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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 56, Januar-April 1968

Inhalt
Helmut Mennicken: Brief aus Paris: Die neuesten französischen Filme
Sebastian Feldmann: Chelsea Girls oder Die Kreation des Kunstwerks im Betrachter
Manuel Michel: Das mexikanische Kino
Alfredo Guevara: Über das cubanische Kino
Maria Carolina Rodrigues: Die revolutionäre Illusion des Cinema Nôvo
Filmliteratur: Wolfram Tichy: Englichsprachige Filmbücher


Brief aus Paris: Die neuesten französischen Filme

Mit seinem neuesten Film LA FEMME INFIDELE (Die untreue Ehefrau) kehrt Claude Chabrol zu seinen Ursprüngen als Autorenfilmer zurück: Drehbuch, Adaption und Dialoge stammen von ihm. Flüchtig besehen kann sein Film keine neuen Elemente mehr liefern zur klassischen Konstruktion des Dreiecks von Ehemann, untreuer Ehefrau und Geliebtem. Doch mit einer grossen Einfachheit erzählt Chabrol den Verlauf und die Krise seines unterkühlten Eifersuchtsdramas. Höhepunkt dabei ist eine Szene mit spezifisch chabroleskem "touch": die Begegnung der beiden Männer, die die gleiche Frau lieben. Der Ehemann erklärt dem Geliebten seine Liebe zu seiner Frau, der Geliebte dem Ehemann sein Verhältnis zu dessen Frau. Im Laufe dieser Unterredung, die ans Burleske grenzt, kommt es dann zu einem kleinen Betriebsunfall. Der Ehemann verliert für einen Augenblick seine Selbstbeherrschung und erschlägt den Geliebten seiner Frau. Mit seiner minuziösen Schilderung dieses quasi perfekten Verbrechens, dem Wegschaffen der Leiche, erweist Chabrol seinem Vorbild Hitchcock (Chabrol ist zusammen mit Eric Rohmer Verfasser einer Hitchcock-Monographie) eine Reverenz. Die Dialoge hat er auf ein unerlässliches Minimum zusammengestrichen, um so den filmischen Ausdrucksraum zur vollen Entfaltung zu bringen. Darin liegt eine vorzügliche Qualität seines Films: vieles bleibt nur angedeutet in Gebärden, Blicken, Mimik. Doch der eiskalte, klinische Rapport der Bourgeoisie wird dadurch nur um so gelungener. Die Grausamkeiten subtiler Art, die Frustrationen, die Leere und die Langeweile dieser Gesellschaftsschicht scheinen durch die glatte, oberflächliche Fassade hindurch. Bestätigt sich Chabrol mit seinem Film auf originale Weise, so kann man von Philippe de Brocas neuem Film nicht das gleiche behaupten.

LE DIABLE PAR LA QUEUE (was soviel heisst wie: knapp bei Kasse sein) ist eine gepflegte französische Gesellschaftskomödie im konventionellen Sinn: Vorwurf für einige lustige Verwechslungen und für eine Parade skurriler Typen. Die weise Vorsteherin einer Grossfamilie, Besitzerin eines stolzen Schlosses, wegen der chronischen Geldknappheit nicht in der Lage, die notwendigen Reparaturen am Dach vorzunehmen, versucht auf jede nur erdenkliche Weise, zu viel Geld zu gelangen. Der Liebhaber ihrer Enkelin, der Dorfgaragist, wird dazu angehalten, den lahmen Pensionsbetrieb mit Gästen zu versehen. Einsamen Autofahrern schneidet er deshalb beim Tanken elegant die Zündkabel durch und bringt dann die verlegenen Zimmersucher aufs Schloss, Bald ist kein Bett mehr frei und kein Auge mehr trocken. Die Turbulenz der Ereignisse steigert sich, ein Bankräuber nistet sich mitsamt Beute dort ein. Sie geht schliesslich in die Familie ein: der Bankräuber steckt auf und heiratet eine klavierspielende Enkelin des Hauses. Das Geld wird in einen Hotelbetrieb investiert, der ehemalige Räuber fungiert als Koch.

Mit einigen der früheren Helden aus de Broca-Filmen hat dieser seine schliessliche Verbürgerlichung gemeinsam (vgl. JEUX D' AMOUR, UN MONSIEUR DE COMPAGNIE), eine zynische Pointe, die aus de Brocas und seiner Helden Enttäuschung vor der Wirklichkeit herrührt. In Tempo, Einfallsreichtum und Brillanz, ästhetischem Spiel mit Zitaten reicht jedoch dieser Film nicht an L' HOMME DE RIO, in seiner sozialkritischen Relevanz nicht an UN MONSIEUR DE COMPAGNIE heran.

Eine erfreuliche Entdeckung ist dagegen Walerian Borowczyks souveräne Manifestation als Spielfilmregisseur. Erfreulich dabei ist die Feststellung, dass er seine Vergangenheit als Zeichentrickfilmer (bis auf die Ausnahme des Kurzfilms ROSALIE, der ein Trickfilm ist) nicht verleugnet, sondern vielmehr bestrebt ist, eine Integration der beiden ästhetischen Ebenen, der des Zeichentrick- und des Realfilms, vorzunehmen. Mit GOTO, ILE D' AMOUR (Gôto, Insel der Liebe) legt er seinen ersten Langfilm vor, in schwarz und weiss und in Farbe. Die sechs eingeblendeten farbigen Einstellungen haben bezeichnenden ästhetischen Wert: durch ihre überraschende Präsenz an der Stelle und in der Abfolge ihres Erscheinens bedeuten sie etwas, verleihen auf diese Weise der Stelle eine spezifische Gewichtigkeit. Beeindruckend ist die konzentrationäre Atmosphäre der Insel, die Fäulnis und der Verfall ihrer Einrichtungen, wozu die Kamera mit ihren fast ausschliesslich statischen Bildeinstellungen in erheblichem Masse beiträgt. Beschrieben wird der unaufhaltsame Aufstieg eines verurteilten, dann begnadigten Sträflings, der dann vom König Goto III. als Fliegenfänger angestellt wird, sich ständig empordient und vor nichts zurückschreckt. Schliesslich glaubt er sein Ziel erreicht zu haben: er ermordet den König, usurpiert den Titel und macht sein Recht auf dessen hübsche Frau geltend.

Die eigenständige Konstruktion eines Raums der filmischen Realität, die sich Zeichen aus der Realität ausborgt, verleiht diesem Film eine Dimension der kritischen Rezeption, die neue Sehweisen zu aktivieren vermag. Mit den Zeichen einer allerdings bereits vermittelten Realität, der der Comic Strips und bandes dessinées, arbeitet William Klein in seinem MISTER FREEDOM.

Hatte Klein sich bereits in seinem ersten Langfilm QUI ETES-VOUS, POLLY MAGOO? die Realität der Mode verselbständigt, so erscheinen hier die Figuren der amerikanischen Comics-Mythologie in Reinkultur als eigenständige Personen. Mister Freedom, Reinkarnation von Uncle Sam, zieht aus die Freiheit zu verteidigen, wohlgemerkt die Freiheit Amerikas und der westlichen Welt - gegen die bösen Bolschewiki, mit deren Protagonisten Moujik Man er sich aber gut arrangieren kann - beinahe wie im wirklichen Leben. Lediglich mit Super French Man hat Freedom einige Schwierigkeiten, die ihn aber nicht sehr erschüttern können. Doch Freedoms Gegner gruppieren sich zu einer Anti-Freedom-Bewegung, da sie die Verlogenheit seines Missionierungswillens als Kolonialisierung erkennen. Sie bringen ihn schliesslich zu Fall.

William Klein verarbeitet in seinem Film quellenreiches Material der verschiedensten Herkunft und mit unterschiedlichem Realitätsgehalt. Aus seinem Beitrag zu LOIN DU VIETNAM übernimmt er Teile der Parade, aus der Streikbewegung vom Mai 1968 in Frankreich selbst gedrehtes Dokumentarmaterial, aus den Comics natürlich und aus deren Mythologie (Szene in der Metro mit Freedom, Christ Man, Maria, Moujik Man, Red China Man). Vom Theater hat sich Klein ebenfalls inspirieren lassen: Ubu Roi von Alfred Jarry darf man als Ahnherrn annehmen, das Living Theatre wird wohl auch Pate gestanden haben. Kleins anti-amerikanisches Pop-Pamphlet verblüfft durch die Farbigkeit seiner Erfindungen, die Verve seiner Dialoge, die Irrsinnigkeit der Handlung. Besondere Konzentration verdient der sicherlich persönlichste, sensationellste Film des Jahres: Jacques Rivettes erstaunliches Mammut-Opus (im besten Sinne) von vier Stunden zwölf Minuten: L' AMOUR FOU. Der Titel ist eine Hommage an André Breton und spielt mit der Doppeldeutigkeit des Wortes fou = wahnsinnig - töricht. (Der Surrealist André Breton veröffentlichte 1939 einen Roman gleichen Titels.) Der Film beschreibt, betrachtet den Zerfall und das Brechen einer Liebesbeziehung. Sebastien will die "Andromaque" von Jean Racine inszenieren, seine Frau Claire, ebenfalls Schauspielerin, soll die weibliche Hauptrolle übernehmen, gibt sie aber wieder ab, weil sie glaubt, sich dazu nicht in der Lage zu fühlen. Von diesem Augenblick an zerfasert das Verhältnis immer mehr bis zum endgültigen Bruch, der um so schwerer fällt, da die beiden sich lieben. Was an diesem Film besonders erstaunt, ist die neue, reizvolle Kombination der beiden kinematographischen Aufnahmeverfahren. Rivette verwendet parallel das 35-m- und das 16-mm-Verfahren. Sehweisen, die sich einstellen, werden aufgebrochen und korrigiert, durch die aufgeblasenen 16-mm-Sequenzen, die ständig eingeblendet werden. Der Zuschauer wird gezwungen, stets zwischen zwei Seh- und Reflexionsebenen hin und her zu pendeln.

Der Zusammenhang mit dem Surrealismus geht weit über den Titel hinaus. Durch das Aufnahmeverfahren - die Schauspieler proben zu lassen und zwei Kameras das aufnehmen zu lassen, was passiert - gibt Rivette jedes Interventionsrecht des allwissenden Erzählers auf, gestattet auf diese Weise eine écriture automatique, deren Materialergebnis Rivette allerdings montiert. Die Zufälligkeit des Ergebnisses wird durch die Montage nicht demontiert. Es lassen sich beliebig viele Fassungen des wirklichen Vorganges durch die Montage zu einem Film herstellen. Durch diese Bewusstheit der Materialisation des Lebens in Film gehen in Rivettes Film L' AMOUR FOU Reflexionen über Film ein: der Film als "imitation of life", vielfältige Beziehung zwischen Film und Theater, Theater und Leben, Leben und Film.       Helmut Mennicken

LA FEMME INFIDELE (Die untreue Ehefrau)
P.: Frankreich 1968
R., B., Dg.: Claude Chabrol; K.: Jean Rabier
D.: Michel Bouquet (Charles), Stephane Audran (Helene), Maurice Ronet (Victor)

LE DIABLE PAR LA QUEUE (Pack' den Tiger beim Schwanz)
P.: Frankreich 1968
R., B.: Philippe de Broca D.: Yves Montand, Maria Schell, Madelejne Renaud, Jean Rochefort, Jean-Pierre Marielle, Xaver Gelin, Marthe Keller, Tanya Lopert

GOTO, ILE D' AMOUR (Gôto, Insel der Liebe)
P.: Frankreich 1968
R., B.: Walerian Borowczyk
D.: Lygia Branice, Pierre Brasseur

MISTER FREEDOM
P.: Frankreich 1968
R., B.: William Klein
D.: John Abbey (Mister Freedom), Delphine Seyrig (Marie Madeleine French Girl), Yves Montand (Capitaine Formidable), Sami Frey (Christ Man), Philippe Noiret (Moujik Man), Jean-Claude Drouot (Mister Drugstore), Serge Gains-bourg (Johnny Cadillac), Donald Pleasance (Dr. Freedom)

L' AMOUR FOU (Die irre Liebe)
P.: Frankreich 1968
R.: Jacques Rivette B.: Rivette und Marilü Parolini K. (35 mm): Alain Levent K. (16 mm): Etienne Becker M.: Jean-Claude Eloy
D.: Bulle Ogier (Ciaire), Jean-Pierre Kalfon (Sebastian/Pyrrhus), Josee Destoop, Yves Beneyton, Michel Delahaye, Andre S. Labarthe
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CHELSEA GIRLS oder die Kreation des Kunstwerks im Beschauer

Beim Grossteil selbst des intellektuellen Über-Durchschnittspublikums ist es unbekannt und unbedacht, was Pop Art "ist" und "will" - um im Jargon der immer noch offenen Fragen zu bleiben. Dass sie nichts "will", im Sinne der geläufigen Hoch-Form-Intention und auch der geläufigen politisch-sozialen Intentionen, wird selbst dem darauf insistierenden Pop-Macher von der Öffentlichkeit nicht abgenommen; dass sie sich in der anonymen Re-Präsentation und Re-Produktion des scheinbar beliebigen Objekts erschöpft, macht den Konsumenten an seiner "kritischen Subjektivität" irre.

Der Preis des Films

"Chelsea Girls", ein Pop-Film, (das Etikett "Underground" ist bekanntlich schon verdächtig geworden; wichtig bleibt der Hinweis auf den nicht-kommerziellen Charakter) ist ein höchst anstrengender Film. Das liegt nicht nur daran, dass er vier Stunden läuft oder dass da auf zwei Leinwände gleichzeitig projiziert wird oder dass das Gezeigte langweilig erscheinen kann. Es liegt an der Eigenleistung, die dem Beschauer selbst abverlangt wird. Es liegt daran, dass das - entschliessen wir uns: - Kunstwerk sich im Beschauer erst zu konstituieren hat. Diese Leistung, die im Verlauf der zwölf Rollen des Films stattfinden muss, wird dadurch vorbereitet, dass der Zuschauer sich neue Erfahrungsnormen zu setzen gezwungen sieht, dass er den Verzicht auf Zweifel an dem Kunst- und Nutzcharakter der Veranstaltung beschliessen und sich für die sublime Suggestion des Films von allem Anfang an neu und anders sensibilisieren muss.

Das Spiel ist in dem Moment gewonnen, da sich dem Beschauer diese Eigenleistung als vom Autor des Films gefordert, zwar nicht verursacht - zunächst nicht verursacht -, aber geplant und keinesfalls irrationalem Reagieren überantwortet offenbart.

