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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 42, März-April 1964

Inhalt
Filmographie: Yasujiro Ozu
Editorial
Holpriger Weg zum Nachbarn
Retrospektive
Filme der Welt - Für den Frieden der Welt
Verteidigung der Kultur auf 17x24 cm
Le mani sulla città
Amerikas schwarze Serie
Von QUO VADIS bis CLEOPATRA
Das wahre Ende des Krieges. Der polnische Film III
Filmliteratur
Das Schweigen
Wer erschoss Salvatore G. ?
Julia lebt
Der Leopard
Winnetou I
Schlachtgewitter am Monte Cassino ===

Filmographie: Yasujiro Ozu

1927 Zange No Yaiba 1928 Wakadonoyme 1928 Nyobo Funshitsu 1928 Kabocha
1928 Nikutaibe 1929 Takara No Yama 1929 Wakakihi 1929 Wasei Kenka Tomodachi
1929 Daigaku Wa Deta Keredo 1930 Kaishain Seikatsu 1930 Tokkan Kozu 1930 Kokkon-gaku Nyumon
1930 Hogaraka Ni Ayme 1930 Raokudai Wa Shita Keredo 1930 Sono Yo No Tsuma 1930 Erogami No Onryo
1930 Ashi Ni Sawatta Koun 1930 Ojosan 1930 Shukujo To Hige 1930 Bijin Aishu
1931 Tokyo No Gassho 1932 Haru Wa Go - Fujin Kara 1932 Umarete Wa Mita Keredo 1932 Seihsun No Yume Ima Izuoki
1932 Mata Au Hi Made 1933 Tokyo No Onna 1933 Hjosannoonna 1933 Dekigokoro
1934 Haha O Kowazuya 1934 Ukigusa Monogatari 1934 Hako Iri Museum 1935 Tokyo No Yado
1936 Daigaku Yoi Toko 1936 Hitori Musuki 1937 Shukujo Wa Nani Wasuratea 1941 Toda-ke No Kyodai
1941 Chichi Ariki 1947 Nagaya Shinshi-roku 1948 Kazae No Naka No Mendori 1949 Banshun
1950 Munakata Shima 1951 Banshu 1952 Ochazuke No Aji 1953 Tokyo Monogatari
1956 Soshun 1957 Tokyo Boshoku 1959 Higanbana 1959 Ohayo
1959 Ukigusa 1960 Akibiyori 1961 Kohayagawa-ke No Aki 1962 Sammanoaji

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Editorial

Das ZWEITE DEUTSCHE FERNSEHEN gibt wieder einmal den Sündenbock ab: Man beschwerte sich bei der Programmleitung in Mainz, nicht in der Form eines Briefes, sondern im Gewand einer Pressedienstmittellung. Wer? Die FDP, die hierzulande die freiheitlichen Traditionen des deutschen Liberalismus zu verwalten glaubt, wenn sie dagegen protestiert, dass der italienische Regisseur und Schauspieler Vittorio de Sica in einer Produktion des ZWEITEN DEUTSCHEN FERNSEHENS mitwirken soll. Der Grund für diesen Protest liegt weniger darin, dass de Sica eine Gefahr für die deutsche Schauspielkunst sein könnte - ein italienischer Gaststanzer ist ja auch keine Gefahr für den deutschen Metallarbeiter -, sondern dass er den Film DIE EINGESCHLOSSENEN gedreht hat. Die makabren Ereignisse um diesen Film sind den Lesern dieser Zeitschrift ja hinreichend bekannt (siehe Editorial in 41). Das Bewusstsein, das hier protestiert, ist das nämliche, das immer dann die Bereiche des Künstlerischen und des Politischen getrennt sehen will, und sich plötzlich zum Sachwalter der Kunst aufspielt, wenn das Politische nicht sehr schmeichelhaft für die Bundesrepublik ausfällt.

Politische Äusserungen eines Films, in diesem Land müssen sie konstruktiv sein, und konstruktiv wird in den Kreisen der FDP mit "zustimmend" übersetzt: zu dieser Gesellschaftsordnung und zu dieser - wer die Verflechtung zwischen Industrie und FDP richtig zu deuten weiss, dem ist es längst aufgegangen - Freien Marktwirtschaft in den EINGESCHLOSSENEN die faschistische Vergangenheit der deutschen Grossindustrie mit nicht sehr freundlichen Worten bedacht wird, soll Vittorio de Slca in der Bundesrepublik nicht spielen.

Dass das ZWEITE DEUTSCHE FERNSEHEN die Reklamationen der FDP bisher nicht zur Kenntnis genommen hat, lässt hoffen.
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FILMSTUDIO beginnt in dieser Ausgabe, einem Wunsch seiner Leser entsprechend, mit dem Abdruck von Kritiken zu einzelnen Filmen. Dabei bedeutet Aktualität weniger, dass in den Spalten der KRITIKEN nur die neuesten Filme besprochen werden. Vielmehr soll auf Filme eingegangen werden, die für die Entwicklung des Kinematographischen in dieser oder jener Weise wichtig sind.

DAS SCHWEIGEN als Schlüssel zur verqueren Welt Ingmar Bergmans, SCHLACHTGEWITTER AM MONTE CASSINO als Beispiel für einen kritischen Kriegsfilm, WINNETOU I als Muster eines neuen deutschen Filmgenres, die Kritik zu JULIA LEBT soll der Anfang einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Filmschaffen der DDR sein, der LEOPARD und WER ERSCHOSS SALVATORE G.?, die Kritiken zu diesen Filmen beschäftigen sich mit Filmen, deren Wirkung in Westdeutschland - nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Francesco Rosi, der Regisseur von WER ERSCHOSS SALVATORE G.?, ist auch der Partner unseres Gespräches, das über seinen neuesten Film LE MANI SULLA CITTA berichtet.

Hanns Fischer erweitert mit seinem zweiten Artikel über AMERIKAS SCHWARZE SERIE die Definition, die er im letzten Heft gegeben hat. Mit dem in der deutschen Filmpublizistik vernachlässigten Phänomen des ANTIKFILMS setzt sich Hans-Peter Kochenrath auseinander. Peter H. Schröder schliesst in dieser Ausgabe seine Untersuchung über den POLNISCHEN SPIELFILM der Nachkriegszeit ab. In FILMSTUDIO 43 [Verweisung beim Artikel] werden wir dazu in Ergänzung noch eine kleine Filmographie polnischer Regisseure veröffentlichen.       WV
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Holpriger Weg zum Nachbarn
Die X. Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen

Man verliess Oberhausen mit gemischten Gefühlen, Das Jubiläumsfestival - mit geziemender Hochachtung vor der eigenen Leistung wurde das erste Dezennium dieses wohl populärsten Kurzfilmmarktes begangen (wobei ein russischer Delegierter im Überschwang seiner Gefühle vom zukünftigen "400sten Festival" sprach; er war übrigens der einzige, der ins graue Einerlei der Festreden einen farbigen Akzent setzte) - hatte Anstrengung gekostet und verstört. Verstört, weil alles in einer frostigen Atmosphäre verlief, die Wege zum Nachbarn offenbar vereist sind. Angestrengt, weil man ein Mammutprogramm serviert bekam, das die enragierten Cineasten von morgens 10 Uhr bis nachts um 2 Uhr an die Stühle der Oberhausener Stadthalle fesselte. Platz und vor allem Zeit für Diskussionen war wenig, und diese beschränkten sich deshalb mehr auf die freundliche und weniger freundliche Floskel.

Der Vergleich zu den Dokumentarfilmtagen in Leipzig fällt darum nicht sehr freundlich aus. War Leipzig ein Festival, wo man miteinander sprach, sich um die Probleme der filmischen Kurzform mühte - etwa auf dem FREIEN FORUM, wo man sich engagierte und zeitweilig hitzig über die Frage nach der dokumentarischen WAHRHEIT unterhielt - wo man auch die Gelegensich offen und lange mit den Autoren der gezeigten Filme auseinanderzusetzen, so zeigte sich Oberhausen als ein Festival des Schweigens (und nur an der Tafel des ATLAS-Freitisches kam so etwas wie eine echte Diskussion zustande). Die offensichtliche Überorganisierung des Festivals brachte es zudem noch mit sich, dass sich so etwas wie "Klassen" bildete, die anwesenden Pressevertreter nach Kategorien eingeteilt wurden, und man beileibe nicht die Möglichkeit hatte, sich neben der täglichen hektographierten Information auch eine persönliche zu verschaffen. Oder wie ist es anders zu interpretieren, dass der Vertreter einer grossen französischen Filmzeitschrift sich mehrmals gefallen lassen musste, dass ihn die uniformierten Türsteher der Stadt Oberhausen - die im übrigen einen rechten Terror ausübten, was einem internationalen Festival wenig ansteht - von wichtigen Veranstaltungen mit Brachialgewalt fernhielten. Allerdings hatte die Festivalleitung es vermieden, diesen Journalisten zu gewissen Zusammenkünften innerhalb des Festivals einzuladen, so dass die mausgrauen Uniformträger zumindest formal im Recht waren, was wiederum deren rüden Ton und mangelnden Takt mit nichts rechtfertigt.

Es war ein Festival der Cliquen, die nach Möglichkeit unter sich blieben und sich nur in einem verstanden, keine Freundlichkeit aufkommen zu lassen. Soviel über den äusseren Rahmen. Nun zu den Filmen. Und da ist Oberhausen, vergleichen wir es wiederum mit Leipzig, besser dran. Die KURZFILMTAGE werden im allgemeinen mit den besseren Filmen beschickt als die DOKUMENTARFILMWOCHE in der DDR. Und noch etwas gehört zum Charakteristikum von Oberhausen, dass die besten Filme "ausserhalb des Wettbewerbs" liefen. Ich meine SUCRE AMER (Bitterer Zucker) des Franzosen Yann le Masson, REQUIEM FÜR 500000 des Polen Jerzy Bossak und SCORPIO RISING des Amerikaners Kenneth Anger. SUCRE AMER, eine Mischung aus CINEMA DIRECTE - jene von Chris Marker propagierte Form des CINEMA VERITE - und Dokumentarfilm, beschäftigt sich mit den Manipulationen, die der ehemalige französische Ministerpräsident Michel Debr‚ in seinem Wahlkreis auf der Antilleninsel R‚union anstellte, um wieder ins Parlament gewählt zu werden. Unterstützt von zwei Regimentern Polizei hatte er seine Gegner daran gehindert, zur Wahlurne zu gehen. Um nun die Zahl der Wählenden der Bevölkerungszahl anzugleichen, wählten viele seiner Anhänger zweimal, mit Wahlkarten, die auf die Namen längst Verstorbener ausgeschrieben waren. Zu den bestürzendsten Sequenzen dieses Films gehört, als Arbeiter die Wahlscheine, worauf Name und Geburtsdatum des Wählers stehen, und die Grabsteine dieser Wähler zeigen, worauf Name, Geburts- und Sterbedatum stehen. Die Darstellung dieser Ungeheuerlichkeit wird untermauert durch zahlreiche Interviews mit den Beteiligten und jene für den neokolonialistischen Esprit der gaullistischen Union bezeichnende Geste Debr‚s, als er einem Zuckerrohrarbeiter ins krause Wollhaar fasst. Hier arretiert das Bild. Für Sekunden ist der selbstgefällige und verachtende Gesichtsausdruck Debr‚s sichtbar und demaskiert diesen ungeheuerlichen Schwindel. Der Film bekam von der französischen Regierung kein Zensurvisa. Dies ist offensichtlich der Grund, weswegen er nicht ins Offizielle Wettbewerbsprogramm aufgenommen wurde. Fürchtete man um die deutsch-französische Freundschaft?

REQUIEM FÜR 500000, vornehmlich aus deutschem Nachrichtenmaterial zusammengeschnitten, öffnet seine grausamen Perspektiven auf das Warschauer Ghetto. Versehen mit einem nüchternen Kommentar, wird hier aufgewiesen, wie sich Verhaltensweisen der Unterdrücker bei den Unterdrückten festsetzen, wie das Gehabe der jüdischen Ghetto-Polizei dem Gehabe der SS-Bewacher ähnelt. Es wird deutlich, wie die Ausweglosigkeit des Schicksals die Menschen verändert, die selbst im Angesicht des Todes brutale Massnahmen treffen, um sich vielleicht zu retten. Die bedrückende Wirkung erreicht Bossik nicht zuletzt dadurch, dass er nur Material verwendet, daa keinen rührseligen Charakter hat. Die aus vielen Dokumentarfilmen bekannten Kinderszenen fehlen; und nicht auf das Gefühl, sondern auf den Verstand des Zuschauers zielt die Absicht dieses Films.

Das Leben einer Motorradbande in den USA hat der Farbfilm SCORPIO RISING zum Vorwurf, der seine Dichte nicht zuletzt aus der fast vollkommenen Identifikation seines Autors Kenneth Anger mit dem Sujet bezieht. Vor der Kamera wird das Gehabe der jungen Leute zum Ritual. Die Vorbilder werden gezeigt: James Dean, Garry Cooper und Marlon Brando, dessen Film THE WILD ONE auf dem Fernsehschirm erscheint, während der Protagonist, einem Priester gleich, seine Gewänder anlegt: Cowboyboots, Jeans mit schwerer Kette um die Hüften, die lederne Jacke auf den nackten Körper. Szenen aus KÖNIG DER KÖNIGE werden eingeblendet, um das messianische Selbstverständnis dieser Leute zu zeigen. Homo-erotische Szenen im Versammlungslokal, das mit SS- und Hitlerbildern geschmückt ist, bezeichnen die Verdrängungen und machen das anarchische Bewusstsein des Gangs evident: Man lebt in einer saturierten Gesellschaft, profillos und unauffällig. Um sich selbst gegenüber Individualität zu beweisen, setzt man gegen die Ideale der amerikanischen Gesellschaft Ideale, die ihre Brisanz daraus beziehen, dass sie alles beinhalten, was der amerikanischen Öffentlichkeit verhasst ist. So auch der Faschismus, dem sich die jungen Leute verschworen haben, weil Ihre Umwelt dagegen ist. Der Film ist im letzten natürlich eine verfehlte Hymne und völlig unkritisch gemacht. Daraus bezieht er seine Wirkung und leistet zumindest für den europäischen Besucher trotz seiner fast perfektionisch zu nennenden Wildheit Aufklärungsarbeit.

Soweit die Perlen ,off festival". Die gab es auch innerhalb des Wettbewerbe. Einige gingen bei der Preisausschüttung leer aus. Zum Beispiel ZRODLO (Die Quelle) von Tadeusz Jaworski, ein Film über ein kleines Dorf im Bezirk Kielce (siehe Bericht über Leipzig). Es gab in Oberhausen kaum einen Film, der ein solch hohes Engagement seines Autors an die Wahrheit aufwies. IM JANUAR 63, eine DEFA-Produktion unter der Regie des jungen Kurt Tetzlaff, war ebenfalls ein Film, der einer Erwähnung nicht für würdig befunden wurde. Tetzlaff schildert eine Gleisbaubrigade aus dem ostdeutschen Braunkohlenrevier, die innerhalb weniger Minuten eine Schiene auszuwechseln hat. In sehr schönen Bildern und einem - leider - zu pathetischen Kommentar, der im übrigen im Vergleich zu Leipzig schon gemindert wurde, erfährt der Zuschauer, warum dies geschieht, warum so schnell, dass der Zug nicht stehenbleiben darf, dass die Förderermaschine nicht stillstehen darf, weil sonst der Boden einfriert: eine alltägliche Angelegenheit! Aber wie wird sie erzählt! Schnitt und Montage verraten hohes Können. Und das Sujet wird ohne penetrante ideologische Überlagerungen, die so oft die DEFA-Filme kennzeichnen, dargestellt. IM JANUAR 63 war neben der satirischen Attacke des Trickfilmers Helmut Herbst, SCHWARZ-WEISS-ROT, das einzige, was sich lohnte aus dem deutschen (BRD und DDR) Länderprogramm zur Kenntnis zu nehmen. Der Kunstfilm über MAX ERNST, den Peter Schamoni und Carl Lamb drehten, brave handwerkliche Arbeit, erhielt dafür einen Preis, weil er vielleicht den deutschen Vorstellungen vom ,Kulturfilm" am ehesten entspricht. Warum dagegen MADELEINE-MADELEINE von Vlado Kristl mit einem Preis bedacht wurde, ist angesichts des kruden Unsinns, der da einige Minuten über die Leinwand poltert, nicht einzusehen. Allerdings fällte die Jury noch weitere, nicht ganz verständliche Urteile. Den ersten Preis erhielt der tschechische Film POSTAVA K PODPIRANI - JOSEF KILIAN, eine der Kafkaschen Welt verpflichtete Abrechnung mit dem Stalinismus. Diese Abrechnung schlägt eben durch ihre kafkaesken Züge - Josef Kilian = Josef K. = Josef Stalin -, die den Stalinismus als ein mythisches Absurdum erscheinen lassen, dem Film im letzten zum Nachteil aus. Polen erhielt den Preis für das beste Länderprogramm, einen Preis, der in diesem Jahr nicht hätte verliehen werden dürfen, denn die Länderprogramme waren im allgemeinen vom nämlichen durchschnittlichen Niveau. Keines ragte da heraus.

Am französischen Programm war eigentlich nur die Studie LES IDOLES interessant, in der sich der Regisseur Martin Kamitz mit den Idolen der französischen Teenager auseinandersetzt - der Film lief ebenfahs ausserhalb des Wettbewerbs - und A VALPARAISO von Joris Ivens und Chris Marker, einer empfindsamen und sehr kritischen Studie dieser Stadt. Dass dieser Film den Preis der FIPRESCI-Jury erhielt, war mehr als verdient. Trotz der Filme BLIND GARY DAVIS von Harold Becker, einer Impression über einen Strassensänger, und SMOKE von Joseph Kramer, einer leichten und im letzten falschen Satire über das Rauchen, scheint in den USA das Niveau der Kurzfilmproduktion immer mehr zu sinken. Die Tage, da Dan Drasin SUNDAY drehte, sind wohl, abgesehen von SCORP1O RISING, endgültig vorbei. Enttäuschend waren auch Jugoslawien und England, die beide nichts nennenswertes nach Oberhausen geschickt hatten.

Erwähnt seien nur noch BELYJE KOKOKOTSCHIKI (Weisse Glockenblumen) von Ivar Kraulitis (UdSSR), KEZENFOGVA (Hand in Hand) von Anna Herskö (Ungarn), AI (Die Liebe) von Voji Kuri (Japan) und CZERWONE I CZARNE (Rot und Schwarz), einer einfallsreichen Stierkampfdarstellung, die ihren Reiz aus der Verwendung von Gezeichnetem und Realem bezieht. Der Regisseur Witold Giersz (Polen) erhielt mit Recht hierfür den Preis für den besten Trickfilm. Dies war die einzige verständliche Entscheidung der internationalen Jury und der Präsidentenschaft des Holländers Bert Haanstra.

Oberhausen wird, wenn es seinen Ruf als das beste Kurzfilmfestival der Welt behalten will, einiges ändern müssen. Derlei kapitale Fehlentscheidungen wie dieses Jahr und ein - es sei noch einmal gesagt und verbunden mit einer Bitte - so frostiges Klima tragen nicht zum Renomm‚ bei. Denn auf holprigen "Wegen zum Nachbarn" ist es, selbst wenn es nur filmisch geschieht, ein wenig zu mühsam.       WV
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Retrospektive

Während der Oberhausener Kurzfilmtage wurde auch in diesem Jahr eine Retrospektive veranstaltet. Sie stand unter dem verwaschenen Motto: "Vergessene Filme - Vergessene Regisseure". Die Auswahl besorgten Ulrich Gregor und Enno Patalas, Filme beschaffte - da ja nur ausländische Archive helfen konnten - das Deutsche Institut für Filmkunde.

Im Hauptprogramm an den Vormittagen liefen 10 Filme, in Nachtvorstellungen und samstags weitere sechs.

Nicht alle Filme waren mit dem gestellten Thema in Einklang zu bringen. Ob sich seine Erfinder im Klaren darüber waren, was es meinte? Für wen waren sie vergessen, für was und wen wichtig? Eine ganze Reihe der alten Filme waren keineswegs vergessen, eher uns durch die Umstände unbekannt, und andere aus neuerer Zeit (etwa von 1959) kann man sowieso nicht dazu zählen.

Im nächsten Jahr sollte man das Thema genauer umreissen. Interessant fände ich, die 12 erfolgreichsten deutschen Filme der zwanziger Jahre zu zeigen, von denen Kracauer wohl nur einen kleinen Bruchteil in seine Analyse einbezog. Dann aber sollte man darauf achten, dass sie mit einer Geschwindigkeit von 16 Bildern laufen und nicht mit 24, wie dieses Jahr.

Interessant waren, abgesehen von dem reichlich bekannten ÜBERFALL, nur wenige. DAS FEST DES HL. GEORG (UdSSR 1930) fiel durch seine gute Ironisierung des Gedenkstättenrummels und der Dummheit der Masse auf. Aus Amerika kam LONESOME (1928) (Ringelspiel), von dem leider keine Originalkopie lief, es fehlte die Virage in den Szenen auf Coney Island. Er ist ein schönes Beispiel als Überläufer aus der Stummfilmzeit: es wurden einige Sprechszenen nachgedreht, die im Gegensatz zu den anderen mit 24 Bildern laufen. Aus der Literatur zumindest kannte man SO IST DAS LEBEN und NIEMANDSLAND. Die Überraschung der Retrospektiv® war sicherlich Pierre Pr‚verts L' AFFAIRE EST DANS LE SAC (1932). Diesen Film sollten alle Filmclubs zeigen oder gar ein Filmverleiher übernehmen. Näherer Untersuchung wäre es wert, das Verhältnis der Schauspielkunst Etienne Decroux' und Louis Jouvets zu studieren.

