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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Sonderheft: Meisterwerke des italienischen Stummfilms 1959

Inhalt
Geleitwort
Das Spiel und das Leben
Die »Avantgarde« im italienischen Stummfilm
Der historische Monumentalfilm
Die ersten Schritte des italienischen Tonfilms
Filmbesprechungen
Il primo Giro d' Italia (Der erste »Giro d' Italia«)
Cretinetti e le donne (Cretinetti und die Frauen)
Le due gemelle (Die beiden Zwillingsschwestern)
Amor pedestre (Liebesspiel der Füsse)
Caio Giulio Cesare (Caius Julius Caesar)
Ma l' amor mio non muore (Aber meine Liebe stirbt nicht)
Cenere (»Asche«)
Assunta Spina
I topi grigi (Die grauen Mäuse): La tortura (Die Folter)
Rotaie (Schienen)
1860


Geleitwort

Wohlbekannt und viel diskutiert ist der Beitrag, den Italien der Filmkunst in der Nachkriegszeit gegeben hat. Es wurde damit ein Filmstil geschaffen, der ebenso neu wie revolutionär war; fast vergessen und vielen unbekannt ist dagegen die Rolle, ohne Zweifel nicht weniger bedeutend, die Italien vor mehr als fünfzig Jahren gespielt hat, als der Film noch in den Kinderschuhen steckte und diese Kunst sich erst entwickeln musste.

Sinn dieser Retrospektive ist es, in diese Zeit zurückzublicken und nicht nur fachkundigen Kreisen, sondern einem breiten Publikum - wie wir wünschen - einige Beispiele vorzustellen oder wieder vorzustellen, die die verschiedenen charakteristischen Richtungen des damaligen italienischen Films verdeutlichen. Deshalb werden vier Tage lang Stummfilme von den Anfängen bis zum Starkult, vom historischen bis zum frühen realistischen Film vorgeführt, während ein Tag einem Werk von Blasetti - vielleicht der erste bedeutende Tonfilm, der die Stummfilmepoche endgültig beendet - gewidmet ist.

Diese verschiedenen Richtungen genauer zu untersuchen und darzustellen, wird Aufgabe der Referenten sein, die an den einzelnen Tagen sprechen, bevor der Film das Wort hat, auch wenn dieser stumm ist. Aber hier soll nicht versäumt werden, allen zu danken, die dazu beigetragen haben, diese Veranstaltung zu verwirklichen, dem Vorstand des Film-Studios an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, an erster Stelle den Herren Bernauer und Birett, die dem Vorhaben gerne viel Zeit und Mühe gewidmet haben und gleichzeitig den Herren Alberti und Comencini von der CINETECA ITALIANA in Mailand. Sie haben die Filme und das Material für die Ausstellung, die diese Rückschau ergänzt, zur Verfügung gestellt und an der Ausarbeitung des Programms mitgewirkt. Ausserdem ist in diesen Dank auch Herr Dr. Sani von der Zeitschrift Epoca, der einer der Initiatoren dieser Filmwoche ist, einzubeziehen.

Der italienische Generalkonsul Dr. Guido Stampa, der in diesen Tagen sein Amt antritt, hat die Initiative der Società Dante Alighieri und des Film-Studios sehr begrüsst und gern die Schirmherrschaft dieser Veranstaltung übernommen. Damit verbindet sich der Wunsch, dass sich mit dieser italienischen Filmwoche eine intensivere und häufigere kulturelle Zusammenarbeit zwischen italienischen und deutschen Institutionen hier in Frankfurt anbahnen möge.

Dr. Gianni Selvani
Kultur- und Pressereferent am
italienischen Generalkonsulat

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Das Spiel und das Leben Der Weg des italienischen Films

Hatten sich einst immerhin nur sieben Städte gestritten, dass in ihnen die Wiege Homers stand, des Vaters der Dichtung, so gibt es kaum ein auch nur halbwegs zivilisiertes Land und nicht einmal eine wesentlichere Hauptstadt zwischen Hollywood und Moskau, die nicht den Vater des Films hervorgebracht haben und diese Erfindung innerhalb ihrer Mauern verlegen will. Wie diese technische Möglichkeit gleichsam in der Luft lag, wie sie wahrscheinlich zwangsläufig gewonnen werden musste, zeigt sich darin, dass so gut wie unabhängig voneinander gleich mehrere Dutzend Bastler in aller Welt die bewegte Photographie konstruierten und dass das Prioritätsrecht daran weitgehend vom Zufall abhing und bis heute umstritten blieb. Der italienische Erfinder des Films heisst Filoteo Alberini, war technischer Angestellter am Militärgeographischen Institut in Rom, und seine Versuche reichten bis in das Jahr 1884 zurück. Nach zehnjährigem Experimentieren eröffnete er 1895 den »Kinetografo Alberini«, der am 11. November jenes Jahres bei der Gewerbepolizei registriert wurde - volle sieben Wochen vor der Eröffnung des »Cinématographe Lumière« auf dem Boulevard des Capucines in Paris.

Die Anfänge des italienischen Films liegen jedoch wesentlich später. Die Filmgeschichte keines Landes der Welt ist bis heute so gründlich erforscht worden wie die Italiens, und gerade für die frühe Stummfilmzeit hat Maria Adriana Prolo, Professorin für Filmgeschichte an der Universität von Turin, einen vollständigen Katalog sämtlicher je gedrehter italienischer Filme bis 1915 erarbeitet. Als erste eigene Produktion im Lande hat sie den 98 Meter langen Streifen »Die Manöver der Alpini am Colle della Ranzola« und den sogar mit dem Drehtag 10. Juli 1904 bestimmbaren Dokumentarfilm »Das 1. Automobil-Rennen Susa-Moncenisio« nachweisen können. Im folgenden Jahr 1905 wurde der erste Spielfilm geschaffen: »Die Einnahme von Rom«, der mit 230 Metern Länge den historischen Durchbruch bei der Porta Pia behandelte und für den schon der Hauptdarsteller Carlo Rosaspina benannt wird. Regie führte Filoteo Alberini, jener italienische Filmerfinder, der zusammen mit Santoni im folgenden Jahr 1906 die Cines gründete, die erste grosse Produktionsgesellschaft Italiens, die nach wechselvollen Schicksalen, bleibenden Verdiensten und einer mehr als 50jährigen Geschichte gegen Ende 1957 endgültig zusammenbrach.

»Der verliebte Pierrot«, 1906 von Alberini gedreht, war der erste »Gross«-Film Italiens, und für ihn hatte bereits ein Maestro Romolo Bacchini eine Begleitmusik komponiert, die vom Phonographen abgespielt wurde. Daneben schuf Alberini in diesem Jahr noch zwei Feerien, von denen »Reise auf einen Stern« getreulich nach den französischen Vorbildern von Méliès gearbeitet war. In den Jahren bis 1910 bilden sich allmählich die verschiedenen Stilformen des italienischen Films heraus: vor allem ins Ausland dringen sehr rasch die grossen historischen Dramen (»Catilina«, »Macbeth«, »Anita Garibaldi«, »Beatrice Cenci«, »Galileo Galilei«, »Jone und die letzten Tage von Pompeji«), mehr für den einheimischen Gebrauch sind die zahlreichen Komödien und Schwanke geschaffen. Italien ist aber auch das erste Land der Welt, das bereits damals eine reiche und anspruchsvolle Kulturfilm-Produktion entwickelt; mit einem alljährlichen Wettbewerb des wissenschaftlichen Films, der in Turin abgehalten wird, ruft es 1911 das erste Filmfestival ins Leben. Selbst einem später so besonders erfolgreichen Genre, der Dialektkomödie aus dem Alltag, begegnet man in den Anfängen schon 1907, als die Firma Rialto in Venedig den mit venezianischen Dialektzwischentiteln ausgestatteten Streifen »Le nostre gorbe ch' a fan schissa« herausbringt.

In der Zeitung »La Stampa« zu Turin erschien am 18.Mai 1907 ein grösserer Artikel »Die Philosophie des Films«, den ein kaum 26jähriger Literat verfasst hatte: Giovanni Papini, der als überhaupt erster Schriftsteller von Rang die Bedeutung des Films erkannte und ihm bereits damals eine Theorie schuf und eine ethische Zielsetzung gab, die bis heute gültig blieben und eigentlich auch noch niemals seither eine klarere Ausprägung fanden. Papini analysierte darin die vielfältigen Möglichkeiten, die dem Film gegeben sind, vom Theaterhaften bis zur Phantasiewelt, von der die menschlichen Schwächen geisselnden Sittenkomödie bis zu dem die ganze Weite der Welt öffnenden Dokumentarbericht, und er stellte dann als höchste Aufgabe, das »Leben der Menschen zu spiegeln, ohne die Wirklichkeit zu verfälschen«. Nur wenig später äusserte dann auch Gabriele D' Annunzio die Meinung, dass der Film sich dem Leben zuwenden solle, dann könne »die Erziehung der Volksseele mit den Mythen des Zelluloids« erfolgen.

Schon in aller Frühe prägten sich die fortan gleichgebliebenen Stilformen der italienischen Produktion. Sie könnten sich - mag es auch etwas schlagwortartig sein - auf die Formeln von Spiel und Leben bringen lassen: das Spiel kommt vom Theater her, vornehmlich den Traditionen der grossen Oper, aber auch denen der Commedia und des derberen Schwanks, das Leben aber setzt sich in der Dokumentarfilmproduktion durch und führt von ihr schon in den ersten Anfängen zu einem krass realistischen Spielfilm. Zwischen diesen beiden Polen, mal näher zum einen und dann wieder zum anderen, aber doch immer von beiden angezogen, stand seither die italienische Produktion. Ihre Höhepunkte freilich erreichte sie dann, wenn diese beiden Sphären sich berührten, überschnitten, durchdrangen oder gar ganz miteinander verschmolzen. Im letzten Jahrfünft, bei der Begegnung von Commedia dell' arte und Leben in Jean Renoirs »Die goldene Karosse«, der von Oper und Leben in Luchino Viscontis »Senso« und der von Zirkus und Leben in Federico Fellinis »La strada«, war man in fast schon vollkommener Form zu diesem Ziele gelangt.