Die völlige Reduktion auf triviale Geschehnisse, der völlige Verzicht auf Bedeutung und Idee, auf Manipulationen durch Schauspieler und Techniken, nach Warhol's theoretischer Konzeption fast kompromisslos abgespielt, verjagt die Zuschauer, die sich kollektiv vom Film etwas vorerleben lassen wollen. Das Erlebnis ist hier rettungslos subjektiv geworden, vom Nachbarn vielleicht schon nicht mehr angenommen. Der Beschauer steht dem Film in bedrückender Einsamkeit gegenüber (einsam wie sonst nur der Protagonist dem Publikum). Zuerst zum Spektakulären, was da geschieht. Die Filme, die sich sogleich als abgeschlossene "Akte" zu erkennen geben und sich jeweils im Ort- und Zeitkontinuum bewegen, werden gleichzeitig auf zwei Leinwände nebeneinander projiziert. Ton kommt immer nur von einem der beiden Filme. Es gibt jeweils Pausen der Projektoren, die in die Dramaturgie des Films eingeplant sind. Die gesamte Vorführung ist durch einen Regieplan hinlänglich geregelt. Den Charakter des Films als Pop-Kunstwerk macht etwa aus, dass seine Gesamtkonzeption und -Wirkung auch eine Vertauschung von Teilen unbeschadet überstehen würde (-¦ oder ständig auch übersteht?). Durch die im Projektionsplan kodifizierte Anordnung ergibt sich lediglich eine besonders sinnfällige von mehreren sinnfälligen Kombinationen.

Sensation des Trivialen

Man sieht Innenaufnahmen mit Einzelmenschen, Duos, Wohngemeinschaften, familienähnlichen Gruppierungen aus der New Yorker Greenwich-Village-Bohème. Die Auswahl und die Darbietung spektakulärer Formen von Anomalie (Rauschgiftsucht, Homoerotik, Narzissmus, Exhibitionismus etc.) verlieren sehr schnell ihre Sensation, welche auch als vom Autor nicht intendiert erkannt wird; mit der Sensation, die von Langeweile überwältigt wird, endet auch die Voyeur-Haltung des Zuschauers.

Die Personen verhalten sich innerhalb ihres Lebensbereiches völlig "normal". Da gibt es keine Exzesse, kein Augenrollen, noch andere dergleiche Kino-Anstrengungen. Und gerade nicht die Perversität, sondern die Normalität, unter der sie sich abspielt und in die sie integriert ist, ist interessant und verdächtig. Es werden Formen des Zusammenwohnens vorgeführt; eine so wichtige und fundamentale Tätigkeit wie "Hausen" wird erstmals zur Kenntnisnahme und Überlegung angeboten. (Die Nähe des Wohnens zum Bei-Wohnen wird dabei bewusst.)

Es zeigen sich Herrschaftsverhältnisse innerhalb der vorgeführten Gemeinschaftsformen der Chelsea boys und girls. Man sieht den trivialen, immer neu begonnenen kleinen Kampf um die Macht in der Gruppe, der sich etwa darum dreht, wer denn nun den herabgefallenen Gegenstand aufheben wird. Man sieht Beliebiges: wie jemand sorgfältig eine Orange verzehrt; man sieht Geplantes: wie jemand zum Weinen gebracht wird.

Es ereignet sich über weite Strecken fast nichts, das heisst, gerade um soviel mehr, als nötig ist, um aus einer stehenden Photographie einen Film werden zu lassen. Aber dieses Nichts, die winzigen, belanglosen Bewegungen, beginnen zu faszinieren.

Die parallel laufenden Filme auf den beiden Leinwänden ergänzen sich. Es kommt mitunter zu dramatischen Korrespondenzen, Aktionszusammenballungen von sinnlicher Brillanz.

Vereinzelung in Schock-Farben

Dieser Teil des Films, der sich vornehmlich mit Gemeinschaftsformen befasst, weicht in seinem letzten Akt - dem ersten farbigen - einem über Formen von Isolation.

Isolation wird durch technische Mittel von Farbe und Licht und am Typus des vereinzelten Menschen augenscheinlich gemacht.

Ein Narziss, in aggressives psychedelisches Rot getaucht, gibt ein erregendes Selbstporträt. Er zeigt sich vor, exhibiert sich, reduziert sich dann, wird Fratze, Schatten, Lichtpunkt, löst sich schliesslich in Nichts auf.

Die Doppel-Projektion erlaubt auch den Effekt völliger und letzter Isolation: der einsame Mensch schaut auf der Nachbarleinwand "verständnislos" sich selber zu.

Herrschaftsdruck wird Lichtregie

Hier erstmals greift Regie, in Form von Lichtregie, manifest ins Geschehen ein. Von nun an sind Menschen, auch wenn in Gemeinschaft gezeigt, stets in Licht-Inseln voneinander getrennt. Gemeinschaft in ihrem Zwangs- oder Qualcharakter wird aufgelöst in kommunikationsunfähige Isolation des einzelnen. Zunehmend greift Licht- und Farbprojektion die Figuren an - bislang war es lediglich die nervöse, ständig aggressiv zubeissende, den Menschen unter die Haut langende Kamera.

Kamera, Lichteffekt, die Wirkung des blossen dokumentarischen Materials, die Simultaneität des Bild-Erlebens, der Fortschritt in der mählichen Suggestion sowie die Leistung einiger fast genial zu nennender Selbst-Darsteller addieren sich zu Höhepunkten von nahezu hypnotischer, den Atem benehmender Wirkung.       Sebastian Feldmann
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Das mexikanische Kino

Die "Seccion de Técnicos y Manuales" (Abteilung der Techniker und Handwerker) (STYM) der Arbeitergewerkschaft der kinematographischen Produktion, eine Organisation, die alle Arbeiter der Spielfilmindustrie zusammenschliesst, stellte im August 1964 in Mexiko einen Wettbewerb des freien (lies experimentellen) Kinos auf die Beine. Vierunddreissig Filmprojekte wurden von ebensovielen teilnehmenden Produzentengruppen vorgelegt. Zwölf Projekte wurden bis zum 12. Mai 1965, dem Anmeldeabschluss des Wettbewerbs, fertiggestellt. An den schliesslich fertiggestellten Filmen versuchten sich 18 Regisseure zum erstenmal, da zwei von den eingereichten Filmen Episodenfilme waren.

In seiner ganzen Geschichte kannte das mexikanische Kino kein solches Ereignis, das es mit einer derartigen Leidenschaft geprägt hat. Dieser Beitrag gibt einen vollständigen Überblick über den Sinn und die Ergebnisse dieses Wettbewerbs. Der Autor, Manuel Michel, ist ehemaliger (mexikanischer) Schüler des I.D.H.E.C. und war zwei Jahre Assistent beim Französischen Fernsehen. Seit 1960 lebt er in Mexiko, wo er mehrere Dokumentarfilme drehte und Kritiken in mehreren Blättern veröffentlichte. Er verfertigte Werbefilme, als Produzent und Regisseur die Fernsehserie "La rosa de Bellas-Artes". Im Rahmen des oben erwähnten Wettbewerbs drehte er den Kurzfilm AUGUSTNACHMITTAG, der beim Festival in Locarno 1965 prämiiert wurde. Michel ist ebenfalls Autor der beiden Bücher (El cine y el hombre contemporaneo" ("Das Kino und der Zettgenosse") (1961) und "El cine Frances" ("Das französische Kino") (1963). Dieser Beitrag erschien zuerst in Cinema 66, Nummer 105 in französischer Sprache und wurde für FILMSTUDIO ins Deutsche übertragen von Helmut Mennicken.

Seit mehr als fünfzehn Jahren hört man von der Krise des mexikanischen Kinos reden. Diese Krise, die sowohl ökonomisch als auch ästhetisch bedingt ist und deren Ursprung sehr komplex ist, setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen: der Starrsinnigkeit der Filmgewerkschaften, die eine Politik der "verschlossenen Türen" betreiben; der Kurzsichtigkeit der Produzenten, die erpicht sind auf die Filmproduktion für Analphabeten; dem Starrsinn der Behörden und der Verwaltung, die mit der kirchenfrommen Zensur die Türen zur freien Meinungsäusserung verrammeln; der Ignoranz dieser Organe, die sie hindert, der Qualität in der Filmindustrie eine rationelle Hilfe und eine Unterstützung zu sein; den Monopolen, die die Produktion - den Verleih - die Auswertung - kontrollieren; und ich überschlage noch einiges. All dies hat ohne Umstände ein Netz gewebt, das fähig ist, jede Industrie zu ersticken. Wenn das mexikanische Kino noch nicht gänzlich verschwunden ist, so grenzt das beinahe an ein Wunder. Das Leben dieses Kinos aber ist sehr prekär, sehr oberflächlich und ein wenig lächerlich mit seiner Flut von Gemeinplätzen, Grobheiten, alten Geschichten, Dummheiten und Ärmlichkeiten. Folglich fiel die Nachfrage auf den Tiefstwert des Marktes. Die Produktion fiel ebenfalls stetig: von hundert auf vierzig Filme im Jahr. Das Prestige, das einige Filme und Regisseure (Emilio Fernandez), später einige quasi experimentelle Filme des Hauses Barbachano (TORO, STIER, WURZELN) gewinnen konnten, ist nichts mehr als die Erinnerung an verblühten Ruhm. Hin und wieder dreht Buñuel einen Film; hat Luis Alcoriza seinerseits die Gelegenheit, sich einen Namen als Regisseur von ausgezeichneten Filmen (TIBURO-NEROS, TARAHUMARA) zu machen, die ihm erlauben, einer immer grösser werdende Freiheit des Ausdrucks zu erreichen. Diese Ausnahmen allerdings genügen nicht, die Situation einer Industrie wiederaufzurichten, deren fortwährende Krise ein ständig wachsendes Unbehagen in Filmkreisen hervorruft. Während überall in der Welt die neuen Generationen wichtige Filme schaffen, die das Leben ihres Landes mit neuen Augen und modernen Mitteln ausdrücken; während in Frankreich, England, Italien, Schweden, Tschechoslowakei, Polen, Brasilien die neue Filmproduktion geschützt - sogar in einigen Ländern verhätschelt wird - so, dass man immer mehr frische, intelligente, aggressive Filme erscheinen sieht, senkt Mexiko sich in die Abgründe einer illusionären Vergangenheit, klammern sich die alten Regisseure fest an ihre denaturierte und verfallene Sicht des filmischen Ausdrucks, die in keinem Land der Welt mehr etwas gilt; andererseits bleiben die Produzenten ihren Gemeinplätzen verhaftet und lassen dieselben Regisseure mit denselben Geschichten in denselben Dekors ... und mit denselben Kostümen drehen.

Was machen? Vor dem hartnäckigen Hang der Vereinigung der Produzenten, starr am Althergebrachten festzuhalten, werden es die Arbeiter sein, die einen vielleicht entscheidenden Umschwung initiieren werden um die Geschicke des Kinos zu verbessern: dies, indem sie einen Wettbewerb des freien (lies experimentellen) Kinos organisieren, dessen blosse Ankündigung bereits hoffen lässt. Nur mit neuen Leuten wird man das Gesicht des mexikanischen Kinos ummodellieren können.

Das Ziel und die Gründe eines solchen Wettbewerbs, der in der Folgezeit eine Bewegung werden wird, deren Weite uns im Augenblick entgeht, geht deutlich aus der in den vorhergehenden Absätzen geschilderten Situation hervor. Was aber die Aufmerksamkeit beansprucht, ist gerade die Tatsache, dass die Gewerkschaftsleiter selbst die Invasion ihres Jagdreviers erlauben. Noch erstaunlicher ist, dass die am Wettbewerb teilnehmenden Gruppen die Mittel gefunden haben, ihre Filme zu drehen. Aber die Strukturen, das muss betont werden, bleiben erhalten: den Kameraleuten wird keine Möglichkeit geboten, als Fotografen zu arbeiten, wenn der Wettbewerb zu Ende gegangen sein wird oder den Musikern wird nicht gestattet, in die entsprechende Abteilung der Gewerkschaft aufgenommen zu werden, wo sie Partituren für andere Langfilme schreiben könnten; und so weiter für alle weiteren Berufszweige. Nichtsdestoweniger muss man der Gewerkschaft Gerechtigkeit widerfahren lassen, da dank ihrer Unterstützung sie einer neuen Generation von Regisseuren, Fotografen, Schauspielern, Musikern, Schriftstellern sich zu manifestieren ermöglichte. Die STYM hat tatsächlich zuerst die Reduzierung der Mannschaften auf ein sehr wirksames Minimum möglich gemacht, hat die Garantie übernommen und ihre Wechselbürgschaft für die Kredite gegeben, die jede Gruppe zur Realisation vom Studio - für die Ausrüstung - und vom Laboratorium benötigte.

Jede teilnehmende Gruppe, mit einem oder zwei Regisseuren an der Spitze hat ihr Geld gefunden, wo sie es finden konnte. Die Quellen: Freunde, persönliche Ersparnisse, Hypotheken auf Häuser, sogar ein professioneller Produzent - der übrigens der einzige war. Die Regisseure haben meist unter schwierigen Bedingungen gearbeitet: sie haben an Sonn- und Feiertagen gedreht oder indem sie ihren "Broterwerb" für einige Wochen verliessen, die Zeit, die sie brauchten, die Dreharbeiten zu beenden; oder aber sie filmten nachts, nach ihrer üblichen Betätigung. Nur sehr wenige Gruppen haben normal drehen können.

Da die Gewerkschaft die Verantwortung und die Verpflichtung eingegangen ist, werden die Filme als Co-Produktionen der STYM und der teilnehmenden Gruppe betrachtet, solange die Kredite nicht abgedeckt sind. In jedem Fall wird es leicht sein, die Filme für die Auswertung freizubekommen, da die Schulden nicht sehr gross sind.

Wenn alles dies möglich geworden ist, so verdankt man es den Schauspielern, den Schriftstellern, den Regisseuren, den Eigentümern, die ihre Häuser als Dekor zur Verfügung stellten, den Regieassistenten; fast alle haben an diesem Unternehmen unentgeltlich teilgenommen, mit der einzigen und hypothetischen Hoffnung eines Einspielens auf lange Sicht und mit der Überzeugung, sich einem regelrechten Kreuzzug zur Erneuerung des mexikanischen Kinos zu verpflichten. Zwölf Filme wurden fertiggestellt und der Jury vorgestellt. Schon bei den ersten Projektionen konnte man leicht nach Herkunft und Tendenz drei Hauptgruppen unterschieden. (Ich fühle mich verpflichtet darauf hinzuweisen, dass meine kritischen Betrachtungen sich auf die Darstellungen von José de la Colina, Jorge Ayala Blanco und Francisco Lazo stützen, da ich selbst aktiv am Wettbewerb teilgenommen habe). Diese drei Gruppen sind:

1. die Gruppe der akademisch Gebildeten, die sich mit dem experimentellen Theater, der Literatur, der Kritik und dem Kino beschäftigen;

2. die Professionellen, die aus technischen Industrieberufen hervorgegangen sind (nur zwei Regisseure);

3. die Gruppe, die aus Produktion und Regie des kommerziellen Fernsehens hervorgegangen ist.