Zu den Filmen des Hauptprogramms wurden Einführungen sehr unterschiedlichen Niveaus gehalten: Notizen über den Regisseur und den Film. Leider wurden keine Filmographien der Regisseure gegeben und einige Angaben waren fehlerhaft. So ist etwa der ÜBERFALL nicht die einzige Regieleistung E. Metzners, 1929 hat er noch den Film ACHTUNG LIEBE, LEBENSGEFAHR gedreht. Junghans (SO IST DAS LEBEN) ist nicht vor dem Kriege nach Amerika emigriert, sondern hat 1938 die Regie zu einem Reichsparteitagfilm übernommen; da jeweils die neueste Entwicklung berücksichtigt werden musste, zog sich die Herstellung bis 1943 hin.       Herbert Birett
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Filme der Welt - Für den Frieden der Welt

Nachdem die Mannheimer Dukatenlese wieder einmal eklatant bewiesen hatte, wie luftig das Haus ist, das man dort mit finanzieller Hilfe des Bundes dem Kurzfilm errichtet hat, konnte man dem Pendant in Leipzig einigermassen getrost entgegensehen. Von besonderem Interesse war natürlich ein echter Leistungsvergleich der beiden deutschen Staaten, der in Mannheim bisher nie zustande gekommen ist.

Gesprächspartner der Veranstalter, des "Clubs der Filmschaffenden der DDR" war der westdeutsche Produzentenverband. Junge Produzenten hatten hier die Teilnahme in Leipzig durchgesetzt, liessen sich aber gleichzeitig auf eine Erpresserformel vorsichtiger Mitglieder ein: das vom Verband ausgewählte Programm wird in Leipzig ganz gezeigt oder gar nicht, andere Filme sollen nicht zugelassen werden.

Nach Bonn schielend verzichteten verschiedene Produzenten ganz auf eine Teilnahme. So etwa Edgar Reitz, dessen hochgestochene, technische Impressionen hauptsächlich von der Bundespost finanziert wurden, und Alexander Kluge, der als Wortführer der "Oberhausener" gerade mit Bonner Stellen einen Finanzkompromiss aushandelte.

Walter Krüttner, einer der Initiatoren der Produzentenentscheidung und mit DAS MUSS EIN STÜCK VOM HITLER SEIN Gewinner des Leipziger Fernsehfunkpreises, verhinderte aus unerfindlichen Gründen die Teilnahme des ebenfalls von ihm produzierten MACHORKA MUFF. Der Regisseur dieses Films, der exilierte Franzose Jean Marie Straub, erntete in Privatvorstellungen, die er dennoch organisiert hatte, das Lob so hervorragender Cineasten wie Chris Marker und Jerzy Bossak. Freundliche Aufnahme fanden die Collagen KLEINE UNTERWEISUNG ZUM GLÜCKLICHEN LEBEN von Helmut Herbst und DIE PISTOLE von Urchs. Einer der Tiefpunkte des Programms wurde durch die Vorführung von Alfred Ehrhardts VULKANISCHES ANTLITZ (ein "Kultur"-Filmchen) und Veselys DÜSSELDORF - MODISCH HEITER, IM WINDE VERSPIELT markiert, der mit Hochhausprospekten und der aufgeblasenen Seifenschönheit Ina Balke langweilt.

Kaum besser war das Programm der DDR. Der Sonderpreis für MUSICI, einen technisch antiquierten Trickfilm von Katja Georgi, erscheint schmeichelhaft: die Welten der Musik und des Kriegs werden gegenübergestellt, die Pointe nachgereicht: der Film richtet sich nicht gegen die deutsche Hausmusik. STREIK, ein oberflächlicher Wochenschaureport, berichtet über den letzten grossen Ausstand der französischen Bergarbeiter. Einzig diskutabler Beitrag: IM JANUAR 63 von Kurt Tetzlaff, der über eine Brigade in einem Braunkohlenbergwerk berichtet. Die Kamera beobachtet eine Viertelstunde lang die Arbeiter, die für die Instandhaltung des Schienennetzes verantwortlich sind, sachlich und wenig pathetisch (ausser im Kommentar). Der Zuschauer spürt, dass hier nichts gestellt ist, dass diese Menschen vom Wert ihrer Arbeit für die Gesellschaft überzeugt sind. Der "sozialistische Alltag", nüchtern aber dennoch verbindlich dargestellt, scheint auch in der DDR das propagandistische Schielen im Film abzulösen. Jürgen Böttcher, der in STARS ebenfalls eine Brigade an ihrem Arbeitsplatz zeigt, hat diesen Weg erst halb beschritten. Sein Film schwankt noch zwischen hingeplapperten Parolen und dokumentarischer Wahrheit. Nur wenige Male - wahrscheinlich wenn die Aufnahmeapparatur unsichtbar blieb - gelang es Böttcher, Spontaneität und Authentizität seiner Protagonisten zu zeigen.

So besehen blieben die deutschen Produktionen wieder einmal hinter den Nationalprogrammen aus Frankreich, Polen und der CSR zurück. Die Auszeichnung des tschechischen Programms erweist sich dabei als einzige Fehlentscheidung der Leipziger Jury. Hier fand sich neben der exzellenten Montage über den Photographen Karel Hajek REPORTER ein so dümmlicher und zynischer Film wie URLAUB, der sich unangemessen und aus Voyeurposition über die Ferienfreuden harmloser Urlauber mokiert.

Erwartungsgemäss gingen die Hauptpreise des Festivals an Chris Markers LE JOLI MAI und Jerzy Bossaks REQUIEM FÜR 500 000. Marker unternimmt im Stile des CINEMA VERITE einen repräsentativen Querschnitt durch das Bewusstsein des Franzosen unter de Gaulle: Verschärfung faschistischer Tendenzen, ernsthaftes soziales Engagement, totale politische Abstinenz treten gleichermassen zutage. Bossak montierte grösserenteils unbekanntes Material zu einem Dokument über das Warschauer Ghetto, das an Eindringlichkeit Frederic Rossifs LE TEMPS DE GHETTO bei weitem übertrifft.

Die eigentlichen Überraschungen des Festivals waren zwei Kurzfilme aus Polen und Ungarn. Das reaktionäre Bewusstsein polnischer Dorfbewohner ist Gegenstand von DIE QUELLE. Der erste Teil zeigt uns die Frauen des Dorfs, die in unendlicher Kette das Wasser von einer 4 km entfernten Quelle herantragen. Formal überzeugend gestaltet, scheint sich eine Hymne an die Arbeit anzubahnen. Jedoch: auf dem Grundstück eines Bauern wird eine Quelle entdeckt. Seine Felder werden zertrampelt, Streit entsteht, dem der Film in einer Reihe von Einzelinterviews nachgeht. Im dritten Teil kulminieren diese entgegengesetzten Meinungen während einer Dorfversammlung im totalen akustischen Chaos. Verständigung scheint nicht mehr möglich. In dieser Form wurde der Film den Bewohnerd des Dorfs gezeigt, die sich daraufhin zu einer Genossenschaft zusammenfanden. Erste und schwierigste Möglichkeit des Dokumentarfilms! Recht kritisch auch Ungarns ZIGEUNER, der die offizielle Politik der ungarischen Regierung und die, immer noch ausstehende Integration der Zigeuner in die neue Gesellschaft kompromisslos angreift. Beide Filme und auch - mit Abstand - IM JANUAR 63 weisen einen möglichen Weg des Dokumentarfilms im Osten: Kritik an den Überbleibseln der Vorrevolution und der sich heute ergebenden nicht-antagonistischen (?) Widersprüche im eigenen Land.

Ansonsten herrschte Hausbackenheit vor, wenn auch das technische Niveau allgemein hoch blieb. Die sowjetische Delegation wartete mit einer pathetischen Hymne auf einen russischen Widerständler in Italien auf und überraschte ausserdem mit einem Beispiel neuer Astronautenlyrik. Nord-Vie|nam trieb blumenreiche Propaganda, Indien blieb oberflächlich bunt, als wäre es von Mitteleuropäern dargestellt worden.

Von den zahlreich anwesenden jungen Filmländern erweckten nur die Kubaner einiges Interesse. Nachdem man dort das Lied der Revolution in allen Varianten durchgespielt hat, geht man nun daran, ihre Ergebnisse zu erörtern. Das geschieht freilich auf aparte Weise. Es wird getändelt im Stil der Nouvelle Vague, da herrschen die rigorose Bewegung der Kamera, das stärkste Teleobjektiv und die Überraschungen der Gummilinse. Bei den anderen afrikanischen und asiatischen Staaten beherrschen länder- und völkerkundliche Dokumentationen noch das Bild.

Neben diesem offiziellen Programm gab es In Leipzig reichlich Gelegenheit, die neuesten DEFA-Produktionen kennenzulernen. DAS RUSSISCHE WUNDER des Ehepaars Thorndike vereinfacht leider den Lauf der Revolution und wird in seinem 2. Teil - besonders durch Auslassen jeder ideologischen und politischen Streitpunkte - mehr als langweilig. Bedenklich wirkte auch KAMPF UM DEUTSCHLAND, eine Hommage an Ulbricht, die sein Personenkultinterview mit dem NBC in Erinnerung rief. Gegen BRÜDER UND SCHWESTERN protestierten die anwesenden westdeutschen Filmjounalisten, weil er Teilphänomene der bundesrepublikanischen Gegenwart in zu wenig angemessener Form zu einem Vexierbild montiert.

Das Bild der Ostproduktionen - und darin liegt für den westdeutschen Besucher die Bedeutung dieses Festivals - nimmt schärfere Konturen an, als auf den von diversen Zensurakten immer wieder behinderten westlichen Veranstaltungen. Gespräche und Diskussionen standen in Leipzig neben dem Programm im Vordergrund, ein Gedanke, den man auch in Oberhausen aufnehmen sollte.

Der jetzt aufgenommene Kontakt mit der DDR sollte vom westdeutschen Produzentenverband weiter ausgebaut werden. Wir möchten in diesem Jahr auch die Vorstellung einer offiziellen Delegation erleben, die bestimmt ebenso viel Beifall erhalten wird, wie die der DDR in Oberhausen. Schliesslich sollte man dem Veranstalter, vertreten durch den CLUB DER FILMSCHAFFENDEN, mehr an der Auswahl des westdeutschen Programms beteiligen. Nur so kann es zwischen der DDR und der Bundesrepublik einen echten Leistungsvergleich auf dem Gebiet des Films geben.       Hanns Fischer
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Verteidigung der Kultur auf 17x24 cm

"?Die bisherigen Leser der FILMKRITIK werden keinen Aspekt der Zeitschrift, den sie geschätzt haben, missen müssen." (Fk 12/63.)

Im Gegenteil. Sie bekommen noch ein paar dazu. Man ist ja grosszügig. Die Freude, endlich eine kulturelle Institution zu sein, verschlägt der Argumentation die Stimme. Die Zeiten sind vorüber, in denen man zum "Hausblatt der deutschen Filmästheten" verurteilt war. Jetzt ist man eine Kulturzeitschrift, ein Mann von Welt quasi.

Wie wird man das? Man ändert das Format. "Freilich bleibt auch das zukünftige von 17x24 cm im Rahmen des bei Kulturzeitschriften üblichen; wir suchen nicht die Nähe der Illustrierten." Dass sich der Begriff der Kulturzeitschrift nach ihrem drucktechnischen Format richtete, das ist einer jener neuen Aspekte. Von der Erkenntnis des "Hausblattes" - man interessiere sich mehr für die Aussage als für die Form - ist die Kulturzeitschrift offensichtlich abgerückt, wenn sie sich nun ein selbstgerechtes Podest zimmert, von dem herab sich trefflich dekretieren lässt. Man mag sich fragen, was in den Köpfen dieser selbsternannten Kulturredakteure vorgegangen sein mag, als sie mit Elle und Zentimetermass ihre Kulturzeitschrift zurechtschneiderten. Man möchte wissen, wo die obere und untere Grenze des für Kulturzeitschriften üblichen Formates liegt. Gehört CINEMA noch dazu, fällt SICHT AND SOUND aus? FILM hat den Bogen jedenfalls zu weit gespannt. Das ist jetzt sicher. Wir wissen 's nun, von Kultur kann da keine Rede mehr sein. 30x24 cm: das ist zuviel. Kultur besteht nur auf engerem Raum: auf den 55 Seiten 17 x 24 cm der FILMKRITIK. Hier hat sie nun eine Heimstatt gefunden, der Feind, der auf breiter drucktechnischer Front eingefallen war, ist zurückgeschlagen und moralisch diskreditiert. Jedoch man nutzt die Bresche, die er geschlagen hat. Man stösst nach. "In allzu scheuer Zurückhaltung" (huch!) hatte man bisher darauf verzichtet, bessere Absatzmethoden zu finden. D. h. als Filmästhet war man sich offenbar zu fein, auf die Strasse zu gehen. Die Kultur, unter der Maske ihres schützenden Formats, vermag nun den Lockungen des Kiosks nicht mehr zu widerstehen. Unversehens gerät man da neben den degoutanten FILM, und nicht nur in die Nähe dieser verlästerten Illustrierte. So kommt Hochmut vor den Fall.       Wolfram Schütte

PS: Wenn die kritische Argumentation durch eine drucktechnische ersetzt wird, verlässt man nicht nur den Boden der Kritik, sondern auch den der Fairness. Wenn es gerade die FILMKRITIK ist, der zu FILM nichts einfällt, so ist das ein Skandal. Denn schliesslich gehört diese Argumentation zum Dümmsten, was einem beifallen kann: indem man das Format der Konkurrenz zum Signum des Boulevardjournalismus herabwürdigt, wird einem das eigene zum Gütezeichen für Kultur. Offensichtlich interessiert man sich hier mehr für die Form als den Inhalt.
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Le mani sulla città (Zurück zur Verweisung in Heft 44)   Michel Cournot sprach mit Francesco Rosi

Ich bin durch Neapel gelaufen, habe mir die Leute angesehen, die einander begegnen und reden, das Gedränge, die Zeitungen. Ich suchte meinen Film und fand ihn nicht. Tage vergingen. Mir schien, als betrachtete ich Neapel zu voreingenommen. Ich versuchte, mich treiben zu lassen _... Ich fand mich in den Strassen des Proletariats und des Lumpenproletariats. Ihre Besonderheit ist, dass dort die Lebensschwierigkeiten offen auf der Strasse ausgebreitet sind, anstatt sich wie anderswo in Hinterhöfen und Hauseingängen zu verbergen. Nicht als Provokation, sondern weil auf der Strasse noch ein bisschen Platz ist.

Ich war also dort, wo Neapel noch ungelöste Probleme hat. Aber ich sah den Film noch nicht vor mir. Ich wollte keinen dieser Menschen zeigen, einen oder mehrere dieser Haushalte. Sie sind da, sie kämpfen, um zu leben; dass ist nicht neu. In den Augen des Cinéasten gehört diese Problematik bereits der Vergangenheit an.

Ich hätte mich natürlich nachträglich damit beschäftigen können, mit meinem Film etwas über sie sagen können. Aber die Handlung des Films wäre nicht stark genug gewesen, um an jene Lebenskraft heranzureichen, die die Filme Rossellinis oder Viscontis LA TERRA TREMA ausstrahlen: ein Film muss "zünden", wie Feuer zündet; er muss anfangen, selbst zu leben und darf nicht mehr einfaches Mittel der Beschreibung bleiben. Nun, der Film wird nur selbst lebendig, wenn er direkt in ein Ereignis eingreift, das gerade im Entstehen ist und wenn er selbst dabei mitspielt. Hier fangen die Schwierigkeiten an, weil ich mit LE MANI SULLA CITTA nichts anderes als Filmkunst machen wollte.

Die Geschichte einer Familie, einer Strasse: das genügte mir nicht. Um zu leben, braucht der Film mehr Luft, mehr Stoff, mehr Bewegung. Und auch mehr Initiative. Wenn er leben will, muss er selbst agieren; und da die Aufnahme eines Films durch das Publikum nur kollektiv sein kann, darf sich der Film nicht nur auf die Erzählung einiger Momente aus einigen Lebensläufen beschränken. Ich brauchte fast ganz Neapel. Ich ging weiter durch Neapel; auf der Suche nach meinem Film stellte ich zusehends fest, dass Neapel dort wirklich lebt, wo es mich selbst hingeführt hatte: dass es sich heftig und unaufhaltsam durch den Wechsel seiner Häuser und Wohnblocks verändert. Ein Neapel aus neuen Gebäuden verschlingt das andere.

Diese Veränderung ist sichtbar, es ist eine andere Architektur. Mir als Cinéasten ist gleich, was von der Architektur sichtbar ist, glatte oder mit Skulpturen geschmückte Häuserfronten, gelbe oder weisse, flache oder hohe Häuser, das ist mir egal. Je ne m' en fous pas, mais je m' en fous. Hier liegt ein realer Aspekt Neapels, aber nicht dieses wirkliche Leben der Stadt, das mein Film aufspüren soll. Warum wechselt Neapel die Häuser? Und wie? Durch wen und für wen? Welchem Neapel zum Vorteil, welchem zum Nachteil? Wie wird dieser Wechsel lebendig? Und kann LE MANI SULLA CITTA dabei seine Rolle spielen? Kann dieser Film dazu sagen, was er zu sagen hat?

Ich frage herum, komme der Sache näher, ich treffe auf die aktiven Kräfte Neapels, die die Veränderung bestimmen. Es sind alltägliche Kräfte: Arbeit, Aktionen, die Menschen und als Produkt all dessen, das die Veränderung bewirkt: Geld. Diese Veränderung findet in einem vorgegebenen System statt, dem demokratischen System. Das heisst: über den Maurer des neuen Hauses in dieser Strasse zum Polier, vom Bauführer zum Unternehmer, vom Unternehmer zum Architekten, vom Architekten zum Direktor der Bauplanung, von der Bauplanung zu den Stellen, die beispielsweise die Bauerlaubnis erteilen, von diesen zum Rathaus und über die Stadträte zu denen, die sie wählen, komme ich wieder an meinen Ausgangspunkt zurück: den alten und neuen Häusern in dieser Strasse von Neapel und zu den Menschen, die darin wohnen oder an ihnen bauen. Alle diese Menschen existieren, sie beleben Neapel, es sind die Akteure des sich entwickelnden Immobilienlebens dieser Stadt. Als Cineast fand ich in ihnen ein meinen Massstäben entsprechendes Ensemble und damit die Handlungsbasis für den Film.

Nur die Basis. LE MANI SULLA CITTA ist kein Film über das Bauen in Neapel, das glaube ich wirklich nicht. Dass Häuser gebaut werden, ist nur das sichtbare, materielle Resultat des Lebens, einer ganz bestimmten Organisationsform des Lebens, die eines Tages anderswo etwas ganz anderes hervorbringen kann. Ich war also auf den Baustellen, bei den Bauunternehmern, in den Büros und bei den Sitzungen des Stadtrates und erlebte als Drehbuchautor dieses Leben in einem demokratischen System.

Ich blieb zwei Jahre dort, ohne Kamera. Ich sah, dass jeder Bewohner einer Strasse, dass jeder Bewohner eines alten oder neuen Hauses das Spiel dieses Systems mitmacht. Das Leben in solchen Strassen manifestiert sich am deutlichsten dann, wenn das Haus wechselt und ebenso die Bewohner, obwohl die alten Bewohner bleiben wollen. Sie wollen in ihrem Viertel bleiben, in ihrer gewohnten Umgebung. Sie wollen nicht auf der Strasse liegen. Aber wenn das Haus wechselt, ziehen andere Menschen aus einer anderen sozialen Schicht darin ein, und die Bewohner der Strasse werden nacheinander und gegen ihren Willen an Orte vertrieben, wo es keine Strassen gibt, wenn nötig sogar mit Militärgewalt. Sie geben ihre Wohnungen auf, obwohl sie es gar nicht wollen, weil die Bestimmungen gegen sie sind. Diese Bestimmungen werden vom Stadtrat beschlossen, und den Stadtrat haben die Bewohner dieser Strasse selbst mitgewählt. Neapel und der Film gehen meiner Meinung nach an einem besonderen Punkt zusammen; im Versuch zu verstehen, wie die Bewohner einer Strasse um ihr Wohnrecht kämpfen und es ihnen nicht gelingt, die neuen Häuser dieser Strasse bewohnen zu dürfen, weil ihre politische Vertretung, obwohl diese von ihnen selbst getragen wird, sich ihnen mit Gesetzeskraft entgegenstellt. Aber indem ich zwangsläufig zu diesem Punkt gekommen bin, habe ich die allgemeine Frage berührt: das Ineinandergreifen von Politik und Wirtschaft.

Ich nahm an Aktionen dieser Bewohner teil, die sich den Bestimmungen widersetzten, um in ihrer Strasse bleiben zu können, den Bestimmungen, deren Urheber sie durch ihre Wahlentscheidung selbst sind. Ich sah ihren aussichtslosen Kampf, sah die Grenzen ihrer Opposition, die Grenzen jeder Opposition überhaupt. Und ich sah demgegenüber, wie wenig Grenzen es für die Macht der Stadtratsmehrheit gibt. In diesem Moment merkte ich, wie der Film in das Geschehen eindrang, denn LE MANI SULLA CITTA sollte Kollektivereignisse in ihrem Ablauf zeigen, erklären und dadurch intervenieren.

In das Geschehen eingreifen; denn die Opposition verfügt letzten Endes nur über eine Waffe: den Bewohnern dieser Strasse zum Bewusstsein zu bringen und sie erkennen zu lassen, welche Fehler sie in einem demokratischen System nicht machen dürfen, denn das demokratische System ist heute das ihrige. Sie sind Produkte dieses Systems, das sie beispielsweise zur Wahlurne schickt, ohne sie darauf vorzubereiten - das ist nur ein Beispiel von vielen - und ohne dass sie begreifen könnten, welche Möglichkeiten ihnen das Wahlrecht gibt. Die Filmkunst ist heute weit genug, um einem Publikum das tatsächliche Funktionieren eines Systems zum Bewusstsein zu bringen. Jedoch unter einer Bedingung: nicht in die veraltete Methode psychologischer Personenanalyse zu verfallen.

