Fischerdorf, 1960), einem dokumentarischen Kurzfilm, konfrontierte Saraceni zunächst zwei extreme Lebensformen miteinander, die sich nicht nur in Brasilien oft unvermittelt begegnen: Durch ein altes Fischerdorf rollen eines Tages Lastwagen, denn in der Nähe wird eine Alkalifabrik errichtet. Die ersten Einstellungen entwerfen in verschiedenen Details das Leben dieses Dorfes, wo die Männer Fische fangen, die dann von den Frauen eingesalzen werden. Ab und zu wird auf dem Dorfplatz getanzt, doch der grösste Teil des Tages ist der Arbeit gewidmet; ein hartes, aber auch, wie es scheint, naturverbundenes Leben. Mit der Ankunft der Lastwagen wendet sich die Kamera dem Aufbau der Fabrik zu. Sie zeigt Bilder von entstehenden Gerüstbauten, von Pipelines, die über das Land gelegt werden, und von Arbeitertrupps, die sich in all dem mit teilnahmslosen Gesichtern hin und her bewegen. Unterlegt sind diese Passagen mit einer disharmonischen Musik, wie sie nach einer bestimmten Auffassung für die "moderne Welt" typisch ist. Sodann treten noch einmal die Fischer auf, die zum Fang ausfahren; Netze werden eingeholt und Fische sortiert. Der Film schliesst nach einem letzten Blick auf die fahrenden Tankzüge mit Bildern vom Meer. Die Gegenüberstellung der zwei Lebensformen wird offensichtlich so gehandhabt, dass sie einer Sozialtheorie des Regisseurs entspricht, die auf diese Weise demonstriert werden soll.

In PORTO DAS CAIXAS ist zunächst nicht zu merken, dass Saraceni das gleiche bezweckt. Ein älterer Eisenbahnangestellter kommt abends nach Hause. Er wohnt in einer tristen Gegend in einem ebenso tristen Häuschen. Seine junge hübsche Frau ist wider Erwarten nicht anwesend; als sie etwas später kommt, erklärt sie, sie habe in der Apotheke Seife gekauft. Der Eisenbahner will nun etwas essen, doch es fehlt an Petroleum, also schickt er seine Frau in die nahegelegene Wirtschaft, wo sie auf Kredit was besorgen soll. Nach einigem Hin und Her ist der junge Gastwirt einverstanden; schliesslich hat ihm die Frau erlaubt, sie noch ein wenig durch die Dunkelheit zu begleiten, eine Chance, die er zu nutzen weiss. Wieder zuhause, will sich die Frau von ihrem Mann nicht mehr liebkosen lassen; er versteht das nicht und schlägt sie. Bis dahin folgt der Film lediglich der, wenn auch noch so vagen, Psychologie der Situation.

Die nächste Einstellung, ausser Tag, zeigt einen Platz mit Einwohnern des Dorfes; ein grosser Wagen fährt vor, aus dem vier Männer aussteigen, und einer der Zuschauer erklärt, die Leute seien von der Wahlkommission. Nach diesem Wink widmet sich der Film wieder dem Ehepaar. Der Mann braucht ein Beil zum Holzhacken, die Frau sucht auf dem Markt das richtige aus, denn sie ist nun schon fest entschlossen, ihren Mann umzubringen. Nachdem sie keinen dazu überreden kann, bzw. ein Williger im letzten Moment versagt, tut sie es selber. Mit dem Beil überfällt sie den Schlafenden. Zur gleichen Zeit findet im Dorf die Wahlversammlung statt; es wird von Agrarreform gesprochen, und die Leute hören zu. Diese beiden Szenen montiert Saraceni ineinander, um auch dem, der es bis dahin noch nicht gemerkt hat, klarzumachen, dass die Geschichte ein politisches Gleichnis ist: Der unerträgliche Zustand muss beseitigt werden, notfalls mit Gewalt. Der Aufruf zu einer politischen Tat braucht jedoch eine politische Motivation; da andererseits das Gleichnis in einer privaten Sphäre spielt, ergibt sich ein unüberbrückbarer Zwiespalt, der dazu führt, dass das Verhalten der Frau überhaupt kein konkretes Motiv hat, anders ausgedrückt: nicht die Axt im Hause bringt den Eisenbahner um, sondern der Zimmermann, der alles so zusammenmontiert hat.

In O DESAFIO macht Saraceni seine Figuren vollends zu Inkarnationen politischer Überzeugungen. Ein reicher Besitzer hat eine Frau, die einen progressiven Journalisten kennenlernt. Vor die Wahl gestellt, sich zwischen den beiden zu entscheiden, wählt sie den letzteren.

Galt eine Ausgangsfrage den Mitteln, mit denen ein Regisseur versucht zu erreichen, dass sein privates kritisches Bewusstsein zu einem öffentlichen wird, so ist diese Frage im Fall von Paulo Cezar Saraceni vorläufig unschwer zu beantworten. Er kleidet politische Überzeugungen in eine Spielhandlung, am Ende wird das Gewand wieder ausgezogen, und das Manifest bleibt übrig.

V

OS FUZIS (Die Gewehre, 1963) von Ruy Guerra erhielt 1964 auf der Berlinale den Silbernen Bären. Louis Marcorelles zufolge "repräsentiert Ruy Guerra vor allem das europäische Element innerhalb des Cinema Novo." Guerra hat am IDHEC in Paris studiert und war eine Zeitlang Assistent bei französischen Regisseuren. Seit 1958 arbeitet er wieder in Brasilien, wo er nach zwei unvollendeten Dokumentarfilmen 1962 OS CAFAJESTES (Die Skrupellosen) drehte, einen Film, der in der Grossstadt spielt. Mit OS FUZIS wandte er sich jenem Landstrich zu, der auch das Thema von VIDAS SECAS war, der unfruchtbaren Steppe im Nordosten Brasiliens.

Ein Dorf leidet unter einer Dürreperiode, die Bewohner hungern, Kinder drohen zu sterben. Da verheisst ein Wanderprediger, dass ein Ochse das Regenwunder vollbringen werde; die Leute glauben und folgen ihm. Der Lebensmittelhändler, der noch Vorräte gespeichert hält, fürchtet angesichts der Menge um seinen Besitz und fordert Soldaten an, die alsbald auf einem Lastwagen eintreffen. Als der Händler die Lebensmittel heimlich abtransportieren will, erkennt ein Lastwagenfahrer die Situation und greift zum Gewehr. Doch die Soldaten behalten die Oberhand, der Fahrer wird zusammengeschossen. Die eingeschüchterten Menschen stürzen sich daraufhin auf den angeblich heiligen Ochsen und zerfleischen ihn.

Der Film erzählt diese Handlung, in die noch einige Episoden eingelassen sind, nun keinesfalls aus der Distanz: Auf der dunklen Leinwand nähert sich allmählich ein heller Fleck, während eine dumpfe, beschwörende Stimme einen Monolog beginnt. Erst viel später bekommt man den Sprecher zu Gesicht, es ist der Wanderprediger. Der helle Fleck verwandelt sich in die grelle Sonne des Sertao, und in der ausgedörrten Landschaft steht der Ochse, bei dem die Kamera zunächst mehrere Einstellungen verweilt. Zwischendurch Schwenks über trockenes Gestrüpp bei teilweise verschwimmendem Bild. Der immer noch mystische Sprecher verweist auf den Ochsen; Gott habe ein einfaches Tier ausgesucht, damit Erde zu Meer werde und Meer zu Erde. Dann verlässt das Tier das Bild, und der Vorspann erscheint.