In jenen Jahren vor dem ersten Weltkrieg, als um 1912/13 die erste Blütezeit des italienischen Filmschaffens anhob, kam es auch zu den ersten Fühlungnahmen zwischen den beiden Bereichen. Da im Exportgeschäft sich gegenüber der dominierenden dänischen, französischen und amerikanischen Konkurrenz in erster Linie nur die pompös-pathetischen Historienstreifen durchsetzen konnten, wurde dies Genre vornehmlich gepflegt. Enrico Guazzoni entdeckte den Geschäftswert von römischen Gelagen, gekreuzigten nackten Sklavinnen und Christenschenkel knabbernden Löwen - »Quo vadis?« wurde sehr getreulich nach dem Roman des Nobelpreisträgers Sienkiewicz abgedreht, mit einem für damalige Verhältnisse finanziellen Aufwand sondergleichen, der mehr als eine Million Mark gekostet haben soll. Der Ingenieur Giovanni Pastrone, der sich das Filmpseudonym Piero Fosco wählte, übertrumpfte das sofort anschliessend mit »Cabiria«. Er hatte dazu den (seither auch noch öfters nachgeahmten) Einfall, sich den Namen des stets in Geldnöten befindlichen Dichters D' Annunzio zu kaufen, als angeblichen »künstlerischen Oberleiter« an die Spitze des Vorspanns zu setzen, obwohl D' Annunzio niemals auch nur einen Meter des Films zu sehen bekam und ausser der Erfindung des Titels und ein paar stilistischen Korrekturen an den bereits fertiggeschriebenen Zwischentiteln nichts dazu getan hat, und letztlich damit ein ganzes Kapitel Filmgeschichte zu eröffnen, dessen letzter Nachfahr Cecil B. De Mille bis zu seinem Tode war. Pastrone-Fosco erfand bei der Dreharbeit die Panoramaaufnahmen: Er montierte die Kamera auf einen fahrbaren Wagen - und erreichte damit Wirkungen, die den Film endlich von der Starrheit des photographierten Theaters lösten.

Gleichzeitig aber entstand in Neapel schon um 1913 eine filmische Ausdrucksform, die man heute als Neorealismus bezeichnen würde. Der Verfasser naturalistischer sizilianischer Volksstücke, Nino Martoglio, begann sich für den Film zu interessieren, verpflichtete sich die besten Schauspieler Neapels und begann, mit ihnen wirklich auf den Gassen der Elendsviertel und mit echten Bettlern und Dirnen als Statisten das Drama »Verloren im Dunkel« von Roberto Bracco zu verfilmen. Ein Jahr später folgte »Assunta Spina«, nach einem Roman von Salvatore Di Giacomo und mit der Hauptdarstellerin Francesca Bertini. Da die Handlung eine der grausamsten alten Volkssitten der Stadt aufgriff, das angebliche Recht des Mannes, einer ehebrecherischen Frau das Gesicht mit dem Rasiermesser zu verstümmeln, entbrannten hierüber mancherlei Diskussionen, wie weit der Realismus im Film vorangetrieben werden könne und dürfe. Auf Martoglios Spuren entwickelte sich zunächst eine ganze neapolitanische Schule, die bereits alle Kennzeichen des späteren Neorealismus hatte, auch wenn aus der Tradition des neapolitanischen Volksstücks mancherlei melodramatische Effekte in ihr wirkten. Erst Mussolini machte dieser Richtung ein Ende, als er 1929 grundsätzlich Neapel als Filmmotiv verbot, da die Schilderung der dortigen sozialen Not dem italienischen Ansehen im Ausland schaden würde. Vor einigen Jahren haben der (inzwischen amtsenthobene) monarchistische Bürgermeister Lauro und der vorübergehend amtierende Ministerpräsident Scelba eine entsprechende Verbotspraxis mit genau den gleichen Argumenten versucht.

Zwischen 1910 und dem Kriegsbeginn hatte sich der italienische Film die grossen Schauspieler des Landes gewonnen. Ermete Zacconi und Ermete Novelli machten den Anfang, und selbst die Duse wendete sich 1916 dem Film zu: »Asche«, nach dem Roman der Nobelpreisträgerin Grazia Deledda. Der erste Weltkrieg jedoch führte den erst langsamen und dann der faschistische Marsch auf Rom den rapiden Abstieg des italienischen Films herbei. Die Kriegsumstände hatten zu betont leichter oder aber abenteuerlich gefärbter Unterhaltungskost geführt; damals begann die Serie der »Maciste«-Filme, nach einer primitiven muskelstrotzenden Figur aus »Cabiria« benannt, mit der der ehemalige genuesische Hafenarbeiter Bartolomeo Pagano lange Zeit der populärste Filmstar wurde. Nach dem Krieg versuchte man es nochmals mit der Historie und der Antike, für das Remake von »Quo vadis?« holte man sich 1923 sogar Emil Jannings nach Rom, aber dann hatten die neuen faschistischen Machthaber zunächst andere Sorgen, und die Produktion sank bis auf 3 Filme im Jahre 1927 und 4 für 1928. Die beiden namhaftesten Regisseure aus der früheren Blütezeit, Augusto Genina und Carmine Gallone, filmten fortan in Paris und Berlin und kehrten erst in den dreissiger Jahren zurück.

Inzwischen hatte der Faschismus allerdings die propagandistischen Möglichkeiten des Films entdeckt und dessen planmässige und grosszügige Förderung begonnen. Das Kulturfilmunternehmen Luce wurde gegründet, eine nationale Filmkammer eingerichtet, ein hochdotierter Preis für den besten Film jedes Jahres gestiftet, eine Sondersteuer für ausländische Filme verordnet, 1932 die Biennale als internationaler Filmkunst-Wettbewerb ins Leben gerufen, 1937 die Cinecittà zu erbauen begonnen und schliesslich 1938 die Filmkritik praktisch aufgehoben, indem sie nun frühestens einen Monat nach dem Anlaufen des Films erscheinen durfte. Mussolinis Sohn Vittorio wurde zum Studium nach Hollywood geschickt; als er zurückkam, erklärte er, dass die amerikanischen Filmproduzenten an Können und Wirkungskraft unübertreffbar, aber dass sie allesamt Kommunisten wären und dass ihnen nun unter Benutzung der amerikanischen Technik eine faschistische Produktion gleichwertig entgegengestellt werden müsse; er verband sich hierzu mit dem Drehbuchautor Roberto Rossellini und dem Regisseur Goffredo Alessandrini zu einem Propaganda-Arbeitsteam, doch ist es nie über den einzigen Film »Pilot Luciano Serra« (deutscher Titel »Zwischen Leben und Tod«) hinausgekommen. Doch muss um der historischen Gerechtigkeit willen gesagt werden, dass manche der faschistischen Einrichtungen vorbildlich und bis heute nachahmenswert waren, etwa das der Nachwuchsbildung dienende Centro Sperimentale in Rom und das Forschungsarchiv der Mailänder Cineteca, die beide übrigens zu Mittelpunkten der Resistenza wurden.

Nach dem Verbot der neapolitanischen Schule und ihres sozialkritischen Themas im Jahre 1929 brach die sogenannte »Zeit der weissen Telephone« an, ein treffendes Schlagwort für die soziale Unverbindlichkeit einer gepflegten Luxuswelt, die der Welt das Bild des neuen Italiens zeigen sollte. Doch haben gerade die wesentlichen Regisseure trotzdem aus dieser Schablone ausweichen können, und der Neorealismus von 1945 war im Schaffen von Mario Camerini und Alessandro Blasetti während der dreissiger Jahre vorgebildet. Camerini könnte man vielleicht als den italienischen René Clair bezeichnen: Er drehte bezaubernde Komödien aus dem kleinbürgerlichen Alltag, meist mit Vittorio De Sica als Hauptdarsteller. Der etwas jüngere Blasetti war zunächst wirklich Faschist und hat die Heim-zur-Scholle-Pathetik von »Mutter Erde«, das Garibaldi-Epos »1860« oder die Marsch-auf-Rom-Apotheose »Alte Garde« doch mit der suggestiven Optik nach Eisensteins Vorbild gestaltet. Dann wich er in die Vergangenheit aus: mit dem historischen Fresko »Stürme über Morreale«, dem satirischen Ritterroman »Der Kavalier mit der Maske« und dem grossartigen Pathos seiner Langobarden-Tragödie »Die eiserne Krone«. Blasetti schliesslich war es, der 1942 mit der köstlichen Komödie »Vier Schritte in die Wolken« sozusagen eine der Inkunabeln der alsbald aufbrechenden neuen realistischen Welle schuf.

Die Auseinandersetzung mit dem faschistischen Druck, das Suchen nach einem trotzdem noch freien Ausdruck haben der italienischen Produktion in den dreissiger Jahren überaus fruchtbare Impulse gegeben. Hatte Pirandello als Antwort auf die faschistischen Bemühungen um den Film noch 1929 seinen Essay »Wird der Tonfilm das Theater zerstören?« geschrieben und sich darin zur ewigen Kraft und Geistigkeit der Schaubühne bekannt, so schrieb er 1933 doch ein Original-Drehbuch »Stahl« um die menschlichen Nöte der Proletarier von Terni, dessen Tendenz eine erstaunliche Parallele zu der Schlusswendung seines etwa gleichzeitig entstandenen Dramas »Die Riesen vom Berge« aufweist. Der deutsche Avantgardist Walter Ruttmann inszenierte diesen Film, der damals einen völligen Misserfolg brachte und erst heute als eines der Haupt- und Schlüsselwerke des italienischen Filmrealismus erkannt wird. Im gleichen Jahr 1933 drehte der 22jährige Filmkritiker Francesco Pasinetti seinen Erstlingsfilm »Canale degli Angeli«, der im ärmsten Viertel auf der Hafenseite von Venedig eine bezaubernd verhaltene Liebesgeschichte aufblühen lässt und stilistisch der ganzen damaligen Produktion um 15 Jahre voraus gewesen sein dürfte. Nach dem inzwischen verstorbenen Pasinetti haben die italienischen Filmkritiker ihren Preis für den künstlerisch wertvollsten Film des Jahres in »Premio Pasinetti« getauft.