Wenn man sich damit befasst, die Psychologie der Personen zu beschreiben, hört der Film auf, mit all seinen Mitteln am Geschehen teilzunehmen. Er hört auf, kritische Beschreibung eines wahren Ereignisses und selbst eine Gestaltungskraft des Geschehens zu sein; und wird eine neben vielen Arten, Geschichten von Personen zu erzählen, eine - mittelmässige oder bemerkenswerte - Reproduktion dieser oder jener Aktion von Personen, die erleben, was nur den Rahmen bildet. Dann existiert dieser lebendige und aktive Film, von dem ich bei Rossellini und Visconti in LA TERRA TREMA sprach, nicht mehr, selbst wenn die Personen innerhalb des Geschehens handeln. Das sind zwei verschiedene Arten von Film.

Der Bauunternehmer in LE MANI SULLA CITTA, der seine Häuser in einer Strasse Neapels baut, heisst Nottola. Wir sehen ihn bauen, einweihen; wir sehen, dass er sich die Stimmen, die er zur Stadtratswahl braucht, etwas kosten lässt, etc., gut. Wie ist Nottolas Psychologie? Wie denkt er in seinem Innersten über die Leute, die er hinauswirft, oder über einen Fraktionsführer, mit dem er sich verbündet? Das wäre sicher interessant und aufregend. Wenn man diese Psychologie zeigte, würde man Nottola anziehend oder abstossend machen, ganz gleich. Wichtig ist, dass Nottola eine positive Kraft ist, die sichtbar neue Häuser baut, wo Elendsbehausungen waren; dass sich Nottolas Tätigkeit auf lange Sicht auswirkt; dass Nottola eine der Kräfte repräsentiert, die Neapel auf die Zukunft hin verändern. Und dass es ihm nur möglich ist, die Elendsquartiere zu beseitigen, indem er das Spiel der Demokratie zum Nachteil der Leute spielt, die sie bewohnen und nicht wie man erwarten möchte, zu ihrem Vorteil.

Da ist das Sujet, da ist die lebendige Materie des Films; wo der Film sich Nottola wirklich in den Weg stellt, zählt er auch als eine Kraft, mit der dieser rechnen muss. Hier zeigt der Film durch die Kraft der Geschehnisse eine Wahrheit auf und findet seinen Stil, seine Besonderheit, seinen Schwung, sein eigenes Leben, was er unwiderbringlich einbüssen würde, wenn er - anstatt Nottola in Aktion - dessen psychologische Labyrinthe zeigte; was so oder so hiesse, sich bei allem anderen als der vordringlichen Wahrheit aufzuhalten, und auf Kunstformen zurückzugreifen, die nicht die Ausdrucksmöglichkeiten des Films von heute hatten.

Man fragt mich oft, wenn von SALVATORE GIULIANO und LE MANI SULLA CITTA die Rede ist: "Wie filmen Sie, wie bringen Sie die Leute dazu, sich zu bewegen. Es sieht alles so echt aus." Ich stelle mir die gleiche Frage vor den Bildern Rossellinis. Tatsächlich ist es eine lange Arbeit mit monatelangen Vorbereitungen und unzähligen Wiederholungen am Drehort. Aber alle technischen Details ordnen sich von selbst, sobald die geistige Position klar ist: nach der Kunst des Romans, nach der Kunst des Theaters, nach Jahrzehnten des Films als psychologischer Illustration, hat dieser sich soweit entwickelt, dass es ohne übermässige Ambitionen möglich ist, nicht mehr Details aus dem Leben zu verfilmen, sondern das Leben selbst; nicht mehr Gerede oder Kulissen, sondern Gegenüberstellung mit den Ereignissen selbst; nicht mehr Vergangenheit, sondern Gegenwart; nicht mehr Wochenschau oder Dokumentarfilm, sondern den entscheidenden und bedeutsamen Kern des Geschehens, dieses Zusammentreffens von Lebenslinien, wo der Film seinen Platz findet, während der Drehzeit wie in dem Augenblick, wo das Publikum bei LE MANI SULLA CITTA sich der Wahrheit bewusst wird, die draussen wartet, auf der Strasse oder zu Hause, in der Welt von heute, in der mein Neapel nur ein Punkt wie die anderen ist. Ich bin in Neapel geboren.

Mit freundlicher Genehmigung von L' EXPRESS, Paris. Übersetzung aus dem Französischen: Ellen Ihrig.
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Amerikas schwarze Serie (Teil 1 s. Heft 41 )

Entstehung und Geschichte

"Von 1935 an zeigte Hollywood sichtbare Symptome der Ermüdung, ja der Sterilität", resümiert Georges Sadoul in seiner "Geschichte der Filmkunst". Die nach Aufkommen des Tonfilms einsetzende Experimentierfreudigkeit war erloschen. Die vom Broadway nach Hollywood verpflichteten Theaterregisseure wie Mervin LeRoy oder Rouben Mamoulian hatten sich den kommerziellen Richtlinien und den Zensurvorschriften der amerikanischen Filmmetropole gebeugt. Die Horrorfilme, bevorzugtes Genre der Universal International (Frankenstein, King Kong, The Invisible Man) liefen aus. Der klassische Kriminalfilm, der besonders bei den Firmen Fox und MGM gepflegt wurde, war zu anspruchslosen Serien wie CHARLIE CHAN (FOX) und CRIME DOESN'T PAY (MGM) degeneriert.

Man hatte sich den leichten Stoffen verschrieben. Die Komödie florierte. Leo McCarey, Frank Capra, Mitchell Leisen, Howard Hawks und nicht zuletzt Ernst Lubitsch hatten alle Hände voll zu tun. Aus dem Tonfilm war der Sprechfilm geworden. Jedes einigermassen bekannte und erfolgreiche Broadwaystück war seiner filmischen Adaption sicher. Melodramen und Literaturverfilmungen, Historienfilme, die versteckt oder offen die Vorzüge Amerikas und seiner Bewohner propagierten wie etwa Mervin LeRoys ANTHONY ADVERSE (1935) ("it 's a great place for youngsters, too"), machten einen weiteren, grossen Teil der Produktion aus.

Die einzige positive Entwicklung zeigte eigentlich noch der Gangsterfilm, nachdem er für kurze Zeit brachgelegen hatte. Hier ragen Raoul Walsh mit ROARING TWENTIES (1939) und Michael Curtiz' ANGELS WITH DIRTY FACES (1938) heraus. Im Gegensatz zu den klassischen Gangsterfilmen um 1930 traten die sozialen Verhältnisse weiter in den Vordergrund und motivierten so einen Teil der Kriminalität: Armut, Arbeitslosigkeit und Krieg. In diesen Filmen wurde die differenzierte Charakterologie der nachfolgenden schwarzen Serie bereits angelegt.

Von der weltpolitischen Situation war bis zum Kriegsausbruch im Hollywoodfilm nichts oder nur wenig zu bemerken. Zwar hatten sich bereits zur Zeit des spanischen Bürgerkrieges und nach den ersten Diskriminierungen der Juden im deutschen Dritten Reich, schliesslich auch durch die verstärkte Einwanderung europäischer Intellektueller, besonders Autoren und Regisseure, antifaschistische Gruppen gebildet, die jedoch durch die offiziell isolationistische Politik der Regierung in Washington und die Möglichkeiten ihrer Einwirkung auf Hollywood und seine Produktion keine Chance bekamen. Vielleicht ist der plötzliche Umschlag dieser Politik bei Kriegseintritt der USA für das "spontanere" (Sadoul) Entstehen der schwarzen Serie mit ausschlaggebend gewesen. Immerhin gehörten die Hauptvertreter dieses Genres zu jenen Leuten, die vor den europäischen Faschisten geflohen waren, oder - wie Huston, Ben Hecht oder Edward Dmytryk (vor seiner peinlichen Schaustellung beim Ausschuss gegen antiamerikanische Umtriebe) - zu den hervorragendsten Antifaschisten Hollywoods.

Das umreisst in groben Zügen die Situation des amerikanischen Films, als John Huston 1941 mit THE MALTESE FALCON die Serie der schwarzen Filme initiierte. Selbstverständlich profitierten die Gattungen des Kriegsfilms (die unzähligen Militärschwänke mit eingeschlossen) und des Dokumentarfilms wegen ihrer vordergründigen Propagandamöglichkeiten am meisten von der Kriegssituation. Dennoch lag den schwarzen Filmen ebenfalls ein - allerdings subtilerer - Bezug zum Krieg zugrunde. Der raffinierte Sadismus und die irrationale Brutalität reflektierten die dem Amerikaner unverständlichen und daher dämonisierten Methoden der Gestapo oder der als besonders sadistisch gebrandmarkten Japaner. Der KZ-Charakter mancher Milieus, rassistische Ausschreitungen, die Bedrohung von Gebrechlichen und von Kindern: all dieses wurde in eine spezifisch amerikanische Umgebung gestellt, um die weit von den eigentlichen Kriegsschauplätzen entfernten Daheimgebliebenen am allgemeinen Grauen der Zeit teilhaben zu lassen. Welche Effekte von der Bedrohung von Kindern auf der Leinwand ausgehen, hat Hitchcock in vielen Filmen bewiesen. Ted Tetzlaff stellte sein THE WINDOW (Das unheimliche Fenster, 1949) ganz auf diese Problematik ab: ein als notorischer Aufschneider angesehener Junge erlebt einen wirklichen Mord. Niemand glaubt ihm. Als die Täter erkennen, dass der Junge sie beobachtet hat, verfolgen sie ihn in einer langen Jagd über Dächer und durch dunkle Strassen. Eine so berühmte Szene wie die im Spiegelkabinett in THE LADY FROM SHANGHAI lässt sich in der Wirklichkeit nachweisen: nach dem Einmarsch der alliierten Soldaten in Wien, wurden Gestapo-Leute in den Prater gejagt und dort - u. a. in einem Spiegelkabinett - erschossen. (Dieser Hinweis findet sich bei Herman G. Weinberg.)

Ein anderer Grund für die Entwicklung der schwarzen Serie und ihre steigende Beliebtheit beim amerikanischen Publikum ist sicherlich in der parallel laufenden Ausbreitung und Popularisierung der Psychoanalyse seit der Mitte der dreissiger Jahre zu sehen. Für die filmische Propagierung dieser Wissenschaft sei stellvertretend Alfred Hitchcock erwähnt mit SPELLBOUND (Ich kämpfe um dich, 1947) und THE PARADINE CASE (Der Fall Paradin, 1947), Filme, die ihn gleichzeitig deutlich von der Serie absetzten. Hitchcock analysiert die Psyche seiner Personen und setzt moralische Akzente. Die Komplexe eines Johnny Farrell in GILDA bilden dagegen zwar auch die Gründe für sein Verhalten, werden jedoch nicht erklärt und behalten dadurch ihren irrationalen, zwiespältigen Charakter.

Möglicherweise bestimmte auch die Popularität der Psychoanalyse das Verhalten der Zensoren, die - vergleicht man die dreissiger Jahre - recht viel an Grausamkeit durchgehen liessen.

Die vom Krieg unabhängige Alltäglichkeit des Verbrechens in den USA bildet einen weiteren Hintergrund der schwarzen Filme wie schon für die vorangegangenen Gangsterfilme oder die Literatur der Dashiell Hammett, James Cain und Raymond Chandler: "Es wird eine Welt geschildert, in der Verbrecher ein Volk beherrschen könnten und tatsächlich fast ganze Städte beherrschen, in der Hotels und Pensionen und berühmte Restaurants Leuten gehören, die sich ihr Geld mit Bordells verdient haben; in der ein Filmstar die Strohpuppe einer Clique sein kann und der vornehme Mann unten im Empfangssalon der Leiter eines illegalen Wettbüros; in der der Bürgermeister ein Auge zudrückt über einen Mord, mit dem viel Geld verdient wurde, wo kein Mensch eine dunkle Strasse entlang gehen kann, weil Recht und Ordnung Dinge sind, über die wir sprechen, die wir aber nicht durchführen _..." (Raymond Chandler).

Im Höhepunkt der schwarzen Serie, der kurz nach dem Kriege liegt, werden natürlich die konkreten Einflüsse des Krieges auf die Gesellschaft, besonders auf die amerikanische Familie reflektiert: Heimkehrerprobleme, Zerstörung der Ehe, Infragestellung der Frau (die der Serie immanente Misogynie ist so zu erklären), erotischer Fetischismus und Kritik an damit zusammenhängenden sozialen Problemen.

Filmhistorisch knüpft die schwarze Serie in direkter Folge an den klassischen Kriminal- und Gangsterfilm an. Verschiedene Linien lassen sich auch zum deutschen Expressionismus der deutschen Stummfilmzeit ziehen. Einmal waren es die schon vor 1930 eingewanderten Regisseure wie etwa Paul Leni, dessen bereits in Deutschland ausgeprägten, irrationalen "Symphonien des Grauens" zum "Goldenen Zeitalter" des Horrorfilms führten, der damit selbst ebenfalls zum Vorläufer der Serie wird. Ein weiterer Einfluss ergab sich natürlich aus der Einwanderung deutscher Regisseure während des Dritten Reichs. Kurt (in den USA: Curtis) Bernhardt und Robert Siodmak waren über Frankreich nach Hollywood gekommen. Fritz Lang ebenfalls. Bei ihm wurde ein starker Einfluss der französischen Filmkunst sichtbar. Nicht erst durch seine Remakes von LA CHIENNE (Jean Renoir, 1931) und LA BETE HUMAINE (Jean Renoir, 1938), die er in SCARLET STREET 1945) bzw. HUMAN DESIRE (Lebensgier, 1954) adaptierte. Auch YOU ONLY LIVE ONCE (Gehetzt, 1937) scheint den Filmen Carnés und Renoirs verpflichtet zu sein: Eddie Taylor, mehrfach vorbestrafter Gangster, versucht ein bürgerliches Leben zu beginnen, stösst aber bei seiner Umwelt auf Vorurteile und Feindseligkeit. Er wird verdächtigt, an einem weiteren Verbrechen seiner früheren Bande teilgenommen zu haben. Er stellt sich, wird aber zum Tode verurteilt. Nach gelungener Flucht teilt ihm der Anstaltsgeistliche mit, das Urteil sei wegen erwiesener Unschuld aufgehoben. Eddie glaubt an eine Falle, tötet den Pfarrer und wird auf der Flucht kurz vor der mexikanischen Grenze zusammen mit seiner Frau erschossen. YOU ONLY LIVE ONCE wie auch spätere Filme Längs weisen Berührungen mit der schwarzen Serie auf, die in seinem antifaschistischen Spionagefilm MINISTRY OF FEAR wohl am stärksten sind.

In WOMAN IN THE WINDOW (Gefährliche Begegnung, 1944) lässt er einen Professor für Kriminalistik (Edward G. Robinson) an eine rätselhafte Frau geraten, einen Nebenbuhler in Notwehr mit der Schere erstechen und die Leiche in einen Wald schaffen. Ein ehemaliger, reichlich sadistischer Privatdetektiv (Dan Durya) tritt als Erpresser auf. Im Augenblick seiner Entdeckung durch die Polizei vergiftet sich der Professor. Aber Fritz Lang bietet eine andere Lösung, die etwaige schwarze Absichten dementiert: er deklariert die Handlung als Traum. Das bedeutet recht eigentlich einen Gegensatz der auf gegenwärtiger Realität insistierenden "Serie". (s. Heft 45; )

Filmhistorische Verbindungslinien bestehen auch zur Komödie (ebenfalls in der sorgfältigen Differenzierung der Nebenrollen), zum Zeichentrickfilm (Irrationalismus und Perversion). Fragwürdig bleibt der Einfluss des Surrealismus, wenn auch etwa Salvatore Dali für Hitchcocks SPELLBOUND eine Traumsequenz entwarf.

Sichere Vorläufer der schwarzen Filme waren die Produktionen von Sternbergs. Hier sind besonders die exotisch-erotischen Filme SHANGHAI EXPRESS (1931 mit Marlene Dietrich) und SHANGHAI GESTURE (1941) zu erwähnen. In diese Reihe gehören auch die phantastisch-exotischen Filme der ehemaligen Dokumentaristen Ernest B. Schoedsack und Merian Cooper: der mythologisch-symbolische KING KONG (1933) und der sadistische THE MOST DANGEROUS GAME (1932).

Eine direkte Linie führt zu Ben Hecht, der um die Mitte der dreissiger Jahre versuchte, in New York ein intellektuelles Anti-Hollywood zu etablieren, in dem besonders die Autoren dominieren sollten. Hier entstand 1934 CRIME WITHOUT PASSION, ein fast avantgardistischer Film, der an Kafka und Dostojewski erinnert: ein Anwalt wird des Mordes verdächtigt; fast gelingt ihm der Beweis seiner Unschuld, als sich durch unvorhergesehene Ereignisse seine Täterschaft doch noch herausstellt. Der weibliche Star dieses Films - Margo -, nach Henri Agel "ein magisches Geschöpf, eine fleischliche Pflanze, die aus einem Gemälde von Balthus stammen könnte", nimmt bereits Charakterzüge der "schwarzen" Frauen vorweg. Hechts Einfluss verstärkte sich noch, als er zu einem der gesuchtesten Drehbuchautoren der schwarzen Serie (u. a. RIDE THE PINK HORSE, Robert Montgomery, 1947) und für die benachbarten Hitchcockfilme wie NOTORIOUS und SPELLBOUND wurde.

Auf die Bedeutung Hitchcocks wurde bereits kurz verwiesen. Das düstere Milieu seiner englischen Filme und seine schon dort ausgereifte Fähigkeit, unerklärliche Verwicklungen in einer Atmosphäre von angekränkeltem Bürgertum darzustellen, begründeten seine Verpflichtung nach Hollywood durch die RKO. SUSPICION (Verdacht, 1941) weist einige Ähnlichkeit mit Filmen der" schwarzen Serie auf, was die Zweifel an der moralischen Integrität seines Helden betrifft. Jedoch ist diese Immoralität nicht - wie es in einem schwarzen Film wäre - real, sondern existiert nur im Bewusstsein der Protagonistin. "Schwärzer" sind drei andere Filme Hitchcocks: NOTORIOUS (Weisses Gift, 1947), THE ROPE (Cocktail für eine Leiche, 1948) und STRANGERS ON THE TRAIN (Der Fremde im Zug, 1951). In THE ROPE begehen zwei Studenten einen Mord und halten die Leiche während eines anschliessenden Essens im gleichen Zimmer versteckt. NOTORIOUS erreicht seine "schwärzesten" Stellen erst nach langer Exposition: im Hause eines Brasilianers tagt eine Gruppe von Faschisten. Alicia, Agentin des amerikanischen Geheimdienstes und durch Scheinheirat dem Hausbesitzer verbunden, entdeckt im Keller spaltbares Material, was wiederum dem Brasilianer nicht verborgen bleibt. Gemeinsam mit seiner sadistischen, autoritären Mutter pumpt er Alicia nach und nach mit Morphinaten voll. Während Alicia schliesslich von ihrem V-Mann gerettet wird, beginnen die Verbrecher, sich gegenseitig zu zerfleischen. In STRANGERS ON THE TRAIN schlägt ein psychopathischer Tennisfan dem Champion Guy Haines ein seltsames Geschäft vor: er will dessen Frau umbringen, während Haines seinen (des Psychopathen) Vater töten soll. Kurz darauf kommt Haines' Frau wirklich um. Er nimmt die Verfolgung des Mörders auf, der, um sich zu rächen, ihn mit nacharrangierten Indizien belasten will. Im Vergnügungspark von Coney Island treffen Verfolger und Mörder zusammen. Die verschlungene Aktion, die psychische Verfassung des Mörders, Dekor und Rhythmus der faszinierenden Schlusssequenz auf dem Rummelplatz sind gewichtige, "schwarze" Elemente des Films, der, obgleich Raymond Chandler am Drehbuch mitarbeitete, die Verdachtsmomente, die sich für die Hauptpersonen - ausser dem Mörder - ergeben, als unbegründet zurückweist. Wie schon in SUSPICION und in einer Reihe späterer Filme Hitchcocks bleibt die Rehabilitierung der Grossbourgeoisie liebstes Kind des Regisseurs. Was die Filme der schwarzen Serie tatsächlich vollziehen, die moralische Disqualifizierung, schlägt bei Hitchcock und auch bei Lang ins Gegenteil um.

Das von Fritz Lang in WOMAN IN THE WINDOW angeschnittene, romantische Doppelgängermotiv finden wir auch in Victor Flemings DR. JEKYLL AND MR. HYDE. (Der gleichnamige Roman von R. L. Stevenson war bereits einige Male für die Leinwand adaptiert worden, darunter von Rouben Mamoulian, mit dessen Fassung die erste Biennale in Venedig eröffnet wurde.) Ein Londoner Arzt erfindet ein Elixier, das Gut und Böse scheiden soll. Die zunehmenden Selbstexperimente entdecken die Nachtseite seines Charakters. Er treibt seine Braut in den Wahnsinn, misshandelt seine Geliebte (Ingrid Bergman) auf sadistische Weise und kommt schliesslich selbst durch die Kugeln eines Freundes um.