Die Unterschiede in der Optik dieser drei Gruppen waren leicht zu unterscheiden. Man stellte auf diese Weise fest, dass es ausgerechnet die "Professionellen" sind, die nichts mehr zur Erneuerung unseres Kinos beizutragen haben: in der übelsten Atmosphäre des kommerziellen Kinos gross geworden, können sie sich nicht verkneifen, alle Gemeinplätze auf ihre "experimentellen" Filme zu übertragen; was die Gruppe des Fernsehens betrifft, so liegt auf der Hand, dass weder das Fernsehen noch das Kino aufgrund ihrer Ideen und ihres Handwerks sich verjüngen werden. Diese beiden Gruppen trugen auf frappierende Weise dazu bei, das ganze alte mexikanische Kino und seine Lebensversorgung schachmatt zu setzen: man kann sich nicht von diesen Ideen nähren ohne eine Vergiftung zu riskieren. Eine klare und gerechte Einschätzung wird uns den wirklichen Wert-der Qualitäten und Vorzüge der ersten Gruppe schätzen lehren. Diese besitzt zu einer Basiskultur eine ernsthafte Informiertheit über das Kino und praktiziert die Theaterregie oder die Filmkritik oder forscht auf einem verschiedenen Niveau. Ihr Trachten übertrifft die konformistische und verderbte Sicht der Gruppen 2 und 3. Zu Beginn muss man die Grenzen dieser Gruppe Cineasten erkennen. Sie liegen gar nicht auf technischem oder stilistischem Gebiet, sondern charakterisieren sich durch einen beinahe vollkommenen Mangel an politisch-sozialem Interesse. Man hätte sich vorstellen können, dass das Öffnen der Türen und Schranken und die einzigartige Gelegenheit der Zensurabwesenheit wenigstens von einigen dieser Regisseure ausgenutzt worden wäre, um ein kritisches Porträt des nationalen Lebens zu zeichnen, das auf unseren Leinwänden seit mehr als zwanzig Jahren fehlte.

Doch die einzige überzeugende Ausnahme ist LA FORMULA SECRETA von Rubén Gamez, ein gewaltiges neo-surrealistische Verhör der nationalen Mythen und des ökonomischen Kolonialismus.

Woher kommt dieses mangelnde Interesse, dieser fehlende kritische Geist? Es mag sein, dass dieser Mangel der beinahe vollkommenen Trennung der Intellektuellen von den Grundproblemen des Landes entspringt; das soziale und politische Leben ist ohne solide politische Bildung sehr prekär. Das kommt daher, dass das Monopol der politischen Aktivität sich in den Händen der herrschenden Klasse befindet und zu der fortschreitenden Entpolitisierung der Massen führte. Es gibt also eine Gewohnheit des Schweigens und einen unbewussten Reflex der Selbstzensur.

Berücksichtigt man dies, so kann von der Geburt eines neuen Stils im mexikanischen Kino sprechen, einem Herumtappen, das aber bereits das Anzeichen eines neuen Aufschwungs ist. Trotz der Härte der bisherigen Feststellungen steht fest, dass niemals bisher eine solch zahlreiche Gruppe mexikanischer Cineasten sich auf die Suche nach einem Weg begeben hat, der geeignet ist, die kinematographischen Ausdruckmittel der tieferen Realität des Landes anzunähern, über den Umweg der Beschreibung einiger aktueller Probleme in den bemerkenswertesten Experimentalfilmen ist es möglich, mehr über das mexikanische Leben von heute zu erfahren als durch die gesamte kommerzielle Produktion der letzten zwanzig Jahre.

Bevor ich weiter ausführe, möchte ich noch einmal betonen, dass meine Situation als Teilnehmer am Wettbewerb es mir in keiner Weise erlaubt, eine freie Kritik auszuüben, möchte ich nicht der Inobjektivität verdächtigt werden. Ich unterstreiche nochmals, dass sich meine Komentare stützen auf die formulierten - und publizierten - Urteile der bekannten Kritiker: José de la Colina, Jorge Ayala Blanco, Francicso Pina, F. Lazo.

Eine Feststellung herrschte vor: die Experimentalfilme sind teils beurteilt worden als vollendete Werke der Regisseure, teils wurden sie mit dem kommerziellen Kino in Beziehung gebracht. Selbst wenn man nur Rücksicht auf den fertiggestellten Film nehmen kann, wäre es tatsächlich ungerecht, die oft schwierigen Bedingungen bei den Dreharbeiten, die Erfahrungen des Regisseurs und die ausgewählten Themen unberücksichtigt zu lassen.

Angesichts der Unmöglichkeit - und der Nutzlosigkeit andererseits - detailliert von jedem im Wettbewerb gezeigten Film zu berichten, erscheint es mir logischer, eine Auswahl vorzunehmen. Auf diese Weise ist es möglich, gleich die Hälfte der Filme aus unseren Betrachtungen auszuscheiden; das einzige Interesse, das diese beanspruchen könnten, ist ein undeutlich informatives. Da man aber diese Filme nie wieder sehen wird, decken wir lieber einen diskreten Schleier über ihre Existenz, sei es nur aus Respekt für die geleisteten Anstrengungen der Regisseure und ihrer Mitarbeiter.

Die Preise der Jury bringen uns auf jene Filme, von denen zu sprechen sich lohnt. Einige allgemeine Züge dieser kleinen Gruppe machen sich bemerkbar. Zuerst drängt sich eine Bemerkung selbst bei den am wenigsten gelungensten auf und zwar ist dies die aufrichtige Absicht, mit dem alten mexikanischen Kino zu brechen. Dazu bringen diese Filme eine Erneuerung des Stils und der Ideen. Wenn wir sie sehen, befinden wir uns weit von der folkloristischen Konvention und dem Familienmelodram entfernt. Dabei existiert der sehr klare und sehr entschlossene Wille, eine Sprache zu suchen, die einer mit der so verschiedenen Realität des mexikanischen Lebens in Einklang stehenden Thematik gerecht zu werden vermag. Abgesehen von den angemerkten Vorbehalten, das Unpolitische betreffend, trifft es zu, dass diese Filme aufrichtig sind und uns in einigen Fällen Anlass geben auf eine soziale Bewusstwerdung zu hoffen, die geeignet ist, zukünftige Produktionen zu kennzeichnen.

Von allen Experimentalfilmen ist der von Rubén Gamez DIE GEHEIMFORMEL der am gründlichsten experimentelle. Mit Hilfe eines Spiels der Symbole, einer gedrängten und rhythmischen Montage, eines sehr schönen Textes von Juan Rulfo drückt Gamez seine grausame und leidenschaftliche Sicht der mexikanischen Entfremdungen aus: sexuelle Komplexe; die durch die Denk- und Produktionsherren des nationalen Lebens provozierten Frustationen. Er stellt sich bewusst auf ein sehr polemisches, ja sogar provozierendes Feld, wenn er auch manchmal zu sehr vereinfacht. Ebenfalls wirft man ihm den Gebrauch der surrealistischen Sprache und die ganze Mutwilligkeit des Symbolischen vor, indem man behauptet, dass es sich dabei um einen Stil handelt, der veraltet sei. Nichtsdestoweniger ist der Film sehr erregend und erinnert uns an das meisterliche Werk von Octavio Paz, DAS LABYRINTH DER EINSAMKEIT. Gamez, als vollständiger Autor, hat alles selbst gemacht: Regie, Kamera, Montage, musikalische Adaption, Drehbuch. Von allen Konkurrenten hat er den freiesten Geist und das sicherste Handwerk gezeigt.

Mit EN ESTE PUEBLO NO HAY LADRONES (In diesem Dorf gibt es keine Diebe) hat Alberto Isaac sein Debüt gegeben. Als olympischer Schwimmeister, Zeichner, Keramiker, Karikaturist, Filmjournalist ist er mit einem Sinn für Humor und Satire ausgestattet, der ihn in die erste Reihe seines Berufes (als Kritiker und Karikaturist) bringt. Seine sehr genaue Beobachtungsgabe für lächerliche Kleinigkeiten geht leicht von der humoristischen Zeichnung auf die Leinwand über. Das Drehbuch, eine Adaption einer Erzählung von Gabriel Garcia Marquez, erzählt den Diebstahl eines Taugenichts in einem kleinen Dorf. Halb Zuhälter, halb Faulenzer, träumt er von Abenteuern und Geld, um sich elegant kleiden zu können. Bei einem Einbruch in den einzigen Billardsaal des Fleckens findet er nichts als die Elfenbeinkugeln. Es gelingt ihm nicht, sie abzusetzen. Von Gewissensbissen geplagt wegen der Verhaftung eines Försters, bringt er die Kugeln zurück und wird dabei geschnappt. Isaac zeigt uns das monotone, langsame und ereignislose Leben vieler mexikanischer Dörfer, eine Existenz ohne Hoffnung. Dazu kommt, dass der Regisseur eine wahrhafte Person geschaffen hat, die nichts mit dem durch die Konvention des kommerziellen Kinos akzeptierten Typ gemein hat. Dieser kleine Taugenichts, dessen Rolle der junge Schauspieler Julian Pastor inne hatte, zieht eine Menge von Personen an sich, die typisch sind. Die rührendste ist die der Prostituierten, dargestellt von der jungen Tänzerin Graciela Henriquez.

Fünf Regisseure, die meisten von ihnen aus dem nicht-kommerziellen Theater kommend, haben die Episoden zu dem Film AMOR AMOR AMOR gedreht. Diese fünf Episoden sind dann später für die öffentliche Auswertung in zwei Filme getrennt worden: LOS BIENAMADOS, der sich aus TAJIMARA von J.-J. Gurrola und EINE REINE SEELE von Juan Ibanez zusammensetzt; und AMOR AMOR AMOR, dessen definitive Episoden LAS DOS HELENAS von J.-L. Ibanez, LA SUNAMITA von Hector Mendoza sind. Die fünfte Episode LOLA MEINES LEBENS, von Miguel Barbachano Ponce ist verschiedentlich getrennt vorgestellt worden.

TAJIMARA und EINE REINE SEELE beschreiben beide einen Geisteszustand. Sie zeigen uns die zwiespältigen und undurchsichtigen Beziehungen ihrer Personen im Rahmen zweier inzestuöser Liebesgeschichten, deren Hintergrund eine blasierte Bourgeoisie darstellt.

Aber das sind auch bereits alle Ähnlichkeiten, die Unterschiede sind viel gründlicher. TAJIMARA wählt einen lyrischen Ton um uns von der Nostalgie der Jugendliebe zu erzählen, die beim Eintreten des reifen Alters scheitert. Man sieht eine reichhaltige Galerie weiblicher Figuren eine zwar leere und falsche, aber doch wahrscheinliche Existenz leben. EINE REINE SEELE dagegen wählt einen trockeneren Ton, einen Ton sehr "nouveau roman" um die existentielle Leere zweier verwöhnter Kinder - Bruder und Schwester: nie reif, immer unverantwortlich - in Frage zu stellen. Diese beiden Filme und ihre Regisseure sind jeder von der Kritik übel behandelt und gepriesen worden und haben vor und nach den öffentlichen Projektionen viel Tintenschwarz fliessen lassen. Sie haben uns den Beweis dafür geliefert, dass das mexikanische Kino nun fähig ist, die Gleichgültigkeit zu erschüttern und leidenschaftliche Polemiken zu provozieren.

DIE ZWEI HELENEN von José Luis Ibanez ist ein Film ohne Prätentionen, ohne tiefere Problematik, bündig, rhythmisiert, in allem eine Stilübung, deren Kamera - die man Gabriel Figueroa verdankt, wie übrigens auch für EINE REINE SEELE - in ihrer Wirksamkeit bemerkenswert ist. Dieser sehr moderne Film bringt nichts Neues, aber hat einige Augenblicke eines guten Komödienstils, den das mexikanische Kino bisher nie angegangen ist. Ausserdem ist der Film angereichert durch die Anwesenheit von Julisa de Liano, einer jungen Sängerin, die eine vielversprechende Entwicklung auf dem Wege zu einer talentierten, phantasievollen Komödiantin durchmacht. Héctor Mendoza geht ein ernsthafteres Sujet an mit seinem LA SUNAMITA, einer modernen und kleinstädtischen Version eines gealterten und verfallenen Königs David, der sich durch eine junge Frau "die Knochen aufwärmen" lässt. Die Geschichte, eine Adaption einer Erzählung von Inès Arredondo, ist seltsam und beunruhigend, Zeugnis des Lebens und der Lebensmoral der mexikanischen Provinz; Mendoza hat sie manchmal auf eine allzu theatralische Weise behandelt, in einem sehr klassischen und vielleicht schüchternen Ton.

Grundverschieden in Stil und Thema wirbt EL VIENTO DISTANTE (Der weite Wind) um Verständnis für das Lieben der Jugendlichen in einem konkreten Milieu der Hauptstadt. Es ist ein Film über die Kindheit, an die Erwachsenen adressiert. Salomon Laiter, ein junger Architekt, der seine ersten Versuche im Studententheater und -fernsehen ableistete, hat in der Folgezeit eine Reihe Filmreportagen gedreht und einen Dokumentarfilm experimentellen Charakters.

Er verliess seinen Beruf um diesen Film zu produzieren und selbst eine der Episoden zu drehen, IM TIEFEN PARK. Das Drehbuch ist ein Zeugnis über eine Kindheit ohne Zärtlichkeit und entstammt einer Erzählung von José Emilio Pacheco, einem brillanten und sensiblen Schriftsteller der neuen Generation. Laiter schafft diese Welt nach mit Hilfe kleiner humoristischer, realistischer, phantastischer, poetischer Tupfer und sein Stil bleibt dabei stets einfach und direkt.

Es gelingt ihm die Gewaltkur, die darin besteht, uns auf der Leinwand wahre Kinder und nicht engelhafte Monstren zu zeigen. Der abwechselnd fröhliche und nostalgische Ton kontrastiert mit der Episode Sergio Véjars DIE BEGEGNUNG, die den poetischen Elan mit einem sehr volkstümlichen Stil versöhnen möchte, dessen Ausdrucksmittel oft sehr direkt sind. Der Film übersetzt die grosse technische Meisterschaft seines Regisseurs, der seit seiner frühesten Jugend in den Film initiiert wurde. Als Chefkameramann assoziiert er ein oft sehr schönes plastisches Bild mit einem grausamen und manchmal melodramatischen Inhalt. Zwei Episoden, zwei verschiedene, sogar entgegengesetzte Stile geben Einblick in die Stadt Mexiko, seine Bewohner, seine Atmosphäre, indem ihnen das seltene Wunder gelingt, einen Kinderfilm ohne Albernheiten und ohne Künstelei zu gestalten. Es fällt mir schwerer, von der dritten Episode zu sprechen, die DER WEITE WIND noch enthält, denn es handelt sich um meinen Beitrag. Ich kann auf jeden Fall zwei widersprechende Kritiken zitieren und das Thema zusammenfassen. Ein Jugendlicher, der in seine ältere Kusine verliebt ist, erlebt seine erste Liebesenttäuschung durch den Verlobten des jungen Mädchens. Der Film wurde in natürlichen Dekors gedreht und ist ohne Dialoge, wohl aber mit einem Kommentar versehen, der gleichzeitig als Leitfaden und als Hintergrundgeräusch dient. Ich habe darin versucht, eine ganze Anzahl der in Werbefilmen, Dokumentar- und Reportagefilmen angewendeten Verfahren zu gebrauchen. Hier die Kritiken: "AUGUSTNACHMITTAG gelingt es, eine lyrisch dichte Stimmung zu schaffen _... man verspürt im Laufe des Films die sichere und vollendete Stilübung _..." (Jorge Ayala Blanco); "der kinematographische Geist von AUGUSTNACHMITTAG ist der Edmundo d' Amicis': gekünstelte, prätentiöse und feige Sentimentalität" (Octavio Alba in "Cine Mundial").