Pasinetti wirkte von 1937 ab als Lehrer am Centro Sperimentale in Rom, zusammen mit Umberto Barbaro, dem italienischen Übersetzer der grundsätzlichen filmkundlichen Bücher von Pudowkin, Balàsz und Arnheim. Von dort ging der eine Strom der italienischen Filmerneuerung aus, politisch von einer stark linksextrem bestimmten Einstellung getragen. Barbaro hatte eine alte Kopie von Martoglios Stummfilm »Verloren im Dunkel« gefunden, die immer wieder vorgeführt wurde und das wohl wesentlichste Lehrbeispiel der neu heranwachsenden zweiten realistischen Schule wurde. Nach der Behinderung der Filmkritik in der Tagespresse entstanden Filmzeitschriften fast wissenschaftlichen Charakters, vor allem »Bianco e Nero«, in denen der sich mit Pudowkin, Balàsz und Arnheim auseinandersetzende Nachwuchs zu Wort kam. In diesem Umkreis haben Alberto Lattuada, Giuseppe De Santis, Luigi Comencini, Michelangelo Antonioni und viele andere ihre Laufbahn begonnen. Dieser zweite Neorealismus, der um 1941 einsetzte und 1945 den grossen Durchbruch erlebte, war wohl nur dadurch möglich geworden, dass er nicht von kommerziellen Routiniers, sondern von filmenthusiasmierten Kritikern getragen wurde.

Eine weitere realistische Strömung jedoch kam aus dem - zahlenmässig geringen - faschistischen Propagandafilm selbst. Blasetti hatte ja darin begonnen, sich bald jedoch davon gelöst. Augusto Geninas »Die weisse Schwadron« (1936), Carmini Gallones bombastisch-ridiküler »Scipione l' Africano« (1937), Augusto Geninas »Bengasi« (1941) und Goffredo Alessandrinis »Wir Lebenden« (1942) führten diese Richtung noch weiter. 1943 drehte als einziger noch Roberto Rossellini zwei profaschistische Tendenzfilme, mit Wochenschauaufnahmen dokumentarisch ergänzt; doch war er dann auch der erste, der 1944 mit »Rom, offene Stadt« den ersten antifaschistischen Film begann, stilistisch in der genau gleichen Art. Dieser Wochenschau-Charakter des Spielfilms, eine Idee des Duce-Sohnes Vittorio Mussolini und in »Pilot Luciano Serra« erstmals verwendet, wurde von Rossellini noch einige Jahre weitergeführt, mit »Paisa« und zum Teil noch »Deutschland im Jahre Null«, bis sich endlich die künstlerische Unfruchtbarkeit eines ungestalteten, nur quasidokumentarisch gespiegelten Lebens im Film offenbarte.

Auch zum Realismus gehört das Spiel, und hier war es der erfolgreichste jugendliche Liebhaber des Films der dreissiger Jahre, der nun zur Regie überwechselte und dies Element in den Aufbruch der realistischen Bewegung mischte: Vittorio De Sica, der mit »Scharlachrote Rosen« noch ganz den Komödienton von Camerini anschlug, aber schon in seinen beiden nächsten Filmen um die ersten Liebeswirren junger Mädchen (»Maddalena, Fünf in Betragen« und »Verliebte Unschuld«) eigenere Töne fand. Als De Sica ganz frei schaffen konnte, sofort nach dem Kriege, begann die Reihe seiner grossen Filme »Schuschia«, »Fahrraddiebe«, »Wunder von Mailand«, »Umberto D.«, »Das Gold von Neapel« und »Das Dach«, in denen er zwischen den beiden Polen von Spiel und Wirklichkeit stand und die beiden Bereiche bisweilen zu voller Harmonie zu einen verstand. Vom dramatischen Spiel kam Luchino Visconti her, noch heute Italiens bedeutendster Theaterregisseur trotz Giorgio Strehler, der das Filmhandwerk als Regieassistent von Jean Renoir erlernte und auf Renoirs Spuren 1942 mit »Besessenheit« anfing.

Beim Kriegsende gab es keinen sich wie der Phönix aus der Asche erhebenden Neorealismus, sondern er war seit einigen Jahren bereits die künstlerisch dominierende Richtung. Selbst das Prinzip, ganze Filme mit von der Strasse geholten Laien zu drehen, war schon mehrfach durchgeführt, nachdem 1933 der junge Ivo Perilli in »Ragazzo« damit begonnen hatte. Neorealistisch war bereits Castellanis Erstling, die Puschkin-Variante »Ein Pistolenschuss« von 1941, mochte sie sich auch im historischen Milieu kaschieren, und ebenso Alberto Lattuadas »Giacomo, der Idealist« von 1942. Mario Camerinis grausame Elendsballade »Eine Liebesgeschichte« von 1942, Amleto Palermis Dirnen-Tragödie »Die Sünderin« und vor allem F. M. Poggiolis bittersüsse Studentenromanze »Addio, giovinezza« von 1940 sind neben den beiden Standardwerken, Blasettis »Vier Schritte in die Wolken« und Viscontis »Besessenheit«, die reinsten Verkörperungen dieses neuen Realismus schon vor Kriegsende gewesen.

Was 1945 hinzukam, war das heroische Pathos der Resistenza. Aldo Verganos »Die Sonne geht noch immer auf« (1945), Giuseppe De Santis' »Tragische Jagd« (1947) und Blasettis »Ein Tag im Leben« (1946) waren davon beflügelt, während Luigi Zampas »In Frieden leben« (1946) das heiter-ironische Gegenstück bot. Einige mit der neorealistischen Welle gekommene tüchtige Regie-Handwerker wurden zunächst überschätzt: Lattuada, Germi, auch Zampa haben auf die Dauer die geweckten Hoffnungen nicht erfüllt. Dagegen sind die wirklich konsequenten Realisten, die keine künstlerischen Konzessionen machen, ausserhalb Italiens noch gar nicht recht bekannt: Carlo Lizzani vor allem, dessen Verfilmung von Pratolinis Roman »Chronik armer Liebesleute« ein wahrhaftes Chef d' Oeuvre darstellt, oder auch der junge Francesco Maselli, der 1955 mit »Die Verwirrten« die Situation der Halbwüchsigen in den letzten Kriegskämpfen und 1947 in »Die Frau des Tages« gewisse Entartungen der Publicity analysierte. Mag der sogenannte Neorealismus auch in einigen Experimenten seine Grenzen gezeigt haben, etwa in den Momentaufnahmen aus dem Alltag einiger Schauspielerinnen mit »Wir Frauen« oder mit dem gefilmten Nachrichtenmagazin »Liebe in der Stadt« von Zavattini, so kommen immer neue Impulse aus ihm, mag sein Gesicht sich in Einzelheiten auch wandeln. Die pathetisch-berauschende Schönheit des Bildes in den sozialkritischen Filmen von De Santis (»Bitterer Reis«, »Rom, elf Uhr«) gehört ebenso dazu wie das jetzt dominierende Dialektlustspiel, das 1951 mit Renato Castellanis »Zwei Groschen Hoffnung« anhob und zugleich schon seinen Gipfelpunkt hatte.

Es sind neben Vittorio De Sica und Luchino Visconti noch zwei weitere Regisseure, die heute sozusagen das Quadrumvirat der italienischen Filmkunst bilden: Federico Fellini (»La strada«, »Il bidone«, »Die Nächte der Cabiria«) und der im Ausland noch viel zu wenig beachtete Michelangelo Antonioni. Innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen Spiel und Wirklichkeit tendiert Antonioni mehr zum Leben hin: Er dreht in einem fast unbeteiligt scheinenden, unterkühlten Chronikstil, der nichts als »die Fieberkurven des Lebens messen« will. Mit »Chronik einer Liebe« hatte er 1950 begonnen, setzte dann in »Die Besiegten« (1952) drei Episoden aus Kriminalfällen italienischer, französischer und englischer Jugendlicher zusammen, traf 1955 bei »Die Freundinnen« haargenau den literarischen Stil von Cesare Pavese, wohl eine der werkgerechtesten Romanverfilmungen der ganzen Filmgeschichte, und er ging schliesslich aus dem bürgerlichen Milieu in das der Arbeiter über und schuf 1957 »Der Schrei«, dessen fast klassisch geschlossene innere Form kein äusseres Brillieren zulässt und das wohl darum in seiner stilgeschichtlichen Bedeutung bisher verkannt worden ist. Antonioni ist kein Schreier und kein Blender, er kennt keine laute Rhetorik und keinen äusseren Effekt - das unterscheidet ihn von den anderen italienischen Regisseuren. Im Sinne eines »cinéma pur«, der absolut reinen Filmkunst, ist er der wohl konsequenteste innerhalb der heutigen italienischen Produktion, vielleicht überhaupt nur noch dem Franzosen Robert Bresson zu vergleichen.

Natürlich ist auch der italienische Film weitgehend Industrie und Kommerz, und an den Kinokassen sind die Rührstücke von Raffaelo Matarazzo oder Guido Brignone, die Schwanke von Steno oder all die noch immer auf Piero Foscos »Cabiria«-Spuren wandelnden Historienschinken erfolgreicher. Radikaler als bisher in jedem anderen Land hat nun das Fernsehen neuerdings den italienischen Film in eine seiner schwersten Krisen gestürzt, und nicht nur die altehrwürdige Cines ist während der letzten Monate in Konkurs gegangen. Aber selbst der sich scheinbar anbietende Rettungsanker der regional getönten Milieu- und Dialekt-Lustspiele, mit dem momentan der Grossteil der nationalen Produktion bestritten wird, setzt ja nur den Stil von Eduardo De Filippo, Renato Castellani und Luigi Comencini (»Brot, Liebe und Phantasie«) auf geringerer Ebene fort. Und selbst hier zeigt auch der Kommerzfilm jene spannungsreiche Verbindung, von der immer der italienische Film seine positivsten Werte bezog: die von spielerisch-beschwingter Commedia mit einer getreu realistisch gezeichneten Wirklichkeit.       Ulrich Seelmann-Eggebert
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Die »Avantgarde« im italienischen Stummfilm

Die ersten Schritte der ersten italienischen Firmen waren zögernd und unsicher. Man holte aus Frankreich Filmleute, die bereits dort Erfahrungen gesammelt hatten. Meist kamen sie von Pathé, wo man sie - oft mit sehr fragwürdigen Methoden - fortlockte. Daher kommt es, dass der frühe italienische Film sich nicht durch besondere Originalität auszeichnete, sondern in der Nachahmung der französischen Produktionen stecken blieb, wobei er die Genres der Filmburleske und des historischen Kolossalfilms bevorzugte.