Das Bild Spencer Tracys, der die Titelrolle des Films spielte und im Film der dreissiger Jahre zu den "netten Jungen von nebenan" gehörte, wurde hier in sein Gegenteil verkehrt, ein Vorgang, der für eine Reihe von Stars der schwarzen Serie zutrifft und sich bereits bei Cary Grant in SUSPICION ankündigt. Besonders interessant hinsichtlich dieser Umkehrung des Star-Image ist Billy Wilders DOUBLE INDEMNITY (Frau ohne Gewissen, 1944). Die Adaption des Romans von James Cain besorgte Raymond Chandler. Barbara Stanwyck, die bisher hauptsächlich in Melodramen und Komödien agiert hatte, entpuppte sich hier als kaltblütige und raffinierte Mörderin. (Die Parallele zu Bette Davis liegt nahe, wenn man etwa an die beiden Filme von William Wyler TEN LITTLE FOXES, 1939, und THE LETTER - Das Geheimnis von Malapur, 1940, denkt.) Um an die Lebensversicherung ihres Mannes zu kommen, bewegt Phyllis Dietrichsen den jungen Versicherungsagenten Walter Neff (Fred McMurray, ebenfalls einer der "netten" Jungen), ihren Mann umzubringen. Dieser zeigt nach der Tat Gewissensbisse und Phyllis will ihn, um sicher zu gehen, erschiessen. Sie verfehlt ihn und wird von dem Geliebten mit den sanften Worten "Good Bye, Baby" erschossen.

Jacques Siclier beschreibt Barbara Stanwyck in LE MYTHE DE LA FEMME DANS LE CINEMA AMERICAIN: "Die blauen Augen, die schwer fallenden, blonden Haare, das beunruhigende Lächeln und die mörderische Sinnlichkeit von Phyllis wirken wie eine Art Nonnenschleier. Der Verstand beherrscht die Sinne zu jeder Zeit, und der Mann ist für sie nichts als ein Objekt, das es zu verschlingen gilt _... Im Bewusstsein ihrer sinnlichen Kraft benutzt sie diese, um ihr Opfer zu ködern, während sie selbst völlig kalt bleibt _... sie verachtet den Mann, hypnotisiert, zerstört ihn, stösst ihn ins Verbrechen und versucht kaltblütig, ihn umzubringen, wenn er wagt, Reue zu zeigen."

Eine Reihe weiterer Filme verdankt ihre Faszination zum grossen Teil der Gestalt Barbara Stanwycks, die entweder in der oben beschriebenen Rolle als Mörderin oder aber als psychisch defektes Opfer brillierte. In THE STRANGE LOVE OF MARTHA IVERS (Lewis Milestone, 1946) versucht sie wieder einen Jugendfreund zum Mord an ihrem Mann zu treiben, an den sie durch einen gemeinsam geschworenen Meineid gebunden ist. Ihr Mann wiederum versucht, den Rivalen töten zu lassen. Nicht bereit, sich in diese Welt der Unmoral und des Verbrechens stürzen zu lassen, zieht sich der junge Mann zurück und das kriminelle Paar geht - Entdeckung fürchtend - gemeinsam in den Tod. Erotismus, Sadismus und Misogynie weisen diesen Film als hervorragendes Beispiel der schwarzen Serie aus.

Wie Milestone gab auch Anatole Litvak ein kurzes Gastspiel im Genre der schwarzen Filme. In SORRY WRONG NUMBER (Du lebst noch 105 Minuten, 1948) hört Barbara Stanwyck als neurotische, ans Bett gefesselte Fabrikantentochter zufällig die telephonische Absprache eines Mordes und stellt fest, dass sie selbst das Opfer sein soll. Niemand schenkt ihren Hilferufen Beachtung. Erst in letzter Minute versucht ihr Mann, selbst Initiator des Mordes, sie zu retten. Auf seinen Anruf antwortet jedoch bereits die Stimme des Mörders: "Sorry, wrong number".

Eine recht dunkle Aktion zeigt auch THELMA JORDAN (Strafsache Thelma Jordan, Robert Siodmak, 1950): der Staatsanwalt Cleve Marshall verliebt sich in die fragwürdige Titelheldin (wieder Barbara Stanwyck), deren Tante ermordet wird. Er verwischt jede auf Thelma weisende Spur. Jedoch kommt diese als einzig mögliche Täterin auf die Anklagebank. Man mietet einen korrupten Verteidiger, und der Staatsanwalt konzediert selbst Mangel an Beweisen. Da erfährt Cleve von Thelmas früherem Geliebten Tony, dass sie tatsächlich die Mörderin ist. Während er auf seinen Prozess wartet, fahren Thelma und Tony mit einem Auto in den Abgrund.

Eine ähnliche Szene beschliesst auch Otto Premingers ANGEL FACE (Engelsgesicht, 1952): Eine hysterische Schriftstellertochter lässt Vater und Stiefmutter bei einem Unfall umkommen, heiratet den Chauffeur und chauffiert ihn, nachdem er Schuldgefühle zeigt und sie verlassen will, in einen Abgrund.

Interfamiliäre Zwistigkeiten mit brutal-sadistischer Lösung finden wir auch in CONFLICT (Konflikt - Tatort Springfield, 1945). Regie führte Curtis Bernhardt, früherer Mitarbeiter Luis Trenkers und Regisseur von DIE LETZTE KOMPANIE (Deutschland, 1930), der sich später dem psychologischen Melodrama verschrieb. Nach einer Erzählung von Robert Siodmak bringt ein Ehemann (Humphrey Bogart) seine Frau um, indem er einen Unfall vortäuscht (eine Stereotype, die anscheinend der amerikanischen Kriminalstatistik entstammt). Der Film lebt eigentlich nur von der Gestalt Bogarts und seines Gegenspielers Sidney Greenstreet, der als Inspektor den Mord aufklärt.

In LEAVE HER TO HEAVEN (Todsünde, John Stahl, 1946) heiratet ein Mädchen nach dem Tode ihres Vaters einen Mann, der diesem sehr ähnlich sieht. Als der so exponierte Oedipuskomplex pathologische Formen annimmt, bringt sie nacheinander ihren jungen Schwager und ihr Kind um. Schliesslich tarnt sie ihren eigenen Selbstmord als Mord, um auch ihre Schwester noch zu belasten. In SLEEP MY LOVE (Schlingen der Angst, Douglas Sirk, 1948) versucht ein Architekt seine Frau mit Hilfe eines Hypnotiseurs in den Wahnsinn zu treiben, um ein Mannequin zu heiraten. Der Hypnotiseur, der sich betrogen glaubt, erschiesst seinen sadistischen Arbeitgeber.

Alle diese Filme reflektieren die kriegsbedingte Zerstörung der Ehe, wenn auch - besonders unter dem Einfluss von James Cain - stark individualpsychologisch argumentiert wurde. Wie schon für DOUBLE INDEMNITY bildete ein Roman dieses Autors die Grundlage für einen der wichtigsten Filme der schwarzen Serie: THE POSTMAN ALWAYS RINGS TWICE (Im Netz der Leidenschaften, Tay Garnett, 1946): Der in einer Raststätte angestellte Gammler Frank bändelt mit der jungen Frau seines Chefs an. Auf ihren Wunsch versucht er diesen zu ermorden, jedoch der erste Anschlag in einem Badezimmer geht fehl. Erst ein vorgetäuschter Autounfall bringt den gewünschten Erfolg. Ein raffinierter und korrupter Anwalt setzt Franks Freispruch durch. Bei einem zweiten, diesmal nicht gestellten Unfall wird die Frau getötet. Diesmal wird Frank zum Tode verurteilt, legt aber vor der Exekution noch ein Geständnis ab. Lana Turner erinnert in der Rolle der jungen Frau und "blonden Mörderin" stark an Barbara Stanwyck. Der KFD attestiert ganz richtig "pathologische Hemmungslosigkeit".

Dem gleichen Pressedienst geht es jedoch zu weit, wenn dieser Typ der Mörderin auch noch minderjährig ist, denn: "dann dürfte sie kaum so normal aussehen wie diese niedliche, blutjunge Peggy Cummings". Dieser Satz war zu lesen in einer Rezension von GUN CRAZY (Gefährliche Leidenschaft, Joseph L. Lewis, 1950): zwei seit ihrer Kindheit kriminelle Monomanen (er Scharfschütze während des Krieges, sie im Zirkus) begehen eine Serie von Verbrechen. Als er versucht, sich von der ihn immer weiter treibenden Frau zu lösen, erweist sich die erotische Bindung als stärker. Schliesslich erschiesst er seine Gefährtin, um selbst von ehemaligen Freunden erschossen zu werden. Dazu Jacques Sicher: "Der Film gibt Zeugnis von den erschreckenden Abgründen einer Gesellschaft, in der selbst die Kindheit nicht vor dem Bösen bewahrt bleibt. Laurie (Peggy Cummings) ist ein Geschöpf, das nicht einmal mehr durch Taufe geheilt werden könnte." Nicht zu vergessen in der Reihe der zwielichtigen Frauengestalten des schwarzen Genres ist Gene Tierney, die die Hauptrolle in dem bereits erwähnten LEAVE HER TO HEAVEN spielte. Eigentlich entdeckt wurde diese Schauspielerin von Josef von Sternberg in SHANGHAI GESTURE, ein Film, der viele schwarze Passagen enthält und in dem von Sternberg kultivierten finsterexotischen Asiatenmilieu spielt: Gene Tierney spielt das Mädchen Poppy, das durch den effeminierten Gammler Omar (Victor Mature) und dessen Freundin Gin Sling verführt und mit Drogen intoximiert wird. Gin Sling ist in Wirklichkeit die Mutter des Mädchens, die sich an ihrem ehemaligen Mann rächen will und Poppy schliesslich umbringt.

Gene Tierney spielt auch die Titelrolle in einem der wichtigsten Filme der Serie: LAURA (Otto Preminger, 1944). In Realsequenzen, Rückblenden und Traumszenen wird uns die fast albtraumhafte Geschichte des Mädchens Laura erzählt: Ein arrivierter Schriftsteller hilft ihr bei der Einrichtung einer Reklameagentur. In seinen Gedanken wird aus dem naiven, amerikanischen Mädchen ein illusionäres Traumgeschöpf, das der Realität nicht standhält. Als der Mäzen sieht, dass sein Bild von Laura falsch ist, ermordet er sie. Der mit der Aufklärung des Verbrechens beauftragte Polizist verliebt sich ebenfalls in eine traumvisionäre Laura. In seiner Vorstellung wird schliesslich aus dem Opfer eine Verdächtige. Gemeinsam mit dem Detektiv nimmt das Publikum an der Entdeckung einer Welt teil, unter deren glitzernder Oberfläche die Verwirrung lauert. (Man kann dem Verleih dieses Films, Centfox, nur empfehlen, ihn wieder ins Programm aufzunehmen!). Mit zwei weiteren psychologischen Filmen und einem dokumentarischen Kriminalfilm berührte Otto Preminger, der mit LAURA debütierte, noch die schwarze Serie: FALLEN ANGELS (1945), WHIRLPOOL (1949) und WHERE THE SIDEWALK END (1950) sind in Deutschland nie verliehen worden.

Wie Preminger, so begann auch Robert Siodmak mit "schwarzen" Filmen. Nach PHANTOM LADY (Zeuge gesucht, 1944) und THE SUSPECT (Unter Verdacht, 1944) drehte er ein Jahr später THE SPIRAL STAIRCASE (Die Wedeltreppe), einen fast expressionistisch anmutenden, in England spielenden Film, der durch sein rasantes Tempo und die sorgfältige Inszenierung bestach. 1946 inszenierte Siodmak seinen wohl "schwärzesten" Film THE KILLERS (Rächer der Unterwelt): Zwei Mörder kommen in eine amerikanische Kleinstadt, finden ihr Opfer und töten es. In Rückblenden werden die Motive der Tat entwickelt, überraschende Brutalität, ein rüder blutiger Boxkampf, das expressionistische Spiel des Lichts verleihen dem Film eine Faszinationskraft, die Siodmak später auch nicht mehr mit CRISS CROSS (Gewagtes Alibi, 1948) erreichte. Die Geschichte des betrogenen Bandenführers Slim Dundee tendiert bereits wieder zum reinen, schematischen Gangsterfilm.

Gangsterfilm ist auch John Hustons ASPHALT JUNGLE (neuer deutscher Titel: Raubmord, 1950), der schwarze Elemente nur noch in Spuren enthält: den korrupten Polizeioffizier, den betrügerischen Anwalt, den unberechenbaren Privatdetektiv. Sie alle sind bei Huston, der das Genre selbst initiierte, zu Nebenfiguren geworden.

Gemeinsam mit ASPHALT JUNGLE bildet THE ENFORCER (Der Tiger, Bretaigne Windust, 1950) den Übergang vom "schwarzen" zum Gangsterfilm, obwohl er noch mehr als Hustons Film der Serie verhaftet ist. Es geht um die Aufdeckung einer Mörderorganisation, die das Töten als Geschäft betreibt. Humphrey Bogarts Verhörmethoden erinnern stark an die Gestapo. Die Brutalität der Polizei steht der der Gangster in nichts nach. Eine Szene in einem Friseursalon gehört wohl zu den - man verzeihe den Ausdruck - attraktivsten Untaten, die je auf die Leinwand gebracht wurden: die harmlose Bürgeridylle wird durch den Eintritt der Gangster gestört, deren Anführer dem auf dem Rasierstuhl sitzenden Delinquenten ein Tuch über das Gesicht legt, genüsslich ein Rasiermesser schleift und sich anschickt, seinem Opfer die Kehle durchzuschneiden. Ähnliches - aber subtiler - sehen wir in Fritz Langs THE BIG HEAT (Heisses Eisen, 1952), wo ein Mädchen das Gesicht mit kochendem Wasser verbrüht und auf ihrer Hand eine Zigarette ausgedrückt wird.

Die eigentliche Epoche der "schwarzen" Filme war zu dieser Zeit bereits zu Ende gegangen. Nur gelegentlich tauchten - wie in THE BIG HEAT - noch Stellen auf, die in der Blütezeit der Serie durchgehende Erscheinung gewesen waren. Amerika war nach Beendigung des Weltkrieges und seiner Fortsetzung im Koreakrieg darangegangen, seine Verhältnisse zu ordnen und die uneingeschränkte Vorherrschaft im westlichen Lager zu übernehmen. Die Unruhe, die Verwirrung, die den Hintergrund der schwarzen Serie bildete, war einem strahlenden optimistischen Amerikanismus gewichen.

Einige sozialkritische Filme wie THE SET-UP (Robert Wise), THIEVES' HIGHWAY (Jules Dassin), BORDER INCIDENT (Anthony Mann - alle 1949), THE BREAKING POINT (Menschenschmuggel, Michael Curtiz nach dem Roman "Haben und Nichthaben" von Hemingway, der bereits von Howard Hawks mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall verfilmt worden war), Joseph Loseys THE LAWLESS (beide 1950), THE BIG CARNIVAL (Billy Wilder, Reporter des Satans, 1951) und THE WILD ONE (Der Wilde, Laszlo Benedek, 1953) trugen noch wenige "schwarze" Elemente, leiteten aber schon zu den kritischrealistischen Filmen um die Mitte der fünfziger Jahre über.

Die Genres des dokumentarischen Kriminalfilms und des psychologischen Films, deren Höhepunkte nur im Zusammenhang mit der schwarzen Serie gesehen werden können, verflachten ebenso; der erstere zur geradlinigen "action", der zweite zum Melodram. Sicherlich hätten gerade diese Filmgattungen noch mehr in meiner Aufstellung berücksichtigt werden müssen. So etwa die vielen Filme, in denen Alan Ladd oder Richard Widmark spielten, beide häufig psychopathische Sadisten, deren Aktionen jeden schwarzen Film bereichert hätten.

Weitere wichtige Filme der Serie habe ich in meiner Aufstellung nicht berücksichtigt, zum grösseren Teil, weil diese Filme nie in Deutschland erschienen sind oder längst aus dem Verleih gezogen wurden. So hatte Orson Welles 1943 seinen JOURNEY INTO FEAR begonnen, der später von Norman Foster fertiggestellt wurde. Kritiker bescheinigten diesem Film Verworrenheit der Handlung und traumhaften Charakter. Weiter fehlt Edward Dmytryks 1944 gedrehter MURDER MY SWEET nach dem gleichnamigen Roman von Raymond Chandler, der besonders durch seine Montage - Dmytryk hatte als Cutter in Hollywood angefangen - interessant ist. Mit LADY IN THE LAKE (1946) legte Robert Montgomery einen Film vor, der durchgehend das Prinzip der subjektiven Kamera anwendet (vgl. THE DARK PASSAGE von Delmer Daves). Als Vorlage diente ebenfalls ein Roman von Chandler.

Der bekannteste Roman dieses Autors, THE BIG SLEEP, wurde 1946 von Howard Hawks auf die Leinwand gebracht (William Faulkner arbeitete am Drehbuch mit). An diesem Film erweisen sich die Grenzen des schwarzen Films. Gegenüber der literarischen Vorlage ist die Handlung des Films stark vereinfacht worden. Während im Buch der Spielhöllenbesitzer Eddie, der durch Korruption von Polizeibeamten seine dunkle Existenz führen kann, am Leben bleibt, fällt er im Film den Zensoren zum Opfer, die eine Gesellschaft, in der dieses möglich ist, nicht auf der Leinwand dargestellt wissen wollen. THE BIG SLEEP dementiert daher auch die von vielen Kritikern unterstellte Sozialkritik, die in keinem Film der schwarzen Serie expliziert wird. Die Homosexualität, bereits in den Hammett-Adaptionen weitgehend ausgeschaltet, spielt im Film ebenso keine Rolle mehr. Dafür gewinnt das Dekor weitaus höhere Bedeutung, die einleitende Glashaussequenz und die Szenen in der Wohnung des homosexuellen Pornographiehändlers sind von hoher optischer Faszination. Humphrey Bogart gestaltet die Rolle des Philip Marlowe ähnlich wie die des Sam Spade in THE MALTESE FALCON: zynisch, hart, sado-masochistisch.

Rückblickend kann man sagen, dass THE BIG SLEEP zusammen mit DARK PASSAGE, LAURA, THE LADY FROM SHANGHAI, GILDA und THE MALTESE FALCON zu den besten Werken gehört, die die schwarze Serie hervorgebracht hat.       Hanns Fischer

(Wir freuen uns, unseren Lesern das baldige Wiedererscheinen von THE MALTESE FALCON ankündigen zu können, der im Verleih NEUE FILMFORM - Heiner Braun herauskommen wird.)
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Von QUO VADIS bis CLEOPATRA &2 Der Antikfilm

Nachdem die nun schon obligatorische, schrille Ouvertüre von Alex North verklungen ist, weitet sich die Leinwand zum Todd-AO-Format, und eine Totale, mit einem Heer Komparsen bevölkert, tut sich auf. CLEOPATRA (1962) von Joseph Mankiewicz beginnt verheissungsvoll. Doch was als Möglichkeit einer Abhandlung über Macht, Demokratie und das römische Imperium beginnt, degradiert sich bald zu der üblichen belanglosen Monumentalschau. Der gigantische industrielle und technische Apparat erschlägt die geistige Konzeption und lässt allein sich selbst gelten. Nicht Rom und der Senat, nicht Cleopatra und Ägypten, nicht Marc Anton und Octavian sind mehr von Interesse, sondern Liz Taylor und Richard Burton und ihre lächerlichen Affairen.

Mit diesem Film hat die Welle monumentaler Antikfilme zur Zeit ihren äusseren Höhepunkt erreicht. Aber schon künden sich neue Monumentalitäten an: THE GREATEST STORY EVER TOLD von George Stevens, FALL OF THE ROMAN EMPIRE von Anthony Mann und - alles überbietend - Dino de Laurentii's THE BIBLE. ("Monumental" ist hier allein auf die äusseren Dimensionen eines Films bezogen und soll nicht im Sinne von Balázs gelten, nach dem die Monumentalität kein Mengenproblem ist: "Nur das individualisierte lebendige Bild des Menschen kann monumental wirken." - Béla Balázs: Der Film, Wien 1961, S. 278 ff.)

Beide an dieser Moderichtung beteiligten Filmnationen, die USA und Italien, vermögen auf eine ehrwürdige Tradition zurückzublicken. (In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre versuchte der österreichische Film mit einigen Monumenttalfilmen ins Geschäft zu kommen: SAMSON UND DELILA (1922) von Alexander Korda, SODOM UND GOMORRAH (1923) und DIE SKLAVENKÖNIGIN (1924) von Michael Kertesz, der sich später in Amerika Michael Curtiz nannte, und DIE RACHE DES PHARAO (1925) von Hans Theyer.) Die "Erfinder" des Genres des Antikfilms sind die Italiener, die 1912 mit dem Film QUO VADIS? von Enrico Guazzoni den ersten internationalen Grosserfolg eines monumentalen Antikfilms erringen konnten. Zwar hatten zunächst französische Produzenten damit begonnen, Stoffe der Bibel und aus der Antike zu verfilmen, doch nehmen sich diese Filme gegenüber denen der italienischen Antikfilmwelle, die um 1908 einsetzte, als bescheidene Vorläufer aus. Den ersten nennenswerten italienischen Antikfilm drehte 1908 Luigi Maggi mit GLI ULTIMI GIORNI DI POMPEI. Die beiden für den Antikfilm bedeutendsten Regisseure wurden Enrico Guazzoni (1876-1949) und Giovanni Pastrone (1882-1959).

(So wurden mehrere Filme über das Leben Christi sowie von Ferdinand Zecca QUO VADIS?, von Andreani LA REINE DE SABA und von Louis Feuillade ESTHER, MIDAS und schliesslich 1910 AUX LIONS LES CHRETIENS gedreht.)


(In den folgenden Jahren drehte Maggi weitere Antikfilme: NERONE (1909), LO SCHIAVO DI CARTAGINE (1910), LE REGINA DI NINIVE (1910), DELANDA CARTHAGO (1914). Neben Maggi sind zu erwähnen: Mario Caserini mit CATALINA (1910), MESSALINA (1910), ANTIGONE (1911), NERONE E AGRIPPINA (1913), GLI ULTIMI GIORNI DI POMPEI (1913); Ernesto Pasquali mit SPARTACO (1913); Giuseppe di Liguoro mit einer Odyssee-Verfilmung; Nino Oxilio; Enrico Vidali mit GLI ULTIMI GIORNI DI POMPEI /JONE (1913).)