Neben den vier prämiierten Filmen gibt es zwei weitere, die ein sicheres Interesse beanspruchen können und das Regiedebüt zweier sehr voneinander verschiedener Persönlichkeiten anzeigen. AMELIA von Juan Guerrero ist ein Erstlingsfilm voller gefährlicher Einflüsse, der sich aber durch diese Tatsache allein auf ein beachtenswertes Niveau stellt. Das Drehbuch erzählt die Geschichte eines Paares, das sich auseinanderlebt. Die Bindungen, die es vereinigte, zerfasern und geleiten das Mädchen schliesslich zu einem tragischen Ende. Guerrero zeigt eine Sensibilität und eine Aufrichtigkeit, die ihm erlauben werden, ein guter Regisseur zu werden, wenn er weniger durch seine mangelnde handwerkliche Erfahrung und durch den übertriebenen Einfluss europäischer Regisseure behindert sein wird. Icario Cisneros dagegen besitzt ein sicheres handwerkliches Können, aber seine Sensibilität ist zerstreuter. Sein Film DER TAG HAT GESTERN BEGONNEN versucht, uns ein städtisches Lebensbild zu zeichnen in den Missgeschicken und der Niederlage eines jungen Provinzlers, der in die Stadt Mexiko gekommen ist, um sich als Schriftsteller zu versuchen. Der Film leidet vor allen Dingen an einer ungeschickten und vergröberten Adaption ohne Nuancierung. Allerdings erlaubt er, in seinem Regisseur ein vielversprechendes volkstümliches Talent zu entdecken, das wir sehr nötig haben. Cisneros war dazu ein enthusiastischer Promotor dieser Begegnung der jungen Talente.

An der Bilanz angelangt, sind wir in der Lage, mehr positive Resultate als Katastrophen zu erkennen wie es viele Leute des Milieus (des kinematographischen wohlverstanden) erwartet oder oft gehofft haben. Zuerst hat diese Veranstaltung einen grossen Enthusiasmus hervorgerufen, dann gelang es ihr, die öffentliche Meinung, die Presse, das Publikum zu mobilisieren und rief seit langem entschlafene Leidenschaften hervor. Selbst wenn die gelungensten Filme des Wettbewerbs mehr kräftige Versprechen darstellen als vollendete Werke, so ist dies mehr als ausreichend, die Mühen zu rechtfertigen, die unternommen wurden, diesen oft wenig friedlichen Wettbewerb zu einem guten Ende zu bringen. Angesichts des industriellen Kinos der geläufigen Konsumtion fällt die Wahl einfach aus. Das Niveau der meisten Filme des Wettbewerbs ist so verschieden und ihre Technik im allgemeinen dermassen sicher, dass es die anderen Filme, die kommerziellen sind, die Amateurfilmen gleichen.

Viele der Namen des aktuellen Kulturlebens Mexikos gaben sich auf der Leinwand ein Stelldichein: so die Schriftsteller José Emilio Pacheco (IM TIEFEN PARK, AUGUSTNACHMITTAG), Carlos Fuentes (DIE BEIDEN HELENEN, EINE REINE SEELE), Juan Garcia Ponce (TAJIMARA, AMELIA), Gabriel Garcia Marquez (IN DIESEM DORF GIBT ES KEINE DIEBE), Ines Arredondo (LA SUNAMITA), Juan Rolfo, viele von ihnen mit keiner anderen Hoffnung als der, zu einem Aufschwung unseres Kinos beizutragen. Bei den Musikern muss man Joaquin Gutiérrez Heras (EINE REINE SEELE), Nacho Méndez (IN DIESEM DORF _...) und Batis mit seiner Rock-Gruppe, ja selbst solche alten Routiniers wie Raul Lavista nennen. Obwohl nicht alle Kameramänner, Assistenten oder Dekorateure aufgezählt werden können, so müssen doch diejenigen genannt werden, die auf entscheidende Weise den neuen Regisseuren geholfen haben: Armando Carrillo (AMELIA, AUGUSTNACHMITTAG) und Sergio Véjar (IM TIEFEN PARK), zu den bereits genannten.

Schliesslich hat eine neue Generation Schauspieler die modernen Personen mit einer neuen Konzeption des filmischen Spiels verkörpert und ihre Hilfe in einem Geist der Kameradschaft und der Freundschaft, der Disziplin und Hingabe geleistet: Julian Pastor, Luis Lomeli, Juan Félix Guilmain, Claudio Obregon, Leticia Ortiz, Pixie Hopkins, Pilar Leser und andere werden Namen sein, die man für unser morgiges Kino behalten werden muss.

Der neue Direktor der Kinematographie (das mexikanische Äquivalent des C.N.C. Centre National du Cinema: französische, staatliche (gaullistische) Filmförderungsanstalt. Institution und Funktionäre spielten eine bedeutende Rolle bei der Affäre Henri Langlois im Februar 1968 und waren dann während der Maitage 1968 Ziel der heftigsten Angriffe der in den "Etats généraux du cinéma" - Generalstände des Films - versammelten französischen Cinéasten. (A. d. P.) Mario Moya Palencia hat seit Beginn seiner Amtsführung dieser Erneuerungsbewegung seine Unterstützung gewährt. Den experimentellen Filmen wurden - wenn auch nur beschränkt im Augenblick - Kredite gewährt. Im Rahmen des letzten Festivals von Acapulco fand eine Woche des Neuen Mexikanischen Films statt. Das Publikum - das der Filmclubs und das andere -, den mexikanischen Filmen seit Jahren zurückhaltend gegenüberstehend, provozierte regelrechte Schlägereien, um der Projektion von einigen unserer Filme beizuwohnen. Auf diese Weise konnte die Presse in den Filmspalten berichten: "Skandal in der Universität wegen VIENTO DISTANTE", um dann von dem Aufstand vor dem Kino zu erzählen, wo man sich um einen der 2000 Sitzplätze schlug. Alles dies sind für uns alle ermutigende Anzeichen. Wir wissen, dass die Zeit reif ist und günstig für uns, einen Sprung nach vorne zu machen und das Kino auf den neuesten Stand zu bringen. Mehr noch: DER WEITE WIND und IN DIESEM DORF GIBT ES KEINE DIEBE wurden gegen den Willen einiger Chronisten zum Festival nach Locarno entsandt.

Einige Filme! einige Regisseure, eine Anzahl anderer Mitarbeiter auf den verschiedensten Stufen des filmischen Schaffens sind so viele Hoffnungen, die es uns erlauben, endlich Vertrauen in die Zukunft zu haben. Einige Produzenten beabsichtigen bereits, in ihre Filmprojekte einige der im Wettbewerb ausgezeichneten Regisseure einzubeziehen.

Und dieses Mal, indem sie Projekte zur Realisation erbitten, bei denen die vollständige Freiheit, notwendige Bedingung zur Entwicklung des Kinos, gewährleistet werden soll. Bedeuten alle diese Anzeichen, alle diese Hoffnungen, dass wir uns nahe an einem neuen Aufschwung unseres Kinos befinden? Alles hängt nun ab von der Haltung der Produzenten, der Unterstützung der Behörden und dem Geist der Regisseure, von denen man wünscht, dass sie diese einzigartige Gelegenheit nutzen werden, um dem mexikanischen Kino einen neuen Atem, ein wirkliches Leben zu geben.       Paris, im Februar 1966 Manuel Michel
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Über das cubanische Kino

Es besteht keine kontinuierliche Linie zwischen dem Gebrauch der technischen, kinematographischen Mittel im Dienste rein propagandistischer oder vulgär kommerzieller Ziele und dem kulturellen Prozess, der zum neuen cubanischen Kino verhalf, das in gewisser Hinsicht sich noch im embryonären Zustand befindet. Und trotzdem, in der Gesamtheit der Charakteristiken und Perspektiven ist es bereits würdig, als eine der interessantesten künstlerischen Manifestationen unseres Landes betrachtet zu werden. Dies ist nicht nur das Resultat der sofortigen prinzipiellen ideologischen Unterschiede, oder einer politisch präzisen Ausarbeitung eines Planes und der Werteskala, die ihm zugrunde liegt. Die Unterschiede bestehen und könnten nicht extremer ausfallen. Aber ihre Wurzeln gehen im Geschichtsverlauf zurück bis zur Gründung unserer Nation und suchen in den brillantesten, vollendetsten und gültigsten Kundgebungen der künstlerischen Kultur Platz zu fassen. Aus diesem Grunde verwerfen wir wegen ihrer Oberflächlichkeit die Suche nach Vorläufern, die sich als Illusionen erweisen oder als ein Ausweichen, das sie nicht zu retten vermag, indem man sie idealisiert und mit dem Firnis der Zeit und einer unbeständigen und apologetischen Kritik überzieht. Wir können für uns bestätigen, dass die revolutionäre Berufung unseres Kinos und seiner Schöpfer weit über den gewissen Geist eines Unmittelbaren hinausgeht, ohne hingegen - was etwas gänzlich Verschiedenes ist - die ganze Bedeutung dessen zu ignorieren, was zeitgenössisch ist.

Die cubanische Kinematographie wurde mit dem Triumph der Revolution geboren und mit dem leitenden Gesetz, der Einrichtung seiner Arbeitsinstrumente, öffentlich bekannt gemacht am 24. März 1959, drei Monate nach dem Einzug Fidels in La Havana. Sie hat der revolutionären Macht die Gelegenheit gegeben, eine Bresche zu öffnen, die seitdem nie mehr geschlossen wurde. Es genügt daran zu erinnern, dass eine ihrer ersten Erwägungen wie ein wahrhaftes Manifest erklärt:

"Das Kino ist eine Kunst." Ihm diese Qualität zuzusprechen heisst natürlich nicht, seine Originalität oder sein Heldentum unter Beweis zu stellen, sondern vielmehr, diese Prämisse als Richtlinie für die Arbeit zu nehmen, sich daran zu halten und sie zu vertiefen. Dies erlaubte und erlaubt neue Horizonte zu öffnen; vermeidet, dass man falsche Wege einschlägt; macht, dass man die Vorläufer nicht so sehr in der Filmgeschichte als chronologischem Verhältnis der Filmproduktion, sondern in der Geschichte der Traditionen, der unmittelbaren Erfahrungen, der Erforschung und der Experimentierung der cubanischen Kultur und ihrer künstlerischen Darbietungen sucht.

Die Wirklichkeit eines neuen Kinos und die Tatsache, aus einem der Kreation günstigen Klima der Freiheit Vorteile zu ziehen, sind die natürlichen Resultanten der kämpferischen und kinematographischen Aktivität und Unruhe, die aus der Zeit des Untergrundes und des Guerillakrieges herrühren. Die Filmclubs sowie andere Vereinigungen künstlerischen Charakters waren die Diffusionszentren der revolutionären Ideale und des Widerstandes gegen den kulturellen und politischen Druck, der den nationalen Charakter unserer Kultur zu verarmen und zu deformieren versuchte. Dieser Druck wirkte sich nicht nur auf die traditionellen Strukturen und ihre Ausdrucksmittel aus, sondern auch und vor allem auf die in der Entwicklung befindlichen Elemente, die den latenten und potentiellen Reichtum des Landes ausmachen und der sich in den Zeiten des Kampfes bestätigte. Man muss unterstreichen, dass es die revolutionäre Aufopferung und Spannung, die Notwendigkeit des Widerstandes und das moralische Klima des Kampfes sind, die am Ursprung einer Wiederaufwertung des künstlerischen "Geschmacks" und Interesses stehen, ebenso wie an der Notwendikeit, den eigentlichen Prozess der Bildung unserer Nation und also unserer Kultur einer erneuten kritischen Untersuchung zu unterziehen. Die Bildung eines kritischen Willens kann nur zur Entdeckung einiger fundamentaler Entwicklungslinien und zur Bewusstwerdung der Grenzen und der Ignoranz, oder was auf das gleiche hinausläuft, zum Vorzimmer ihrer Entwurzelung führen. Aus diesem Grunde ist diese Periode, die die grössten Wechselfälle kannte, paradoxerweise und logischerweise die Trägerin des Humus, der unsere kulturelle Renaissance nährt und antreibt.

Es wäre ungerecht den Eindruck erwecken oder die Schlussfolgerung suggerieren zu wollen, das cubanische Kino sei in der Lage gewesen, Kunstwerke zu schaffen; die einer permanenten und weltumspannenden Anerkennung für würdig befunden werden könnten. Weit davon entfernt müssen wir mit aller Offenheit gestehen, dass wir erst gerade beginnen. Und wenn unsere Dokumentarfilme echte internationale Triumphe gefeiert haben und vor allem ein annehmbares mittleres Niveau erreicht haben zu ihrer Fähigkeit, als Protagonisten - und nicht nur als Erzähler, so muss unterstrichen werden - das Leben und die Kämpfe unseres Volkes zu begleiten, so bleibt der Weg lang, den wir in diesem und in anderen Gebieten noch zu durchlaufen haben.

Dokumentaristen wie Santiago Alvarez (NOW, ZYKLON, JAHR 7, CERRO PELA-DO und nun HANOI, DIENSTAG, 13. DEZEMBER) und Oscar Valdés (CAUTO COWBOYS und DER RING) oder Rogelio Paris (MÄNNER VON RENTE und WIR, DIE MUSIK), José Massip (GESCHICHTE EINES BALETTS, ALS MARTI NOCH JUNG WAR) und Fausto Canel (HEMINGWAY und CONGO 1960) oder Alberto Roldan (LENINHUGEL und SOZIALISTISCHER KARNEVAL), Manuel Ocatvio Gémez (GESCHICHTE EINER SCHLACHT), Guillén Landrian (IN EINEM ALTEN VIERTEL und OCIEL DEL TOA) und Pineda Barnet (DAVID, WIEDERAUFBAU DES LEBENS VON FRANK PAIS); und die Regisseure von Langfilmen wie Tomas Gutiérrez Alea (GESCHICHTE DER REVOLUTION, DIE ZWÖLF STÜHLE, CUMBITE, TOD EINES BÜROKRATEN und MEMOIREN DER UNTERENTWICKLUNG), Julio Garciá Espinosa (DER JUNGE REBELL, JUAN QUINQUINS ABENTEUER), Jorge Fraga (NEUJAHR) oder Humberto Solás (MANUELA) haben sich bereits ausgezeichnet.