Bereits an dieser Stelle zeichnet sich ab, was Guerra vorhat: er will seinen Zuschauer die Ereignisse erleben lassen, so als wäre er an Ort und Stelle. Er versucht, den Sertao in den Kinosaal zu bringen; das Publikum soll sich dem dämonischen Prediger und der bedrohlichen Situation ebenso ausgesetzt fühlen wie Leute des Dorfes. Einer solchen Dramaturgie der grösstmöglichen (naturalistischen) Eindringlichkeit fällt natürlich einiges zum Opfer, abgesehen davon, dass dieses Verfahren leicht in unfreiwillige Komik mündet. Auf jeden Fall bedeutet es den Verzicht auf Glaubwürdigkeit und jeden kritischen Ansatz. Im Gegensatz zu den schlichten und dafür umso präziseren Bildern in VIDAS SECAS versucht Guerra, den Zuschauer dauernd in Atem zu halten, entweder durch die Stimme seines Propheten und unheilschwangere Konstellationen oder durch "nachempfundene" Kamerabewegungen. Als z. B. ein Soldat und ein Mädchen sich in einer engen Gasse des Dorfes lieben, rast die Kamera zuerst voller Ekstase eine Mauer entlang und eine Treppe hinauf und fährt dann ganz langsam wieder zurück. Auf diese Weise nähert sich der Film dem Ende, wo der ganze Schrecken sich noch einmal in einem blutigen Gemetzel entlädt, in dessen Verlauf der Lastwagenfahrer minutenlang gejagt und mit Kugeln durchsiebt wird, bis er schliesslich in einer riesigen Blutpfütze verendet. Vielleicht ist Guerra aufgrund seiner europäischen Erfahrungen davon ausgegangen, dass einem Europäer eine bestimmte, angeblich typisch brasilianische, Mentalität anders nicht verständlich gemacht werden könnte.

Die Neigung zu grausamen Szenen ist allerdings eine besondere Stereotype vieler Filme des Cinema Novo. In PORTO DAS CAIXAS ist es die Frau, die ihren Mann mit dem Beil erschlägt. In GANGA ZUMBA (König der Sklaven, 1963) von Carlos Diegues, einem historischen Film über einen legendären Sklavenkönig, wird der letzte Verfolger der entwichenen Sklaven ebenfalls geköpft. ASSALTO AO TREM PAGADOR (Überfall auf den Lohnzug, 1962) von Roberto Farias versucht Gangsterfilm und soziale Dokumentation miteinander zu verbinden. Gegen Ende wird der Bandenchef - wie alle Mitglieder stammt er aus den Elendsvierteln und kann mit den geraubten Millionen allein sein Problem nicht bewältigen - von der Polizei schwer angeschossen; trotzdem steuert er, mit blutgetränktem Hemd, sein Auto noch in Rififi-Manier nach Hause, bevor er stirbt. Einen gewaltsamen Schluss hat auch O PADRE E A MOCA (Der Priester und das Mädchen, 1965), die den empörten Einwohnern eines Dorfes zum Opfer fallen. Der Film spielt auf ein in Brasilien geläufiges "romanceiro", ein Volksepos, von Carlos Drummond de Andrade an. Darin endet die Romanze jedoch keineswegs so fatal wie im Film, denn in Brasilien ist es in abgelegenen Dörfern keineswegs selten, dass Priester mit Frauen zusammenleben; Sohn eines Priesters zu sein, bedeutet keine Diskriminierung. Das Ende des Films ist zwar dramatisch, im Vergleich mit der Wirklichkeit jedoch wenig überzeugend.

In den genannten Filmen deutet die Inszenierung der grausamen Mordszenen immer schon darauf hin, dass es nicht um die Darstellung irgendeiner Realität geht, sondern darum, ein Bedürfnis der Zuschauer zu befriedigen, die solche Massaker auf der Leinwand gerne sehen, weil sich wahrscheinlich in der Wirklichkeit nichts Derartiges ereignet. Selbst wenn Grausamkeit ein besonderes Verhaltensmerkmal in Brasilien wäre, müsste den Regisseuren der Vorwurf gemacht werden, dass sie sie in naiver Weise reproduzieren.

VI

Glauber Rocha, der Wortführer der Cinema-Novisten, spricht in seinem Buch "Revisao Critica do Cinema Brasileiro" aus, was er vom Cinema Novo erwartet: _... es muss ein Kino sein, das der Erkenntnis eine grössere Rolle beimisst als der puren ästhetischen Spekulation. Das kann nur geschehen, wenn der Film entmythifiziert wird durch die Befreiung seiner Ausdrucksmittel." Im gleichen Jahr wie dieses Buch erschien sein zweiter Spielfilm DEUS E O DIABO NA TERRA DO SOL (Gott und Teufel im Land der Sonne, 1963).

Das "Land der Sonne" ist der Sertao, wo der Viehtreiber Manuel mit seiner Frau Rosa und seiner Mutter auf einem ärmlichen Besitz lebt. In knappen Einstellungen wird die Exposition entworfen: Flugtotalen vom Sertao; ein gebleichter Pferdeschädel; der davonreitende Manuel; eine Gruppe Sertanejos mit Kreuz und Banner, die einem schwarzen Prediger folgen. Der Viehtreiber Manuel begegnet dieser singenden Gruppe, der der Prediger San Sebastiao mit hochgehaltenem Kreuz voranschreitet, er reitet ein paarmal um sie herum und dann nach Hause. Dort berichtet er von seiner Begegnung, doch weder seine Frau, die apathisch Mehl stösst, noch seine Mutter hören ihm zu. Dann arbeiten Manuel und Rosa an einer primitiven Maschine, mit der Manuel Früchte raspelt, während seine Frau das Laufrad dreht - die vielleicht beste Szene des Films. Am nächsten Tag auf dem Markt gerät Manuel mit dem Farmer, für den er arbeitet, aneinander, weil zwei Kühe der Herde durch Schlangenbiss umgekommen sind und der Farmer behauptet, gerade diese zwei Kühe seien Manuels Anteil gewesen. Als der reiche Besitzer auch noch die Peitsche zieht, ersticht ihn Manuel und flieht nach Hause, verfolgt von zwei Leuten. Es gelingt ihm, beide zu erschiessen, aber auch seine Mutter wird ein Opfer des Handgemenges. An ihrem Grabe sagt Manuel zu sich selbst: "Es war die Hand Gottes, die mich geführt hat." Damit ist die Geschichte von Manuel zuende, denn an dieser Stelle wechselt der Film die Perspektive: in den Mittelpunkt rückt der schwarze Prophet San Sebastiao, dem sich Manuel und seine Frau anschliessen.

Konnte der Anfang des Films in Rochas Terminologie noch der "Erkenntnis" dienen, von diesem Wendepunkt an beschäftigt er sich mit Mythologie. Der Zusammenhang von Ort und Zeit zerreisst; während Manuel und Rosa auf dem Monte Santo bei San Sebastiao ausharren, erklärt Rosa einmal nebenbei, ein Jahr sei schon vergangen, eine Erklärung, die notwendig ist, da diese Tatsache aus der Handlung nicht hervorgeht, die aber genauso überflüssig ist, denn Raum und Zeit haben gar keine Funktion mehr, sie sind unendlich geworden. Die Vorlage des Films war ursprünglich ein Landarbeiteraufstand, der sich gegen Ende der dreissiger Jahre im Nordosten Brasiliens zugetragen hat. Er kommt im Film nur soweit zum Vorschein, wie er in die Mythologie eingegangen ist. Glaubwürdigkeit und soziale Relevanz beansprucht der Film infolgedessen nicht mehr. Stattdessen kommentiert ein "romanceiro" den weiteren Verlauf der Dinge, in dem die Figuren ihre legendäre Seite hervorkehren: Gegen San Sebastiao (Gott) wird Antonio das Mortes (Tod) ausgesandt, der auch die Cangaceiros schon erfolgreich gejagt hat und den letzten schliesslich, den Räuberhauptmann Corisco (Teufel), zur Strecke bringt.

Paulo Gil Soares hat in einem Dokumentarfilm, MEMORIA DO CANGACO (Zeit der Cangaceiros, 1956) dieses Thema aufgegriffen. In den dreissiger Jahren machte eine Gruppe von Outlaws zeitweise den Nordosten Brasiliens unsicher. Die Bande bestand teilweise aus Kriminellen, zum Teil aber auch aus Leuten, die ohne Verschulden mit der herrschenden Gewalt in Konflikt geraten waren und sich vor deren Polizeiorganisationen in Sicherheit bringen mussten. So war die Bande Lampiaos auch eine Zuflucht für Verfolgte, weshalb sie von der Bevölkerung heimlich unterstützt wurde. In dem Dokumentarfilm werden zwei ehemalige Mitglieder der Bande interviewt und auch der Polizeichef, der seinerzeit etwa zwanzig Cangaceiros hingerichtet hat; er konnte sich sogar noch an Namen verschiedener seiner Opfer erinnern. Die Köpfe der Anführer - Lampiao, seine Freundin Maria Bonita und Corisco - sind, in Spiritus konserviert, in einem Museum ausgestellt. Entgegen einer verbreiteten Meinung gibt es heute keine Cangaceiros mehr; sie sind inzwischen Gestalten der historischen Legende geworden.