Als sich später ein eigener italienischer Stil entwickelte, wurden auch die Unterschiede zwischen dem französischen und dem italienischen Geschmack deutlich. Die Neigung des Italieners zu Pathos und Theatralik, zur »grossen Oper«, spiegelt sich in den Filmen der italienischen Produktion wider. Das Melodrama und der prächtige Aufwand beherrschten die Leinwand. »Der französische >Film d' Art< hatte sich nach der Comédie Française orientiert; der italienische Kunstfilm schielte nach der Oper. Zwei lateinische Übersetzungen des Konformismus: die französische tendiert zum Noblen, die italienische zum Überladen-Grandiosen« (Bardèche / Brasillach: Histoire du Cinéma).

Dass es bei der Vorliebe der Produzenten für Monumentalfilme und groteske Klamotten unmöglich war, eine Avantgarde zu schaffen, liegt auf der Hand. Wenn man von den avantgardistischen Elementen im italienischen Stummfilm spricht, dann meint man damit einzelne Sequenzen, in denen spezifisch-filmische Ausdrucksmittel verwendet wurden. So brachte im Jahre 1909 der'Regisseur Giuseppe de Liguoro einen Trickeffekt auf die Leinwand, der für die damalige Zeit eine Sensation darstellte. Als die Firma »Cines« ihm den 1000 Meter langen kolorierten Film »Inferno« in Auftrag gab, zu dem ihn die romantischen Bilder Gustave Dorés inspirierten, liess er den Darsteller des Heiligen Dionysius umherwandeln, der seinen abgeschlagenen Kopf in den Händen trug.

Auch in einigen anderen realistischen und monumentalen Filmen dieser Zeit finden sich - wenn auch in verschwindend geringem Masse - avantgardistische Momente. Und einzelne Theoretiker begannen, sich über die Möglichkeiten dieser neuen Kunst Gedanken zu machen. Der erste Kritiker, der in seinen Schriften das Problem einer vom Theater unabhängigen kinematographischen Ästhetik formulierte, war ein Italiener: Ricciotto Canudo. Im selben Jahr, in dem Canudos frühe Schriften erschienen, 1911, veröffentlichte der italienische Filmregisseur Anton Giulio Bragaglia das Buch »Fotodinamica futurista«, die erste theoretische Ästhetik der Photographie, in der sich auch bereits eine Aufzählung der meisten technischen Möglichkeiten des Films findet.

Diese Versuche, neue Wege zu gehen und eigene filmische Ausdrucksmittel zu finden, wurden jedoch kaum beachtet. Immer noch dominierte auf den Leinwänden Italiens die grosse theatralische Geste, die den Themen der Monumentalfilme entsprach, wie sie Emilio Ghione, Pasquali und Baldassare Negroni drehten. Schauspielerinnen wie die blonde Sentimentale Lyda Borelli und die pathetische Tragödin Francesca Bertini beherrschten den italienischen Film und waren die Vorbilder für unzählige Nachahmerinnen, die sie vor allen Kameras eifrig zu kopieren suchten.

Kurz vor dem ersten Weltkrieg entstanden einige Filme anderer Art, die zwar vom breiten Publikum wenig beachtet wurden, in denen sich jedoch ein neuer Stil ankündigte, der erst viel später zum Durchbruch kommen sollte. 1913 drehte Gabriellino d' Annunzio, der Sohn des Dichters, den Film »Ma il mio amore non muore mai« (Aber meine Liebe stirbt nie). Im gleichen Jahr schuf Mario Caserini eines seiner wichtigsten Werke »La donna nuda« (Die nackte Frau). Beide Filme wandten sich konsequent von dem theatralisch-deklamatorischen Stil der anderen Produktionen ab. In dem von Baldassare Negroni ebenfalls 1913 inszenierten »Storia d' un Pierrot« (Geschichte eines Pierrot) gelangte die Schauspielerin Francesca Bertini zu einem von ihren früheren Rollen völlig verschiedenen, der tänzerischen Pantomime angenäherten Darstellungsstil, den sie in »Nelly, la Gigoletta« noch weiter vervollkommnete.

1914 verfilmte Nino Martoglio das Bühnenstück »Sperduti nel buio« (Verirrt im Dunkel) von Roberto Bracco mit Giovanni Grasso und Virginia Balistieri in den Hauptrollen. Aus dem Thema, einer ziemlich melodramatischen Intrige, gestaltete Martoglio ein sorgsam komponiertes psychologisches Drama. Das Milieu, die in erschütternden Bildern eingefangene Armut der Bevölkerung Neapels, ist für ihn nicht nur Hintergrund für die Aktionen der Hauptfiguren, sondern aktiver und wesentlicher Bestandteil der Handlung. Von Kennern und Liebhabern wird dieses Werk noch heute als einer der kühnsten Filme dieser Epoche geschätzt und als Vorläufer des »Neoverismo« betrachtet, der mehr als dreissig Jahre später den italienischen Film weltberühmt machte.

Aber immer noch war der historische Kolossalfilm das von Produzenten und Publikum bevorzugte Genre. Jedoch wandte sich der Regisseur des Monumentalfilms »Cabiria«, Giovanni Pastrone, 1915 einem völlig anderen Gebiet zu. Mit nur drei Personen, die in einem verlassenen Schloss auf nur wenigen Schauplätzen agieren, gestaltete er den Film »Il Fuoco« (Das Feuer), ein intimes Kammerspiel von eigentümlicher, an Baudelaires Lyrik erinnernder Poesie. Im Jahre 1916 erschien das »Manifesto della cinematografia futurista«, in dem die Forderung erhoben wurde, den Film völlig aus den Fesseln des Theaters zu lösen und ihm endlich seine eigenen Ausdrucksmittel bewusst zu machen. Anton Giulio Bragaglia, der bereits vor fünf Jahren in seiner schon erwähnten Schrift auf die Möglichkeiten des Films hingewiesen hatte, inszenierte jetzt den ersten futuristischen Film: »Perfido Incanto« (Fauler Zauber). Er bediente sich dabei lediglich der Mittel, die nur dem Film eigen sind. Besonders arbeitete er mit photographischen Trickeffekten, mit der Gleichzeitigkeit und Durchdringung verschiedener Zeiten und Räume, mit abstrakten Figuren in rhythmischer Bewegung. Dieses Werk wird von den Filmhistorikern als Vorläufer des »Caligarismus« angesehen.

Auch Arnaldo Ginna schuf im selben Jahr einen futuristischen Film, der jedoch ebensowenig Erfolg hatte wie das Werk Bragaglias. Das Publikum konnte mit diesen Experimenten nichts anfangen und sah sich lieber »Quo vadis?« und »Cabiria« an. Da entschloss sich der Schriftsteller Lucio d' Ambra im Jahre 1916, seinen Roman »Il Re, le Torri, gli Alfieri« (Der König, die Türme, die Läufer) zu einem Filmszenario umzuarbeiten, das er »eine kinematographische Komödie in vier Teilen« nannte. Ivo Illuminati realisierte diesen Film und benutzte dabei alle technischen Raffinessen und Tricks, die d' Ambra ausgedacht und angegeben hatte. Der Film wurde eine verblüffend originelle Operette voller Geist und Witz, in der Politik und Liebe elegant und boshaft karikiert werden. Die Untermalungsmusik bestand aus Walzern von Johann Strauss und Melodien von Franz Lehàr. Die Kritik schrieb: »Una commedia ironica, sentimentale, un po' triste, un po' buffa, un po' vecchia, un po' nuova, un po' vera, un po' falsa: come la vita.« Lucio d' Ambra, der Autor, nannte sein Werk: »eine neue Ilias, geschaffen aus der verspielten Launo eines sehr kleinen Homer und mühsam auf normale Länge gebracht.« - Das Wesentliche an diesem Film war nicht die Handlung selbst, sondern die Tatsache, dass sie nur mit den spezifisch filmischen Mitteln gestaltet wurde. Hier bereits war die Kamera »entfesselt«, ihre Beweglichkeit wurde in keinem anderen italienischen Stummfilm wieder erreicht; der Operateur war Carlo Montuori, der noch heute zur internationalen Elite der Kameramänner gehört.

Mit diesen wenigen Werken erschöpfte sich die Avantgarde des italienischen Stummfilms. Während in anderen Filmländern, besonders in Frankreich und Deutschland, die Zeit des Experimentierens begann und zahllose avantgardistische Filme entstanden, in denen man sich an einen filmeigenen Stil herantastete, verharrte die italienische Produktion bei ihren opernhaften Inszenierungen, deren theatralischer Stil immer filmfremder wurde. Erst viel später, Anfang der vierziger Jahre, gelang es einigen jungen Aussenseitern, deren bedeutendster der Maler Luigi Veronesi ist, dem italienischen Film neue Impulse zu geben. Eine eigentliche Avantgarde konnte sich erst nach 1945 entwickeln. Neben dem »Neoverismo« entwickelten einige Regisseure, zu denen vor allem Elio Piccon, Virgilio Sabel, Alessio Baume, Bruno Creszenzi und Walter Alberti gehören, eine Fülle von Stilrichtungen, die vom surrealistischen bis zum abstrakten Film reichen und die sich im Kreise der Filmkenner einen guten Ruf geschaffen haben.       Elisabeth Barbara Meyer

Der historische Monumentalfilm

Es gibt innerhalb der geschichtlichen Entwicklung der italienischen Fiimproduktion eine interessante Epoche, die ohne Zweifel zu den Höhepunkten der Stummfilmzeit zu zählen ist. Wir meinen die Zeit, in der eine völlig neue Filmgattung - der Monumentalfilm - entstand. Obwohl diese Epoche nur aus wenigen Jahren - nämlich aus dem knappen Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg - bestand, ist sie in der Folgezeit für die Filmkunst aller Länder und insbesondere für Hollywood höchst bedeutsam geworden.

Um jene Zeit richtig würdigen zu können, muss man sich vor Augen halten, dass die filmwirtschaftlichen Verhältnisse damals ein wenig anders aussahen als heute. Das Zentrum der Filmproduktion lag nämlich in Europa, vor allem in Frankreich. Der europäische Film war tonangebend, und er konnte seine führende Rolle durch Jahre hindurch behaupten. Noch gab es keine amerikanischen Traumfabriken, keine Stars im heutigen Sinne und keine den Weltmarkt beherrschenden Filmkonzerne. In den USA war man in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg gerade erst dabei, das Produktionszentrum Hollywood aufzubauen, dessen magnetische Anziehungskraft erst sehr viel später einsetzen sollte.