Ihr Werk, das zu den Ursprüngen findet nicht als Quelle des intellektuellen Komforts, wohl aber um diese zu bereichern, ist im künstlerischen Bereich ohne Zweifel das vollständigste Zeugnis, das die Revolution besitzt. Aber diese Schöpfer, diese Filme und das ganze neue Kino in seiner Gesamtheit wird innerlich die Ausdrucksmittel zu "revolutionieren" haben und auf diese Weise sicherlich zu einer wahrhaften Reife gelangen. Was bis jetzt gemacht wurde: das Bild belichten und gut belichten, das Bild der ersten Jahre unseres Volkes in seiner Revolution, unseres die erworbene Freiheit verteidigenden Volkes, ihm kräftige Unterlagen zu geben, ist bereits sehr viel. Und dieses Erneuerungsbestreben ist nicht zu verachten, noch sind seine Ausgangspunkte unbedeutend. Diese "revolutionierende" Bemühung impliziert nicht immer ein neues Kino oder die Entdeckung definitiver Ausdrucksformen, die so oft von der Technik abhängen, verlangt dagegen die Entdeckung in unserer Wirklichkeit und in unserem unmittelbarsten Bild, das, was sie als Keim in sich trägt und das, was sie als latent versteckt. Die Wirklichkeit innerhalb der Realität entdecken: dies ist unsere grosse Aufgabe. Und aus diesem Grunde legen wir solch grossen Wert nicht etwa auf die Tatsache, zu entdecken oder zu erzählen "was passiert ist", sondern vielmehr darauf, eine kontinuierliche Linie zu finden längs eines Prozesses der Brüche und Sprünge nach vorne, der tatsächlich die Geschichte unserer Kultur ausmacht, das heisst unserer Nation, das heisst unserer Befreiungsrevolution, das heisst ihrer Ziele und ihrer Kennzeichen in ihrer ganzen Komplexität und ihrem ganzen Wagemut.

Eine neue Kunst, die als solche nur einige Lebensjahre zählt, neue Schöpfer, die ihr Werk beginnen und fortsetzen in einer aussergewöhnlichen Zeit und die unser Kino schmieden, indem sie sich selber weiterentwickeln: cubanisches Kino, das sich innerhalb der Begrenzungen der Unerfahrenheit, der Frische der Entdeckungen und der ungewöhnlichen Gelegenheit entwickelt, eine Revolution zu leben, unsere Revolution. Die Revolution beeinflusst die kinematographische Kultur auf verschiedene Weise, in einem Rahmen, der sich nicht auf die Schöpfer beschränkt. Millionen Erwachsene haben die Filmkunst entdeckt, das Recht und die Möglichkeit, die bedeutendsten Werke aller Zeiten und aller Länder sowie die besten zeitgenössischen Produktionen zu sehen und zu schätzen. Das Aufkommen dieses neuen Publikums darf nicht nur in Millionen gemessen werden. Auf dem Land wie in der Stadt entspricht die Verschiedenheit in der Programmierung genau einem sozialen Prozess, der die vollständige Alphabetisation unternommen und erreicht hat, der einen Grossteil der Bevölkerung in ein Studium einbegreift, mit dem Ziel eines Studienabschlusses und der dem technischen und wissenschaftlichen Ergänzungsunterricht für Arbeiter seine volle Unterstützung gewährt. Wenn wir zu dieser ungestümen Entwicklung der Volkserziehung die Anwesenheit von 200 000 jungen Stipendiaten und 35 000 Universitätsstudenten (Stipendiaten oder auch nicht) hinzuzählen, so können wir daraus schliessen, dass die revolutionäre Praxis dabei ist, die Bedingungen zu schaffen, die unausweichlich eine Serie qualitativer Sprünge provozieren wird bis dass das Publikum, das man in Millionen zählt, die Wiege der kritischen Forderung und der Garant der Verschiedenheit wird. Dieses historisch neue und qualitativ verschiedenartige Publikum erzeugt allein durch seine Existenz ein zur künstlerischen Schöpfung günstiges Klima ohne dass die Gesellschaft sich einschaltet oder sich einzuschalten hätte. Es kann agieren als Gesprächspartner, der lange fehlte und nicht als Druckmittel. Dieses Phänomen, von dem wir bisher in Begriffen der Qualität und der Quantität gesprochen haben, ist in seinem Wesen nichts anderes als die Widerspiegelung eines viel komplexeren Phänomens, das selbst als Druck wirkt: die Begegnung des Schöpfers, des Künstlers mit seiner Nation, mit seinen Zielen, dasjenige, sie zu überragen, sie zu übertreffen, einbegriffen. Eine Begegnung, die nur die revolutionären Situationen zu provozieren in der Lage sind, indem sie die Natur der Kunst, ihren schöpferischen Charakter, ihre Brüche mit denen eines Volkes in der Revolution vereint. Auf diese Weise schliesse ich einen Kreis, der aus dem Künstler keinen Diener des Publikums macht, auch keinen Antagonisten, wohl aber den Coprotagonisten einer im Entstehen begriffenen Geschichte, der niemanden zwingt noch empfiehlt, bereits betretene Wege oder Sackgassen zu begehen. Diese offenen Künstler und dieses komplexe und aktive, kritische Publikum einerseits und die ebenfalls schöpferischen Qualitäten andererseits sind revolutionäre Phänomene, die die Hoffnungen und den Zielpunkt unserer Revolution im Kino ausmachen.       Alfredo Guevara

Diesen Bericht verlas Alfredo Guevara auf dem 5. Filmfestival in Vina del Mar (Chile) vom 1. bis 8. März 1967. Guevara ist Direktor der Zeitschrift "Cine cubano", aus deren Nummer 42-43-44, 7. Jahrgang, wir diesen Artikel entnahmen. Die Übersetzung besorgte Helmut Mennicken.
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Die revolutionäre Illusion des Cinema Nôvo

Dieser Originalbeitrag versucht eine längst überfällige Standortbestimmung des Cinema Nôvo. Da man in Europa die lateinamerikanische Situation nur allzu schwer zu durchschauen vermag, ist man schnell bereit, das Cinema Nôvo als ein Revolutionskino misszuverstehen. Wie es sich mit dem tatsächlichen Engagement verhält, dem politisch vermeintlich avantgardistischen Gehalt und mit seiner Beziehung zur brasilianischen Wirklichkeit bestellt ist, versucht dieser Beitrag in polemischer Weise zu klären. Um die Autorin, die bereits mehrere Male mit der politischen Polizei Brasiliens in Konflikt geriet, vor jeglicher zusätzlicher Repression zu bewahren, gebot es sich, den Beitrag nicht mit ihrem eigentlichen Namen zu zeichnen. Der Beitrag wurde für das FILMSTUDIO übersetzt von Helmut Mennicken.

Die berühmte Formel Glauber Rochas: "Um Kino zu machen, genügt es, eine Idee im Kopf und eine Kamera in der Faust zu haben" (so Glauber Rocha 1960) wurde jüngst in einer Studentenzeitschrift der Universität von Sao Paulo (B. Wanderley in: "Aparte",. Nr. 1, März-April 1968, Sao Paulo) in Frage gestellt. Man schlug dort viel eher einen Cineasten in der Art der Vietcong vor: "Eine Ideologie im Kopf, ein Gewehr in der rechten und eine Kamera in der linken Faust" (1968). Dieser neue Vorschlag stellt den Abstand ins rechte Licht, der die Ideologie einiger der Regisseure des gegenwärtigen Cinema Nôvo von der eines Teils der Studentenbewegung trennt, die die revolutionäre Avantgarde Brasiliens ausmacht.

Zu Beginn sei festgestellt, dass ein ideologischer Ansatz sich anbietet, wenn man über das Cinema Nôvo diskutiert, waren es doch die Regisseure dieser Bewegung selber, die durch ihre Filmkritiken und ihre Filme den Gedanken von den notwendigen Beziehungen zwischen der Kunst und der Politik in die Diskussion warfen. Andererseits muss man ebenso feststellen, dass das Cinema Nôvo in seinen Anfängen stark von den Studenten geprägt wurde, waren die Regisseure doch selber Studenten, die der kulturellen und politischen Avantgarde angehörten, als sie zu drehen anfingen.

Die Universität und die Oberschule spielen im kulturellen Leben des Landes eine sehr wichtige Rolle. Oft stossen sich die Studenten in ihrem Rahmen auf dem Umweg über eine Kritik des veralterten Unterrichts zum erstenmal an den Strukturen der brasilianischen Gesellschaft und suchen sie neue Ausdrucksmittel, um ihre Unruhe zu formulieren.

Zu Beginn der sechziger Jahre hat sich die Unzufriedenheit mit der Universität schnell mit dem allgemeinen sozialen Unbehagen verbunden, das aber von der populistischen Regierung Joao Goularts (1961-64) geschickt in eine weitläufige Bewegung der Reformforderungen kanalisiert wurde.

Die Agitation um die Universitätsreform geht weit über den Rahmen des Infragestellens des Unterrichts hinaus. In mehreren Städten des Landes wurden Kulturzentren des Volkes geschaffen, wo die Studenten mit Hilfe von Theatervorstellungen, Alphabetisationsunterricht, der Edition von Propagandabroschüren und Filmen an der politischen Erziehung der Massen zu arbeiten begonnen haben. Diejenigen, die sich mit der Filmproduktion befassten, gehörten dem begrenzten Publikum der beiden Kinematheken des Landes an (Sao Paulo und Rio de Janeiro) und leiteten die Filmclubs in ihren Schulen. Sie waren auf dem laufenden über die Produktionen der französischen Neuen Welle, des neuen New Yorker Kinos, sie diskutierten über die Klassiker der Filmkunst. Für sie kam nur ein Film in Frage: der Autorenfilm.

Die neuen Regisseure berufen sich auf nur einen brasilianischen Regisseur - Nelson Pereira dos Santos, der mit RIO VIERZIG GRAD (1955) und mit RIO ZONE NORD (1957) Beispiele eines engagierten Autorenfilms geliefert hatte. Seine Chroniken vom Leben der armen Leute in den grossen Städten (die Tage der kleinen Negerkinder, Football als einzige Möglichkeit einer volkstümlichen Freude, die Liebesaffäre einer Hausangestellten mit einem Seemann, die Ausbeutung der Sambakomponisten in den favelas die am Rande der grossen brasilianischen Städte vom Lumpenproletariat errichteten Barackenstädte und Elendsviertel (A. d. Ü.) sind sämtlich ausserhalb der Studios in authentischen Dekors gedreht worden. Das realistische Bild, bis dahin unbekannt auf brasilianischen Leinwänden, galt als subversiv. RIO VIERZIG GRAD wurde denn auch von der Zensur verboten mit dem fadenscheinigen Argument, der Film übertreibe, in Rio seien es nie vierzig Grad Celsius.

1962 wurde es einigen der wichtigsten Leute des Cinema Nôvo ermöglicht (Carlos Diegues, Leon Hirzman, Joaquim Pedro de Andrade), dank der Unterstützung eines der Kulturzentren, und zwar desjenigen von Rio de Janeiro, ihre ersten Filme zu drehen oder zu vertreiben und dies mit dem Film FÜNF MAL FAVELA. Die Schilderung des elenden Lebens in der Barackenstadt, streng schematisiert in den Begriffen des Klassenkampfes, war ein geeignetes Mittel, dem Volk verständlich zu machen, dass es einer Ausbeutung des kapitalistischen Typus ausgesetzt ist und diesen Zustand zu denunzieren. Der in den pseudo-marxistischen Handbüchern entdeckte Begriff "reiner Widerspruch" wurde einer solchen Sicht der Wirklichkeit zugrunde gelegt. Und dieser Typ des Widerspruchs verlangte nichts Weiteres als eine einfache Lösung: den Beitritt in eine Gewerkschaft statt in eine Sambaschule zum Beispiel.

FÜNF MAL FAVELAS wurde zu der Zeit gedreht, als die brasilianische Gewerkschaftsbewegung ein historisch sehr wichtiges Stadium erreichte: die Gründung der CGT, Allgemeine Arbeitergewerkschaft. bekämpft von dem starken rechten Flügel des Kongresses und der gesamten grossbürgerlichen Presse. In diesen fünf Kurzfilmen allerdings trat kein beruflich deutlich lokalisierbarer Arbeiter auf. Die Galerie der volkstümlichen Typen der ersten Filme des Cinema Nôvo entstammen allesamt einzig dem Lumpenproletariat. Heutzutage fällt es nicht schwer, sich die Frage zu stellen und zu beantworten, welcher Art diese Propaganda war. Weshalb wohl wurde der tatsächliche und aktuelle Kampf der Arbeiterklasse in den Filmen eines politischen Erziehungszentrums nicht aufgezeigt? Paradoxerweise stellten sich die neuen Regisseure diese Frage nicht und schlimmer, auch nicht der nationale Studentenverband, der den Film finanzierte. Man sieht somit, dass die "Idee im Kopf" Glauber Rochas vielmehr einer Ideologie entstammt, und zwar der Ideologie der "progressistischen" Bourgeoisie, die sich soeben an der Macht halten kann, die Agitation sogar erlaubt und unterstützt _... aber nur solange wie sie nicht bedroht. Die intellektualisierten und politisierten Cineasten fielen leicht in diese Falle. Es ist nicht erforderlich, echte Chefs zu zeigen, wenn man nicht echte Arbeiter zeigt. Ohne den Versuch, echte Arbeiter kennenzulernen, erlaubte man sich, irgendein reformistisches Ideal auf die Leinwand zu projizieren.

Glauber Rocha hatte in Bahia bereits seinen ersten Langfilm BARRAVENTO (1961) gedreht. Selbst ausserhalb des studentischen Zirkels drückt sein Film dieselbe Ideologie aus. In seinem Fall allerdings brachte ihn die Erfahrung an Ort und Stelle dazu, die dichterische Ausschmückung des Elends abzulehnen. Das Originaldrehbuch des Films, von einem anderen Cineasten geschrieben, suggerierte "eine poetische Idealisierung vor allem der Landschaft und des Dramas der schwarzen Fischer" der Bahia-Küste. Sobald aber Glauber Rocha sich mit dem Film zu beschäftigen begann, "unvorhersehbar, in Berührung mit der zu filmenden Realität _... schrieb er ein neues Drehbuch, in dem die Folklore sich nicht mehr aus Exotik und Pittoreskem zusammensetzte, sondern dazu diente, den Mystizismus der Neger als Element des Rückstandes zu charakterisieren. Anstatt einer Idylle, eine Denunziation". (Valter da Silveira in: "Deus e o Diabo na Terra do Sol", S. 174, Editora Civilizaçao Brasileira, 1965, Rio de Janeiro) Trotz allem schaltet sich die populistische Ideologie ein. Die rationale Lösung geschieht nicht gegen den Willen der Bourgeoisie, die im Film übrigens nicht anwesend ist. Als die Autorität des geistlichen Führers gebrochen ist, wird die Lösung suggeriert durch den Aufbruch eines jungen Fischers in die grosse Stadt, eine Lösung, die aber individuell bleiben muss und keinen Beitrag zur Gemeinschaft leistet, die wie zu Beginn arm und den Händlern gegenüber impotent bleibt. Der Sturz des geistlichen Führers war nicht das Resultat irgendeiner Bewusstwerdung dieser Gemeinschaft, sondern das Werk eines ehemaligen Fischers, der aus der grossen Stadt heimkehrt und die "Lösung" aus der ökonomischen Krise mitbringt. Dieser Typ einer von aussen kommenden Figur kann heutzutage immer mehr mit den Cineasten selbst identifiziert werden, die als Kleinbürger sich in der Lage wähnen, die Probleme des Volkes lösen zu können, so wie es die populistische Regierung vorschlug.