Glauber Rochas Film DEUS E O DIABO versucht, diese Vergangenheit noch einmal auferstehen zu lassen; aber nicht, indem er Fakten rekonstruiert, sondern indem er den Mythos belebt. Sein Blick ist nicht auf die Wirklichkeit gerichtet, sondern auf die Vorstellungen von ihr im allgemeinen Bewusstsein, die er mit seinem Film bestätigt.

Das genaue Gegenteil von DEUS E O DIABO ist ein Film von Luiz Sergio Person: SAO PAULO, SOCIEDADE ANONIMA (Sao Paulo, anonyme Gesellschaft, 1965). Er unterscheidet sich von vielen anderen Filmen des Cinema Novo schon dadurch, dass in ihm weder von Propheten und Sklaven noch von blutigen Gefechten und religiösem Fanatismus die Rede ist, sondern von einem verheirateten technischen Zeichner, der in Sao Paulo in einer VW-Fabrik arbeitet. Der Titel führt etwas in die Irre, denn eine anonyme Gesellschaft kommt in dem Film nicht vor; dafür werden die Probleme sichtbar, die in dieser Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt des Aufbaus entstehen. Der Film hat eine ziemlich komplizierte Struktur, der grösste Teil besteht aus einer Rückblende, in die weitere Rückblenden montiert sind, bis zu ganz kurzen Zwischenschnitten; für eine Analyse müsste man den Film mehrmals sehen. Neben VIDAS SECAS scheint es der beste Film aus der Schule des Cinema Novo zu sein.

In Brasilien, dessen Kunst weder einen Surrealismus noch einen sozialen Realismus kennt, war der Film in den dreissiger und vierziger Jahren tot. Von der Entwicklung, die zu dieser Zeit etwa in Malerei und Literatur stattgefunden hat, konnte er nicht profitieren. Andererseits sind Sprünge über so grosse Zeiträume schwer, so dass eine fehlende Epoche für den Film nachzuholen wäre. Geht man von den Sujets, vom Stil und vom Selbstverständnis des Cinema Novo aus, so scheint es, dass der neue brasilianische Film noch überwiegend dabei ist, seine fehlende Vergangenheit nachzuholen. Die Energie, mit der die Cinema-Novisten trotz aller Hindernisse ihre Filme machen, aber auch ihr offenkundiger Filmverstand sprechen dafür, dass sie die Gegenwart bald eingeholt haben.       Hans Wolfgang Hank
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Materialien zu "Wenn Katelbach kommt"

Die erste Einstellung erinnert an surrealistische Malerei (etwa Dali und Tanguy): Eine weite Fläche mit Gebirge im Hintergrund und weiche weisse Wölkchen, die den surrealen Stimmungswert liefern. Das Bild steht starr wie ein Gemälde lange Zeit vor uns.

Der Verweis wurde schon vor der nouvelle vague verwendet (siehe dazu H. P. Kochenrath: Die Verweisung im Film), wird aber seitdem besonders gepflegt. (H. P. Kochenrath, Die Verweisung Im Film, in: Filmstudio 38, S. 9 ff.) Verweise auf Filmgeschichte und Geistesgeschichte zeigen zunächst, dass der Regisseur Filme sieht und Bücher liest; kulturgeschichtliche Bildung gehört zum modernen Regisseur. Ferdinand in PIERROT LE FOU sieht einen Hafen und assoziiert einen Hafen aus Joseph Conrad; Polanski lässt Albie zum Schloss hinauftragen und gestaltet die Aufnahme in Reminiszenz an Kosinzews "Hamlet"; Teresa sieht Dickie trampeln und assoziiert ein Fahrrad: Der Sinneseindruck wird aufgesogen und überlagert von einem durch Kultureinfluss vorgeformten Bewusstsein. Er erstarrt im Klischee, das sich zwischen die Welt und den Menschen schiebt. Entsprechend dem Klischee vom Intellektuellen haben George und der Dichter aus dem 11. Jahrhundert eine Brille - Teresa spielt mit einer Brille aus seinem Nachlass -, obwohl es damals noch keine wissenschaftliche Optik gab. Das ist keine Zerstörung des Klischees, sondern umgekehrt ein Aufweis des selbständig gewordenen Klischees, das die Realität zu überlagern beginnt.

Die Verformung der empirischen Realität durch das Bewusstsein ist ein Motiv der Kunst etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (diesen Umbruch behandelt Ortega y Gasset in dem Essay: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst). (In: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst, München 1964 dtv, S. 7-39.) Cezanne und nach ihm die Kubisten malen nicht so sehr Gegenstände als Ideen von Gegenständen; das Bewusstsein strukturiert das Erscheinungsbild der Realität nach immanenten Gesetzen. Jedes Weltbild ist relativ zu Individuen oder sozialen Gruppen oder Kulturepochen usw. Der moderne Künstler gestaltet nicht mehr naiv das absolut gesetzte eigene Weltbild, sondern er reflektiert es. Bei Gide, Godard, Joyce und anderen erreicht die Kunst einen hohen Grad von Bewusstheit. Der "Ulysses" zeigt nicht unmittelbar Wirklichkeit, sondern Sehweisen der Realität, wie sie von der Antike bis zum 20. Jahrhundert entwickelt wurden; der Roman verweist auf die europäische Kulturgeschichte. "Katelbach" verweist auf Manifestationen der antirationalistischen Geistesströmung des 19. und 20. Jahrhunderts; der Film reiht Realitätsentwürfe, wie sie seit der Romantik entwickelt wurden. Die Verwendung des bewusst gestalteten, bisweilen geradezu groben Verweises zeigt Polanskis Intellektualität und stellt ihn in die Tradition der modernen reflektierenden Kunst. Der Film hat seine naive Phase hinter sich; der Kinogänger wird mehr denken müssen; die Filmkritik wird mehr als bisher geistesgeschichtliche Einflüsse berücksichtigen müssen.

Polanski zeigt die Welt ausser in der Sicht des Surrealismus auch in der der Schauerromantik (ein Schloss auf hohem Felsen, von Vögeln umkreist; ein Begräbnis in der Nacht mit Laterne, Eule und heulendem Wind), in der des absurden Theaters (ein Fernrohr als Symbol des Suchens aus "Godot"). Er evoziert das "Testament des Orpheus", wo Cocteau - wie George - mit ausgebreiteten Armen mitten auf der Strasse steht und wartet, überfahren zu werden. Als der irre George am Ende des Films seine Kulturwelt zerschmeisst, zerbricht er zu Beginn dieser einen Einstellung im Vordergrund des Bildes das Spazierstöckchen von Chaplin. Drohend schwebt dicht über Dickies Kopf eine schreiende Möwe; sie erinnert an die Möwe, die Tippy Hedren in "Die Vögel" am Kopf verwundete. Lachenay in "Die süsse Haut" und Dickie rufen zu spät an - der Gesprächspartner hat gerade das Haus verlassen; beide zögern, bis die Gegner bewaffnet sind und sie niederschiessen. Der kleine Junge rennt in einen Erwachsenen und prallt ab; das tun wiederholt auch Keaton und Chaplin, die wiederum in der Tradition des 19. Jahrhunderts stehen - dort rennt etwa in "Hard Times" von Dickens ein Schüler in einen vierschrötigen Lehrer und wird zurückgeworfen. Am Ende der Kunststreiterei zwischen George und dem Besuch stehen alle starr wie in "Marienbad". Als die Stufen der Hühnerleiter brechen, fällt Dickie in einen Abgrund; wie ein Held von Hitchcock. Dickie verjagt den Hahn durch einen Steinwurf vor die Brust; das tut auch Pedro in "Los Olvidados". Auf den Gemälden hat Teresa die flammenden Augen des Jugendstils. George bewegt sich bisweilen verkrampft wie Caligari und Jerry Lewis. Nach dem Mord fühlt George sich von Erinnerungen verfolgt; wie die Schuldigen bei T. S. Eliot. Teresa evoziert B. B. aus _... und ewig lockt das Weib", als sie narzisstisch in den Spiegel sieht, B. B.s Kleid trägt, das sogar hinten geöffnet ist, und wie das Naturkind B. B. beim Genuss der Zivilisationsreize Alkohol und Nikotin husten muss. Wie Lulu und B. B. ist Teresa mal Prostituierte und mal Ehefrau - alle drei verlassen den Partner, wenn ein Stärkerer sich anbietet. Nach Dickies Tod will George die Verantwortung für seine Tat nicht übernehmen; dasselbe Motiv wie in Sartres "Die Fliegen".