(Guazzoni drehte die Antikfilme: BRUTO (1910), I MACCABEI (1910), QUO VADIS? (1912), LA GERUSALEMME LIBERATA (1913), CAJUS JULIUS CAESAR (1914), LA GERUSALEMME LIBERATA (1917), FABIOLA (1917) und MESSALINA (1923). Seine bevorzugten Stars waren Gianni Terribili Gonzales und Amleto Novelli.)


(Giovanni Pastrone wurde mit den Antikfilmen GIULIO CESARE (1909), LA CADUTA DI TROIA (1910) und CABIRIA (1914) bekannt. 1916 drehte er einen Maciste-Film, MACISTE ALPINO, und 1932 synchronisierte er CABIRIA.)

In den Jahren 1910 bis 1914 operierte die italienische Filmindustrie recht erfolgreich. Italien zählte zu den führenden Filmnationen, eine Position, die es erst nach dem zweiten Weltkrieg wieder erreichen konnte. Italienische Ausstattungsfilme gehörten in jener Zeit zu den überragenden filmischen Leistungen. Die Rivalitätskämpfe zwischen den Filmgesellschaften, vor allem zwischen der Cines in Rom und Ambrosio in Turin, spornten zu immer aufwendigeren Filmen an. So wuchs die Länge der Antikfilme von anfänglich 200 Metern innerhalb kurzer Zeit auf 2000 bis 3000 Metern; das entspricht einer Vorführungsdauer von 2 bis 3 Stunden. Entsprechend reichhaltiger wurden die Ausstattungen, pompöser und glänzender die Dekors; die Zahl der in einem Film mitwirkenden Statisten stieg in die Tausende. Die Technik, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Brände, Kampfszenen usw. zu gestalten, wurde ständig perfekter, und man vermittelte dem Zuschauer einen immer realistischeren Eindruck des Geschehens.

So besass der bereits erwähnte Film QUO VADIS? (1912) von Guazzoni eine Länge von 2000 Metern; ca. 5000 Statisten hatten bei den Aufnahmen mitgewirkt; er hatte 60 000 Lire (etwa 110 000 Mark) gekostet und brachte das Zehnfache ein. Der Film der Konkurrenz GLI ULTIMI GIORNI DI POMPEI (1913) von Mario Caserini hatte gar eine Länge von 3000 Metern und wurde bereits vor Abschluss der Dreharbeiten für 1/4 Million Dollar nach den USA verkauft.

Künstlerischer Höhepunkt dieser Antikfilmserie waren die Filme von Giovanni Pastrone, der sich das Pseudonym Piero Fosco zugelegt hatte, LA CADUTA DI TROIA (1910) und vor allem CABIRIA (1914), dessen Drehbuch der Dichter Gabriele d' Annunzio signierte, obwohl Pastrone selbst es geschrieben hatte. Der Film erzählt die rührende Geschichte von dem Raub des römischen Mädchens Cabiria und seiner Rettung aus den Händen der kinderopfernden Priesterschaft Karthagos. Höhepunkte sind die Zerstörung Catanias durch den Ausbruch des Ätna, die riesigen Tempelbauten in Karthago und der Ritus der Menschenopferung sowie Szenen aus dem punischen Krieg wie die berühmte Alpenüberquerung durch Hannibal. Sechs Monate dauerten die Arbeiten an dem Film; es wurden 20 000 Meter Filmmaterial abgedreht, von denen man 3000 bis 4000 Meter zu der endgültigen Fassung zusammenschnitt.

Als durch den ersten Weltkrieg die italienische Filmindustrie der ökonomischen Basis zur Herstellung solch kostspieliger Filme beraubt wurde, begannen die Amerikaner, monumentale Antikfilme zu drehen.

Die Massstäbe für diese Gattung jedoch hatten die italienischen Filme gesetzt. Alle nachfolgenden Antikfilme bis hin zu Mankiewicz' CLEOPATRA folgten den durch sie vorgeformten Mustern. Die gefälligere Form der heutigen Antikfilme verdankt man in erster Linie technischen Entwicklungen - Ton, Farbe, Breitwand (Bezeichnenderweise war der erste Cinemascope-Film ein Antikfilm: THE ROBE (1953 - Das Gewand) von Henry Koster.) - und nicht künstlerischen. In jener Zeit hingegen bedeutete jeder dieser Filme zugleich auch einen künstlerischen Fortschritt, ein Aufschliessen neuer filmischer Möglichkeiten und eine Gelegenheit, das Publikum zu lehren, längere Filme zu sehen. Pastrone beispielsweise setzte in CABIRIA zum erstenmal einen Kamerawagen - einen "carello" - ein, einmal, um die Hauptdarsteller, die sich in vielen der bisherigen Filme vergeblich durch wildes Gestikulieren in den Statistenheeren bemerkbar zu machen versuchten, besser hervorheben zu können, indem er mit der Kamera schräg auf sie zufuhr, zum anderen, um in die Dekorationen hineinfahren und dem Zuschauer zeigen zu können, dass es sich um wirkliche Bauten und keine gemalten Prospekte handelte. Die Tempelbauten hatte er mit Staniolpapier überziehen lassen, um einen besseren räumlichen Effekt zu erzielen. In der Reichhaltigkeit der Dekors, der Perfektion der Massenszenen und den sorgfältigen Beleuchtungseffekten ist CABIRIA nur schwer zu übertreffen.

Zwei andere Charakteristika des frühen italienischen Antikfilms, das Bemühen um historische Treue im Dekor und die Loslösung der Charaktere aus ihrer historischen Bedingtheit und ihre Umbiegung ins allgemein Gefühlige, sind bis zu CLEOPATRA erhalten geblieben. In CABIRIA hatte Pastrone selbst die Dekors nach dem damaligen Stand der archäologischen Forschung entworfen - er hatte zuvor eine Karthago-Ausstellung im Louvre und in St. Louis de Carthagene besucht und zahlreiche Veröffentlichungen studiert. Die Naivität der Handlung, das Wirken grosser Gefühle und die Ausserachtlassung historischer und sozialer Gegebenheiten und damit die Verfälschung geschichtlicher Wahrheiten sollten im amerikanischen Antikfilm noch dadurch verstärkt werden, dass sich dieser die Aufgabe stellte, eine Botschaft zu verkünden.

Ein weiteres Merkmal zieht sich in diesem Zusammenhang durch die Filmgeschichte: das Bemühen, den kostspieligen, monumentalen Antikfilm durch schmückendes Beiwerk - glanzvolle Premieren, erhöhte Eintrittspreise, Pausen während der Aufführung, opernartige Vor- und Zwischenmusiken - in seinem Wert zu steigern. Der Rummel um CLEOPATRA hat seine Vorläufer; er garantiert lange Laufzeiten. Guazzonis QUO VADIS? erlebte am 21. 4. 1913 seine amerikanische Erstaufführung im Astor Theatre in New York, wo er 22 Wochen lief; der Eintrittspreis betrug den damals horrenden Preis von 1,50 Dollar. In London erreichte der Film in der Albert Hall eine mehrwöchige Laufzeit und wurde von König Georg V. und Königin Mary besucht. Für den Film CABIRIA hatte der Komponist Ildebrando Pisetti eigens eine Partitur geschrieben.

Als QUO VADIS? 1913 in Amerika Furore machte, gab es zwar bereits einige amerikanische Antikfilme; diese jedoch waren im Vergleich zu den italienischen recht bescheiden. Ihre durchschnittliche Länge betrug nur eine Rolle (15 Minuten). Inspiriert durch die italienischen Antikfilme und auf die Tradition des realistisch-romantischen Aktionstheaters eines Steele Mackaye und eines David Belasco aufbauend, übernahmen schliesslich die Amerikaner diese Gattung des Monumentalfilms. 1914 kam, zu spät, um den Erfolg von QUO VADIS? zu bremsen, JUDITH OF BETHULIA von David Wark Griffith heraus, ein Film mit grossartigen Massenszenen wie der Erstürmung der Mauern von Bethulia, dem Angriff der Streitwagen und dem Brand im Lager der Assyrer. Die Meisterschaft dieses Films übertraf Griffith noch mit INTOLERANCE (1916). Wie schon JUDITH OF BETHULIA, bestand auch dieser Film aus vier Episoden (Vor Griffith hatte bereits Edwin S. Porter in THE KLEPTOMANIAC zwei Episoden ineinandergeschnitten.) - BABYLON, THE NAZARENE, THE BARTHOLOMEW'S EVE, THE MOTHER AND THE LAW - die, parallel geführt, in immer rascherer Folge ineinandergeschnitten sind. (Im Gefolge der ersten französischen Christus-Verfilmungen drehte 1897 Rick Hollaman THE PASSION PLAY von der damals sensationellen Länge von 610 Metern. Die eigentliche Antikfilmserie begann zehn Jahre später. 1907 drehten Oakes Rose und Sidney Oleott BEN HUR, 1908 folgte Stuart Blackton mit THE LIFE OF MOSES, 1910 Sidney Oleott mit FROM MANGER TO THE CROSS. Dieser Film war an den Original-Geschehensplätzen in Palästina gedreht worden und wurde von zeitgenössischen Kritikern als künstlerisches Ereignis gefeiert.)

Dieser Film war in allem überdimensional: die Herstellung dauerte 22 Monate, er kostete über 1 1/2 Millionen Dollar (1916!); 60 000 Beschäftigte sollen mitgewirkt haben; es wurde Filmmaterial von über 70 Stunden Vorführungsdauer belichtet. Die endgültige Fassung war 3 1/2 Stunden lang. Neben der modernen Episode ist die babylonische die bedeutsamste; für sie hatte Griffith riesige Bauten errichten lassen.

Wie CABIRIA im italienischen, so markiert INTOLERANCE im amerikanischen Film einen künstlerischen Höhepunkt. Der Film hatte grossen Einfluss auf den amerikanischen Film, insbesondere auf Cecil B. De Mille und Erich von Stroheim, wie auch den russischen Revolutionsfilm. Doch der Film fand kein Publikum; er wurde für Griffith zum grössten finanziellen Fiasko. (Einige Jahre später brachte Griffith die babylonische Episode, angereichert um einige Liebesszenen aus dem Fundus, unter dem Titel THE FALL OF BABYLON getrennt heraus.) Mit diesem seltsamen, auf eine grandiose Weise misslungenen Film wollte Griffith gegen die Intoleranz zu Felde ziehen - "a protest against despotism and injustice in every form". Dieses Bestreben, eine Botschaft zu verkünden, sollte - wie bereits angedeutet - für die meisten amerikanischen Antikfilme charakteristisch werden. Wie zweifelhaft diese Methode ist, zeigt schon INTOLERANCE: undeutlich blieb, welche Gemeinsamkeiten die zu solch verschiedenen Zeiten und in solch unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen spielenden Episoden aufzuweisen hatten. Selbst ein derart allgemeines Prinzip wie Intoleranz vermag Griffith nur sichtbar zu machen, indem er seine Figuren aus den konkreten gesellschaftlichen, entwicklungsgeschichtlichen und politischen Bedingtheiten reisst, d. h. letztlich, die historischen Fakten fälscht. Griffith - und mit ihm alle späteren amerikanischen Regisseure - ist unfähig, die darzustellende Epoche in ihrer Eigentümlichkeit zu erfassen, um dann aus ihr ein Prinzip herauszuarbeiten und mit denen anderer Epochen zu konfrontieren. Stattdessen begeht er den umgekehrten Weg; er pflanzt den einzelnen Epochen von vornherein sein allgemeines Prinzip auf. Hierdurch wird das historische Milieu zur blossen Staffage und ist beliebig austauschbar; und so bleiben die Figuren der amerikanischen Antikfilme nichts anderes als historisch drapierte Gegenwartsamerikaner. (Zu INTOLERANCE und der Montagetechnik Griffith' vergleiche auch den Aufsatz "Dickens, Griffith und wir" von Serge Eisenstein, veröffentlicht in Serge Eisenstein: Gesammelte Aufsätze I, Zürich 1961; insbesondere S. 122 ff.)

Cecil Blount De Mille war der Regisseur, der sich dieser Methode in besonders krasser Weise bediente. De Mille fühlte sich als wahrer Evangelist und wurde, nachdem er in seinen Gesellschaftsdramen Schlaf- und Badezimmer für die Filmwelt erobert hatte, populärster Regisseur des religiösen Antikfilms. Als ehemaliger Assistent Belascos mit allen publikumswirksamen Effekten vertraut, koppelte er die religiösen Themen mit Sex und Brutalitäten und bereitete sie zu einer grossen Show auf. In nie gebrochener Naivität an seine Mission glaubend, verkündete er zu Beginn der Dreharbeiten von THE KING OF KINGS (1927) vor seinen versammelten Mitarbeitern, wenn bei der Arbeit an diesem Film jeder seine Anweisungen genau befolgen würde, würde der Film bewirken, dass die Geschichte Christi für weitere tausend Jahre im Gedächtnis der Menschheit erhalten bleibe. Und noch in den fünfziger Jahren behauptete De Mille, er leiste mit seinen Filmen das, was die mittelalterlichen Baumeister mit dem Bau der Kathedralen vollbracht hätten. De Mille fügte seinen in der Gegenwart spielenden Filmen lange Rückblenden bei, in denen die Protagonisten als Bürger des alten Rom oder Babylon oder gar als Steinzeitmenschen auftraten und dort sich mit den gleichen Problemen wie in den zeitgenössischen Teilen konfrontiert sahen. Aus dem Handlungsausgang in der Antike wurde die Lehre gezogen und der moralische Zeigefinger auf das zeitgenössische Geschehen gerichtet - MALE AND FEMALE (1919) und MANSLAUGHTER (1922); umgekehrt bereicherte De Mille seine Antikfilme mit modernen Episoden, in denen er den Amerikanern der Gegenwart christliche Predigten lieferte - THE TEN COMMANDMENTS (1923) und THE KING OF KINGS (1927). In der Tonfilmzeit setzte De Mille die Serie bombastischer Antikfilme fort: THE SIGN OF CROSS (1932), CLEOPATRA (1934) SAMSON AND DELILAH (1949) und THE TEN COMMANDMENTS (1957). Auf die Verbindung von in der Antike und der Gegenwart spielender Episoden allerdings verzichtete er nun. (1923 parodierte Buster Keaton mit THE THREE AGES diese Art De Mille'scher Filme. Er erzählt - in der Steinzeit, im alten Rom und in der Gegenwart - die Geschichte des kleinen Mannes, dem es durch seine List gelingt, den mächtigen Nebenbuhler bei seiner Angebeteten auszustechen.) Mögen die stummen Monumentalfilme De Milles in ihrem Gigantismus als Ausdruck ihrer Entstehungszeit legitim gewesen sein, so sind seine späteren Antikfilme in ihrer Paarung aus naiver Frömmigkeit und berechneten Show-Effekten - schlicht gesagt - lächerlich.

Schon dem frühen amerikanischen Film diente das antike Milieu als fadenscheiniger Vorwand, die Leinwand mit "Lüsterndem", "Sündhaftem", ja mit Nuditäten zu füllen. Theda Bara, Urmutter aller Vamps, spielte die Hauptrolle in CLEOPATRA (1917) von J. Gordon Edwards wie auch später in SALOME, während in BEN HUR (1926) von Fred Niblo Ramon Novarro - neben Rudolph Valentino einer der Leinwandschönlinge, nach denen sich die Frauen zerrissen - in unverhüllter Männlichkeit erschien. So ist die "Lasterhaftigkeit" der Antike - Schleiertänze (In ROCK-A-BYE-BABY (1958 - Fünf auf einen Streich) parodiert Frank Tashlin einen ägyptischen Tempeltanz à la Hollywood sehr treffend.), Gelage, Orgien - bis zur Gegenwart ein beliebtes Thema geblieben, dem jedoch die Zensurbehörden von vornherein enge Grenzen steckten. Erfolgreicher, weil von der Zensur weniger beachtet, waren und sind die Regisseure in der Darstellung von Grausamkeiten - ebenfalls ein ständig wiederkehrendes Element in den Antikfilmen. Die politische Ahnungslosigkeit der meisten Regisseure erlaubte ihnen, nur zwei Kategorien antiker Politiker zu registrieren: "Gewaltherrscher" und "Demokraten", von denen natürlich die letzteren Sympathien und Sieg davontragen.

Während in den späten dreissiger und in den vierziger Jahren im amerikanischen Film der Antikfilm keine wesentliche Rolle spielte, setzte um 1950 im Gefolge von De Milles SAMSON AND DELILAH als Reaktion gegen die Abwanderung der Zuschauer zum Fernsehen eine neue Welle monumentaler Antikfilme ein. Aus dieser ersten Nachkriegswelle ragt allein LAND OF THE PHARAOHS (1953 - Land der Pharaonen) von Howard Hawks hervor"). Dieser äusserst sorgfältig gestaltete Film - am Drehbuch hatte William Faulkner mitgearbeitet - ist als einziger der üblichen Trivalität entronnen und zeichnet in kraftvollen klaren Bildern das Portrait eines Pharaos des Alten Reiches. (Der deutsche Dialog allerdings verharrt im herkömmlichen De Mille'schen Bla-Bla.)


(Die übrigen Filme sind: 1951 - QUO VADIS? von Mervyn le Roy, DAVID AND BATHSEBA von Henry King; 1953 - THE ROBE (Das Gewand) von Henry Koster, SALOME von William Dieterle, THE SERPENT FROM THE NILE (Die Schlange vom Nil) von William Castle; 1954 - THE EGYPTIAN (Sinuhe, der Ägypter) von Michael Curtiz, DEMETRIUS AND THE GLADIATORS (Die Gladiatoren) von Delmer Daves; 1955 - HELEN OF TROY (Die schöne Helena / Der Untergang von Troja) von Robert Wise; 1956 - ALEXANDER THE GREAT (Alexander der Grosse) von Robert Rossen, THE TEN COMMANDMENTS (Die zehn Gebote) von Cecil B. De Mille.)

Als gegen 1959 eine zweite Welle mit teilweise künstlerisch ambitionierteren Filmen anlief, war in Italien ebenfalls die Antikfilmwelle gestartet. (Die im Text nicht erwähnten, unterdurchschnittlichen Filme sind: 1959 - SALOMON AND SHEBA (Salomon und die Königin von Saba) von King Vidor, THE BIG FISHERMAN (Der Fischer von Galiläa) von Frank Borzage; 1910 - THE STORY OF RUTH (Das Buch Ruth) von Henry Koster, ESTHER AND THE KING (Das Schwert von Persien) von Raoul Walsh, ein von einer gewissen Clique masslos überschätzter Film. Ferner drehte der amerikanische Regisseur Jacques Tourneur die italienische Produktion LA BATTAGLIA DI MARATONA (1959- Die Schlacht von Marathon). Um Kosten zu sparen, drehten viele amerikanische Produzenten in den folgenden Jahren ihre Filme in Italien, zum Teil in Co-Regie mit einem italienischen Regisseur - eine Zusammenarbeit, die 1926 bei Niblos BEN HUR vergeblich versucht worden war. Den grössten Publikumserfolg dieser Serie hatte BEN HUR (1959) von William Wyler zu verzeichnen - ein bombastisches Kitschgemälde, das jedoch ein zwar aus dem Niblo-Film kopiertes, dennoch von Andrew Marton hinreissend inszeniertes Wagenrennen enthält - eine der besten Aktionsszenen der Filmgeschichte. Stanley Kubricks im selben Jahr gedrehter SPARTACUS ist ein sehr unterschiedliches Werk: nach einem rasanten und kraftvoll gestalteten ersten Drittel verliert sich der Film in eine limonadenfarbige love-story, um erst im letzten Drittel wieder etwas an Format zu gewinnen. Wieder wird an der Historie manipuliert: die Idee des Sklavenaufstandes, des Freiheitskampfes gegen die unterdrückende Klasse ist sehr oberflächlich behandelt. Ebenso uneinheitlich ist KING OF KINGS (1960 - König der Könige) von Nicholas Ray, der Judas als jüdischen Nationalisten zeichnet, der durch den "Verrat" an Christi diesen an die Spitze des von Barabbas geleiteten Aufstandes gegen die Römer zwingen möchte. Filmische Höhepunkte des Films sind die Niederwerfung dieses Aufstandes sowie die Bergpredigt. Diese, in der Art einer riesigen Pressekonferenz gestaltete Szene ist die einzige innerhalb dieser Antikfilme, in der etwas von der erregenden Botschaft des Evangeliums spürbar wird. Mit BARABBAS (1961) scheitert Richard Fleischer allerdings daran, dass er in wenig origineller Weise Höhepunkt an Höhepunkt reiht und so seinen Film in Äusserlichkeiten ersticken lässt, ein Fehler, an dem die meisten seiner Filme leiden. Etwas glückhafter dagegen ist Curtis Bernhardt (und Alberto Cardone) mit DÄMON AND PYTHIAS / IL TIRANNO DI SIRACUSA (1961 - Der Held von Attika), während in SODOME E GOMORRA (1961 - Sodom und Gomorrah) von Robert Aldrich (und Sergio Leone) die Ambitionen bereits mit dem Titelvorspann enden; dies ist der schlechteste Film der Serie.

Zieht man das Fazit dieser 12jährigen Nachkriegsentwicklung, so bleibt die ernüchternde Feststellung, dass der Monumentalfilm - im Gegensatz zu den frühen italienischen - dem Zuschauer keine neuen filmischen Bereiche erschlossen, ihm keine Perspektiven zum besseren Verstehen seiner Historie und damit seiner selbst vermittelt hat. Was bleibt, ist allenfalls Hawks LAND OF THE PHARAOHS und - in einigem Abstand - Rays KING OF KINGS und Kubricks SPARTACUS sowie natürlich Martons Wagenrennen aus Wylers BEN HUR.