Man nimmt die ideologische Einheit dieser Filme besser wahr, wenn man sie mit Ruy Guerras Film OS CAFAGESTES (1962) vergleicht. Der Cineast aus Mozambique, Absolvent des I.D.H.E.C. (Paris), hat den ersten grossen Publikumsfilm des Cinema Nôvo gedreht. Der Thesenfilm wird ersetzt durch die antibürgerliche Unverschämtheit, die darin besteht, die Niederungen Rio de Janeiros zu beschreiben. Vergewaltigung, Marihuana, die Abenteuer zweier heterogener Paare; zweier Landstreicher, einer Hure und eines Mädchens aus gutem Hause an einem der elegantesten Strände. Von den damaligen Kritikern wurde OS CAFAGESTES als eine Verirrung angesehen und man erwartete von seinem Regisseur nichts weniger als dass er sich wieder aufrichte: "Das Abwenden und Anschneiden einiger sozialer Probleme Brasiliens ist nicht Ruy Guerras Fehler, dem einzigen Ausländer, der ein dem Land Brasilien würdiges Kino machte. Ich weiss, dass er heute anders denkt und sein Bewusstsein formt, nachdem er Brasilien kennt und sich angepasst hat." (Glauber Rocha in: "Revisao Critica do Cinema Brasileiro", S. 110, Editora Civilizaçao Brasilelra, 1963, Rio de Janeiro) Und Ruy Guerra hat sich aufgerichtet/wie wir in der Folge sehen werden, indem er sich der Thematik des Cinema Nôvo unterordnete.

Was dazu gehört, um einen Film des Cinema Nôvo auch Cinema Nôvo werden zu lassen.

Wenn selbst es dem thematischen Auseinanderlaufen und der Abwesenheit der populistischen Ideologie dieses Films (von den damaligen Kritikern übrigens niemals anerkannt) nicht gelingen konnte, OS CAFAGESTES aus der Liste der Filme abzusondern, die Glauber Rocha zur Charakterisierung des Cinema Nôvo aufstellte, so dürfen wir uns fragen, welches Element die Spezifizität dieses Kinos zu beschreiben ermöglicht.

Das Cinema Nôvo definiert sich nicht mit einem Mal und seine stets sich verändernde Definition zeigt seinen polemischen und gelegentlichen Charakter an. Als Etikett könnte Cinema Nôvo ebenso gut mit der Neuen Welle wie mit dem Bossa Nova in Verbindung gebracht werden, zwei Bewegungen und Namen, die 1960 bereits sehr populär waren.

Von 1960 bis 1962 etwa verstand man unter Cinema Nôvo die gesamte unabhängige Produktion Brasiliens, die (meist frustrierten) Versuche des Autorenkinos, die Nationalisierung der brasilianischen Kunst vermittels seines Ausdrucks, die neuen intellektualisierten Regisseure, den Kampf gegen den Musicalfilm, komischen, karnavalesken Film (die chanchadas), das kommerzielle Kino, die Co-Produktionen, das akademische Ausfluchtskino. Es bedeutete aber auch den zweiten Begriff der Formel Glauber Rochas: "eine Kamera in der Faust", ein materiell armes Kino aus Sorge um die Unabhängigkeit und aus stilistischer Entscheidung (die ästhetische Aufwertung der technischen Ärmlichkeit), die nichtkontinuierliche Montage, den unvollständigen Film.

Die "Kamera in der Faust", in Augenhöhe, drängte sich auf als Lösung nach dem Zusammenbruch der grossen Produktionsgesellschaften Sao Paulos, die von den ausländischen Verleihmonopolen verdrängt wurden. Wenn einerseits die populistische Ideologie es den neuen Regisseuren nicht erlaubte, die wahren Kämpfe des Volkes in diesen Jahren zu erfassen und auszudrücken, so ist es ihnen andererseits nur deshalb gelungen zu überleben, weil sie ständig die durch den Imperialismus diktierte Gesetzgebung denunzierten und von den Filmkritikern unterstützt wurden, die von den ausländischen Verleihgesellschaften bezahlt worden sind.

Um das Kulturzentrum des Volkes von Rio de Janeiro versammeln sie sich und bilden sie einen harten Kern, dank dessen Hilfe sie ihre finanzielle Organisation beginnen können. Glauber Rocha zieht nach Rio und erstmals schliessen sich brasilianische Regisseure aus eigener Initiative von den Pröduktionsgesellschaften unabhängig zusammen. Sie schaffen ihren eigenen Verleih (DIFILM) und stellen ein sehr effektives Werbesystem auf die Beine. Die gesamte Presse beginnt für oder gegen das Cinema Nôvo zu reden, eine Menge neuer Kritiker redet dafür _...

Auf dem Land und in der Vergangenheit.

Ab 1963 verschiebt sich die thematische Axe von den Barackenstädten zum Land, von der Aktualität vor allem in die 30er Jahre bis hin ins 17. Jahrhundert.

Die Verschiebung auf das Land fällt überein mit der Periode (1963-64), in der die soziale Agitation um die Bodenreform wichtiger geworden ist. Dies wegen der jüngsten Gesetze über die Landarbeitergewerkschaft, die Mobilisierung von Hunderten Studenten zwecks politischer Arbeit im Innern, die Besetzung des Bodens, die ersten Landarbeiterstreiks, die Diskussion über die Enteignungsgesetze im Kongress. Diese überreiche Realität, die diese thematische Verschiebung bedingte, bleibt allerdings von der Leinwand entfernt. Die Regisseure zogen in diesem Falle das bereits literarisch strukturierte "Land" vor: die Drehbücher der Filme VIDAS SECAS (1963) von Nelson Pereira dos Santos, MENINO DE ENGENHO (1966) von Walter Lima Júnior und MATRAGA (1966) von Roberto Santos sind Adaptionen sehr bekannter Romane und Erzählungen. Der historische Roman OS SERTOES inspirierte Glauber Rocha im ersten Teil seines Films GOTT UND TEUFEL IM LAND DER SONNE (1965).

Was diese Periode des Cinema Nôvo betrifft, äusserte 1968 Carlos Diegues: "In der Anfangszeit hat man wahrhaft brasilianisches Kino machen wollen, haben wir uns in die brasilianische Kultur gestürzt, in alles, was sie betrifft, in die brasilianische Vergangenheit, die historische und die kulturelle, die Vergangenheit, die uns die vorherigen Generationen vorzuenthalten trachteten. Es war dies eine zwingende Notwendigkeit." ("Image et Son", S. 54, Nr. 218, Juni-Juli 1968, Paris) Man kann dieses Zurücktreten interpretieren als das Resultat einer Bewusstwerdung der Schwierigkeiten, die man beim Angehen der sehr komplexen zeitgenössischen Realität erkennt und als eine Absicht, die Kraft der Nationalität und die Tradition der Volkskämpfe vermittels der Vergangenheit zu bekräftigen. Diese Wahl lässt eine Beschäftigung politischer Natur erkennen wie auch in den ersten Filmen.

So versicherte Glauber Rocha zum Beispiel in einer öffentlichen Diskussion über GOTT UND TEUFEL IM LAND DER SONNE, dass sein Film ursprünglich einen dritten Teil enthalten habe ("Die dritte Rebellion ist das Meer, das man nicht im Film sieht, die aber stattfindet: es sind die Landarbeiter"), aber dass es ihm vom ästhetischen und dramatischen Standpunkt her nicht möglich gewesen sei, ihn beizufügen. Aber diese Art der Rationalisation - man rechtfertigte seinerzeit das Fehlen dieses dritten Teiles, das "den aktuellen Bewusstseinsstand der Landarbeiter" ausdrückt, mit seinem tautologischen Charakter - wird heftig von dem Filmkritiker Jean-Claude Bernardet denunziert: "Es kann keinen tautologischen Effekt irgendwelcher Art geben, da die Gegenwart sich nicht auf eine Deduktion der Vergangenheit reduzieren lässt. Es handelt sich hier um den Entschluss, die Gegenwart nicht zu behandeln, indem man die Lösung der gegenwärtigen Probleme den anderen überlässt, so wie es die Gemeinschaft der Fischer in BARRAVENTO macht." (Jean Claude Bernardet: "Brasil em Tempo de Cinema", S. 82 f., Editora Civilizaçao Brasileira, 1967, Rio de Janeiro)

Tatsächlich sieht man zwei politische Richtungen sich abzeichnen: die von GOTT UND TEUFEL IM LAND DER SONNE und von DIE GEWEHRE (1965) von Ruy Guerra einerseits, die von GANGA ZUMBA (1963) von Carlos Diegues andererseits.

Die Denunzierung des religiösen Mystizismus kommt erneut vor bei Glauber Rocha und erscheint ebenfalls in DIE GEWEHRE. In beiden Fällen ist es eine ausserhalb der Gemeinschaft stehende Person, die "die Lösung" der gemeinschaftlichen Probleme bringt. Gaucho, die Zentralfigur in DIE GEWEHRE, entwickelt sich wenig gegenüber Firmino aus BARRAVENTO. Wie jener lässt er die Bevölkerung in der gleichen Lage, in der er sie angetroffen hat, wird aber schliesslich von der Polizei wegen eines individuellen Revolteaktes gegen die Armee getötet. Die mörderische Aktion Antônio das Mortes' - die Ermordung des Gottes (des messianischen Leaders Sebastiao) und des Teufels (Corisco, der Leader der cangaceiros), aber auch des sie umgebenden Volkes - wird durch dessen letztes Ziel gerechtfertigt: das Auslösen des Bürgerkrieges im sertao zu beschleunigen. Man muss dazu anmerken, dass Antônio das Mortes von den Grossgrundbesitzern und der Kirche finanziert wurde. Nach Meinung des Kritikers Jean-Claude Bernardet, der als erster die unterschwellige populistische Ideologie im Cinema Nôvo entdeckte, erreicht diese Art der bereits typisch gewordenen Figur seine Reife in den obengenannten Filmen und zwingt die Regisseure ihre Intentifizierung mit ihnen zu erkennen und sich zu betrachten als Kleinbürger, die individuell die Rolle zu spielen suchen, die allein das gesamte Volk zu spielen vermag.

GANGA ZUMBA zeichnet sich durch ein ganz verschiedenes Vorgehen aus. Der Sklavenaufstand und die Errichtung des Königsreiches von Palmares - geschichtliche Gegebenheiten des 17. Jahrhunderts - war der erste brasilianische Versuch der Errichtung einer freien Gemeinschaft. Der Film, der diese historische Episode erzählt, leistete ebenfalls Pionierarbeit, zeigt er doch die Schulung eines wirklich volkstümlichen Landarbeiterführers, der aus deren Gruppe stammt und fähig ist, sie im Kampf um die Erhaltung ihrer Unabhängigkeit zu leiten. Dieser Film ist nur von wenigen begriffen worden und bleibt daher bis heute hin isoliert in der Filmographie des Cinema Nôvo. Sein einziger Verwandter hätte CABRA MARCADO PRA MORER (Bestimmt zu sterben) von Eduardo Coutinho werden können, ein Film über die Bewusstwerdung eines zeitgenössischen Landarbeiters und sein Eintreten in den Kampf gegen die Polizei der Grossgrundbesitzer. 1964 sind die Dreharbeiten zu diesem Film durch den Staatsstreich des Militärs abgebrochen worden.

Der jungen intellektualisierten Bourgeois Erstaunen angesichts des Staatsstreichs.

Zwei Jahre nach dem Sturz der populistischen Regierung Joao Goularts kommt der erste Film des Cinema Nôvo raus: DIE HERAUSFORDERUNG (O DESAFIO) von Paulo Cesar Sarraceni, ein Film über die Situation des Landes unter der Militärdiktatur. DIE HERAUSFORDERUNG evoziert die manchmal tragische Erfahrung der Intellektuellen, die zwischen 1960 und 1964 an der sozio-politischen Agitation teilgenommen haben und sich von einem Tag zum anderen ohne Projekte und ohne Perspektive wiederfinden. Marcelo, die Hauptperson, schreibt an einem Buch und sieht nun keinen Sinn mehr es fertigzustellen. Er hat ein Verhältnis mit der Frau eines Industriellen und es gelingt ihm nicht mehr es fortzusetzen. Man hat diesen Bruch zwischen Ada und Marcelo als Zeichen der Unvereinbarkeit - von nun an häufiger bestätigt - zwischen der intellektualisierten, "linken" Jugend und der Bourgeoisie interpretiert. Dazu ist anzumerken, dass man nun nicht mehr an ein abstraktes oder idealisiertes Volk denkt, sondern an sich selber, an den Intellektuellen, der sich von der Bourgeoisie verraten fühlt... Dieses paradoxe Gefühl versteht nur, wer die populistische Ideologie der Regisseure des Cinema Nôvo in ihren Anfängen im Auge behält.

In TERRA EM TRANSE (1967) von Glauber Rocha und in BRAVER SOLDAT (1968) von Gustavo Dahl erscheint wiederum der Outsider als Träger der Lösung. Im ersten Film ist es ein Journalist-Poet, der zwischen der Verbindung mit dem populistischen Leader und der grossen, aber schwachen nationalen Bourgeoisie, zwischen der Liebe zu einer revolutionären Kämpferin und der zu einer Tochter eines konservativen, millionenschweren Politikers, zwischen der täglichen politischen Praxis im Innern und den eleganten Orgien der Kapitalisten hin und her pendelt. Trotz seiner Zwiespältigkeit hält der Poet sich oder vielmehr der Regisseur ihn fähig, einen entscheidenden Einfluss im Kampf des Volkes auszuüben. Es ist wichtig anzumerken, dass Paulo Cesar Sarraceni, als er DIE HERAUSFORDERUNG drehte, ein gewisses, halb engagiertes Verhalten der Intellektuellen kritisierte, die der "feiernden Linken" angehörten und eine Stagnation in der Volksbewegung feststellte, eine Bemerkung, die für das Jahr 1964 gut zutrifft. Als aber Glauber Rocha TERRA EM TRANSE (1967) drehte, zog er das Chaos der Hellsichtigkeit vor und zeigte sich ebenso überrascht, verblüfft und ausweglos wie sein Held angesichts der Periode, die dem Staatsstreich vorausging und dem Ereignis selbst. Hier kann man bereits die Differenzqualität zwischen der Situation der politisch revolutionären Kräfte (erste fehlgeschlagene Versuche der Guerilla, manchmal gelungene Attentatsversuche auf Militärs, Aufstellen politischer Untergrundorganisationen, intensive Denunzierung der Wahlfarcen) und dem schmerzlichen Bild eines Intellektuellen feststellen, der eine Waffe nur dann in die Hand nimmt, wenn seine Niederlage bereits feststeht und dann von der Polizei getötet wird. Vor allem im Lichte von Gustavo Dahls BRAVER SOLDAT kann man sich über diese Differenzqualität noch besser klar werden. Ein junger Abgeordneter verlässt die sozialistische Partei und verbündet sich mit den alten konservativen Politikern, indem er seinen Schritt damit begründet, dass er ein von ihm vor dem Kongress eingebrachtes Gesetz angenommen zu sehen wünscht. Nachdem ihn seine neuen Verbündeten verraten haben, sucht er die Verbindung mit einer Gewerkschaft und beschwört die Arbeiter, einen Streik auszurufen. Als er nach Hause zurückkehrt, nimmt er einen Revolver und erschiesst sich vor einem Spiegel.