Symbole müssen - im Unterschied zur Metapher - immer schon bekannt sein, bevor sie in einem Kunstwerk erkannt werden können; sie sind geistiger Allgemeinbesitz. Polanski überlagert einige Motive mit möglichst groben Symbolen, weil sie verweisen und zur Reflexion zwingen. So drückt er das Sexualverlangen eines Mannes aus, indem er ihn ein Gewehr bei der begehrten Frau vergessen lässt; das Symbol versteht nur, wer vorher Freud gelesen hat. Georges Glatze ist Freudsches Kastrationssymbol. Und weiter: Drachensteigen / Kompensation für Erektion / Freud. Abgeklemmte Rhabarberstangen / verhinderte Sexualität / Freud. Eieressen / Hoffnung auf verstärkte Sexualkraft / Freud. Hühner / Schicksalsvögel / "Los Olvidados" (Der Hahn zeigt, weshalb er zum Symbol des Schicksals wurde: er kräht und verhängt über Dickie den Umschwung von der Nacht zum Tag. In der Liebesliteratur wird der Hahn gefürchtet, da er die Liebesnacht beendet.). Pistole / Gewalt / Western und Gangsterfilm. Die Verwendung des "amerikanischen Gangstertyps" darf als Symbol gelten für den starken Mann, der doch untergehen muss.

Katelbach ist nicht Godot. Der Gott Godot existiert schon gar nicht mehr, während der Gott Katelbach sich grad erst zurückzieht. (Das Motiv des Verlassens kehrt mehrmals wieder: Dickie lässt Albie im Auto zurück; der Abschied des ersten Besuchs wird lange ausgespielt; George verliess Agnes, und Teresa verlässt George.) Dickies Gotteserlebnis steht geistesgeschichtlich zwischen dem ersten grossen Versuch, Gottes Dasein zu bezweifeln - Jean Pauls "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei" - und Nietzsches definitivem "Gott ist tot". Wozu dieser Anachronismus? Um die marxistische Kritik am Christentum vornehmen zu können. Um Dickies Unfähigkeit zur Selbsterhaltung im Augenblick der Wahrheit zu zeigen, brauchte Polanski ein gewisses Gefälle zwischen einem Gotteserlebnis, das noch etwas Sicherheit und Mut gab, und dem Chaos, in dem Dickie augenblicklich untergeht; dieses Gefälle konnte er im Zeitalter des absurden Theaters nicht mehr finden. Dickies Handlungsunfähigkeit kommt nicht aus körperlicher oder psychischer Schwäche; er ist sogar sehr robust: er schiesst und schlägt um sich, liebt starke Reize (Schnaps kommt "gleich nach Mord"), dringt gewalttätig in Teresas und Georges Intimsphäre (zerschlägt ihren Hühnerstall und durchstöbert ihr Schlafzimmer). Seine Schwäche ist vielmehr christlich: Innerhalb eines ihm durch Befehl zugewiesenen Wirkungskreises versucht er, sich die Welt Untertan zu machen, und unternimmt die aus der Misere erlösende Tat nicht selbst, sondern erwartet sie von Gott. Dickie wartet auf das Wunder, das sich dem HB-Männchen erfüllt, dessen Misere sich "wie von selbst" aufhebt, doch Polanski frustriert den Wunderglauben. Der Mensch, der tatenlos auf Gottes Eingreifen wartet, unterlässt es, die materiellen Umstände zu beherrschen, die ihn nun bedrängen und vernichten können.

L. Borinski nennt das 19. Jahrhundert eine Zeit der "Entgeistigung". (L. Borinski, Englischer Geist in der Geschichte seiner Prosa, Freiburg 1951, S. 161.) Der Seinsformen mit minimalen intellektuellen Regungen. George ist so verwirrt durch die Fragen, ob er Besuch erwarte und ob das Telefon kaputt sei, weil er intellektuell nicht mehr zupacken kann. Dickie leidet unter einem Mangel an Reflexion: er wirft nach dem Hahn und bedenkt nicht seine Verwundung; er reagiert mechanisch auf das läutende Telefon und lässt das Auto zurückrollen; er verliert die Pistole aus Unachtsamkeit; er lässt Albie im Auto zurück und bedenkt nicht die Flut.

Optische und akustische Eindrücke werden zur Grundlage des Weltbildes (siehe dazu Kracauers "Theorie des Films") (Frankfurt 1964); sie spielen eine immer bedeutendere Rolle in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie der Klang der Kirchenglocken am Waldesrand von "Mutter Johanna" soll der Lichtreiz des Leuchtturms bei George am Strand Verirrte orientieren. (In Längs RANCHO NOTORIOUS hat der verfolgte Mörder ein visuelles Gedächtnis - er erkennt Vern Haskell wieder an der Art, wie der sein Pferd besteigt; in Längs "M" hat der Bettler ein akustisches Gedächtnis - er erkennt den gesuchten Mörder wieder an der Melodie, die er pfeift.) Albie sieht eine Gestalt in Frauenkleidern über sich gebeugt und glaubt, seine Frau Doris bei sich zu haben; Katelbach hört am Telefon ein B statt des D und hat den Boris statt der Doris im Kopf; Teresa sieht Dickie trampeln und hat ein Fahrrad im Bewusstsein; sie kommen vom Sinneneindruck zur Konzeption des Gegenstandes. Und obendrein zur Fehlkonzeption. Die Kulturwelt verkommt in der Materie: Der Kulturgegenstand Stuhl wird im Grab von Erde überdeckt; die Bürger können die Grösse des Dichters nur materiell erfassen: er muss ein grosses Zimmer haben; vor lauter Geschäftssinn können sie die "albernen Filmgeschichten" nicht im Kopf behalten; sie glauben das zerstörte Kunstfenster bezahlen zu können; George versteht den Roman nicht - er weiss nur, dass er lang ist.

In einer Zeit intellektueller Unsicherheit verliert die Welt ihre feste Identität (bei Hitchcock setzen die Krisen ein, wenn die Welt nicht mehr rational fassbar ist; irgendein Mensch oder Gegenstand zeigt rätselhafte Verhaltensweisen oder Eigenschaften). Dickie wird zum Diener James; George ist Doris; Doris ist Boris; Teresa trägt Hosen, und George ist geschminkt.

Bei schwachem Intellekt und starkem Sinneseindruck ist es schwer, sich zu umfassenden Problemstellungen aufzuschwingen. Man bleibt an kleinsten Problemen hängen. Im Moment der Bedrohung - Dickie geht durch das Haus - sucht George seine Pyjamajacke (der Generalstabschef der USA im Moment der totalen Bedrohung durch den Atomkrieg in "Dr. Seltsam": "Wo ist meine Unterhose?"). Dickie hält den Status quo durch kleine Rückzüge und kleine Vorstösse. Als George Dickie tötet, ist das nicht eine grosse Tat, sondern eher Zufall, ein Nervenreflex; durch Nervenreflex auf eine Bedrohung tötet auch Camus' "E-tranger" - zu einer Tat aus verinnerlichtem Willen fehlt beiden die psychische Kraft. George sucht Krabben, wird frustriert, schmollt und macht sich aus Trotz Eier warm. (Von der Reklame werden wir ständig mit Kleinstproblemen gefüttert. Karl Kraus schreibt in einer Satire: _... Ein "heller Kopf erscheint, es ist jener, der nur Dr. Oetkers Backpulver verwendet _... Hier sind noch Gesichtspickel, dort sind sie verschwunden _...") (K. Kraus, Die Welt der Reklame, in: Unsterblicher Witz, München 1961, S. 16.)