Eine Wende in zweierlei Hinsicht bedeutete das Jahr 1915: Der erste künstlerische Grossfilm wurde von einem amerikanischen Regisseur mit bisher ungekannten filmischen Mitteln gedreht (»Birth of a Nation«), und Europa musste seine Vormachtstellung innerhalb der Filmwirtschaft endgültig an die USA abtreten. Der Ausbruch des Weltkrieges war sicherlich eine der hauptsächlichsten Ursachen, dass fast alle europäischen Produktionen nach und nach zum Erliegen kamen und seitdem Amerika zum »Filmland Nr. 1« wurde.

Diese eben erwähnte Zäsur macht es uns möglich, die beiden ersten Jahrzehnte der europäischen Filmproduktion als ein in sich geschlossenes Kapitel in der Geschichte des Films zu betrachten. Seit der Erfindung der Kinematographie waren erst 20 Jahre vergangen, aber sie hatten bereits genügt, um die wichtigsten filmischen Elemente und Gattungen zu entfalten. Zu dieser Entwicklung hatte jedes Land sein Teil beigetragen, den Abschluss und gleichzeitigen Höhepunkt des Kapitels bildete jedoch die Produktion Italiens. Mit dem historischen Monumentalfilm, wie er in den Jahren 1908 bis 1915 in Rom gedreht wurde, war ein äusserster Punkt erreicht worden, eine letzte Möglichkeit bei der Suche nach der publikumswirksamsten, attraktivsten und geschäftlich erfolgreichsten Filmform.

Zum Verständnis dieses Vorganges muss man sich klarmachen, dass es in der Frühzeit des Films ja vor allem darum ging, die Bedürfnisse des noch unbekannten Filmpublikums festzustellen, zu erfahren, welche durchschnittliche Länge ein normaler Film haben musste, und schliesslich ein sicheres Gefühl dafür zu entwickeln, welche Stoffe dieser neuen Kunstform am angemessensten waren. So gesehen, erscheint der italienische Monumentalfilm als der notwendige Endpunkt in einer sehr folgerichtigen Entwicklung. Um nicht über der Aufzählung blosser Daten und Filmtitel die durchgehende Linie dieser Entwicklung aus den Augen zu verlieren, soll im folgenden erläutert werden, worin denn nun eigentlich die behauptete Folgerichtigkeit bestand.

In Frankreich, dem Geburtsland des Kinos, wurden natürlich auch die ersten Filmstreifen produziert. In kürzester Zeit gab es mehrere Unternehmen, die sich auf die Produktion und den Vertrieb der Filme spezialisiert hatten. Andere Länder folgten bald nach. Die Filme, deren Inhalt noch recht primitiv war, brauchten zu ihrer Vorführung selten mehr als zwei bis drei Minuten. Meist waren es im Freien aufgenommene reale oder gestellte Begebenheiten, in denen es hauptsächlich auf viel Bewegung ankam. Doch man spürte sehr bald, dass diese Filmchen auch so etwas wie eine Handlung haben mussten, um dem Publikum - das sich ja mittlerweile an den Reiz der Neuheit gewöhnt hatte - zu gefallen. Da man nun daran ging, kleine Sketche, lebende Witze, Pantomimen und Szenen voller Prügelkomik zu zeigen, wurden die Filme entsprechend länger. Aber man war noch weit entfernt von jener Form, die heute als abendfüllender Spielfilm bezeichnet wird. Durch viele Jahre hindurch hatten die Filme eine Standardlänge von 10 bis 15 Minuten, und ein normales Kinoprogramm bestand in der Regel aus mehreren Streifen mit den verschiedenartigsten Sujets. Da der uns geläufige Unterschied zwischen Hauptfilm und Beiprogramm nicht gemacht wurde, wechselten in bunter Reihenfolge Dokumentaraufnahmen aktueller Ereignisse mit Burlesken, Zirkusnummern und sogenannten Dramen ab.

Mittlerweile war das Kino aus den Niederungen des Jahrmarkts und der billigen Rummelsensationen herausgetreten. Aber um sich endgültig als das »Theater des kleinen Mannes« etablieren zu können, brauchte es die passenden Stücke, nach Möglichkeit in 4 oder in 5 Akten. Die so beliebten Einakter-Filme schienen nun nicht mehr zu genügen. (Übrigens ist es für den Drang des Kinos, salonfähig zu werden, sehr bezeichnend, dass die Filmrollen »Akte« genannt werden.) Um die für die damalige Zeit überlangen Filme von einer Stunde Dauer drehen zu können, brauchte man natürlich neue Stoffe. Was lag näher, als die gesamte Literatur nach geeigneten Romanen und Dramen abzugrasen, die sich ohne Schwierigkeiten zu Drehbüchern umarbeiten liessen. So entwickelte sich in Frankreich eine Richtung, die sich »Film d' Art« nannte. Und seit 1908 etwa entstehen dort die ersten vollständigen Verfilmungen populärer literarischer Werke, die damals »Cinéromans« (Filmromane) hiessen.

Aber man gab sich offensichtlich damit noch nicht zufrieden. Nicht nur, dass die Filme immer länger und länger wurden, man suchte auch im Inhaltlichen nach einer grösseren Fülle. Fast könnte man diese Tendenz zur Expansion mit dem heutigen Streben nach der noch breiteren Wand vergleichen. Hier wie dort das gleiche Phänomen: Man sucht wohl nach einer neuen Form und landet doch schliesslich bei blossen Äusserlichkeiten, indem man die Anzahl der Akte, die Laufzeit, die Zahl der Darsteller oder die Abmessungen des projizierten Bildes verändert. Um also in den Filmen noch grössere Schauplätze und noch mehr Darsteller zeigen zu können, blieb man weiter auf der Suche nach solchen Stoffen, die die gewünschten Steigerungsmöglichkeiten enthielten. Nun war endlich der Zeitpunkt gekommen, an dem die Stunde für den noch verhältnismässig jungen italienischen Film schlug.

Man entdeckte für das Kino die Stoffe der Antike, die klassischen Heldensagen, die römische Geschichte und die Zeit der ersten Christenverfolgungen. Wegen der Affinität zum Stoff war es natürlich sehr naheliegend, dass man sich derartige Filme bei den Italienern bestellte. Ausserdem fand man dort die geeigneten historischen Stätten, die man für die unumgänglichen Aussenaufnahmen benötigte. So entstand gerade in Italien - zudem noch begünstigt durch das Vorhandensein vieler technischer Voraussetzungen (viel Sonne, billige Statisterie) - jene Filmgattung, die man seitdem als Monumentalfilm zu bezeichnen pflegt. Der Stil dieser Filme war gekennzeichnet durch gigantische Bauten, monströse Effekte, riesige Komparseriemassen, prächtige Kostüme und verschwenderischen Aufwand. In den Monumentalfilmen verwendete man Elefanten, Löwen und ganze Kavallerie-Herden. Die ersten Filme dieser Art lebten natürlich von falschem Pathos und masslosen Übertreibungen. Dem stand aber andererseits ein bedeutender Gewinn an neuen optischen Möglichkeiten gegenüber, und viele Elemente des Monumentalfilms finden sich in den besten Filmkunstwerken der späteren Jahrzehnte wieder. So ist beispielsweise der Film »Panzerkreuzer Potemkin« ohne die virtuos geführten Massenszenen einfach nicht denkbar. Es bleibt das unbestrittene Verdienst der frühen italienischen Streifen, dem künstlerischen Film diese neuen Möglichkeiten erschlossen zu haben.

»Da kam um 1912 ein Film: >Quo vadis<, Regie führte Enrico Guazzoni, der von Beruf Maler war. Dieser erste Quo-vadis-Film bedeutet einen Markstein in der Entwicklung. Sein Erfolg war in Italien, Frankreich, Deutschland, England, Amerika gleich überwältigend, er galt als das grösste Meisterwerk der damaligen Zeit und stellte Italien mit einem Schlag an die Spitze aller Filmländer der Welt.« (Oertel) Die erste Glanzzeit der italienischen Filmindustrie hatte in diesen Riesenwerken der Stummfilmzeit einen Höhepunkt erreicht. Zum erstenmal begegnen wir in dieser Epoche all jenen Stoffen und Titeln, die seitdem wegen ihrer Beliebtheit immer wieder in den Kinos der ganzen Welt als Remakes auftauchen: Nero, Messalina, Der Fall Trojas, Die letzten Tage von Pompeji, Die Passion Christi, Julius Caesar.

Die Monumentalfilme italienischer Provenienz wurden selbstverständlich auch in den USA gezeigt, und sie waren es, die den Amerikanern den Geschmack an derartigen Monstre-Filmen beibrachten. Darüber besteht gar kein Zweifel. Viele Regisseure, insbesondere Cecil B. deMille und David W. Griffith, griffen kurze Zeit später diese neue Filmform auf und vervollkommneten sie durch Hinzufügen neuer Elemente zu dem typisch amerikanischen Monumentalfilm-Stil. Als die italienische Filmproduktion nach Beendigung des ersten Weltkrieges nahezu zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken war, traten die Amerikaner auch auf diesem Feld das Erbe an. Man hatte mittlerweile in Hollywood gelernt, Monumentalfilme zu drehen, die an Raffinesse, technischem Aufwand, luxuriöser Ausstattung und bewegten Massenszenen nicht mehr zu überbieten waren. Seitdem ist diese Filmgattung aus dem Repertoire der Lichtspieltheater nicht mehr fortzudenken. Als durch die Einführung des CinemaScope-Verfahrens eine neue Epoche in der Geschichte des Films eingeleitet wurde - durchaus vergleichbar mit der Situation, in der sich der italienische Film damals befand -, war es sicherlich kein Zufall, dass der erste Film dieser Art (»Das Gewand«) stofflich und formal wiederum der Gattung des Monumentalfilms angehörte.       Ivar Rabeneck

Die ersten Schritte des italienischen Tonfilms

Wenn wir aus Neugierde die Titel suchen, die für die verschiedenen Länder von Amerika bis Russland die ersten Tonfilme repräsentieren, so finden wir viele unbedeutende Werke, in denen der Gebrauch der neuen Errungenschaft ein technischer Notbehelf ist und nicht dazu dient, eine neue gültige Sprache auf der Ebene der Kunst zu schaffen. Im Gegensatz zum Maler und zum Schriftsteller, für die der Einflussbereich der Technik sehr begrenzt ist, jedenfalls derart, dass er keinen Wechsel in der Form der Schöpfungen bestimmt, hat es der Cineast immer mit der Technik zu tun, selbst gegen seinen Willen. Italien gehört zu den Ländern, dessen Bevölkerung der Technik kein übermässiges Interesse entgegenbringt. Die grössten italienischen Erfinder sind vor allem Künstler und erst in zweiter Linie Techniker gewesen; wenigstens in den meisten Fällen. Etwa seit 30 Jahren beginnt jedoch die Technik alle Bereiche zu überschwemmen.