Vier Jahre nach dem Staatsstreich versucht das Cinema Nôvo noch immer, die Problematik der Jahre vor 1964 zu behandeln, zu unterstellen, dass ein junger Abgeordneter allein, ohne irgendeiner politischen ausserparlamentarischen Organisation anzugehören, einen echten Einfluss auf den Kampf des Volkes auszuüben fähig wäre. Die der Gewerkschaft angehörenden Arbeiter werden während seiner Rede als apathische, verdummte Masse vorgestellt, die einen jungen Bourgeois nötig habe, sie aufzuwecken. Der Film will suggerieren, dass die poetische Rede die Arbeiter dazu gebracht hat, den Streik auszurufen. Welches aber kann dann der Sinn seines Selbstmordes sein? Als der junge Abgeordnete sich von der offiziellen politischen Welt verlassen sieht, wählt er den Selbstmord statt den Kampf inmitten des Volkes.

Man kann sich gut die Reaktionen der revolutionären politischen Kämpfer angesichts einer solchen Auflösung vorstellen. Ein Kino, das sich als ein politisches versteht, kann nicht umhin, klare ideologische Positionen zu beziehen. (Carlos Diegues in "Image et Son", S. 54, Nr. 218, Juni-Juli 1968, Paris: "Ich glaube, dass das Cinema Nôvo im gegenwärtigen Zeitpunkt sich sehr verändert hat. Es ist von einer sehr naiven und sehr sozialen Phase in eine sehr politische Phase eingetreten: man will nun ins Herz der politischen Probleme Lateinamerikas vordringen.") Das gegenwärtige Cinema Nôvo kritisiert den Populismus und bleibt dabei stehen. Bevor er 1967 nach Brasilien zurückkehrte, erklärte Glauber Rocha, dass er die zwiespältigen Figuren nun hinter sich lassen wolle, indem er sich seinerseits in den politischen Kampf zu begeben gedenke und einen Film über solch eine Figur wie Che Guevara drehen möchte. Es zeigt sich aber, dass der Versuch des Che nichts anders ist als diejenigen der Guerrillos, die bereits ermordet oder gefoltert wurden und sich heute wie zur Zeit der Dreharbeiten an TERRA EM TRANSE in brasilianischen Gefängnissen befinden. Die Verherrlichung eines Guerrillero kann die unterschwellige ideologische Ambiguität kompensieren, kann das Gewissen eines Linksintellektuellen beruhigen, aber vermag nicht, das Bewusstsein derjenigen zu täuschen, die im revolutionären Kampf stehen.

Diese Ambiguität - eine Erklärung der Absichten statt der kämpferischen Aktion - findet man wieder in den Diskussionen um die Filmpolitik, die stattfanden, als die Regierung der Militärdiktatur die Einrichtung eines Nationalen Filminstituts beschloss. Die in der zur Militärmacht in Opposition stehenden Intellektuellen haben ihren naiven Erwartungen breiten Raum gelassen, indem sie vom Nationalen Filminstitut die Errichtung einer starken brasilianischen Filmindustrie erwarteten.

Trotz Unterstützung beim Aufbau dieser für die Filmpolitik verantwortlichen Einrichtung der Regierung, haben die beteiligten Regisseure jedoch nicht die Errichtung eines mächtigen und diskriminierenden Zensurapparates zu verhindern vermocht, der sich sogleich gegen sie gestellt hat.

Während einer öffentlichen Diskussion Ende 1967 über das Engagement des Cinema Nôvo und sein Verhältnis zum Kampf des Volkes hat ein junger Regisseur, ein Student von 20 Jahren, die Konzeption der brasilianischen Gesellschaft kritisiert, wie man sie in den fiktiven Filmen der Regisseure dieser Bewegung auffindet und lediglich die Bemühungen um eine selbst wissenschaftliche Analyse in neueren Dokumentarfilmen wie VIRAMUNDO (1965) von Geraldo Sarno gebilligt, sowie das Vorhaben der Erforschung der brasilianischen Wirklichkeit und die Erforschung der verschiedenen möglichen Filmsprachen im Hinblick auf ein jeweils spezialisiertes Publikum. Dieser Regisseur-Student schlug die Einrichtung eines parallelen Systems von 16-mm-, ja sogar von 8-mm-Filmen vor, die man in geheimen Vorführungen in Arbeiter- und Bauernzentren projizieren könne. Als Linksradikaler verschrien, wurde sein Vorschlag nicht ausdiskutiert.       Maria Carolina Rodrigues
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Filmliteratur

Die 1966 gegründete "National Society of Film Critics" ist eine lose Vereinigung von Rezensenten der meisten führenden amerikanischen Tageszeitungen und Wochenzeitschriften, die beabsichtigt, jährlich einige jahresbeste Filme und Stars zu wählen und ein Jahrbuch herauszugeben, das ihre Besprechungen der wichtigsten Filme des Jahres enthält.
Film 67/68, An Anthology by the National Society of Film Critics; edited by Richard Schickel and John Simon. 320 S.; Simon and Schuster, New York 1968, $ 6,95
ist ihr erstes Jahrbuch, ein aus verschiedenen Gründen recht interessantes Werk. Einmal sind in dem Buch fast alle bedeutenden Autoren vertreten, die in Amerika Filmbücher publizieren (etwa Richard Schickel, Andrew Sarris, Pauline Kael, Arthur Knight, Stanley Kauffmann, Hollis Alpert); das Buch wird so zu einer hervorragenden Einführung in das Selbstverständnis amerikanischer Filmpublizistik. Zum anderen enthält es einige Musterbeispiele intelligenter Tageskritik.

Eine ganz andere Art der Anthologie, die denselben Zeitraum erfasst, ist
Screen World, Vol. 19 1968, by John Willis, 256 Seiten; Crown Publishers, New York, $ 7,95.
Der Titel täuscht, denn enthalten sind die im Zeitraum vom 1. 1. bis 31. 12. 1967 in Amerika herausgebrachten Filme. Dies ist der neunzehnte Band einer jährlich erscheinenden Serie, die in jedem Band eine komplette Zusammenstellung aller in Amerika erschienenen Filme mit Produktionsdaten gibt. Etwa zwei Drittel der Filme sind zusätzlich mit Bildern vertreten, wobei das Auswahlprinzip ziemlich genau der Einschätzung des offiziellen Hollywood entspricht. Sehr brauchbar ist der Anhang mit einer Liste aller Gewinner wichtiger Oscars, mit biographischen Daten aller vertretenen Schauspieler und mit einer umfangreichen Liste aller im Berichtszeitraum gestorbenen Filmschaffenden von Jayne Mansfield über Ann Sheridan bis hin zum unbekanntesten Drehbuchautor (mit biographischen Daten und den wichtigsten Filmen). Ein ungemein reichhaltig bebildertes Jahrbuch für Interessenten mit der Mentalität von Archivaren, wertvoll als Handbuch, aber für den Normalgebrauch entschieden zu teuer. Auf seinem Gebiet ist das Buch sicherlich eines der besten und zuverlässigsten.

Eine weitere Anthologie, die allerdings schon in ihrem Titel mit einem unhaltbaren Anspruch auftritt, ist
Classics of the Film edited by Arthur Lennig. 238 S., 12 S. Bildanhang; Wisconsin Film Society Press, Madison 1965, $ 1,95.
Eine derart für Kritik anfällige Auswahl macht eine Beschäftigung mit dem Anspruch des Buchtitels überflüssig. Es enthält sehr unterschiedliche Analysen von 32 Titeln, darunter wirklich wesentliche Filme wie die wichtigsten von Stroheim, SUNRISE, "Caligari" oder LOS OLVIDADOS, aber auch ausgesprochene Ausrutscher wie GRAND HOTEL, MÄDCHEN IN UNIFORM oder FELIX KRULL. Die Autoren sind ausnahmslos Professoren an amerikanischen Universitäten, die ja in ihrer Mehrzahl Lehrstühle für Filmkunst bzw. Filmgeschichte eingerichtet haben. Dankbar sollte man dem Herausgeber dafür sein, dass er eine Abteilung "Horror Film" in die Anthologie aufgenommen hat (u. a. mit den Titeln PHANTOM OF THE OPERA, WHITE ZOMBIE, HORROR OF DRACULA) und einem Essay zu Bela Lugosi. Auch hier fehlt wiederum vieles.

Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht eine neue Geschichte des Films erscheint. 1964 erschien
Movies; by Richard Schickel. 208 S.; Basic Books, New York 1964, $ 4,95.
Der Untertitel - The History of an Art and Institution - stellt auch hier einen Anspruch, den das Buch nicht erfüllt, denn einmal spielt sich nach Schickel fast die gesamte Filmgeschichte in Amerika ab, vorausgesetzt man richtet sich nach dem Umfang, den die anderen Länder demgegenüber einnehmen, zum anderen ist Schickel mehr Journalist als Historiker oder gar Systematiker. Sein Buch ist eine gut geschriebene Folge von Sketches und Skizzen, wobei zu einigen Regisseuren Besseres und Richtigeres in einem Absatz gesagt wird, als anderswo in langen Elaboraten. Der Leser findet hier einen recht akzeptablen ersten Überblick.

Ähnliches gilt für
The Liveliest Art; by Arthur Knight, Mentor Book MO 824. $ 0,95.
Schon wegen seines erheblich niedrigeren Preises als Taschenbuch, aber auch, weil es mit etwas mehr Systematik aufgebaut ist, ist dieses Buch dem Schickels vorzuziehen. Im übrigen gilt weitgehend dasselbe wie für Schickel. Sehr gut ist die Bibliographie am Schluss: eine Auswahl von hundert Titeln zum Thema Film, im einzelnen sicherlich angreifbar wie jede Auswahl, im ganzen aber ein guter und repräsentativer Führer durch englischsprachige Filmliteratur.

Vom selben Autor erschien in Zusammenarbeit mit Hollis Alpert
The History of Sex in Cinema
zunächst als Artikelserie in der Zeitschrift Playboy. Diese Serie ist mittlerweile schon viel gelobt worden. Interessenten, die sie nicht in der Zeitschrift verfolgen konnten, wird es freuen zu hören, dass sie voraussichtlich im Herbst als Buch in der Playboy Press erscheinen wird. Allerdings wird dann zwangsläufig das ausgezeichnete Bildmaterial fehlen, das die Serie begleitete. Zwar sollte auch hier der Titel eher heissen "The History of Sex in the American Cinema and others", ein Einwand, der für fast alle aus Amerika stammende Filmliteratur gilt, aber diesmal sind die Autoren wirklich gut beraten; einmal lässt sich die Problematik und Hilflosigkeit der Zensur kaum besser zeigen als am Beispiel des Hays' Code und seiner Geschichte, die ja tatsächlich ein wesentliches Kapitel in der Geschichte des Sex im Film geschrieben hat, zum anderen scheinen in Amerika die Informationen über den europäischen Film eher sporadisch als systematisch zugänglich zu sein. Das fragwürdigste weil subjektivste Kapitel ist folglich auch das vorletzte, das ausschliesslich dem nichtamerikanischen Film der sechziger Jahre gewidmet ist und in dem etwa allen Ernstes behauptet wird, der junge deutsche Film sei von der Regierung massgeblich gefördert worden. Dass die Autoren noch die damals allgemeine Überschätzung der ersten Schamoni-Filme mitmachen, ist mit Rücksicht auf die Entstehungszeit des Artikels verständlich. Die Fülle von Einzelheiten und Informationen wird diese Serie jedoch sicher für lange Zeit zu einem Standardwerk machen, wobei zu wünschen ist, dass in der Buchausgabe ein Index zumindest der wichtigsten Filme angefügt wird.

Als Theodor Kotulla seine Anthologie "Der Film, Teil II" herausbrachte, unternahm er etwas für Deutschland Einzigartiges. Der mässige Erfolg verhinderte dann allerdings das Erscheinen des ersten Teils sowie etwaiger weiterer Anthologien. In Amerika hingegen erfreut sich diese Form der Filmliteratur ausserordentlicher Beliebtheit. Eine der besten ist die von Daniel Talbot herausgegebene
Film: An Anthology; edited by Daniel Talbot. 650 S. Simon and Schuster, New York 1959.
Diese Anthologie enthält einige grundlegende Aufsätze für den Cineasten wie "Film Technique" von Pudowkin oder "The Cinematographic Principle and the Ideogram" von Eisenstein oder Ben Hechts "Enter, the Movies". Sicher fehlen auch hier eine Menge wichtiger Aufsätze, aber es ist wohl zuviel verlangt, von einem Buch das repräsentative Werk, das wirklich alles Nennenswerte enthält, zu erwarten. Ausnahmsweise gilt hier tatsächlich, was der Umschlag behauptet: "Eine vielseitige Sammlung von herausragenden Schriften zu verschiedenen Aspekten des Films, die in den Jahren 1923 bis 1957 entstanden sind." Eine weitere Anthologie mit ähnlicher Zielsetzung ist
Introduction to the Art of the Movies; by Lewis Jacobs. 300 S. Noonday Press, New York 1960.
Neuerdings nur erhältlich als Paperback, Verlag Farrar, Strauss. Der grosse Vorzug dieser Anthologie gegenüber anderen liegt darin, dass sie fast ausnahmslos Artikel enthält, die weniger bekannt und oft in zweitrangigen Magazinen erschienen sind. Zwar scheinen sie allzu ausgesucht, um des Autors These zu belegen, Kino sei "the Director's Art", aber das entwertet keinesfalls die einzelnen Artikel wie etwa Ralph Blocks vehemente Verteidigung des Kino, entstanden 1927. Bereits damals schrieb Block: "Der Film ist voll von mittelmässigen Regisseuren. Aber im Vergleich hat der Film weit weniger schlechte Regisseure, als es schlechte Musiker, Maler und Literaten in der Welt gibt." Etwas bedauerlich ist es, dass der Herausgeber zwar aussergewöhnliche Mühe für die Auswahl der Autoren aufgewandt hat, aber in seiner Einleitung, einer gerafften Filmgeschichte, oft allzu offensichtlich überlieferte Urteile weitergibt, ein Verfahren, das nur teilweise mit der Unzulänglichkeit gerade früher Filme zu entschuldigen ist. Dennoch: ein ausgesprochen lohnendes Buch.

Nur begrenzt brauchbar ist dagegen
The Filmviewers Handbook; by Emile G. McAnany and Robert Williams; Paulist Press, New York 1965. $ 0,95.
Dieses Taschenbuch eines kirchlichen Verlages enthält sich zwar erfreulich des dogmatischen oder belehrenden Zeigefingers, ist aber doch in Stil und Aussage sehr bieder gehalten. Es wendet sich in erster Linie an Leiter von Filmclubs und versucht, Ratschläge zur Programmgestaltung und Präsentierung zu geben, liest sich aber immer wie ein "teachers manual". Zwar zeigt es recht brauchbare Ansätze zur Filmanalyse, verbindet aber allzu sehr die Auffassung vom Filmclub als pädagogischem Institut, in dem der Film als Zauberding erscheint, dem man zwar durch Analyse etwas näherkommen kann, das aber nie ganz begreifbar sein wird. Diese doch sehr überholte Auffassung mindert seinen Wert selbst für den Leiter eines Filmclubs oder dessen Mitglied. Brauchbar ist der Anhang mit Filmographien von 29 der wichtigsten Regisseure und einer Bibliographie, die wirklich eine zwar kurze, aber doch repräsentative Auswahl aus der englischsprachigen Filmliteratur mit kurzen Kritiken bietet, die in zwei bis drei Sätzen oft erstaunlich treffsicher sind.