Die Entstehung der kleinen psychischen Form führt zum Advent der Nippsache. Man belegt den kleinen Gegenstand mit seelischen Energien: "Mein Wagen schläft draussen"; Dickie nimmt Albies Uhr und Kleinkram an sich und betrachtet sie, Albies gedenkend (in Fords "Teufelshauptmann" erhält der scheidende Wayne von der Truppe eine silberne Uhr als Andenken; auf sie kann er seine Erinnerungen projizieren). Vom grossen Dichter bleiben nicht grosse Realitätsentwürfe, sondern kleine Nippsachen: Pantoffel, Tabaksbeutel, Schreibfeder (die heute auf manchem Schreibtisch liegt). Die Beseelung der Dinge führt zu gemütvollem Verhältnis zu ihnen: Dickie sitzt in der Küche behaglich vor dem berühmten dampfenden Kessel des Dichters der häuslichen Gemütlichkeit: Dickens ("The Cricket on the Hearth").

Die Objekte dringen auf das Bewusstsein ein und umstellen es; die Eingrenzung durch die Materie ist das Hauptmotiv in "Katelbach": "Wir sitzen in der Klemme"; der Drachen kommt nicht über den Horizont hinaus; die Insel ist zeitweilig vom Festland abgetrennt; das Wasser um Albie steigt; George erschiesst Dickie aus Notwehr; der Kilometerstein stoppt das Auto. (Das Andringen der Materie, verursacht durch den Zusammenbruch des Intellekts, bewirkt bei Roquentin in Sartres "Ekel" körperlichen Widerwillen und Brechreiz; Carol in Polanskis "Ekel" erbricht sich angesichts eines Männerunterhemdes).

Das Aufdrängen der äusseren Realität gegen den subjektiven Realitätsentwurf führt zur Desillusionierung: Teresa will Dickie wachschiessen, doch das Gewehr ist nicht geladen; der hungrige Dickie findet Eier, doch das erste ist faul; er findet den Kühlschrank, doch der enthält nur Eier, er vermutet Katelbach im Flugzeug und im Auto, doch er wird frustriert. Das Eindringen des widerständigen Faktums in die Subjektivität kann zur Sprengung des Bewusstseins führen: Lear, Ophelia, Gretchen, Carol im "Ekel" sowie George und Teresa - nach Dickies Tod - verlieren den Verstand: sie können das Ungeheure nicht fassen und doch nicht mehr leugnen. Angesichts der unfassbaren Welt legt sich Pierrot le Fou Dynamitgürtel um den Kopf und sprengt ihn. Dickie glaubt an die Rettung durch Gott, doch er erfährt die totale Existenzkrise - der gewaltsame Tod ist das härteste Faktum.

Die Übermacht der Realität über die Realitätsplanung führt zum Erlebnis des Versagens (bei Hemingway geht es immer wieder um das Aufbäumen gegen das Versagen.). Dickie und Albie kommen gerade von einem verpatzten Coup und müssen ihr Leben lassen. Kurz vor seinem Tod wirft Dickie in machtloser Wut den Tisch um (dem entmachteten Zeus empfiehlt Goethes "Prometheus", er möge Disteln köpfen, um sein Mütchen zu kühlen). George will Eier braten und muss sie kochen.

Die Dinge werden vom Menschen nicht mehr beherrscht und werden als tückisch empfunden (siehe F. Th. Vischers Roman "Auch einer"). Dickie kann die Konserve kaum öffnen; George schneidet Dickie in die Nase; er will überlegen mit den Eiern spielen, doch sie zerbrechen; er verbrennt sich die Finger im Eierwasser; George und Teresa entzünden ihre Streichhölzer nur mit Mühe.

Auch die Menschen sind tückisch. Jeder will seine Individualität durchsetzen und stösst dabei auf den Willen der anderen. Nur durch Unterdrückung der Freiheit anderer lässt sich der egoistische Realitätsentwurf realisieren. Das erklärt den Willen zur Ausnutzung und Unterdrückung bei Polanskis Gestalten; jeder kämpft gegen jeden. Dickie und Albie werden getötet; Dickie schlägt George auf den Hintern; dem Jungen haut man mehrmals auf den Hintern; Dickie schlägt George und Teresa voll ins Gesicht; zweimal wird kräftig am Ohr gezogen. (Über Deformationen des Menschen durch tückische Dinge und Menschen bei Laurel und Hardy hat H. Regel geschrieben) (H. Regel, Unsere Hochzeit / Die Doppelgänger von Sakramento, in: Filmkritik 9/66, S. 516 ff.)

Gottes Verschwinden im 19. Jahrhundert beendete die eindeutige Sinngebung der Welt. Man braucht jetzt neue Fluchtpunkte, um sich psychisch verankern zu können. Das führt zum Erlebnis des Suchens; die Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist voll von Suchenden; man sucht nicht nur Gott, auch kleinere und kleinste Dinge sind abhanden gekommen. Dickie sucht die Hilfe Katelbachs; im Schloss sucht er Menschen: "Ist da jemand?"; in der Küche sucht er Essbares; Teresa sucht einen starken Mann; George sucht Krabben, die Bratpfanne, die Pyjamajacke, den Eindringling: "Ist da wer?".

Die Romantik verwirft die rationalistische Auffassung von der allen Menschen gemeinsamen Bewusstseinsstruktur und forciert die Ausbildung des je einmaligen individuellen Bewusstseins. Die Individuen kapseln sich ab. Ein auf ganz persönliche Weise entwickelter Gedanke kann vom ebenfalls sehr individuell strukturierten Bewusstsein eines Gesprächspartners nicht voll oder gar nicht aufgenommen werden; man redet aneinander vorbei (der Dialog, der zu Monologen wird, ist ein wichtiges Element des modernen Theaters). Dickie: "Sie schläft" (er meint die Eule), darauf George: "Nein, sie schwimmt noch" (er meint Teresa). Dickie gräbt ein Loch, und Teresa weiss nicht warum, da sie noch nicht weiss, dass Albie tot ist. Eine Aussprache zwischen George und dem bürgerlichen Freund ist nicht möglich. Der intellektuelle George über das Kunstverständnis der Bürger: "Klatsch und Tratsch".

Als Teresa eingeführt wird, lacht sie über einen Mann, der auf dem Kopf steht. Sie lacht über den geschminkten George im Frauennachthemd. Sie lacht, als das randalierende Kind das unersetzliche Kunstfenster zerschiesst. Sie lacht, als George sich aufrafft, um Dickie zu trotzen, und sein Entschluss doch wieder zusammenbricht (der Zusammenbruch des Willens vor der gefahrvollen Tat ist Hauptmotiv in Sartres "Erostratus", in "Die Mauer" und in "Tote ohne Begräbnis"). Teresa lacht über eigentlich Schmerzliches. Solch ein Lachen ist als grotesk bezeichnet worden (siehe W. Kayser, Das Groteske) (Hamburg 1957). Man lacht über das Übel in der Welt, weil es einen erdrücken würde, wenn man es sich nicht vom Leibe hielte. Kayser zitiert aus Bonaventuras "Nachtwachen": "Wo gibt es überhaupt ein wirksameres Mittel, jedem Hohne der Welt und selbst dem Schicksal Trotz zu bieten als das Lachen?". (W. Kayser, a.a.O., S. 62.) Ein Hohn ist der körperlich, intellektuell, psychisch, sexuell impotente Mann sowie der lahmgeschossene Gangster (Symbol des letzten Übermenschen); George und Albie sind groteske Figuren, Das Lachen distanziert ihre Misere.       Dieter Brodke
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Filmliteratur

Gielow Katalog I / II / III. Internationale Bibliographie für Film, Fernsehen, Foto und Randgebiete für Bücher und Zeitschriften. Verlag Wolfgang Gielow, 8 München 2, Theatinerstr. 35. 1961; 1962/3; 1964/5. Mit Namen- und Sachregister. Je Seite DM -,10.