Neben der Serie der monumentalen Antikfilme steht die der normalen Antikfilme, deren Ausstattung, Länge und Kosten denen eines gewöhnlichen Films entsprechen. Diese Gattung ist die Domäne der Italiener, in der sich die Amerikaner - mit Erfolg - zweimal versuchten: ATLANTIS, THE LOST CONTINENT (1960 - Atlantis, der verlorene Kontinent) von George Pal ist eine glückliche Verbindung zwischen Antik- und sciencefiction-Film, während in THE LION OF SPARTA (1960 - Der Löwe von Sparta) Rudolph Maté eine sorgfältige Rekonstruktion der Schlacht bei den Thermopylen mit Hollywoodscher Präzision und Rasanz in Szene setzt und damit den besten amerikanischen Antikfilm seit Kriegsende fertigt. (Matés nächster Antikfilm REVAK IL REBELLI (1961 Revak, Sklave von Karthago) ist ein völlig misslungenes, naives Freiheitsopus.)

In den Mittelpunkt des italienischen Antikfilms - diese Serie ist weitaus homogener als die der Monumentalfilme - rückte die Figur eines antiken Supermannes, eines bodybuilding-Muskelprotzes, der dank seiner unwahrscheinlichen Körperkräfte, gepaart mit einer gewissen heiteren Schläue, zum Kämpfer für das Gute, Befreier der Unterdrückten, Rächer der Enterbten, Vernichter der Bösen und Liebling eines anspruchslosen Publikums wurde. (Ihre Darsteller sind Steve Reeves, Mark Forest, Ed Fury, Gordon Scott, Gordon Mitchell, Kirk Morris.) Dank dieser durch und durch naiven Heldengestalt erreichte das Antikfilmgenre seit 1958 in Italien eine Popularität, die der des Western in Amerika gleichkommt. So gleicht dann auch dieser Held dem des naiven Serienwestern, und wenn am Ende von TAUR, IL RE DELLA FORCA BRUTTA (1962 - Taurus - der Gigant von Thessalien) von Antonio Leonviola, um ein Beispiel zu nennen, der Held zu weiteren Abenteuern aufbricht, so entspricht dies genau dem Ende etwa des Western THE LONELY RANGER (1956 - Der weisse Reiter) von Stuart Heisler, in dem der Held zu Suppés "Leichter Kavallerie" ebenfalls neuen Taten entgegenreitet.

Vorbild dieser Heldengestalt - mag sie nun Maciste, Ursus, Herkules, Theseus, Germanicus oder Taurus heissen - ist die Figur des treuen römischen Sklaven Maciste aus Pastrones CABIRIA, der im ursprünglichen Drehbuch Herkules hiess und von Bartolomeo Pagano, ehemals Hafenarbeiter in Genua und in seinem äusseren Gehabe genau kopiertes Vorbild Mussolinis, dargestellt wurde. Nach CABIRIA entstand eine ganze Serie Maciste-Filme - Pastrone selbst drehte 1916 MACISTE ALPINO -, während Ursus zum erstenmal in der vierten Episode - URSUS E IL TORO - des Films QUO VADIS? (1912) von Guazzoni, dargestellt von Bruto Castellani, auftauchte.

Mit dem Ende der Stummfilmzeit versanken diese Heldengestalten, bis sie 1960 von Carlo Campogallini mit MACISTE NELLA VALLE DEI RE (Maciste - Rächer der Pharaonen) und URSUS (Ursus - Rächer der Sklaven) wieder aufgeweckt wurden. Herkules war bereits vor ihnen durch Pietro Franciscis LE FATICHE DI ERCOLE (1957 - Die unglaublichen Abenteuer des Herkules) auferstanden. (ODYSSEE / ULISSE (1954 - Die Fahrten des Odysseus) von Mario Camerini gehört nicht in diese Serie.) 1958 begann die italienische Antikfilmserie. (Im italienischen Tonfilm hatte es bis 1950 nur vereinzelte Antikfilme gegeben. 1937 drehte Carmine Gallone SCIPIO L' AFRICANO, einen Film, der die faschistischen Eroberungspläne Italiens in Nordafrika propagieren sollte. Alessandro Blasetti fertigte zwei Antikfilme: NERONE (1930) und FABIOLA (1948). Ebenfalls 1948 erschien L' APOCALISSE (Rom in Flammen) von G. M. Scotese. Nach 1950 gab es zwei Lustspiele über Nero - O. K. NERONE (1952 - O. K. Nero) von Mario Soldati und MIO FIGLIO NERONE (1956 - Neros tolle Nächte) - und 1951 Carmine Gallone's nuditätenreicher Film MESSALINA.) Die Stoffe holte man sich aus der Mythologie, der Geschichte, den Dichtungen, drehte sie durch den Fleischwolf und durchsetzte sie mit der eigenen Phantasie - das Ergebnis blieb immer das gleiche: eine naive Abenteuergeschichte (teilweise handwerklich sauber gestaltet) mit einem schönen, starken Helden, einem bösen Tyrannen sowie einem lasterhaft verbuhlten oder einem herzinnig-liebsten Mägdelein, versehen mit den modernsten Kosmetika Roms. Nacktes Fleisch glänzt, Speere und Schwerter dringen in Körper, Blut fliesst, und wieder glänzt nacktes Fleisch - und der Held, das Gute, die Idee der Freiheit verkörpernd, hat gesiegt! Starb bei Kubrick Spartacus, dichtete man ihm flugs einen natürlichen Sohn an, der sein Werk vollendet - IL FIGLIO DI SPARTACUS (1962 - Der Sohn des Spartacus, Sergio Corbucci). Gelegentlich gar tauchen mehrere der Helden gleichzeitig auf: ULISSE CONTRO ERCOLE (1961 - Herkules, der Sohn der Götter) von Mario Caiano. Schliesslich sprengen die Helden ihren historisch-geographischen Raum, und Herkules kämpft gegen die Hunnen: IL TERRORE DEI BARBARI (1959 - Herkules, der Schrecken der Hunnen) von Carlo Campogallini; Maciste greift in den Kampf zwischen Arabern und Spaniern ein: MACISTE CONTRO LO SCEICCO (1962 - Maciste im Kampf mit dem Piratenkönig) von Domenico Paolella; oder taucht gar im Schottland des 17. Jahrhunderts auf: MACISTE ALL' INFERNO (1932 - Maciste, der Rächer der Verdammten) von Ricardo Freda.

Aus der Ebene dieser Trivalitäten vermögen nur vereinzelt einige Filme zu interessieren, so einige von Ricardo Freda (Fredas Antikfilme sind: SPARTACO (1953), TEODORA, IMPERATRICE DI BISANZIO (1954), I GIGANTI DELLA TESSAGLIA (1960).) oder die Parodie von Vittorio Sala: LA REGINA DELLA AMAZZONI (1960 - Ursus im Reich der Amazonen). An der Konzeptionslosigkeit der Verweise misslungen ist die Parodie I TITANI (1961 - Kadmus, Tyrann von Theben) von Duccio Tessari, in der u. a. die Truppen des Tyrannen zu den Klängen des Deutschlandliedes vorrücken, während zur Revolution des Volkes gegen ihn die Marseillaise erklingt. Mario Bava gelang mit ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA (1961 - Vampire gegen Herakles) eine gelungene Verbindung eines Antikfilms mit einem Vampirfilm, der vor allem durch die Phantastik und die wohlkomponierten Bilder besticht. Auch Bavas nächster, am Rande des Genres liegender Film GLI INVASORI (1961 - Die Rache der Wikinger) vermag in manchen Sequenzen durch seine wilde Schönheit zu beeindrucken.

Unbestrittener Meister dieser Gattung jedoch ist Vittorio Cottafavi, einer der bedeutendsten Regisseure Italiens. Zwar bedient auch er sich der Äusserlichkeiten, die ihm das Genre liefert, hebt dies jedoch sowohl in künstlerischer als auch in ideologischer Hinsicht auf ein höheres Niveau, während er die Klischees ironisiert. So ist in LA VENDETTA DI ERCOLE (1960 - Die Rache des Herkules) Herkules der übliche Kraftmensch; gerade diese Eigenschaft hingegen wird ihm zur Last: kaum lässt er sich im Lande blicken, eilen die Bewohner zu ihm; dem Bauern möge er einen beim Roden hinderlichen Baum ausreissen, dem Hausbesitzer den Türbalken wieder einrichten usw. Dieser Film, den der katholische Filmdienst arglos als naive Bilderbuch-Illustration charakterisierte, enthält eine der explosivesten Szenen Cottafavis: Herkules ergreift in einem Tempel ein Götterbild und zerschmettert es - während er über die auf dem Boden liegende Kamera schreitet und das Bild auf den Kopf stürzt; denn die Götter haben der Liebe seines Sohnes zu der Tochter des Eurysteus, des Königs von Mykenä, ihre Zustimmung versagt. Cottafavi postuliert in diesem Film das Recht des Menschen, die Götter zu verdammen, wenn sie dem menschlichen Glück auf Erden im Wege stehen. In dem weniger gelungenen Film MESSALINA (1959) wird dreimal - zu Anfang, in der Mitte und am Ende des Films - ein Mensch mit den Worten: "Er musste sterben, damit Rom lebt!" ermordet. Jedoch anders als der Tod Cleopatras bei Mankiewicz ist hier der Tod Messalinas nicht ein Gegenstand rührseligen Verharrens, sondern gibt den Anlass zu politischer Einsicht: In einem Epilog kehrt der Held diesem Staat, zu dessen Existenz es der Morde bedarf, den Rücken und wendet sich den Christen als der von diesem Staat verfolgten Menschengruppe (nicht aus religiösen Gründen!) zu. Die schrankenlose Freiheit des Individuums zu verkünden, wird Cottafavi, der sich selbst als einen Anarchisten bezeichnet, nicht müde. In LA RIVOLTA DEL GLADIATORI (1958 - Aufstand der Gladiatoren) schildert er eine Revolte armenischer Gladiatoren gegen die römischen Imperialisten, und in ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE (1961 - Herkules erobert Atlantis) kämpft und besiegt Herkules ein von einer SS-ähnlichen Kaste beherrschtes, zur Weltmacht strebendes Atlantis. (1949 drehte Cottafavi mit FIAMMA CHE NON Sl SPEGNE einen Film, in dem er sich mit der Zeit der deutschen Besetzung Italiens auseinandersetzte.) In seinem künstlerisch vollendetsten Film, LE LEGIONI DI CLEOPATRA (1959 - Die Legionen des Cäsaren) gelingt Cottafavi das, was Mankiewicz mit CLEOPATRA vergebens versuchte: ein politisches Bild jener Zeit, wenn auch eigenwillig, zu entwerfen. Diese beiden, in der Wahl ihrer Sujets so verwandten Filme markieren wie kaum zwei andere Filme die Möglichkeiten und Irrwege des Antikfilms.       Hans-Peter Kochenrath
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Das wahre Ende des Krieges Der polnische Spielfilm III: Stagnation und neue Ansätze (Teil I in Heft 40 und Teil II in ; Heft 41)

PASAZERKA (Die Reisende), Andrzej Munks letzter Film - und nicht der elfte, wie in Heft 41 [dort korrigiert] durch einen Satzfehler irrtümlich zu lesen war - erlebte im Oktober 1963 seine ausserpolnische Premiere beim 7. London Film Festival; Witold Lesiewicz, Autor von KWIECIEN (April - 1961), hat den Film nach vielen Versuchen mit der Regiegruppe "Kamera" aus dem von Munk hinterlassenen Material zusammengestellt, ohne auch nur ein Bild hinzuzudrehen. PASAZERKA besteht aus einer Rahmenhandlung und zwei Rückblenden. Die Rahmenhandlung spielt auf einem Ozeandampfer, der von Amerika nach Europa unterwegs ist. Liza (Aleksandra Slaska), ehemalige KZ-Aufseherin, ist nach dem Kriege nach Amerika ausgewandert und kommt nun, 1961, von dort mit ihrem Mann, der von ihrer Vergangenheit nichts weiss, zurück; in Southampton geht eine junge Frau an Bord, in der Liza ihre ehemalige Gefangene Marta (Anna Ciepielewska) wiederzuerkennen glaubt, von der sie bisher annahm, dass sie im KZ umgekommen, d. h. umgebracht worden sei. Zuerst erzählt sie ihrem Mann, der sich über ihre Betroffenheit beim Anblick dieser Frau verwundert, die Tatsache ihrer Aufsehertätigkeit im KZ, weiterhin, dass sie sich immer human verhalten und eigentlich gar nichts mit allem zu tun gehabt habe. Die zweite Rückblende gilt ihrer Wiederbesinnung auf die Details, sie erzählt sich selbst, wie es "wirklich" zugegangen ist, der Anteil ihrer Schuld wird grösser; doch auch das ist nicht die Wahrheit oder nur die halbe, der Film lässt offen, ob die fremde Frau, die an Bord gekommen ist, tatsächlich jene Marta oder nur eine Halluzination Lizas darstellt. Munks Intention war es wohl, durch eine plötzliche Gewissenanspannung bei Liza die sogenannte "Bewältigung" der Vergangenheit zu analysieren, sie als das hinzustellen, was sie ist: ein Alibi für die nicht erfolgte Beschäftigung mit ihr. Der letzte Satz des Kommentars bricht mitten drin ab, verbittert darüber, dass Liza jetzt in ein Land kommt, wo man sich in der Verdrängung unliebsamer Erinnerung an die Vergangenheit lange geübt hat.

Zwei Kriterien sprechen dafür, dass dies Munks ausgereiftester Film hätte werden können, obgleich man sich vor Spekulationen darüber hüten sollte. Der Film geht die Vergangenheit in der Retrospektive an, die Rahmenhandlung, die bei Lesiewicz nur mittels Standphotographien errichtet wird, ist banal, ohne Bedeutung ausser der rein zeitlichen Verschiebung, die sie ermöglicht. Chronologisch ist der Film ein Gespinst aus gelebter Erinnerung und dargestellter Gegenwart; der Sinn der Rückblenden erschliesst sich erst, wenn sie mit dem Rahmen konfrontiert werden. Die Spannung, die den Film durchzieht, ist eine intellektuell-bewusstseinsmässige, das, was sich im KZ ereignete, ist das übliche, allerdings gegen den Vordergrund einer noch immer jungen Frau abgesetzt, die sich wahrscheinlich zum ersten Mal richtig bewusst wird, woran sie mitgewirkt hat. Die Rückblenden haben jenen Hauch des Dokumentarischen, der mit der langsamen und episch-getragenen Erzählweise so stark kontrastiert, dass noch die Szenen grauenvoll wirken, bei denen ganz offensichtlich wird, wie sie gemacht wurden. Tom Milne, der Kritiker des Films in "Sight and Sound", sieht diese Gegenüberstellung falsch, wenn er schreibt: "Am Ende des Films ist man geneigt, wieder einmal zu fragen, wie ein Konzentrationslager nun wirklich war." Munks Verdienst liegt gerade darin, das faktische Geschehen eines KZ als logische Konsequenz der Inhumanität darzustellen, die in der Gleichgültigkeit menschlichen Leiden gegenüber ihren Anfang nimmt. PASAZERKA sollte kein Spielfilm über ein Vernichtungslager werden, sondern nur dessen unterbliebener Einwirkungen auf das menschliche Bewusstsein zeigen. Die beiden Rückblenden werden kommentiert, desgleichen auch die verbindenden Standphotos und nur an wenigen Stellen ist Originaldialog, unsynchronisiert, belassen worden. Der Film ist in einem Scopeverfahren hergestellt, wodurch die "stills" in die Rolle der fragmentarischen Beweise gerückt werden. Es bleibt zu hoffen, dass PASAZERKA einen Verleih findet, zumindest aber vom Fernsehen ausgestrahlt wird.

Waren die vielen Filme über den Zweiten Weltkrieg und die Barbarei der Nazis bislang alle zeitlich zurückversetzt, so hat sich das, ab 1960 etwa, geändert; Munks Film ist nur einer von zahlreichen Versuchen innerhalb des polnischen Spielfilms, aus der Gegenwart heraus die Vergangenheit zu interpretieren. Wojciech J. Has, der seit etwa 1957 dreht, machte das gleiche in seinem letzten Film JAK BYC KOCHANA (Wie man geliebt wird - 1963), der in Venedig erfolgreich aufgeführt wurde. Auch hier findet man die Rückblenden aus der Gegenwart, ausgehend von der Hauptdarstellerin, die sich bewusst wird, wie es zu dem kam, an das sie sich erinnert. Im Vergleich zu Munk vermag Has nicht mit der Dichte zu arbeiten, die ein Ganzes suggeriert, wo doch deutlich sichtbar Teile sind. Auch sind die Rückblenden in JAK BYC KOCHANA sehr schlecht gemacht, bringen sie nur das Bild, das aus jedem Kolportagefilm über die nazistische Okkupation bekannt ist. Überhaupt ist Has einer der Regisseure, die sich von Anfang an einer Einordnung widersetzen; seine Filme POZEGNANIA (Abschiede - 1958) und ROZSTANIE (Trennung - 1961) sind Evokationen eines Milieus, das es heute auch in Polen nicht mehr gibt. Die poetische Kraft beziehen alle seine Werke aus ihrer Irrealität in Bezug auf die Personen und die extrem psychologische Dramaturgie, die sich besonders an seinem Erstling PETLA (Die Schlinge - 1958) feststellen lässt. Has kennt keine strenge Chronologie, die Zeiten vermischen sich bis zur Durchdringung ins Detail; so fällt es bei POZEGNANIA schwer, die genaue Datierung der einzelnen Rückblenden und Projektionen auszumachen, mit denen die Hauptgestalt des Films umgeben ist. Bei diesem Regisseur spielen Vergangenheit und Gegenwart eine chiffrenartige Rolle, die vom konkreten politischen Sinn abgehoben ist. In einem Interview sagt Has: "Meiner Meinung nach ist die Möglichkeit, mit der Zeit je nach Notwendigkeit frei zu schalten, das grösste Privileg des Filmregisseurs. Die Rückkehr in die Vergangenheit ist eine alte Erfindung der Literatur. Nichtsdestoweniger gehört die Rückblende zu den stärksten Ausdrucksmitteln des Films. Umsomehr, als die Zeit der Gegenwart im Bewusstsein praktisch nicht existiert. Man kann die Dinge gut erkennen, sobald sie sich in einer gewissen Ferne befinden; in der Nähe fehlt es ihnen an Form und Farbe. Mein Ideal ist es, mich auf dem Filmstreifen mit ebenso grosser Freiheit auszudrücken wie der Schriftsteller auf dem Papier." (Aus Filmkritik 9/63.) So lässt sich für die Formen der Has'schen Dramaturgie vorläufig festhalten, dass sich bei diesem - besonders auch in Frankreich und England sehr geschätzten - Regisseur eine Verschiebung zugunsten des Aufbaus eingestellt hat, die der von Wajda, Munk, Kawalerowicz und auch noch Ford proklamierten engagierten Darstellung entgegensteht.

Mit Has trat die in den Jahren 1957-1961 starke Tendenz zur künstlerisch durchgebildeten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der ästhetisch relevanten Beendigung des Krieges durch die intellektuelle Analyse, in den Hintergrund. Und fast zu der Zeit kamen die jungen und bisher im Ausland kaum bekannt gewordenen Regisseure wie Konwicki, Kutz, Morgenstern und Rozewicz an die Regiepulte, bildeten sich neue Formen der filmischen Darstellung und vor allem - neue Themen. Wenn man heute feststellen kann, dass seit Kawalerowiczs MATKA JOANNA OD ANIOLOW (Mutter Johanna von den Engeln - 1961) und Roman Polanskis NOZ W WODZIE (Das Messer im Wasser - 1961) kein überragender Film mehr in Polen entstanden ist, so übersieht man vielleicht dabei, dass die Entfernung zwischen der älteren Generation der berühmten Regisseure und der jungen einfach zu gross ist, als dass sie sich in einer kontinuierlichen Kette überbrücken liesse. Hatten noch etwa Munk und Wajda den Krieg selbst erlebt - Wajda beklagte einmal in einem Interview, dass er zum Kampf selbst noch zu jung gewesen sei -, so mussten Konwicki und Kutz aus sich und ihrer Zeit heraus einen Stoff suchen, sahen sie den Krieg nur noch mit den Augen der Reflektion, nicht mehr mit denen der Erinnerung an ihn.

Der polnische Film hat seit 1960/61 einen neuen Weg genommen. Konwicki kommt von der Literatur (mit seiner Position als Regisseur wäre Pasolini zu vergleichen), auch Jozef Hen und Aleksander Scibor-Rylski schrieben bis dahin nur Drehbücher. Mit ihnen öffnete sich der polnische Film auf einem literarischen Niveau für die Probleme der Gegenwart, die in den zurückliegenden Jahren nur von mittelmässigen Regisseuren behandelt worden waren. (Die Bemerkung scheint nicht überflüssig, dass eine nationale Filmproduktion wie die Polens, aus der bis zum Jahresende 1963 185 Spielfilme hervorgegangen sind, auch notwendig ein grosses Quantum von Kolportage entstehen lässt, über das nichts bei uns bekannt wird. Wenn diese Filme - wahrscheinlich vier Fünftel der gesamten Produktion - nicht in diesen Ausführungen behandelt worden sind, so deshalb, weil dem Verfasser die Gelegenheit gefehlt hat, sich darüber zu informieren. Uns soll es ausserdem mehr auf die künstlerisch relevanten Hervorbringungen ankommen, die zwar nicht charakteristischer, aber bezeichnender und bedeutsamer für uns sind als das Mittelmass, von dem wir selbst genug haben.)