Gemessen an der Zahl der Anthologien gibt es in Amerika erstaunlich wenige originale theoretische Schriften. Eine rühmliche Ausnahme ist
The Moving Image; by Robert Gessner. 444 S.; E. P. Dutton & Co., New York 1968, $ 8,95.
"Von allen Bestandteilen eines Films ist das Drehbuch der am wenigsten verstandene und geschätzte. Dennoch ist es der Schlüssel für die meisten Geheimnisse des Films." Dieser erste Satz in der Einleitung des Autors zeigt die Intention des Buches. Gessner ist ein entschiedener Gegner des "Film as Director's Art". Für ihn ist der Drehbuchautor genauso wichtig wie z. B. der Regisseur eines Films. Sein Buch ist eine hervorragende Arbeit über Probleme und Möglichkeiten des Drehbuchs. In zahllosen Beispielen und Skizzen analysiert er die Entwicklung eines Konflikts, die Umsetzung von Idee in Bild, den Aufbau einer Sequenz, die Notwendigkeit, Filmfiguren mit anderen als literarischen Methoden zu charakterisieren. Gessners Buch ist eines der wertvollsten, die je zum Thema Drehbuch geschrieben worden sind. Dafür nimmt man die allzu einseitige Gewichtsverteilung zugunsten der Rolle des Drehbuchs im Film gern in Kauf.

Parker Tylers "Three Faces of the Film", zuerst erschienen im Jahre 1960, machte sich schnell einen Namen als eines der aussergewöhnlichsten Bücher auf einem relativ kleinen Sektor. Nun ist es neu aufgelegt worden:
The three Faces of the Film; by Parker Tyler. 141 S.; A. S. Barnes & Co., Cran-bury, New Jersey 1967. $ 6,95.
In dieser neuen, überarbeiteten Ausgabe, eingeleitet von einem Zitat des allgegenwärtigen Marshall McLuhan, wurden einige neue Artikel hinzugefügt, unter anderem eine Analyse von John Casavetes' SHADOWS, ein Essay zum ersten New Yorker Film-Festival und vor allem eine recht aggressive Einführung. Nicht immer mit letzter Klarheit, aber mit ausserordentlich selbstbewusster Attitüde entwickelt Tyler seine Essays, die mit sehr gut ausgewählten Bildern illustriert sind. Leider ist der Preis für diesen schmalen Band sehr hoch.

People who make Movies; by Theodore Taylor. 158 S.; Doubleday, New York, 1967. $ 3,95,
ist der dankenswerte Versuch, Jugendlichen die Arbeiten und Personen zu erläutern, die für das Entstehen eines Hollywood-Films notwendig sind. Leider bleibt es bei dem Versuch, denn zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine recht grosse Lücke. Zwar ist das Buch Kindern gewidmet, aber Aufmachung und Klappentext zielen mehr auf Populärwissenschaft für Illustriertenleser; zwar ist das Schriftbild das eines Kinderbuches, aber der Stil des früheren Pressemanagers Taylor erweckt den unangenehmen Eindruck, als breche jeden Moment die offene Werbung für die Traumfabrik hervor, in der es zwar anstrengende, aber herrlich interessante Berufe gibt. Das ist zwar alles recht flüssig geschrieben und mit hübschen Anekdoten versetzt, aber führt nur dazu, dass der Leser, akzeptiert er das Geschriebene, zum perfekten Apologeten von Opas Kino wird.

Ein Buch, dem man dringend die Übersetzung wünscht ist
Interviews with Film Directors; edited by Andrew Sarris; 478 S.; Bobbs Merril, New York 1967; $ 10,00.
Sarris' Buch wäre eine Ergänzung zu Gregors "Wie sie filmen". Zwar sind die meisten bei Gregor vorkommenden Regisseure auch bei Sarris aufgeführt, aber mit Ausnahme von Bachmanns Interview mit John Huston handelt es sich um andere Gesprächspartner und andere Interviews. Ganze vierzig Regisseure sind in diesem Band meist mit Interviews, teils mit Selbstzeugnissen (Bergman) oder gegenseitigen Hommages (Losey - Nicolas Ray) vertreten. Dazu kommt eine Einführung über "Fall und Aufstieg des Regisseurs", die schon für sich allein eine Übertragung rechtfertigt. Einige Interviews werden allerdings schon bekannt sein, denn sie wurden in der Mehrzahl aus Zeitschriften wie den "Cahiers du Cinéma", "Movie" oder "Sight and Sound" entnommen. Bliebe noch zu erwähnen: zu jedem Regisseur gibt es ein ganzseitiges Foto, eine Filmographie, eine Einführung von Sarris, die zuweilen die Qualität des Interviews übertrifft (Buñuel). Die Interviews sind immer dann am besten, wenn der Interviewer sich bewusst auf Fragen nach technischen Konzepten und Details beschränkt.

Ein Buch, das wegen seiner Erfolgsträchtigkeit Chancen hat, auch bei uns zu erscheinen, ist
I Am Curious (yellow); the complete scenario by Vilgot Sjöman. 254 S.; Grove Press, New York 1968; $ 1,75.
Ein Taschenbuch, dessen Konzeption den in der Reihe "Cinemathek" erschienenen Drehbüchern ähnelt. Was hier fasziniert, ist die Fülle von Szenenfotos (266), die den Text begleiten. Zwar liegt die Spekulation auf der Hand, wenn man zum Beispiel sieht, dass es sich bei Sequenzen, die durch eine Bildfolge vertreten sind, ausschliesslich um diejenigen handelt, die geschnitten wurden (die Entwicklung einer Einstellung mit Akt ist z. B. mit neun Bildern vertreten). Immerhin bekommt man so einen recht guten Eindruck des gesamten Films, den hierzulande kaum jemand ohne drastische Schnitte gesehen hat. Im Anhang finden sich Protokollausschnitte des Prozesses, der in den USA um diesen Film geführt wurde und zur vollständigen Sperre des Films führte. Filmkritiker wie Stanley Kauffmann, John Simon und Hollis Alpert sind mit ihren Ansichten über den Film vertreten, und wie nebenbei entsteht das Bild eines repressiven Zensurdenkens.

Ein Filmprotokoll ganz anderer Art ist
The Beatles in Yellow Submarine; by Max Wilk. The New English Library, London 1968. 7/6 s.
Mit diesem Taschenbuch fand man die ideale Form, diesen Zeichentrickfilm in Buchform zu fassen. Im Stil einem grosszügig illustrierten Märchenbuch ähnlich, fasst es die Handlung des Films zusammen, bezieht immer wieder Originalzitate als Luftblasen in die Bilder Edelmanns ein. Der Text ist vollständig in das Layout integriert, wirkt zeitweise als Bestandteil der Illustrationen. Daraus ist nun nicht etwa ein Kinderbuch geworden (das vielleicht auch), sondern ein grossartiger Spass. Ein Glanzstück für sich ist die Vergackeierung schlauer Abhandlungen im "Anhang": "The Yellow Submarine and the Tradition of Western Literature" From the original "Unterzuchungen zu gelber Dreck" by Professor Scheiss-Horst. Univ. of Heidelberg. Translated by T. Quidd (D. Litt., Oxford 00) (Reprinted by permission of The International Journal of Comperative Angst, April 1968) _...

Nicht weniger komisch ist
Groucho and me; an Autobiography by (of all people) Groucho Marx; 256 S.; Dell Publishers, New York 1960; $ 0,50.
Man denkt bei der Lektüre dieses Buchs mit leiser Trauer daran, welches Werk Chaplins Autobiographie hätte werden können, hätte er Grouchos Fähigkeit besessen, den Witz seiner Filme auch in seinem Buch deutlich zu machen. Diese Autobiographie ist selbst für den ein Vergnügen, der noch nie von Marx (Groucho) gehört hat, um so mehr für alle, die die Filme der Marx Brothers zumindest zum Teil gesehen haben. Man erwarte keine Details oder Daten, über seine Frau zum Beispiel sagt er nicht mehr, als dass er mit ihr verheiratet ist, und alle, die ihm je über den Weg gelaufen sind ohne höchstes Lob zu verdienen, heissen schlicht Delaney. Dennoch hat man am Schluss ein weit zuverlässigeres Bild von den Marx Brothers, als man es mit einer noch so detaillierten Aufzählung von Daten und Erfolgen hätte.

Traditioneller, aber wegen seiner Hauptfigur interessant, ist
Bogie; by Joe Hyams. 174 S.; Signet Books, New York 1966. $ 0,75.
Autorisiert und eingeführt von Bogarts letzter Frau, Lauren Bacall, gelingt es diesem Buch nicht immer, den Eindruck verständlicher Schönfärberei auszuschliessen. Zwar ist es recht flüssig geschrieben, aber es fehlt der Biographie doch alles, was sie zu einer Besonderheit machen würde. Auch der Bildteil ist zwar relativ umfangreich, bleibt jedoch im Bereich besseren Durchschnitts. Man hätte Bogart eine bessere Biographie gewünscht. Hier wird nur einmal wieder belegt, dass Personen, die jemandem zu nahe stehen, im allgemeinen nicht imstande sind, eine gute Biographie zu schreiben, auch wenn ihnen mehr Details und Anekdoten bekannt sind - vielleicht deshalb.

Eine Reihe von Monographien erschien im Verlag Secker und Warburg, London. Der mir vorliegende Band
Losey on Losey; edited by Tom Milne. 192 S. 15 s. 1967,
erreichte mich leider sehr spät, so dass ich mich hier darauf beschränken muss, aus Milnes Einleitung zu zitieren: "Der Text dieses Buchs stammt aus einer Serie von mitgeschnittenen Interviews, die in einer konzentrierten Zeit von zehn Tagen aufgenommen wurden. Die hierin ausgedrückten Ansichten sind manchmal definitiv, öfter aber spontan und zwangsläufig aus dem Moment geboren _... Da die Interviews sehr bald nach der Londoner Premiere von ACCIDENT aufgenommen wurden, nimmt dieser Film natürlich einen grossen Raum ein." Das Bildmaterial des Buches ist hervorragend, die angehängte Filmographie ist denkbar umfangreich und sorgfältig gestaltet.
In ähnlicher Aufmachung erschienen u.a.: Godard, Visconti, Antonioni, Hawks, The Western, The New Wave, Film Acting, Polish Cinema.

Eine andere, hervorragend edierte Reihe erschien in der "Citadel Press". Zwei Titel seien hier herausgegriffen:
The Films of Marilyn Monroe; Edited by Michael Conway and Mark Ricci. 160 S. The Citadel Press, New York 1965. $ 7,50.
The Films of Laurel and Hardy; by William K. Everson, 223 S. The Citadel Press, New York 1967. $ 7,95.

Wie der Titel schon andeutet, enthält jeder dieser Bände eine ausführliche und zuverlässige vollständige Filmographie. Zu jedem dieser Filme findet man bis zu fünf Aufnahmen, die zum Teil Raritätenwert besitzen. So ist es z. B. den Herausgebern des Monroe-Bandes gelungen, sogar von Marilyns erstem Film, SCUDDA HOO! SCUDDA HAY!, in dem sie schliesslich gar nicht mehr erschien, ein Bild ausfindig zu machen. Die Inhaltsangaben sind in dem Monroe-Band zum Teil fast zu lang, in "Laurel and Hardy" kurz, aber genau. Eversons besonderes Verdienst: überall, wo es nötig war, bringt er Verweise auf das Wiederaufgreifen von Gags und gibt so dem deutschen Leser eine wertvolle Orientierung durch den Wust von zerschnittenen Fassungen, die hier scheinbar unkontrolliert kursieren. Beide Bände haben hervorragende Einleitungen, die nicht nur einen umfassenden biographischen Überblick geben, sondern auch den Hintergrund umreissen, vor dem z.B. der Monroe-Mythos entstehen konnte.
In gleicher Aufmachung erschienen ferner: The Films of _... Greta Garbo, Joan Crawford, Marlene Dietrich, Spencer Tracy, W. C. Fields, Charles Chaplin, Humphrey Bogart.
Ein weiterer Band zu Laurel and Hardy erschien in der von Ian Cameron herausgegebenen Reihe "Movie Paperbacks",

Laurel & Hardy; by Charles Barr. 144 S. Studio Vista Ltd., London 1967. 10 s 6 d.
Gegenüber dem vorher erwähnten Band hat dieses Paperback zwei Vorteile. Barr bringt zwar nicht zu jedem Film Bilder, dafür aber manchmal ganze Sequenzen, an denen sich die Entwicklung eines Gags gut nachvollziehen lässt. Der zweite Vorteil liegt darin, dass der Autor seine Kapitel nicht nach chronologischen Gesichtspunkten einteilt, sondern die Filme nach ihrer inhaltlichen Zusammengehörigkeit ordnet. Das klingt hier indessen systematischer als es ist, denn die Konzeption mündet nicht selten in ein unverbindliches Geplauder. Sehr gut allerdings sind die Kapitel "Stan" und "Ollie", in denen die Eigenarten und Unterschiede der beiden so exakt wie sonst nirgends herausgearbeitet werden. Bilder und Daten sind sehr zuverlässig, die Filmographie scheint ebenfalls vollständig, wenn auch die Reihenfolge innerhalb einzelner Jahre von Eversons Band abweicht. Auf Seite 95 werden allerdings Aufnahmen aus SWISS MISS einmal dem Musical BOHEMIAN GIRL und einmal WAY OUT WEST zugeschrieben.
Weitere Bände zum selben Preis und in gleicher Aufmachung: "Luis Buñuel", "The Heavies", "The Films of Jean-Luc Godard", "Stroheim", "John Ford", "Franju".

Die Person der nächsten Biographie ist hierzulande fast völlig unbekannt.

The Art of W. C. Fields; by William K. Everson; 232 S. Bobbs Merril, New York 1967. $ 7,50.

Es ist fast paradox, dass einer der bedeutendsten Komiker, die je in Amerika Filme machten, hierzulande selbst in dem grossen Boom der Stummfilmkomödie nahezu unbekannt blieb. Das ist nur zum Teil mit seiner Sprache zu erklären, die allerdings in einer Synchronisation viel von ihrem Witz verlieren muss; nichtsdestoweniger hat Fields bereits in der Stummfilmzeit erheblichen Erfolg gehabt, und auch die Inhaltsangaben seiner Tonfilme lassen ihren Verleih in Deutschland in untertitelter Fassung ohne weiteres denkbar erscheinen. Wenn es einer Biographie gelingt, dem Leser, der keinen Film des Darstellers kennt, seine Komik so deutlich zu machen, dass seine Figur so vertraut wie z.B. die von Harold Lloyd erscheint und ein danach gesehener Film so wirkt, als hätte man ihn schon gesehen, ist wohl das Beste darüber gesagt, was sich denken lässt. Ein ausserordentliches und hervorragend illustriertes Buch, das zwar keinen Film ersetzt, aber auch keinen besseren Ersatz für den Film denken lässt. Da Fields hierzulande unbekannt ist, wird es wohl auch das Buch bleiben. Jeder aber, der sich irgend für den komischen Film interessiert, sollte es sich besorgen.       Wolfram Tichy
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