Wenn man diese Bibliographie benutzt, muss man sich immer der Entstehungsgeschichte gewärtig sein. Sie wird von einem Buchhändler herausgegeben und besteht aus einzelnen Blättern, die er an seine Kundschaft verschickt. Aus diesem Grunde enthält sie nur Werke, die auch über den Buchhandel erhältlich sind. Wir wollen uns nicht an der äusseren Form - hektographierte Blätter - stossen, müssen aber darauf hinweisen, dass eine Unmenge Tippfehler vorkommen, die sie zwar nicht als Einkaufsliste, wohl aber als Bibliographie entwerten.

Erschlossen wird sie durch ausführliche Namensregister, ein kleineres Sachregister und ein Register der Schriftenreihen, so dass die in der Bibliographie enthaltenen Werke recht gut zu finden sind.

Es wäre ein Leichtes, nachzuweisen, dass und welche Bücher fehlen - in Gielow I sind natürlich längst nicht alle Bücher zwischen 1945 und 1961 enthalten -, ich möchte aber nur eine Bemerkung richtigstellen: Es ist nicht wahr, dass seine Bibliographie die erste und einzige neuere der gesamten Filmliteratur ist. Zwar nur für die deutschsprachige Literatur 1940-1960, aber weit vollständiger, liegt die in der Reihe "Kinematographie" als Band II im Filmstudio erschienene Bibliographie vor. Für die gesamte Filmliteratur zwischen 1952 und 1965 besitzen wir die Bibliographie von P. Manz Bd. I bis III, (Buchhandlung Rohr/Zürich), die zudem ordentlicher als die beiden anderen ist. Beide aber hat Gielow in seiner Bibliographie nicht aufgeführt.       H. Bi.

Fritz Güttinger: Ein Stall voll Steckenpferde; Manesse-Verlag, Zürich, 297 Seiten.

"Über amerikanische und englische Literatur, nicht ganz ohne Film" lautet der ironische Untertitel der Essay- und Aufsatzsammlung des schweizer Übersetzers Fritz Güttinger. Er trifft, was zwischen den beiden Buchdeckeln steht, und was man erwartet, wird nicht enttäuscht.

Güttingers Interessen sind seine Passionen. Er ist ein Dilletant im besten wörtlichen Sinne: Liebe und Kenntnisreichtum, Intelligenz und die Fähigkeit, Entlegenes sinnvoll und überraschend zu verknüpfen, prägen Duktus und Aufbau dieser Arbeiten. Sie beschäftigen sich mit bekannten literarischen Figuren der angelsächsischen Literatur - u. a. Boswell, Conrad, Poe und Wilder -; mehr aber noch mit unbekannten, verkannten Werken und Personen wie Crane, Cunningham Graham und Frank Norris, dessen "Mc Teague" Stroheims Vorlage zu GREED war.

So werden schon in den literarischen Portraits und Werkbeschreibungen zwanglos Verbindungen zum Film gefunden, die nicht gesucht sind - man muss sie nur erkennen, vorausgesetzt, man hat nicht immer nur auf die Leinwand, sondern auch einmal in Bücher geblickt.

In zwei abschliessenden Essays steht der Film im Zentrum - nicht gut deutsch: als solcher; vielmehr einmal, wie sich Hollywood im Roman gespiegelt hat (ein Resümee und "Nachruf auf den Hollywood-Roman", in dem Namen wie O'Hara, Fitzgerald, Richard Brooks, Budd Schulberg, Cain, und Nathanael West genannt werden, nur Mailers "Hirschpark" fehlt unverständlicherweise) - eine kurze, streiflichterartige Studie, die einer grösseren Ausführung wert wäre. Und ein andermal "Der Stummfilm im Zeugnis namhafter Zeitgenossen", ein umfangreicher Essay, der nicht einfach Zeugnisse nur sammelt und archivarisch ausstellt, sondern zugleich ein kleines Portrait des frühen Films, seiner ästhetischen Reize darstellt. Auch diese Arbeit, eine beredte Apologie des Stummfilms (aber mit Musik), enthält Hinweise, Gedanken, Anregungen, die produktiv werden könnten für das Verständnis des Vergangenen und Gegenwärtigen.       W. S.
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Neue Haltung gegenüber der Wirklichkeit? Zu Egon Günthers Debütfilm LOTS WEIB

Kunst als Pensum auferlegt, das geht nicht.       Egon Günther

LOTS WEIB, DEFA-Film der Künstlerischen Arbeitsgruppe "Roter Kreis", (1965). Drehbuch: Egon Günther, Helga Schütz; Regie: Egon Günther; Kamera: Otto Merz; Musik: Karl-Ernst Sasse. Darsteller: Marita Böhme, Günther Simon, Klaus Piontek, Gerry Wolf, Rolf Röhmer, Elsa Grube-Deister u. a.