Tadeusz Konwicki hat bis heute nur zwei Filme gedreht, die beide schon in der Bundesrepublik gelaufen sind. OSTATNI DZIEN LATA (Der letzte Sommertag - 1958), den er unter grossen Schwierigkeiten drehte, nachdem er mit der Realisation eines seiner Drehbücher durch Lernatowicz nicht zufrieden war, und ZADUSZKI (Allerseelen - 1961), der in Mannheim auf dem jährlichen Festival 1962 ausgezeichnet worden ist. Konwicki ist ein Kinoautor, dessen Filme eine deutliche literarische Tönung aufweisen. Er inszeniert dialogisch, die Worte sind von grosser Bedeutung und die Bilder machen mit diesen zusammen ein homogenes Ganzes aus. In ZADUSZKI lebt der Krieg in Rückprojektionen auf, deren Relevanz für die Gegenwart sich konkret an den Hauptpersonen ablesen lässt. Zwei Menschen - Mann und Frau - versuchen ein gemeinsames Leben unter dem Schatten des Krieges, der über ihnen lastet, und es stellen sich ihnen bewusstseinsmässige Schwierigkeiten in den Weg, die kaum auszuräumen sind. Das Ende des Films lässt nur den Versuch zum gemeinsamen Leben zu, die letzte Gewissheit verweigert sich dem Zugriff der beiden. Die Oppression, die der Krieg noch nach anderthalb Jahrzehnten besitzt, liegt zwanghaft über dem ganzen Film. Wie es heisst, dreht Konwicki zur Zeit an einem reinen Gegenwartsstoff, der von allen Zurückerinnerungen an den Krieg frei sein soll. Dieser Regisseur, der in seiner Intellektualität an Munk und in der Sparsamkeit bildlicher Mittel an Kawalerowicz erinnert, hat mit OSTATNI DZIEN LATA bewiesen, dass er die Gegenwart noch im allerkleinsten Detail einzufangen im Stande ist und darüber hinaus eine Aktualität vermittelt, die man sonst vermisst. (Im übrigen hat Konwicki am Drehbuch zu Kawalerowicz MATKA JOANNA OD ANIOLOW mitgewirkt, dessen Introspektionen ihm zu verdanken sind.)

Wie Konwicki ist auch Kazimierz Kutz ein junger Regisseur, bei dem der Krieg reflektorisch ins Bild gerückt wird; sein erster Film KRZYZ WALECNYCH (Tapferkeitskreuz - 1959) brachte ihm sofort eine Auszeichnung ein. Obgleich der Film auf ein sehr inkohärentes Drehbuch von Jozef Hen zurückgeht und die einzelnen Episoden (insgesamt drei: "Tapferkeitskreuz", "Der Hund" und "Joczys Witwe") vom Buch her kaum zusammengehören, so hat Kutz doch einen durchgängigen Stil gefunden, der den Film für die Weiterentwicklung dieses Regisseurs höchst bedeutsam macht. KRZYZ WALECNYCH ist von grosser psychologischer Dichte, die Motivationen kommen gänzlich aus dem Inneren der Personen, ohne dass - wie es bei Has der Fall ist - die Psychologisierung ins Bild hineinwuchert. Der Film ist optisch reizvoll, trotz der Sparsamkeit der Mittel. Den zweiten drehte er 1960; NIKT NIE WOLA hat wiederum ein Drehbuch von Hen als Vorlage, ist jedoch karger und asketischer als der erste. Die Kameraarbeit von Wojcik kontrastiert aufs Sorgfältigste die Emotionen der beiden Hauptgestalten, die thematische Verwandtschaft Konwickis zweitem Film ist offenkundig. Nachdem Kutz mit LUDZIE Z POCIAGU (Panik im Zug - 1961) noch ganz das Kriegsgeschehen psychologisch durcharbeitet, ist TARPANY (Wildpferde - 1962) ein "moderner" Film über die Generationsdifferenzen zwischen der Kriegs- und der ersten Nachkriegsgeneration. Über MILCZENIE (Schweigen - 1963) wird noch ausführlicher zu berichten sein, nachdem der Film auch in Deutschland zumindest auf Schleichwegen einmal zu sehen war. Den Berichterstattungen aus Venedig zufolge ist MILCZENIE der düsterste und kritischste Film von Kazimierz Kutz, der von der polnischen Kritik als grosse Regiehoffnung apostrophiert wird.

Den Filmen von Kutz ist ein bei uns fast unbekannter zur Seite zu stellen, den Stanislaw Rozewicz inszenierte: SWIADECTWO URODZENIA (Geburtsurkunde - 1961), ebenfalls ein Episodenfilm, zu dem Stanislaw und Tadeusz Rozewicz gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben. Die beste der drei Episoden ist die letzte, "Ein Tropfen Blut", in der sich ein kleines jüdisches Mädchen vor den SS-Schergen zu verstecken trachtet und dann, weil der SS-Mann, der nach arischem Blut in einem polnischen Waisenhaus sucht, sie für eine Arierin hält, nach Deutschland verschleppt wird. Die Dichte und bildliche Brillanz des Films, besonders in der ersten und letzten Episode auffällig, macht ihn zu einem interessanten und lohnenswerten Objekt für die Untersuchung neuer polnischer Stilelemente.

Der konsequenteste aller polnischer Regisseure bei der Darstellung der Gegenwart ist zweifellos Roman Polanski, dem mit seinem NOZ W WODZIE ein verblüffend einfacher und realistischer Film gelungen ist. Berghahns Interpretation, der Polanski für einen der besten Brechtexegeten in der Filmkunst hält, ist vollauf beizustimmen, zumal es wohl kaum einen polnischen Regisseur ausser ihm geben dürfte, dessen Kurzfilme sich so nahtlos zu einem Spielfilm summieren. Die Parabelstruktur des Films ist so adäquat ins Bild umgesetzt, dass die Konzentration aufs Detail zu einer Zusammenstellung aller möglichen Varianten im gesellschaftlichen Verhalten gerät. Der Regisseur Polanski, dem so viele verspielte Mätzchen anlasten wollen, ist im Grunde der didaktischste, den die "neuere polnische Welle" kennt. Seine Filme sind allesamt Lehrfilme, ohne dass man es ihnen direkt anmerkt. Die derzeitige Stagnation, die über dem polnischen Film lastet, vermag vielleicht zu einem gut zu sein: dass die jungen Talente, die schon einige Filme gedreht haben, in Ruhe ihrer Fähigkeiten inne werden können. Das Klima zum Produzieren von Filmen ist kaum irgendwo günstiger als in Polen.       Peter H. Schröder

Literaturhinweise: Der Verfasser benutzte als Quellen vorwiegend folgende Werke:

1. La Cinématographie Polonaise - Warschau 1962, Editions "Polonia" (auch in Englisch erschienen als "Polish Cinematography")

2. Filmwissenschaftliche Mitteilungen - herausgegeben von der Deutschen Zentralstelle für Filmforschung in Berlin - Nummer 4/1962: Mieczyslaw Walasek - Die Regie im polnischen Spielfilm S. 994-1031

3. Nouveaux Cinéastes Polonais par Philippe Haudiquet - Premier Plan Nr. 27, Lyon 1963
Der Verfasser dankt Herrn Bohdan Ziolkowski von FILM POLSKI In Warschau, ohne dessen Hilfe diese Artikelserle nicht hätte geschrieben werden können.

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Filmliteratur

Wissenschaft?

Neue Beiträge zur Film- und Fernsehforschung, herausgegeben von Erich Feldmann (Bonn) Im Auftrag der "Deutschen Gesellschaft für Film- und Fernsehforschung"

Band 1 Gilbert Cohen-Séat FILM UND PHILOSOPHIE,

Band 2 Gerd Albrecht FILM UND VERKÜNDIGUNG,

Band 3 Hans Alex Thomas DIE DEUTSCHE TONFILMMUSIK.

Erschienen im C. Bertelsmann Verlag Gütersloh.

Hier also west Wissenschaft. Und dies mit allen Nachteilen. Hans Magnus Enzensberger schrieb einmal, als der Hanser Verlag seine Dissertation publizierte, dass es ihm unmöglich gewesen sei, das papierne und an den deutschen Hochschulen übliche Wissenschaftsdeutsch ins Lesbare zu übersetzen. Die Autoren der hier vorliegenden Publikationen scheinen nicht einmal begriffen zu haben, dass derlei notwendig ist. Fröhlich und voll Überzeugung beschränken sie sich auf die Unlesbarkeit. Diese vermag man in Band 2 und 3 noch zu tolerieren, in Band 1 stellt sie allerdings einen eklatanten Fall von Unverschämtheit dar.

So rühmlich es ist, dass endlich wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen FILM veröffentlicht werden, so unrühmlicher scheint mir, dem Leser, der auf klare Informationen und deutliche Meinungen hofft, zuzumuten, das alles auch noch zu interpretieren. Wissenschaftliche Publikationen sind doch nicht Literatur, die einer Interpretation bedarf. Wissenschaftliche Publikationen sollen Wissen vermitteln. Oder steht etwa die mangelnde Fähigkeit, den Film als Phänomen zu begreifen, in direktem Verhältnis zur Lesbarkeit des Stils?

Im Falle Albrecht kommt hierzu noch ein kaum zu ertragender Positivismus, der es tunlichst vermeidet, die Probleme des religiösen Films in eine Verbindung zur religiösen Wirklichkeit zu bringen. Wo man erwartet, dass die Realität des Films in Beziehung zur Realität der Gesellschaft gesetzt wird, die Ja schliesslich gezwungen ist, diesen Film anzuschauen, flieht der Autor in Philosophismen, die nichts, nicht einmal der im Anhang analysierte Lutherfilm MARTIN LUTHER von Irving Pechel (USA 1952) rechtfertigt.

Die einzige Publikation, die zu begrüssen ist, ist die von Thomas. Hier wird wenigstens Material geliefert, das akribisch zusammengetragen wurde. Vermisst wird allerdings, da schon alles in Katalogform ausgebreitet wird, ein Katalog der Emotionen, die gewisse Klänge im Zuschauer bewirken. Auf die Dramaturgie der Filmmusik wird viel zu wenig eingegangen. FILM UND PHILOSOPHIE von Gilbert Cohen-Séat in deutscher Sprache zur Kenntnis zu nehmen, weigere ich mich. Dem Verlag zur Unehre sei bekannt, dass ich derlei Vorstellungen von Philosophie und von Film nicht verstehe. Oder liegt das am Übersetzer?       VW

Drehbücher

Die Originalausgabe erschien 1913. Fünfzig Jahre später hat nun der Arche-Verlag diese berühmte Rarität in seine Sammlung Cinema aufgenommen und sie damit auch jenen zugänglich gemacht, die die Phantasiepreise der Antiquariate nicht bezahlen konnten. Wie gesagt: eine Rarität. Die Privatsammler gaben sie nur ungern her; man musste schon zum Institut für Filmkunde in Wiesbaden fahren, wollte man sie wenigstens einmal gesehen und gelesen haben. Es handelt sich um -

Kurt Pinthus: Das Kinobuch Zürich 1963, 157 Seiten, DM 12,80.

Kurt Pinthus, der übrigens auch als der Verfasser der ersten deutschen Filmkritik (im Leipziger Tageblatt, 25. 4. 1913) gilt, hatte das Kinobuch damals angeregt, herausgegeben und eingeleitet. Die Zweitausgabe enthält wiederum ein Vorwort von ihm. Hier schildert Pinthus nun, wie es zu dieser einzigartigen Sammlung - es schrieben u. a. Max Brod, Walter Hasenclever, Else Lasker-Schüler, Ludwig Rubiner, Franz Blei und Paul Zech - eigentlich kam. In Dessau hatten einige der späteren Autoren mehr aus Jux ein "Schlauchkino" mit ihrem Besuch beehrt. Und dann diskutierten sie "über den falschen Ehrgeiz des damaligen jungen Stummfilms, das ans Wort und die statische Bühne gebundene Theaterdrama oder den mit dem Wort schildernden Roman nachahmen zu wollen _..." Pinthus brachte sie dazu, selbst Kinostücke zu schreiben - oder auch nur Briefe. So Franz Blei: "Man filme Lebensläufe unserer Zeit _... Entschuldigen Sie, dass ich Ihre Einladung, ein Kinostück zu schreiben, mit diesem Vorschlag vieler Kinostücke beantworte." Paul Zechs "Der grosse Streik" dokumentiert zugleich Möglichkeiten und Grenzen der Einsichtsfähigkeit. Daneben sollten nach dem Willen der Autoren Grossvesir, Gräfin, Flurhüter, vorwiegend jedoch Maler, Dichter, Schauspielerin und Literat - kurz: Künstler - die Leinwand bevölkern.

Am Leiden des Künstlers anno 1963 zu partizipieren, lud kürzlich Fellinis neuester Film ein. Zum Studium des Rückfalls in längst überwunden gehoffte Romantizismen wird das jetzt veröffentlichte Erstdrehbuch:
Frederico Fellini: 8 1/2. Cinemathek Band 8. Hamburg 1963, 117 Seiten, DM 6,80
wertvolle Dienste leisten. Diese Fassung weicht entscheidend von der endgültigen Produktion ab; wo, wurde unverständlicherweise nicht vermerkt. Besonders sei auf die Änderungen gegen Ende des Films hingewiesen. Brunello Rondi, einer der Mitautoren, hat dazu in der letzten Ausgabe der englischen Zeitschrift SIGHT AND SOUND Stellung genommen.

Spätbürgerliche Regeneration des bürgerlichen Künstler-, Erziehungs- und Eheromans auf der Leinwand? Eine Analyse unter diesen Aspekten scheint dringend geraten.

Das Nachwort schrieben Hans Stempel und Martin Ripkens - eine brillante Interpretation, die aber über eine "Erkenntnis des Erkannten" nicht hinausgelangt.

Nach Bergmans "Schweigen" ist man neuerdings übereingekommen, den "Fall Bergman" einer grundlegenden Revision zu unterziehen: es stand z. B. in CHRIST UND WELT und der Kulturzeitschrift (vormals Hausblatt) FILMKRITIK. Da kann die Publikation -
Ingmar Bergman: Das siebente Siegel. Cinemathek Band 7. Hamburg 1963, 85 Seiten, DM 6,80
nur umso dankbarer begrüsst werden. Wieso allerdings ein - wenn auch wichtiger - Film angesicht des umfangreichen Gesamtwerks diese grundlegende Revision veranlassen soll, ist nur schwer einzusehen. Spätestens seit "Jungfrauenquelle" hätte man es merken können. Ursache scheint dann auch nicht so sehr "Das Schweigen" zu sein, sondern Peter M. Ladiges Anmerkungen zum Bergman-Mythos in FILM 2. Zumindest Unbehagen grassiert seitdem. Und sicher sollte der nun einsetzenden Diskussion nicht durch die Stimme eines deutschen Autors vorgegriffen werden, wenn der Herausgeber sich entschloss, Abschnitte der französischen Bergman-Monographie von Jacques Sicher dem vorliegenden Drehbuch als Nachwort beizugeben.

Wenn auch verspätet, so muss doch noch auf
Alain Robbe-Grillet: Letztes Jahr in Marienbad. München 1961, 136 Seiten, DM 9,80
hingewiesen werden. Alain Resnais realisierte dieses Drehbuch. Sein Film sollte eins der grossen künstlerischen Ereignisse der letzten Jahre werden. Robbe-Grillet verzeichnet alle Einzelheiten und erleichtert dadurch das nachträgliche Studium. Seine einleitenden Bemerkungen sind mehr als ein Protokoll zur Entstehung des Films. Sie werden in kommenden filmtheoretischen Erörterungen zu beachten sein.       Vö.

Jugend und Film

FILMERZIEHUNG IN SCHULE UND JUGENDGRUPPE (Schweizer Jugendverlag Solothurn):
dazu gibt ein instruktiver Band, herausgegeben von H. Chresta, "Grundlagen, Methode und Arbeitsunterlagen". Die Schweizer Pädagogen und Filmwissenschaftler Hanspeter Manz und Rudolf Suter unterrichten in leichtverständlicher, durchaus nicht oberflächlicher Art über Produktion, Entstehung und Ästhetik des Films. Über die Beziehungen des Jugendlichen zu Kino und Film geben weitere Kapitel Aufschluss. Vorschläge zu einer methodischen Filmerziehung schliessen sich daran an. Eine Revue der Materialien (Lehrfilme, Lehrbücher zur Soziologie, Dramaturgie, Zeitschriften etc.) ergänzen den Band. Versehen mit einem gut handhabbaren Register, eignet sich das Buch - das z. Z. beste über die Wechselbeziehung Jugend- Film - so recht, in die Hände unserer Jugendpsychologen und -Pädagogen an Volks-, Volkshoch- und Berufsschulen zu gelangen.       W. S.
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Rückumschlag
als Hollywood zu faulen begann, finanzierten die fleischer die filmindustrie in lateinamerika eben weil Hollywood schon vor fäulnis heruntergekommen und die mythen arbeitslos waren.
verarmte frauen in grossen federhüten gingen zu eröffnungscocktails, und die schmutzigsten Schreiber wurden aufgerufen stories für filme zu schreiben.
eine äusserst harte aufgabe, den mythos von Hollywood nach brasilien und den nachbarländern zu bringen.
bezeichnend die tatsache, dass das erste gut ausgerüstete filmstudio brasiliens in einem ehemaligen hühnerstall das licht der weit erblickte.       Trigueirinho Neto
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Das Schweigen

TYSTNADEN; Schweden 1963; Schwarz/Weiss; Länge: 2600 m; Verleih: Atlas; Regie und Buch: Ingmar Bergman; Kamera: Sven Nykvlst; Bauten: P. A. Lundgren; Darsteller: Ingrid Thulin (Ester), Gunnel Lindblom (Anna), Jörgen Lindström (Johan), Hakan Jahnberg (Junger Kellner), Birger Malmsten (alter Kellner).

Man hat Ingmar Bergman des öfteren als den "Mystiker hinter der Kamera" bezeichnet, als einen Mann, der auf der Suche nach der Wahrheit zwischen Glauben und Unglauben pendle. Und die grossen Konfessionen, die in einer Welt, die kaum mehr am Glauben in- teressiert zu sein scheint, um ihre Existenz ringen, verstanden es stets ? je nachdem wo sich der Wahrheitssucher gerade befand ? aus den Filmen Ingmar Bergmans Positi- ves für ihre eigene Position herauszulösen. Ob es sich nun um WIE IN EINEM SPIEGEL oder um LICHT IM WINTER handelt, um das Vermögen oder Unvermögen zu glauben, die konfessionellen Bewahrer der Metaphysik waren dankbar, dass sich hier jemand im Bereich der Kunst überhaupt mit religiösen Problemen auseinandersetzt. Dabei hätte man spätestens an dem Zwiespalt zwischen Geist und Religion in DAS SIEBENTE SIEGEL - personifiziert im Verhältnis zwischen Knappe und Ritter - erkennen können, dass es sich hier um die Wiedergeburt einer Problematik handelt, die der dänische Philosoph Sören Kierkegaard vor mehr als hundert Jahren in seinem Buch ENTWEDER-ODER for- mulierte. Hierzu notiert der dänische Schriftsteller Peter P. Rhode: "Das Buch stellt zwei Arten von Lebensanschauungen gegenüber, die ästhetische und die ethische, und schärft dem Leser ein, dass er seine Wahl treffen müsse, da man nicht so einfach von jedem ein bisschen sein könne; entweder - oder, du musst entweder die Lebensform des Ästhe- tikers wählen, und alsdann konsequent Ästhetiker sein, oder du musst die Lebenshaltung des Ethikers wählen und dann mit Leib und Seele Ethiker sein; ein prinziploses Schwan- ken zwischen ungleichartigen Lebensformen ist verächtlich und eines Menschen unwür- dig. Unter dem Ästhetischen versteht er nicht so sehr den kunstwissenschaftlichen Be- griff, sondern einen Terminus, hinter dem sich eine sinnliche Lebensführung verbirgt." Der Begriff des "Ästhetischen" schillert bei Kierkegaard in allen Nuancen, er reicht vom sublimen Erlebnis bis zur unverhüllten Sexualität. Die ethische Alternative ist ein Leben aus dem Geist, und schon die Wahl zwischen beiden ist ihm eine ethische Kategorie. Selbst vor die Wahl gestellt, flüchtet sich Kierkegaard in eine dritte Möglichkeit, die am Ende des Buches nur als Ultimatum gestellt wird: in die Religiosität.

Diese drei Begriffe Natur - Geist - Religion sind die Eckpfeiler des Bergmanschen Pandaimonions, das seine drei letzten Filme WIE IN EINEM SPIEGEL, LICHT IM WIN- TER und DAS SCHWEIGEN (das allerdings diese Begriffe wieder auf den Dualismus Geist - Natur reduziert) uns entwerfen. Allerdings verschlüsselt in einem Code, der menschliche Verhaltensweisen, die dem einen oder anderen Begriff zuzuordnen sind, miteinander vermischt, der eine seltsame Unklarheit im Betrachter aufkommen lässt. Nun war auch die Kierkegaardsche Existenz nicht frei von Überlagerungen des einen über das andere, des Geistes über die Natur, der Religion über den Geist oder die Natur. Aber gleichwelche Konstellationen das Kierkegaardsche Leben bestimmten, sie hatten ihre Berechtigung aus dem geistigen Hintergrund der Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts, die eine romantische Gesellschaft war, die das existentielle Moment in die Philosophie hochspielte und so zum Ahnherren der modernen Existentialphilosophie wurde. Die psychologischen Untersuchungen, die Kierkegaard vor allem in seinen Tagebüchern betrieb, waren aber spätestens seit Freud überholt, und für den modernen Menschen haben die Alternativen Natur - Geist - Religion ihre Relevanz verloren. Dass Bergman deren Renaissance versucht, weist ihn ins 19. Jahrhundert zurück und entkleidet die Protagonisten seiner Filme der Geschichtlichkeit, lässt sie zu Statisten eines Spiels werden, das ihr Autor für sich spielt. Dies wird am deutlichsten gerade in DAS SCHWEIGEN.