Vor dreissig Jahren, um 1930, entstand der Tonfilm in Italien. Vorangegangen war der Ruf der amerikanischen Produktionen, von den »Tonbildern« bis zum ersten Dialogfilm »Die Lichter von New York«.

»Herr Jesse Lasky«, schreibt René Clair (Lasky war der erste Präsident der amerikanischen Gesellschaft »Famous Players«), »bestätigte auf seiner Reise in Europa öffentlich die aus Hollywood kommenden Stimmen, nach denen die Tage des Films, wie wir ihn kennen, gezählt seien. Die ersten Erfolge des tönenden und sprechenden Films waren so, dass sie der neuen Erfindung die Eroberung aller Märkte der Welt garantieren.« Während die »General Electric« und die »Tobis Klangfilm« schon von den Gewinnen träumten, die ihnen die Patente verschaffen würden, verfluchten die Grossen des Stummfilms wie Chaplin, Vidor, Pudowkin, Eisenstein, Alexandrow, Clair und Murnau die neue Erfindung. Obwohl ein Manifest des Tonfilms erschien, das von drei russischen Regisseuren unterzeichnet war, wollte kein Künstler, der etwas auf sich hielt, etwas mit dieser neuen, revolutionären Technik zu tun haben. Die erste Vorführung eines Sprechfilms in Europa fand in London statt.

»Wiedergeburt oder Tod? das ist die Frage, vor die der Film gestellt ist«, das ist kurz das, was die Kritiker in dieser Zeit sich besorgt fragten, denn sie erinnerten sich noch der eindrucksvollen Filme: »La Passion de Jeanne d' Arc«, »The Circus«, »Un Chapeau de Paille d' Italie« und anderer.

Und in Italien? Wiedergeburt oder Tod? In Italien war man in einer Sache sicher, nämlich, dass durch den Tonfilm einige Hoffnung auf die Wiedergeburt des nationalen Films bestand und damit die Invasion der überseeischen Streifen eingedämmt würde.

Der nach dem grossen Glanz der Schule von 1914 eingetretene künstlerische und kommerzielle Abstieg des italienischen Stummfilms nach 1922 hatte die ökonomischen Hilfsquellen der Filmindustrie versiegen lassen.

Im »Goldenen Zeitalter« des Stummfilms war Turin die Hochburg der italienischen Produktion. Hier waren die Produktionsgesellschaften Ambrosio, Pasquali und Itala-Film und mindestens ein anderes Dutzend kleinerer entstanden, die Filme produzierten wie »Ultimi Giorni di Pompei«, »Giovanna d' Arco«, »Gerla di Papa Martin«, »Bisbetica Domata«, die Serie der D' Annunzio-Filme, »Cabiria«, »Figlia di Jorio«, »La Nave« und andere historische Monumentalfilme. Die »Unione Cinematografica Italiana« (U.C.I.) und die F.E.R.T. waren zwei grosse Trusts, die alle grossen Produktionsfirmen finanzierten.

Das Leben dieser beiden Gruppen war jedoch nur von kurzer Dauer. Am Ende der zwanziger Jahre wurde die einzige Charta vom Tonfilm präsentiert. Der genuesische Produzent Stefano Pittaluga, der in Turin König der Verleiher war und 300 italienische Kinos beherrschte, liess in Rom die Studios der Gesellschaft »Cines« wiedereröffnen und vollständig für den Tonfilm einrichten. 1930 war alles für die Produktion von italienischen Tonfilmen bereit. Pittaluga berief von überallher Regisseure und junge Kräfte für die neue Produktion: Mario Camerini, Alessandro Blasetti, Anton Giulio Bragaglia, Gennaro Righelli, Guido Brignone, Mario Almirante, Carlo Campogalliani, Nunzio Malasomma und Eugenio de Liguoro, und Techniker wie: Terziano, Arata, Montuori und Caracciolo. Viele von ihnen waren zwischen 1924 und 1930 nach vorne gekommen. In dieser Zeit war in verschiedenen Städten (besonders in Turin, Florenz und Rom) eine Bewegung von Intellektuellen entstanden, die sich ernsthaft mit den Problemen des Films beschäftigten. Die Kulturzeitschriften brachten immer mehr Aufsätze über den Film, wie z.B. die Zeitungen »Convegno« und »Solaria«. Der Kritiker und Theaterregisseur Enzo Ferrieri hatte in Rom den ersten Filmclub gegründet, sofort folgte in Turin der Schriftsteller De Benedetti; Autoren wie Bellonci und Luciani widmeten dem Film Aufsätze, während in Rom der junge Regisseur Alessandro Blasetti eine Zeitschrift unter dem Titel »II Cinematografo« herausgab, die sich lediglich mit den neuen Problemen des Films befasste. Kurz vor Beginn des Tonfilms wurden in Italien zwei Filme gedreht, die für den Wiederaufschwung des italienischen Filmschaffens wichtig wurden: »II Sole« (Die Sonne) - weder Negativ noch Kopien dieses Filmes sind erhalten - 1928 von Blasetti, und ein Jahr später »Rotaie« (Schienen) von Camerini. »II Sole« ist das Ergebnis der Ideen, die in der Zeitschrift »II Cinematografo« formuliert worden waren. Die Studios der Genossenschaft »Augustus«, die speziell für diesen Film gegründet worden war, wurden in Rom errichtet, und im Dezember 1928 begannen die Dreharbeiten. Das Sujet stammte von Aldo Vergano; es behandelt das Problem der Urbarmachung eines Sumpfgebietes gegen den feindseligen Widerstand der Bauern. Die meisten Darsteller waren Laien. Der Film wurde am 16. Juni 1929 im »Corso-Cinema« in Rom mit grossem Erfolg aufgeführt.

Für die Filmkenner gelten Blasetti und Camerini als die Männer, die in die Eintönigkeit der letzten Stummfilmjahre neue Ideen trugen. Dann kam der Tonfilm und brach den Zauber. Der erste Tonfilm stammte weder von Camerini noch von Blasetti. Es war »La Canzone dell' Amore« (Das Lied der Liebe) von Gennaro Righelli, ein mittelmässiger Streifen nach der Novelle »Silenzio« (Schweigen) von Pirandello. Righelli hatte um 1920 in Italien einige wenig bedeutende Stummfilme gedreht; 1926 in Deutschland »Rot und Schwarz« nach Stendhal und 1928 »II Presidente di Costanueva«.

Blasetti, dem daran lag, sich in einer filmeigenen Sprache auszudrücken, schlug wahre Schlachten mit den Produzenten; er ahnte die grossen Möglichkeiten des Tones und stürzte sich kopfüber in die Arbeit. Die Italiener waren zufrieden, auf der Leinwand den berüchtigten »Nero«, mit dem Komiker Petrolini in der Titelrolle, nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören (einen zu Unrecht unterschätzten Film), dessen Regisseur, Blasetti, auch »Ressurrezione« (Auferstehung) und »Terra Madre« (Mutter Erde) inszenierte. Auch andere Regisseure, unter anderem Brignone und Campogalliani, wagten sich an den Tonfilm, aber alle ihre Werke erzielten nur mittelmässige Resultate; sie blieben lediglich Versuche, einen neuen Stil zu finden. Der Weg zum Sprechfilm war noch nicht gefunden. Das Publikum reagierte negativ, trotz der finanziellen Anstrengungen des Produzenten Pittaluga.

In Italien liefen vor allem ausländische, besonders amerikanische Tonfilme. »General Electric« und »Tobis«, die Inhaber der Tonfilmpatente, schlössen 1930, nach langem Konkurrenzkampf, einen Vergleich und teilten die Einflussbereiche, in denen sie die mit Tonapparaturen ausgerüsteten Kinos kontrollierten, untereinander auf.

Nach 1931 liess die amerikanische Euphorie spürbar nach; die Zeit des Geldscheins schien vorüber Das Publikum forderte bessere Filme, und die Massenproduktion steuerte anscheinend einer Krise zu. Die neuen Impulse kamen aus Europa. Die eigentliche Produktion von Sprechfilmen begann in Europa 1931. Unter den wichtigsten Titeln wären zu nennen: In Deutschland: »Der blaue Engel«, »Westfront 1918«, »Die Dreigroschenoper«, »Kameradschaft«, »Mädchen in Uniform«; in den USA: »All Quiet on the Western Front« (Im Westen nichts Neues), »City Lights« (Lichter der Grossstadt), »Tabu«; in der UdSSR: »Die Erde«, »Mutter«, »Der Weg ins Leben«; in Frankreich: »Sous les Toits de Paris« (Unter den Dächern von Paris), »Le Million«, »La Chienne« (Die Hündin), »Le Sang d' un Poète« (Blut eines Dichters).

In Italien waren es wiederum Camerini und Blasetti, die neue Wege aufzeigten, auf denen die Elite des italienischen Films weitergehen konnte. Zuerst mit »Gli Uommi che Mascalzoni« (Die Männer, diese Spitzbuben) 1932 und ein Jahr später mit »1860« D t-, 004004

Aber die Zeiten hatten sich geändert. Der politische Einfluss der faschistischen Parte, lastete immer schwerer auf dem Film. Der Beginn des Tonfilms machte den Faschisten den propagandistischen Wert dieses Massenmediums klar. Im Institut »LUCE« (L' Unione Cinematografica Educativa) das seit 1925 in ein Institut zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung umgewandelt worden war, wurde jeder Film durch ausschliesslich staatliche Organe nach seinem erziehensehen Zweck beurteilt.