Die Geschichte beginnt dort, wo - nach Tucholsky - im Film "jewöhnlich abjeblendt" wird: das Happyend hat stattgefunden. Wenn dabei auch die Natur etwas nachgeholfen hat, die sich wenig um standesamtliche Legitimation schert, man ist nun einige Jahre verheiratet und hat zwei Kinder. Die bösen Buben haben gerade Liebesbriefe ihrer Eltern in den Briefkästen des Mietshauses deponiert, weil sie "Post" spielten, als ihre Mutter, ansehnliche Sportlehrerin, nach Haus kommt. Die Gefühle der Verliebten sind verjährt wie die Briefe, in denen man sich ihrer versicherte: nicht mehr als Papier. Katrin Lot erwartet zum Wochenende ihren Mann, den Kapitänleutnant der Volksarmee, Richard Lot. In der Auseinandersetzung, die sogleich aufbricht, wird sie ihm sagen: "Woche für Woche warte ich mit Angst, dass du heimkommst. Ich bin froh, wenn wenigstens einmal vierzehn Tage vergehen. Dann kommst du, es ist ein Verhängnis, die Zeit fliegt, die Nacht kommt, ich weiss genau, du magst mich nicht oder nur so wie jede andere, Beliebige, aber du tust es mir an." Nichts sei erbärmlicher, als sich gegenseitig etwas vorzuheucheln. Richard Lot wird antworten: "Vorheucheln _... das ist alles ziemlich überspannt, weisst du? Vielleicht ist es bei uns nicht die grosse strahlende Liebe, verflucht, wer weiss das denn schon! Aber wie ist es denn mit der Pflicht gegenüber der Gesellschaft, gegenüber den Kindern?" Katrin: "Und wie ist es mit der Lebenslüge?"
Egon Günther ("Ich wollte einen Film für die Frauen machen. Für die Frauen, deren Emanzipation meiner Meinung nach erst begonnen hat.") hält es für frappierend, dass in seiner Geschichte die Protagonistin keinen Liebhaber hat und ihren Mann trotzdem verlassen will. Sie liebt ihn nicht. Katrin Lot rebelliert gegen die Rolle, die ihr auch noch von der sozialistischen Gesellschaft oktroyiert wird. Sie will nicht willenloses Objekt eines Mannes sein, für den die Ehe ein kleinbürgerliches Refugium vor den gesellschaftlichen Ansprüchen ist, auf das man sich aus dem beruflichen Alltag, zu dem wie selbstverständlich Abenteuer ausserhalb der ehelichen Legalität gehören, zurückziehen kann. Richard Lot, von seiner gesellschaftlichen Position her zum "positiven Helden" geradezu prädestiniert, verhält sich bürgerlich-bequem. Die von seiner Frau vorgeschlagene Scheidung würde seinem Image als braver Familienvater schaden, denn auch zum NVA-Offizier gehören die "geordneten Verhältnisse". Er fürchtet Schwierigkeiten mit dem Kollektiv, das auf die sich von der alten, abgelebten Moral nur terminologisch unterscheidende "neue, sozialistische Moral" festgelegt ist; er will die sinnlos gewordene Ehe aufrechterhalten und verstösst damit gegen das Postulat von Friedrich Engels: "Ist nur die auf Liebe gegründete Ehe sittlich, so auch nur die, worin die Liebe fortbesteht."
Aus List und Verzweiflung begeht Katrin Lot in einem Kaufhaus einen Diebstahl. Die Kalkulation auf den Charakter des "aussengeleiteten" Mannes geht auf: wollte er sich nicht scheiden lassen, weil er für sein Ansehen fürchtet, so lässt er sich aus eben demselben Grunde von ihr scheiden, als sie straffällig geworden ist. Die Schöffin ("Ich bin nicht unparteiisch, ich bin für die Frauen.") wirft dem Offizier dieses Verhalten beim Scheidungstermin vor: gerade jetzt, wo sie auch im Kollegium ihrer Schule Schwierigkeiten hat, hätte er ihr beistehen müssen. Die Ehe wird geschieden. Beim Kampf um ihre Kinder, die gemäss den Gesetzen und der Ideologie dem in der Bewusstseins-Pyramide höher stehenden Vater hätten zugesprochen werden müssen, findet die Mutter Unterstützung durch den Polit-Offizier aus der Einheit Richard Lots und durch den Parteisekretär der Schule. Der Polit-Offizier darf sich am Schluss läutern, nachdem er vorher das Eheproblem noch durch die vom Gatten vorzunehmende Prügelstrafe zu lösen vorschlug.
Interessanter ist die Figur des Parteisekretärs. Er, dem die Funktion als einem unauffälligen und nicht aufbegehrenden Zeitgenossen aufgedrängt worden war, sieht plötzlich im Schicksal seiner Kollegin eine Aufgabe. Als die Lehrerin Lot des Diebstahls wegen von der Schule zur "Schwarzen Pumpe", an die Basis, also strafversetzt werden soll, wendet er hintersinnig ein, was denn eine Lehrerin da solle und ob die sozialistische Grossbaustelle eine Besserungsanstalt sei? Als über die Zukunft der Kinder entschieden wird, rügt die aussagende Kindergärtnerin die Mutter, weil sie die Kinder oft ohne Pionierhalstuch gebracht habe. Der junge Parteisekretär fragt, ob sie denn mit Taschentüchern versorgt gewesen seien? Die übereifrige Zeugin muss bejahen. Das genüge ja wohl. Trotzdem steht die geschiedene Lehrerin schliesslich, wenn auch mit den Kindern, allein. Die Scheidung war im Prozess ihrer Emanzipation nur ein Wegzeichen. "Sie hat es nicht leichter als vorher. Vielleicht ein bisschen schwerer", meint der Regisseur.
Ist in diesem Erstlingsfilm Egon Günthers etwas von der neuen Haltung der Wirklichkeit gegenüber zu spüren, die Heinz Baumert (der dem verschärften kulturpolitischen Kurs zum Opfer gefallene frühere Chefredakteur von "film - Wissenschaftliche Mitteilungen") in den Filmen der sozialistischen Nachbarländer zu erkennen glaubte? Günther meidet die abstrakte Predigt. Sein Film ist ein Plädoyer für wohlverstandenes, sich auch im Privaten realisierendes Glück, für eine ganz konkrete Humanität, die von der sentimentalen Privatidylle ebensoweit entfernt ist wie von der erzwungenen Einsicht in vermeintliche gesellschaftliche Notwendigkeiten. Der einzelne soll sich zwar in der Gesellschaft verwirklichen, ihr aber nicht zum Opfer gebracht werden. Deshalb geht Günther auch nicht von Theorien und schönen Phrasen aus, die er durch Scheinkonflikte illustriert, sondern von den Widersprüchen der privaten wie gesellschaftlichen Praxis, die den schönen Schein der Ideologie zerstören. Das individuelle Problem erhält ganz selbstverständlich gesellschaftliche Relevanz. Heuchelei und Spiessertum erscheinen aber nicht, wie sonst üblich, als Relikte einer überwundenen bürgerlichen Ordnung, sondern als Produkte eines neuen, der Reflexion weitgehend entzogenen Gesellschaftssystems. "Nur wenige Filme können wie LOTS WEIB für sich in Anspruch nehmen, in so hohem Grade den Zuschauer zum Überprüfen seiner Situation zu veranlassen, nur wenige stellen so realistisch Pseudoharmonien in Frage", erkannte der Rezensent des Ost-Berliner "Sonntag". Der Film zeige, dass es auch in der DDR-Gesellschaft das Problem der Anpassung gebe.
Des Autors (mit Helga Schütz) und Regisseurs kritisches Engagement entspringt der Sache, er übt nicht oberflächliche Symptomkritik. Sein Film provoziert ein landläufiges Bewusstsein (s. Anm. am Ende), das sich der kleinbürgerlichen Ehemoral überlegen dünkt, seinen Marx, Engels und Bebel ("Die Frau der neuen Gesellschaft ist sozial und ökonomisch vollkommen unabhängig, sie ist keinem Schein von Herrschaft und Ausbeutung mehr unterworfen _...") intus hat und dennoch fortfährt, jene zu praktizieren. "Mein Film ist nicht geschrieben und nicht inszeniert worden, um zu kritisieren. Er ist nicht geschrieben, um nicht zu kritisieren, sondern ich erzähle eine Geschichte und versuche, alle Geschehnisse prozesshaft _... darzulegen _... Deshalb geht es in diesem Film nie darum, ob ich zu einer Sache ja oder nein sage, sondern ich stelle sie dar. Und ich muss sie notwendigerweise so darstellen, dass sie wahr ist, soweit das Wissen und auch das Talent ausreichen."
Günthers Film ist ein redliches Debüt. Wenn auch manche formale Spielerei stört (dazu gehört auch die parodierende, nicht schlüssige Anspielung aufs Alte Testament), wenn auch mancher Dialog allzu bemüht in Handlung und Bewegung aufgelöst ist - die Konzeption ist überzeugend. Da spreizt sich kein "Anliegen", da werden keine Vorurteile reproduziert. Und da geht es auch nicht um die aktuelle Korrektur eines verjährten Scheidungsrechtes (das den Diebstahl herausforderte). Der Regisseur ist davon überzeugt, dass Kunst nicht direkt wirkt wie zum Beispiel die auf Aktion zielende Agitation. "Kunst kann keine Tagesprobleme lösen. Ihre Wirkung ist mittelbar. Mit Kunst kann man nicht anfeuern."
Kaum verwunderlich, dass ein solchem Anspruch verpflichteter Film bei gewissen Leuten Anstoss erregen musste. Von der Verbotspolitik des 11. Plenums wurde LOTS WEIB nicht betroffen (dafür allerdings Günthers zweite Arbeit WENN DU GROSS BIST, LIEBER ADAM); glücklicherweise wurde der Streifen gerade nicht mehr gespielt, er hatte die erste Einsatzperiode hinter sich. Kurt Hager nannte den Film später sogar vorbildlich. Aber erst kürzlich warf ein hoher Funktionär in einer Diskussion mit Schriftstellern dem Film "Verzerrungen" ("Ich denke an die Darstellung leitender Offiziere und des Parteisekretärs.") vor. Wahrscheinlich kam dem Film zugute, dass er beim Einsetzen der Kulturkampagne die Öffentlichkeit schon nicht mehr beschäftigte. Ohnedies meidet das grosse Publikum noch immer weitgehend den DEFA-Film, ohne Unterschiede der Qualität. Egon Günthers neue Haltung gegenüber der sozialistischen DDR-Wirklichkeit bezeichnete die Grenze des gerade noch Möglichen. Die Filme von Maetzig, Vogel, Bayer, Barthel und anderen, in denen jene Linie offenbar fortgesetzt wird, sind dem Verdikt der Partei verfallen. LOTS WEIB ist aus diesem Grunde auch eher ein Objekt der Erinnerung an liberale Zeiten als eine Verheissung für die DEFA-Zukunft.
(Anm.) Die Funktionäre stützten sich in ihrer Argumentation gegen den Film nicht selten auf Äusserungen eines verbildeten, ressentimentgeladenen Publikumsgeschmacks. In Leserbriefen zu LOTS WEIB las man zum Beispiel: "Es gehört sich nicht für eine verheiratete Frau, zum Faschingsball zu gehen, wenn der Mann dienstlich an einem anderen Ort weilt." "Hier wirft man mit Worten umher, die man hätte auf feinere Art sagen können. Ich fand überhaupt alles recht eigenartig in Bezug auf die Ehe. Muss man bei solch ernsten Sachen unbedingt lustig werden?" "In diesem Film hätte gezeigt werden müssen, wie Steine aus dem Weg zu räumen sind _... die neue Familiengesetzgebung wird beinahe völlig ausser acht gelassen." "Viele Zuschauer werden mit starken Zweifeln aus den Kinos gehen. Sie werden die Frau durch unsere Rechtspflegeorgane als ungerecht und hart behandelt sehen. Und damit entstehen Zweifel an der Richtigkeit und an der Aufgabe unserer Rechtsprechung."       Heinz Klunker
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Noch einmal Sandra [Bezug auf Besprechung in] Heft 52