Nach dem überraschenden Verschwinden des Produzenten Pittaluga wurde der Schriftsteller, Journalist und Kunstkritiker Emilio Cecchi zum Leiter der »Cines« berufen, gerade als »Oh Uomini che Mascalzoni« entstand. Seine »Amtszeit« endete jedoch schon während der Entstehung des anderen der beiden Filme, der als der Versuch angesehen wurde, eine italienische »Schule« zu konstituieren, die fähig sein sollte, sich - wie jene von 1914 - im Ausland durchzusetzen. . . ,. . ,

Aber diese Erfolge Camerinis und Blasettis blieben, wie Sadoul sagt, »isoliert«, d.h. die Idee geriet in der Folge in Verfall. Unter dem faschistischen Regime stieg die Produktion zwar quantitativ in enormer Weise an, sank jedoch in der Qualität. Den Anschluss an die grosse Zeit des frühen Tonfilms fand man erst wieder 1945. Erst hier wurden in den Werken des sogenannten »Neorealismo«, der mit »Roma, città aperta« (Rom, offene Stadt) begann, die Lehren des Blasetti von »II Sole« und »1860« und die des Camerini von »Rotaie« und »Gli Uomini che Mascalzoni« wiederaufgenommen und vervollständigt.       Massimo Sani (Übersetzung: Elisabeth Barbara Meyer)
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Filmbesprechungen

Il primo Giro d' Italia (Der erste »Giro d' Italia«) Anonymer Dokumentarfilm, 1909
Ein typisches Beispiel der Gattung »Aktualitäten«, welche in den ersten Jahren des Films vorherrschte und viel dazu beitrug, das Interesse des Publikums für die neue Erfindung wachzurufen. Dieser Film ist nicht nur als Dokument der damaligen Filmtechnik wertvoll, sondern auch als köstliche Illustration der Lebensweise jener Zeit.
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Cretinetti e le donne (Cretinetti und die Frauen) [Il cinema muto: Cretinetti che bello!]
[Produktion: Itala, 1909]
Darsteller: André Deed, 1910
André Deed (Cretinetti) kam, wie die andern Komiker der damaligen Zeit, aus dem Music Hall. Seine einzigartige Maske und die Komik seines seiltänzerischen Stils begründeten seine grosse Popularität. Die Posse, die wir hier zeigen, ist eine Parodie auf den »Beau« des fin de siècle: der arme Cretinetti wird vom schönen Geschlecht so bewundert, dass seine Freierinnen sich um ihn balgen und diesen neuen Orpheus geradezu in Stücke zerreissen. Im Schlussbild setzen sich die Glieder des armen Kerls in abstrakter Weise wieder zusammen: ein Einfall Deeds, der sich geschickt die Entdeckung der ersten Filmtricks zunutze macht.
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Le due gemelle (Die beiden Zwillingsschwestern) [Il cinema muto: Metempsicosi]
Anonym. Produktion: Cines, Rom, 1911 [1913]
[Regie: Gant = Giulio Antamoro]
Wie die Geschichte, bildete auch das Volksdrama eine der Hauptquellen der Drehbuchautoren: das Publikum nahm leidenschaftlichen Anteil an den traurigen Erlebnissen der Hauptgestalten, die in naiver anspruchsloser Weise wiedergegeben wurden, um dem Zuschauer Tränen zu entlocken oder ihn wenigstens zu ergreifen. Unser Film erzählt die Geschicke von zwei durch tragische Umstände voneinander getrennten Schwestern, die in der gleichen Stadt leben, ohne dass die eine von der andern etwas weiss. Ihre ungewöhnliche Ähnlichkeit täuscht den Gatten der einen; er glaubt, sie in Gesellschaft eines andern Mannes anzutreffen. Der Verdacht führt zu Tränen und dramatischen Auseinandersetzungen, denen ein Zusammentreffen der beiden Zwillingsschwestern ein glückliches Ende setzt. Die Darstellung ist betont theatralisch einerseits wegen der Notwendigkeit, alles mit Gesten auszudrücken, anderseits weil die Kamera noch unbeweglich ist und die Schauspieler gezwungen sind, vor ihr, auf engem Raum, gleichsam wie auf einer Bühne, zu spielen. In diesem Kurzfilm begegnet man einem recht charakteristischen technischen Einfall: der Abrollung von zwei verschiedenen Szenen auf einer zweigeteilten Bildfläche.
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Amor pedestre (Liebesspiel der Füsse) [Il Muto cinema: Amore pedestre]
1913 [Produktion: Ambrosio 1914]
Regie: Marcel Fabre (Robinet)
Psychologie der Füsse. Gefühlsmässige Annäherung nach einer zufälligen Begegnung, Verfolgung, eine in die Schuhe der Schönen versteckte einladende Botschaft, Herausforderung zum Duell, das mit dem Triumph der Liebe endet. All das wird aus der Hundeperspektive, nur mit Aufnahmen der Füsse und Beine, geschildert. Gegenüber der damals fast durchweg vorherrschenden Banalität stellt dieser Kurzfilm einen beachtenswerten Versuch dar, mit intelligenter Originalität etwas völlig Neues zu schaffen. Die Erzählung hat einen packenden Rhythmus, wie ihn nur der Film hie und da verwirklichen kann.
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Caio Giulio Cesare (Caius Julius Caesar)
Produktion: Cines, Rom, 1913
Regie: Enrico Guazzoni
Drehbuch: Raffaele GiovagnoIi
Operateur: Antonio Cufaro
Darsteller: Amleto Novelli, Gianna Terribili Gonzales, Lea Orlandini
Dieser Film gehört der Zeit an, in welcher der italienische Film darauf ausging, geschichtliche Ereignisse in grandioser Weise wiederzugeben, und damit grossen Erfolg hatte. Julius Caesar wird vom damals sehr volkstümlichen Schauspieler Amleto Novelli verkörpert. Trotz seines bisweilen etwas emphatischen Spiels gelingt es ihm, seine Rolle überzeugend zu gestalten. Sehr bemerkenswert sind die Photographie, besonders die Innenaufnahmen mit ihrem eindrucksvollen Helldunkel, und die Inszenierung.
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Ma l' amor mio non muore (Aber meine Liebe stirbt nicht)
Produktion [Il cinema muto: Film Artistica "Gloria", Turin] 1913
Regie: Mario Caserini
Darstellerin: Lyda Borelli
Der Erfolg des italienischen Films der Anfänge ist, ausser im geschichtlichen Genre, auch im Phänomen des »divismo« begründet; sowohl der historische wie auch der dramatische Film werden meistens sehr negativ beurteilt - und nicht ganz zu Unrecht, da sie bald in schematischen Formen erstarrten, wobei sie neuen Lösungen den Weg versperrten und die Voraussetzungen der Krise schufen, die den italienischen Film in den Jahren unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg befiel. Man kann jedoch dem historischen Film gewisse Verdienste nicht absprechen, und auch der Film des »divismo« hat seinen ihm eigenen Wert, und zwar besonders als typischer Ausdruck des damaligen Geschmackes. In den Jahren von 1913 bis ungefähr 1920 beherrschten die Darstellerinnen des italienischen Stummfilms (Francesca Bertini, Lyda Borelli, Rina de Liguoro, Pina Menichelli usw.) die Leinwand in der ganzen Welt, und noch heute ist in Italien, Frankreich, Latein-Amerika und den Vereinigten Staaten von Nordamerika das Andenken an die ersten »Bräute« der Welt lebendig. Gerechterweise muss man anerkennen, dass der Darstellungsstil der italienischen Diven (von der Kunst des Mimen stark beeinflusst) eine echte Ausdruckskraft mit der romantisch-dämmrigen Gefühlsseligkeit jener Zeit verband. Klare Anzeichen des »divismo« sind bereits in »Ma l' amor mio non muore« erkennbar. In diesem Film verkörpert Lyda Borelli als Partnerin von Mario Bonnard eine berühmte Künstlerin, Elsa Holbein, die einen Herzog liebt und auf ihn durch eine wilde Verzweiflungstat verzichtet. Diese kurze Inhaltsangabe ist sehr bezeichnend; dazu kommt noch die in reinstem Jugendstil gehaltene Ausstattung sowie die grosszügige, romantische Kunst der Borelli, die, bereits eine sehr bekannte Theaterschauspielerin, mit diesem Streifen von Caserini ihren grössten Filmerfolg errang.
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Cenere (»Asche«)
Produktion: Ambrosio-Caesar Film, Rom 1916 [1917]
Regie: Febo Mari und Arturo Ambrosio
Drehbuch: Eleonora Duse; Febo Mari (Bearbeitung nach dem gleichnamigen, 1904 von Grazia Deledda verfassten Roman)
Darsteller: Eleonora Duse (Olì); Febo Mari (Anania)
Eleonora Duse war fast sechzig Jahre alt, als sie dem Drängen von Febo Mari und des Produzenten nachgab und beschloss, in einem Film aufzutreten. Die Duse und Febo Mari dachten sich aber den Film auf gänzlich verschiedene Weise. »Auf keinen Fall Grossaufnahmen«, so erklärte die Duse, »denn sie erschrecken mich. Ich habe gewisse Filme (von Griffith), gewisse Halbdunkel, gewisse Verkürzungen gesehen, die zu mir passen würden.« Mari hingegen plante einen Grossfilm, dessen absoluter Mittelpunkt die Duse - umgeben von verschiedenen andern Stars der damaligen Zeit -sein sollte. »Cenere« wurde somit das Ergebnis eines Kompromisses. Der Film wurde vom Publikum schlecht aufgenommen und geriet bald in Vergessenheit. Die hohen Absichten der Duse wurden nicht erfüllt, obwohl sich das Werk in bemerkenswerter Weise bemühte, eine ausdrucksvolle Sprache zu finden; der Film blieb Stückwerk. »Aber in ihm«, schreibt die Duse, »gibt es vielleicht eine unsichtbare, aber doch durchschimmernde Sprache für denjenigen, der mit den Visionen der Seele vertraut ist.« Die Handlung des Romans wird beherrscht durch die dramatische Figur einer sardischen Frau, Olì, die in ihrer Jugend von einem bereits verheirateten Bauern verführt und von diesem einer Alten in Fonni anvertraut wird. Die verlassene Olì gebiert den Knaben Anania, der im Hause seines Vaters aufwächst. Ein Grundbesitzer nimmt sich seiner an und lässt ihn studieren. Als Anania die Studien fast beendet hat und im Begriffe ist, sich mit der Tochter seines Wohltäters zu verheiraten, vernimmt er, dass seine Mutter, Olì, nunmehr krank und einsam ist. Zwischen Mutter und Sohn bricht ein tragischer Konflikt aus infolge des nunmehr zwischen den beiden bestehenden Standesunterschiedes und des Grolles, den der Sohn gegenüber der Mutter wegen ihrer Fehltritte hegt. Trotzdem möchte Anania die Mutter zu sich nehmen, aber seine künftige Gattin stellt sich diesem Vorhaben entgegen. Olì verübt Selbstmord; der Sohn öffnet zu Füssen der toten Mutter das Amulett, das sie ihm in seiner Kindheit jeweils umzuhängen pflegte, und findet darin ein Symbol - ein Häufchen Asche. Die von der Duse ausgeführte Bearbeitung des Romans verlegt die Handlung auf den letzten Teil der Erzählung. Unsere Sequenz beginnt mit der Begegnung zwischen Mutter und Sohn, um mit dem Tod von Olì zu enden.
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Assunta Spina
Produktion: Caesar-Film, Rom, 1916 [1915]
Regie: Gustavo Serena, [Il cinema muto: und Francesca Bertini] Nach dem gleichnamigen Drama von Salvatoredi Giacomo
Operateur: Alberto Carta
Darsteller: Francesca Bertini (Assunta Spina), Gustavo Serena (Michele Boccadifuoco), Carlo Benetti (Federico Funelli), Luciano Albertini (Raffaele), Alberto Collo (Polizist)
Eine Sonderstellung unter den Diven jener Zeit nimmt Francesca Bertini ein, dank ihrer Vielseitigkeit und ihres volkstümlicheren, wandlungsfähigen und sinngemässeren Spiels. Der Film »Assunta Spina« bewahrt denn auch seine Gültigkeit, nicht so sehr wegen der mittelmässigen Regie als vielmehr dank der Kunst der Hauptdarstellerin, die auf der Theaterbühne in einer kleinen Rolle des Dramas von Salvatore di Giacomo, das dem Film zugrunde liegt, seinerzeit debütierte. Assunta Spina - eine typische Gestalt des »veristischen« Dramas - ist eine feurige Frau aus dem Volke, Besitzerin einer Glätterei in einem Gässchen Neapels. Raffaele, ein abgewiesener Verehrer, erregt die Eifersucht von Michele Boccadifuoco, dem Verlobten Assuntas. Seine Intrigen treiben das Drama dem Ausbruch zu: Michele verunstaltet Assuntas Gesicht in einem Wutanfall und wird darauf verhaftet. Während des Prozesses versucht Assunta, den Geliebten zu entlasten, und um ihm zu helfen, zögert sie nicht, sich Federico Funelli, einem Gerichtsbeamten, hinzugeben. Nach und nach aber nimmt Federico Micheles Platz im Herzen der Frau ein, und deren Gefängnisbesuche werden immer kürzer. An Weihnachten bricht das Verhängnis herein: Assunta erwartet Federico in der Glätterei; aber unerwartet tritt der aus dem Gefängnis entlassene Michele ein und begreift sofort, dass ihn die Frau betrogen hat. Er erfährt den Namen seines Rivalen, stürzt aus der Glätterei und begegnet Federico. Der Kampf ist kurz; Federico, tödlich getroffen, sucht Schutz in der Glätterei, und Michele ergreift die Flucht. Die Polizei ist sofort zur Stelle, und um Michele erneut zu retten, bezichtigt sich Assunta selber des Verbrechens.
Die Aufnahmetechnik dieses Filmes ist noch unbeholfen, die Bewegungen der Kamera beschränken sich auf einige Horizontal-Einstellungen, die Grossaufnahme - die binnen kurzem bis zur Besessenheit um sich greifen wird - erscheint hier nur flüchtig; der Film besteht grösstenteils aus Nahaufnahmen, d. h. er wurde in einer Distanz gedreht, die sowohl dem wechselnden Ausdruck der Gesichter wie auch dem Gebärdenspiel der Schauspieler gerecht wurde. Da die künstliche Beleuchtung noch fehlte, wurden die Aussenaufnahmen an der Sonne und die Innenaufnahmen unter dem Licht, das die Glaswände des Filmateliers zurückwarfen, gemacht. Die Schatten sind deshalb hart und die Effekte roh. Das gleiche Objekt wurde für Fern- und Nahaufnahmen verwendet. Aber die Photographie ist sauber und klar (ein Verdienst des Kameramannes Alberto Carta), und einige Aussenaufnahmen würden auch einem guten modernen Film wohl anstehen.
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I topi grigi (Die grauen Mäuse) Episode [VIII]: La tortura (Die Folter)
Produktion: 1917 [Il cinema muto: Tiber Film, 1918]
Regie und Ausführung: Emilio Ghione (Za la Mort).
Darsteller: Emilio Ghione (Za la Mort); Kally Sambucini (Za la Vie)
Nach dem ersten Weltkrieg machte auch der italienische Film eine kommerzielle und industrielle Krise durch; die Zeiten hatten sich vollständig verändert, und die bis dahin gepflegten Genres unseres Films hatten sich überlebt. Ghione versuchte einen neuen Weg mit dem Abenteuerfilm in Fortsetzungen. Mit sensationellen Überraschungen, stürmischen Fluchtszenen, tollen Nachstellungen erzählt die Serie der »Grauen Mäuse« die Abenteuer eines Gentleman-Diebes im Kampfe mit einer Apachenbande. Za la Mort verteidigt den jungen Burschen, dem die »Grauen Mäuse« eine grosse Erbschaft entreissen wollen, und mit seiner Gefährtin Za la Vie (Kally Sambucini) gelingt es ihm, die Gegner in die Flucht zu schlagen. In der Episode der »Folter« wird über Za la Mort ein summarisches Urteil gefällt; er wird an den Pranger gestellt, aber mit Hilfe der Frau, die ihn überwachen sollte, gelingt ihm die Flucht. Ghione war einer der wenigen Künstler des Stummfilms, die nicht vom Theater herkamen, und seine sehr persönliche Darstellung ist noch heute überzeugend.
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Rotaie (Schienen)
Produktion: SACI, Mailand 1929 [1930]
Regie: Mario Camerini
Operateur: Ubaldo Arata
Darsteller: Maurizio D' Ancora, Käthe von Nagy, Daniele Crespi
In der grauen Krisenzeit ragen, vereinzelt, »Sole« von Blasetti und »Rotaie« von Camerini hervor, zwei sehr bemerkenswerte Versuche, den italienischen Film an die lebendigen Strömungen des europäischen und amerikanischen Films anzuschliessen. »Rotaie« beendigt die Periode des italienischen Stummfilms. Dieser Streifen überwindet die alte Technik, bedient sich modernerer Ausdrucksmöglichkeiten und benützt eine rein visuelle Filmsprache, wobei er gänzlich auf die Texte verzichtet. Die Montage, die Grossaufnahme des Antlitzes eines Darstellers, ein Detail sind die von Camerini verwendeten Elemente, um einen ausdrucksvollen Rhythmus zu schaffen. Ein weiterer Vorzug des Films, ausser der ausgezeichneten Regie, besteht in der Einfachheit des Drehbuches, das auf die gebräuchliche Rhetorik verzichtet: Zwei arme junge Leute, denen das Leben nichts mehr zu bieten scheint, finden ein Portefeuille mit Geld und zwei Fahrkarten, was ihnen erlaubt, sich in die »grosse Welt« zu flüchten; aber der Reichtum verdirbt ihre Liebe sehr rasch. Nur bei der Rückkehr ins normale Leben finden sie ihr Glück wieder. Dieser Streifen beschreibt vor allem den Seelenzustand der beiden Hauptpersonen, deren Profil er scharf umreisst.
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1860
Produktion: 1933
Regie: Alessandro Blasetti
Alessandro Blasetti griff im Jahre 1933 mit seinem Film »1860« zum »Risorgimento« zurück. Dieser Film ist und bleibt eine seiner besten Schaffungen und erwarb nachhaltiges Interesse seitens des Publikums sowie der Kritik. »1860« ist einer der ersten und glücklichsten Versuche, die Charakteristiken des Realismus auf die Schilderung vergangener Epochen anzuwenden und einen gewissen Zeitabschnitt wirklich und erfühlt wiederzugeben und nicht nur kalt und rein äusserlich zu beschreiben. Um dies zu erreichen, stützte sich Blasetti auf eine besondere Episode der garibaldinischen Heldentaten und betrachtete sie vom Standpunkt des einfachen Bürgers-Garibaldi selbst erscheint nur flüchtig - und behandelte vor allem die dramatischen Begebenheiten zweier Jugendlicher; diese wurden von Gelegenheitsschauspielern gespielt, was für die damalige Zeit eine unerhörte Neuheit bedeutete.

Blasetti machte dem gesamten Kulissenkitsch der früheren Geschichtsfilme ein Ende und drehte den Grossteil seines Films in Aussenaufnahmen und im authentischen Milieu, was dem Film zu einer grossen Wahrheitstreue verhalf. Stilistisch lehnt sich Blasetti an einige ruhmvolle Epigonen des russischen Films an und, was seinen Sinn für Wiederbelebung anbelangt, an die Maler des neunzehnten Jahrhunderts und insbesondere an Fattori. All diese Beiträge mündeten in einer harmonievoll verschmolzenen Schilderungsweise, reich im Schwünge, klar intoniert, verklärt und feierlich. Ein Beispiel für Klarheit, fesselnde und wirksame Komposition waren die Kampfszenen, und die nicht leichte Aufgabe, die Rezitation der Berufs- und Gelegenheitsschauspieler auszugleichen, wurde mit einer derartigen Leichtigkeit gelöst, dass es auf den ersten Blick fast unmöglich erschien, die einen von den anderen zu unterscheiden. Der Film bleibt daher ein bedeutendes Beispiel des »historischen Realismus« in der Geschichte des italienischen Films.
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