"Sandra" ist ein Film der Erinnerung, der Vergangenheit und der Möglichkeit ihrer Überwindung. Aus der Internationalität Genfs kommend, engt der Film zielstrebig sein Thema ein: Italien, die Toskana, Volterra, der Palazzo, der rechte Flügel des Palazzo. Die Beunruhigung liegt im linken Flügel des Palazzo; in ihm ist die Vergangenheit eingeschlossen.

Die Vergangenheit, das sind Etrurien, Volterra, die Eltern, der Rechtsanwalt, der Arzt, die Denunziation an die Faschisten, das sind die "unschuldigen" Spiele der Kindheit - das ist Gianni, der Bruder Sandras.

Die Reise Sandras und ihres Mannes Andrew ist eine Reise in die Vergangenheit, die Sandra zu gefährden droht und die Andrew, der Amerikaner, nicht kennt, weil er sie nicht gelebt hat. Diese Vergangenheit gilt es aufzuklären. (Man beachte, wie oft im Palazzo Licht angemacht wird.)

VAGHE STELLE DELL'ORSA - "Ungewisse Sterne des Grossen Bären" lautet der Originaltitel des Films. Es ist eine Zeile aus dem Gedichtzyklus "Riccordanze" - "Erinnerungen" von Giacomo Leopardi, einem der'Grossen Italiens, dessen Name jedem Italiener aus dem Volksschullesebuch bekannt ist. Gianni rezitiert im Film einige Zeilen aus jenem Gedicht (von der deutschen Synchronisation falsch übersetzt), und als sein amerikanischer Schwager gesteht, Leopardi nicht zu kennen, bestätigt er damit, was Gianni über ihn denkt: ein Banause.

Giannis Leben ist eine vollkommene Widerspiegelung von Leopardis Lebensgefühl - in seinem Schlafzimmer hängt ein Portrait des Dichters -, jenem Leiden am Leben, jener sehnsuchtsvollen Rückbesinnung auf glückliche Kindheitstage, jener Flucht vor der Zukunft. Gianni ist völlig in die Vergangenheit verstrickt, er lebt nur in ihr und vermag keine sozialen Bindungen, die ausserhalb der Vergangenheit liegen, einzugehen. So bleibt ihm nur der Inzest und, als auch dieser misslingt, der Selbstmord.

Zugleich ist Gianni Repräsentant einer Gesellschaftsschicht, die meint, noch immer Träger der Kultur zu sein, weil sie einen Raffael zu Hause hängen hat und Leopardi zu zitieren weiss. Ebenso nutzlos erscheint der Palazzo, der mit seinen Treppen, Gängen, Türen, Zimmern, Möbeln und Alabastervasen keine Funktion mehr zu erfüllen hat und dessen Interieur trotz seiner Schönheit einen kalten, gefährlichen, den Menschen bedrohenden Zug bekommt - und mitten in dieser sterbenden Pracht, in jenem linken Flügel, dem Herzen der Vergangenheit, den Räumen der Mutter, begeht Gianni Selbstmord. Funktionslos ist schliesslich auch Volterra, diese zum Tode verurteilte Stadt, an deren Fundamenten die Zukunft nagt und alles bedroht. Fern sind die Zeiten Etruriens, jener Geburtsstätte italienischer Kultur, so fern wie Sandra von ihrem Mann, wenn sie in etruskischer Haartracht zum Rendezvous in der Zisterne erscheint. Volterra ist eine Provinzstadt, wie es in Italien hunderte gibt, eine Stadt reicher kultureller Vergangenheit, aber ohne Zukunft.
Der Gegenspieler Giannis ist sein Schwager, ein Mann, der vollkommen in der Gegenwart lebt, dem die Vergangenheit nur eine touristische Attraktion bedeutet, die er mit seiner Schmalfilmkamera aufnimmt, der aber seine Frau durch diese Vergangenheit bedroht sieht. Es ist erstaunlich, mit wieviel psychologischem Geschick er versucht, seine Frau von der Vergangenheit zu heilen. Er macht den Eindruck eines Psychotherapeuten, der seine Patientin sich an den Herd ihrer Krankheit in der Vergangenheit zurücktasten lässt, während er geduldig und nur gelegentlich eingreifend diesem klärenden Erinnerungsprozess zuschaut und dabei die Wurzel der Krankheit erfährt. Tatsächlich erfährt er im Laufe des Films alles über Sandra, über ihre Vergangenheit, über ihre Beziehungen zu Gianni. Man könnte auch sagen, Gianni ist ein Charakter vor Freud, Andrew einer nach Freud. Charakteristisch für Andrews Vorgehen ist das Arrangement jenes Gesprächs - eine Art Gruppentheraphie - zwischen dem Rechtsanwalt, dem Arzt, Gianni und Sandra im linken Flügel des Palazzo. Sandra schliesslich erweist sich als die Schlüsselfigur des Films, denn sie steht zwischen beiden Polen und muss sich entscheiden. Entweder folgt sie Gianni, was auch für sie Inzest und Tod bedeutet, oder sie folgt Andrew, was für sie Leben und Zukunft heisst. Leben ist für Sandra Überwindung der Vergangenheit, ist der Verzicht, in der Vergangenheit zu verharren. Die Zukunft liegt nicht bei Gianni, nicht im Palazzo, nicht in Volterra - und nicht in einem Italien, das seine kulturelle Vergangenheit für mehr erachtet als ein Museum. Die Zukunft läge in der Umkehrung jener Reise vom Anfang des Films - aus der provinziellen, aus der nationalen Enge heraus in die Internationalität Genfs. Die andere Alternative wäre der Weg Giannis, die Begnügung auf sich selbst, der zum Untergang führende italienische Inzest.
Damit ist Sandra - ähnlich wie SENSO, "Rocco und seine Brüder" und "Der Leopard" - ein Abgesang auf eine italienische Kulturepoche, bei dessen exakter Beschreibung der letzte Glanz jener sterbenden Welt nicht über die Notwendigkeit des Untergangs, über die Notwendigkeit einer Veränderung hinwegtäuschen kann. Sandra ist Viscontis kritischste Darstellung einer gegenwärtigen italienischen Situation - und zugleich seine pessimistischste. Zum erstenmal besteht bei Visconti die Möglichkeit der Zukunft nicht in einer marxistisch gefärbten Vision, sondern in einer freudianisch gefärbten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.       Hans Peter Kochenrath


Kurt Kren, Wiener Experimentalfilmer, unternimmt mit "seinem" Stummfilm KURDU erstmals den Versuch, das Publikum an der Gestaltung teilhaben zu lassen. Zum Preis von $ 1,- lässt sich das Recht auf die Gestaltung von zehn Kadern des Films erwerben (beim Kauf von mehr als zehn Kadern erhöht sich der Preis jeweils um das Doppelte). Inserts wie Inschriften, Fotos usw. werden entsprechend den Wünschen des Zahlenden aufgenommen. Voraussichtlich bleibt der so entstandene Film, der im Mai zum erstenmal als endlose Schleife vorgeführt werden soll, nicht unverändert erhalten, da nur eine Originalkopie existiert, deren beschädigte Stellen durch neues Material zu ersetzen sind. Kaderverkauf durch Kurt Kren, A-1201 Wien 21, Freytaggasse 1-14/21/13.
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