Ester, ihre Schwester Anna und deren kleiner Sohn Johan befinden sich auf der Heimreise nach Schweden. Von wo sie aufgebrochen sind, ist unbekannt. Sie unterbrechen ihre Reise in Timoka, einer Stadt, deren Sprache sie nicht verstehen. Das Land, in dem Timoka liegt, befindet sich offensichtlich im Kriegszustand: Die Reisenden begegnen Panzertransporten und Soldaten in den Strassen der Stadt. Ein mit dem Prunk der Gründerzeit ausgestattetes Hotel nimmt sie auf. Ausser ihnen und einem alten Kellner, scheint das Hotel nur von den Mitgliedern einer Gruppe spanischer Akrobaten, die Liliputaner sind, bewohnt.

Bergman entwickelt drei Charaktere. Da ist einmal Ester, sensibel, intellektuell, Schriftstellerin. Ihr Verhältnis zur Welt ist das Verhältnis zu den Büchern, die sie übersetzt, und ihre Liebe zu Anna. Weiterer Kontakt fehlt ihr. Da ist zum anderen Anna, vital, ein wenig dumm und nymphoman. Da ist zum Schluss, zwischen seine Mutter und Ester gestellt: Johan, das Kind, unbefangen, natürlich und rein.

Während Ester, befallen von DER KRANKHEIT ZUM TODE, geschwächt durch den zu häufigen Genuss von Alkohol und Tabak, mit einem Anfall von Schwindsucht kämpft, keuchend, nach Atem ringend, hustend, begibt sich Anna in ein kleines Cafe vor dem Hotel und in ein benachbartes Varieté, auf dessen Bühne die kleinen spanischen Artisten agieren. Als diese sich zu einer Figur verknoten, die als widerlicher Tausendfüssler über die Rampe stolpert, wendet sie ihren Blick nach rechts und wird Zeuge eines ekstatisch vollzogenen Geschlechtsaktes. Im Hotel streift der kleine Johan ziellos durch die labyrinthisch anmutenden Gänge. Ester, die den Anfall überstanden hat, befriedigt sich selbst. Als Anna ins Hotel zurückgekehrt ist, entspinnt sich zwischen beiden Schwestern folgender Dialog:

A.: Ich war im Kino. Ich hab ganz hinten in einer Loge gesessen. Neben mir hat ein Mann und eine Frau gesessen. Die haben sich vor meiner Nase geliebt. Als sie fertig waren, sind sie weg. Dann kam ein Mann. Ich hatte ihn schon in der Bar gesehen. Er hat meinen Oberschenkel gestreichelt. Er hat sich neben mich gesetzt. Dann haben wir 's auf dem Fussboden miteinander gehabt. Deswegen war mein Kleid so dreckig.


E.: Ist das wahr?


A.: Warum sollte ich lügen?


E.: Natürlich, weshalb solltest Du lügen?


A.: Zufällig habe ich jetzt doch gelogen.


E.: Das macht nichts.


A.: Ich hab nur zugesehen, wie die beiden sich liebten. Dann bin ich in die Bar gegangen und der Mann ist mitgegangen. Wir wussten nicht, wo wir uns haben konnten. Da sind wir in die Kirche gegangen. In einer dunklen Ecke haben wir miteinander geschlafen. Hinter ein paar dicken Balken. Da wars wenigstens nicht so heiss.


E.: Ich verstehe.


A.: Ich werde sehen, dass ich diesmal dazu komme, mein Kleid auszuziehen. - Solltest Du nicht ins Bett gehen?


E.: Ja. - Setz Dich zu mir. Setz Dich aufs Bett. Nur einen Augenblick. - Wirst Du ihn jetzt treffen? Kannst Du denn nicht verzichten, ihn zu treffen? Nur das eine Mal? Es macht mich verrückt.


A.: Wieso?


E.: Es macht mich verrückt, weil _... weil _... ich fühle mich so gedemütigt. Glaube nicht, dass ich eifersüchtig bin.


A.: Ich muss gehen.

Das Verhältnis der beiden Schwestern wird hier in einer knappen, allzu simplen Sprache umrissen, und dennoch verdeutlicht es, dass sich dieses Verhältnis nur auf emotionalem Gebiet vollzieht. Als Anna mit dem Kellner in einem leerstehenden Zimmer zusammen ist, kommt Ester hinzu und macht ihrer Schwester wiederum Vorwürfe. Bevor Anna mit dem Kind die Stadt und die sterbende Ester verlässt, hält diese folgenden Monolog:

E.: Schwellkörper. Das ist eine Frage von Blutüberfüllung und Schleim. Eine Beichte, wie vor der letzten Ölung. Ich finde, der Samen riecht schlecht. Was kann ich für meine empfindliche Nase. Ich find, ich habe gestunken wie faule Fische, als ich befruchtet wurde. Ich meine, wir wären frei. Ich wollte mich mit meiner elenden Rolle nicht abfinden. Aber jetzt ist alles so schön einsam. Man versucht, so viele Haltungen einzunehmen, sie erweisen sich alle als sinnlos. Die Kräfte sind so stark, die bösen Kräfte. Ich möchte sagen, man muss sich bewegen können. Man muss sich vorsichtig bewegen können, zwischen dem Spuk und der Erinnerung. Was rede ich da! _... ich bin so müde. Nein, nein, ich will nicht sterben. Nein, ich möchte nicht ersticken. Es war so grauenhaft hier. Ich habe Angst. Ich bekomme Angst. Nein, es darf nicht wiederkommen. Nein, nein, ich kann ja nicht _... Ich hab solche Angst. Ich hab solche Angst. Ich möchte nicht sterben.

Die Sprache, die beide Schwestern charakterisiert, wird vom Bild her adäquat unterstützt. Und: als der alte Dualismus Geist - Natur denunziert. Das Fatale ist, dass der animistische Schluss das Intelligente sterben lässt, damit das Vitale überlebe. Dieser Schluss hat nichts mit Religion zu tun. Er verkörpert nur den Sieg der Natur über den Geist und ist damit ein Ausgang, der romantisch in seiner Struktur, die naturhafte Nicht-Reflektion als den eigentlichen Sinn des Daseins begreift. Aber noch einmal zurück zu Kierkegaard, der diese Konsequenz nicht gezogen hat, da er die naturgebundene Existenz als Sünde bezeichnet hat. Er schreibt in seiner Auseinandersetzung mit Hegel: "Es ist durchaus wahr, was die Philosophie sagt: dass das Leben nach rückwärts verstanden werden muss. Welcher Satz, je mehr er durchdacht wird, eben damit endet, dass das Leben in der Zeitlichkeit niemals so recht verständlich wird, eben weil ich keinen Augenblick vollkommener Ruhe dazu bekomme, diese Stellung einzunehmen: nach rückwärts!" Dieses Rückwärts kennzeichnet auch die Situation von Anna und Ester in DAS SCHWEIGEN. "Man muss sich vorsichtig bewegen können, zwischen dem Spuk und der Erinnerung", sagt Ester. Der Spuk, das ist der Augenblick: die fremde Stadt, der Krieg, die unverständliche Sprache, Kontaktarmut und das sexuelle Unterworfensein -unter die Schwester. Die Welt von Heute, der Film spielt in ihr, oder benutzt jedenfalls ihre Requisiten, wird zu einer dunklen Macht verzerrt, der man am besten den Rücken zukehrt. Und so sucht Ester das Heil in der Erinnerung. Wie alle Bergmanschen Figuren ist sie zwar soziologisch umrissen, aber ihr Bewusstsein ist das Bewusstsein früherer historischer Epochen. Die Diskrepanz liegt in der zeitlichen Trennung. Sie macht die Filme Bergmans immun gegen die wirklichen Probleme der Zeit, sie macht sie anrüchig und verlogen.

Dabei möchte Bergman noch weiter als Kierkegaard. Er strebt nach der Wiederherstellung der Einheit von Geist und Natur. In DAS SCHWEIGEN wird diese Alternative in der Person des Johan sichtbar, dem Bergman das Symbol der Hoffnung zuordnet. Aber wie Bergman die Stadt Timoka mit Panzer, Varieté, Kirche und Hotel als Symbol verstanden wissen will, so bleibt auch Johan nur Symbol und ist in dieser Hinsicht kein Zeichen einer Besserung. Vielmehr lässt dieses allzu offensichtliche Hantieren mit Symbolen den Schluss zu, dass es ihm nicht um eine Lösung des Problems geht, das er andeutet - Wiederherstellung der Identität von Geist - Natur -, sondern sich nur um ein Spiel mit seinen eigenen Wachträumen handelt. Das Gefährliche an diesen Wachträumen ist, dass sie in sich intelligent und logisch gegliedert sind und den Anschein geben, sich um reale Fragen zu bemühen. Und dass sie die Antwort auf einem Terrain versuchen, das weit in der Geschichte zurückliegt. Johan als Alternative auf das Verhältnis der beiden Schwestern, als Utopie, das sagt nur, dass neben der romantischen Blickwendung nach hinten die Erlösung zudem noch im Kindlichen gesehen wird.

Diese ganze Argumentation, die DAS SCHWEIGEN zu leisten versucht, das Propagieren des Natürlichen - gegenüber dem angekränkelten Geist -, die Wendung nach Rückwärts - von wo das Heil kommt -, die Erlösung durch das Kindliche -, indem zwar Natur und Geist vereint, aber die Natur die dominierende Rolle spielt --, geht von einer falschen Vorlage aus. Der Film verzerrt die Welt, in der wir leben, indem er meint, sie sei hohl, entleert, und die Beziehung der Menschen nur mehr sexuell vollziehbar. Ganz davon abgesehen, dass hier Beziehungen aus dem Bereich des Intimen zu Beziehungen im Bereich des Allgemeinen werden, was zumindest von der psychologischen Situation des Mitteleuropäers her wohl als Vision, als etwas Unmögliches zu gelten hat, haben wir in DAS SCHWEIGEN die Haltung, die an den gravierenden Problemen unserer Zeit vorbeisieht. Selbst das Verwenden von Panzern kann nicht als eine Anspielung auf die politische Situation gewertet werden. Die Erkenntnis, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, das von seiner Umwelt, seinen Arbeitsbedingungen, seinem sozialen Stand her geprägt ist, scheint sich Bergman zu verschliessen. Von diesem Gesichtspunkt her ist beispielsweise die soziologische Bestimmung von Ester nicht gesellschaftlich, sondern privat, so privat, wie die Privatwelt, die Bergman vor uns entfaltet. Bergman nimmt die Dinge, auch die soziologische Bestimmung seiner Figuren als Requisiten, um etwas anderes hineinzumontieren. So sind sie von vornherein unecht, weil vordergründig. Bergmans Figuren haben eigentlich keine Umwelt. So ist die Ausgangssituation von DAS SCHWEIGEN irreal. Auf ihr dann noch eine Argumentation aufzubauen, die ins 19. Jahrhundert gehört, macht diesen Film - schlicht gesagt - zu Kitsch.       Wolfgang Vogel

Wer erschoss Salvatore G. ? (Zurück zur Verweisung in Heft 44

SALVATORE GIULIANO; Italien 1961; Regie: Francesco Rosi; Buch: Francesco Rosi, Suso Cecchi d' Amico, Enzo Provenzale, Franco Solinas; Kamera: Gianni di Venanzo; Musik: Piero Piccioni; Schnitt: Mario Serandrei; Darsteller: Frank Wolf, Salvo Randone und Laien; Produktion: Lux-Vides-Galatea; Dt. Verleih: Atlas.

Rosi geht von der Tatsache aus, dass Giuliano tot ist. Die Hintergründe dieses Todes liegen vorerst im Dunkeln. Widersprüche ergeben sich jedoch schon bei der Tatortbestandsaufnahme.

Es hätte nahegelegen, die unmittelbaren und mittelbaren Zusammenhänge dieser Banditenlaufbahn in einer grossen Rückblende darzustellen. Andererseits wäre eine Aufblätterung in der Art des CITIZEN KANE denkbar gewesen. Sind doch die Ausgangs-Positionen in beiden Filmen die gleichen: Rosi wie Welles gehen von dem Tod ihrer Hauptfigur aus. Welles versuchte nun durch die Erinnerungen, die Freunde und Weggenossen des Verstorbenen einem Reporter mitteilen, das komplexe Bild der Persönlichkeit Kanes aufleuchten zu lassen. Im Schlüsselwort Rosebud schiesst deren Substanz zusammen; während sie sich der Erkenntnis der Personen im Film entzieht, gelangt der Zuschauer zur Einsicht.

Beide Wege - den des chronologischen Entwicklungsfilms, der meistens einen Gangster zum Helden hat, und den des subjektiv gebrochenen Kaleidoskops einer puzzlespielartig zusammengesetzten Persönlichkeit - schliesst Rosi aus. Die Gefahr, die er dadurch bannt, ist die, ins unkritisch Mythisierende abzufallen.

Entweder konzentrierte sich seine Darstellung auf den Werdegang einer Person, an deren kriminellen Entwicklung er zwar die Gesellschaft schuldig sprechen, jedoch nur abstrakt überführen könnte. Die individuelle Entwicklung eines Menschen wäre nicht zu einer vollständigen Deckung zu bringen mit den gesellschaftlichen Einflüssen, die ihn bestimmen. (Daran scheiterte übrigens Visconti - Rosi war bei ihm Regieassistent-: Simones Brutalität in "ROCCO _..." erscheint eher als eine absolut gesetzte psychologische Gegebenheit, denn als eine durch gesellschaftliche Umstände produzierte Reaktionsweise.) Ein Rest von individuellem Sosein bliebe immer erhalten, dem eine objektive Analyse unzugänglich wäre. Hier schlüpfte mythisches Denken unter, das den Werdegang der Person, trotz der äusseren Einflüsse, als ein tragisches Verfallensein an die eigene psychologische Prädisposition suggerierte.

Ebensowenig gelingt es Welles, den Mythos, der um seinen Helden sich ausbreitet, aufzuhellen. Er zerstört zwar das Klischeebild der Wochenschau durch die subjektiven Reflektionen einiger Weggenossen Kanes, lässt ihn aber dennoch in dunkel-tragischem Glanz. Die Rückkehr zum Ursprung, die jedwedes mythisches Denken zum Inhalt hat, findet seine symbolische Konzentration im Bild vom Schlitten "Rosebud", der die ganze Sehnsucht nach der Ursprünglichkeit naiven Lebens in sich fasst.

SALVATORE GIULIANO hat kein Rosebud. Und selbst, wenn die reale Person jene Sehnsucht gekannt hätte, für Rosis Film besitzt das keine Relevanz. Sind doch die Intentionen des Regisseurs nicht auf den Entwurf eines Portraits gerichtet, sondern auf die Darstellung eines gesellschaftlichen Zustandes. Insofern die Person Giulianos daran teilhat, ist sie Angel- und Ausgangspunkt der Untersuchung. Über diese auslösende Funktion Giulianos geht Rosi nie hinaus.

Sein Begriff von Realität orientiert sich an Fakts, Handlungen, Geschehnissen. Nicht aber an Personen, deren Subjektivität nie ganz auf "das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", demgemäss sie agieren sollen, abgezogen werden kann. Nur indem Rosi darauf verzichtet, die spezifisch individuelle Problematik Giulianos darzustellen, gelangt er zum Hintergrund, vor dem diese möglich gewesen wäre.

Damit ist gleichzeitig gesagt, dass das Moment individueller Freiheit aufgehoben ist und die Personen ganz dem objektiven Zwang ausgeliefert werden. Insofern könnte man Rosis Methode des Dokumentarischen, den Stil dieses Films - denn bis in die geringsten Details befolgt er dieses Darstellungsprinzip - als inhuman bezeichnen. Der Mensch ist auf seine - im wahrsten Sinne des Wortes - tatsächliche Funktion innerhalb des allgemeinen gesellschaftlichen Geflechts reduziert. Was der einzelnen Person so an Zufälligem verloren geht, wächst dem Gegenstand des Films an objektiver Stringenz zu. Nicht handelt es sich hier allerdings um eine Objektivität, die vorgibt, nur unvermittelt das abzubilden, was ist und war. Zwar sind die Schauplätze des Films die gleichen wie in der Wirklichkeit; die Laiendarsteller kommen zumeist aus derselben Gegend, in der Giuliano und seine Bande lebten. Die bewusste Auswahl des dokumentarischen Materials, dessen Montage, die Evokation von Wirklichkeit durch Kamera, Musik und Sprache, der Wechsel von indirektem Kommentar und direkten Dialogszenen: das alles bekennt die Subjektivität des Films ein. Paradoxerweise dient sie aber nicht der Relativierung; eher verstärkt sie noch den objektiven Charakter des Films. So lässt auch Rosi nichts "dunkel", geschweige denn "unterstreicht er mitunter die Dunkelheit", wie behauptet wurde. "Sein schwieriger Kunstgriff" ist es gerade, die realen Vorgänge durchschaubar zu machen, wie es allemal Sinn künstlerischer Formgebung ist, ihren Gegenstand für kritische Einsicht transparent werden zu lassen.

Das Material des Films sind die Prozessakten der Verhandlung in Viterbo, die die Hintergründe der Verbrechen Giulianos und seiner Bande klären sollen. Rosi hält sich strikt an die gerichtsnotorischen Tatbestände, relativiert aber Möglichkeiten und Zuständigkeit des Gerichtes, zu einer wahren Beurteilung des Falles zu gelangen. Erst gegen Mitte des Films erscheint die Gerichtsszene, und auch sie wird wieder unterbrochen durch Handlungspartikel, die zeitlich vor ihr liegen. Das wirft Licht auf die Montagemittel, deren sich der italienische Regisseur bedient.

Nach den Aufnahmen von dem toten Giuliano folgen in hartem Schnitt Bilder von den Separatistenunruhen in Sizilien. Ein Kommentar begleitet sie, der dann, wenn die Kamera in einem Panoramaschwenk zu einer Gruppe von Separatistenführern gelangt ist, von deren Dialog abgelöst wird. Als Ergebnis ihrer erregten Diskussion beschliessen sie, Verbindung mit den Banditen in den Bergen aufzunehmen, um sie zu einer Privatarmee auszubilden. Nachdem dann die Ankunft ihrer Verhandlungsdelegation in den Bergen gezeigt wurde - nicht die Verhandlungen -, folgen in elliptischen Bildsequenzen, vom Kommentar eingeführt, einzelne Überfälle der Bande Giulianos auf Carabinieri. Die letzten Einstellungen dieser Sequenzen demonstrieren einen Überfall auf ein einsames Carabinierihaus. In hartem Schnitt folgt darauf die Abfahrt des Sarges von Giuliano und später die Befragung einiger Leute durch einen Journalisten, die mehr Schüsse in der Mordnacht Giulianos gehört haben, als man offiziell zugegeben hatte.

Alle stilistischen Mittel des Films sind in diesen Eingangssequenzen enthalten. Von Rückblenden kann man kaum sprechen. Nicht nur, weil im ganzen Film nur ein oder zwei Auf- oder Abblenden vorkommen, die die spezifische filmische Funktion innehaben, Vergangenes ins gegenwärtige Bewusstsein zurückzurufen. Es gäbe aber auch keinen Anhaltspunkt innerhalb des Filmgeschehens, der sie motivieren könnte. (Wie schon gesagt, Personen werden von Rosi durchweg nicht als Individuen betrachtet; sie dienen ihm nur als materiale Ausgangspunkte für Handlungen, in denen sie sich völlig auflösen; für eine (psycho)logisch motivierte Rückblende sind sie gänzlich ungeeignet.) Andererseits fehlen auch Kontinuität und einsehbare Chronologie einer Realhandlung, die als Ausgangspunkt dienen könnte für epische (CITIZEN KANE) oder lyrische (HIROSHIMA MON AMOUR) Rückblenden; was hier an Vergangenem evoziert wird, ist in sich elliptisch gebrochen, dramatisch zugespitzt und subjektlos (die Überfälle).

Rosi bedient sich einer Montagetechnik, die sich nach thematischen Gesichtspunkten orientiert, d. h. nach abstrakten Prinzipien, die nicht aus dem Film selbst hervorgehen, sondern ihn erst konkret erschaffen. Indem er derart auf sein Gemachtsein hinweist, sich die organische Entfaltung einer Spielfilmstory verweigert, nähert er sich stilistisch dem Dokumentarfilm. Denn dokumentarisch kann man seine einzelnen Sequenzen nennen, wenngleich sie nicht aus Dokumentaraufnahmen bestehen. Sie sind gestellt, gespielt, bewusst in sich selbst und zueinander komponiert. Dies jedoch nicht im Sinne eines fiktionalen Handlungsgeschehens, sondern als Versuch, tatsächliche Gegebenheiten exakt zu rekonstruieren, um sie der Kritik aussetzen zu können.

Was Rosi damit erreicht, ist Distanz vom Gegenstand. Eine Distanz, die sich auf verschiedenen Ebenen wiederholt. Zum einen äussert sie sich darin, dass er der Fiktion die Tatsachen vorzieht, der story die Situation. Die Tatsachen, Fakts kommen quasi ohne individuellen Beisatz ins Bild. Zum anderen gewinnt er gerade dadurch auch Distanz zu den Personen. Die Filmhandlung, d. h. jene Sequenzen, die action im Sinne des Spielfilms enthalten, erwachsen aus den dokumentarischen Teilen (Kommentarstellen). Damit weder der dokumentarische Teil zum abstrakten Vortrag wird, dem konkrete Anschaulichkeit fehlt, noch die Momente der Spielfilmhandlung eine solche Suggestionskraft gewinnen, dass sie an sich zu einer beliebigen individuellen story zusammenschiessen, schiebt Rosi beide ineinander. Der objektivierende Duktus des Dokumentarischen, der ein vergleichsweise äusserliches Mittel ist, und subjektive innerfilmische Spielfilmmomente verschmelzen miteinander. Der Gestus des Zeigens, wie er dem epischen Theater Brechts eigen ist, kehrt, wie Kotulla (Filmkritik 7/63) bemerkte, hier wieder. Die Momente des Spielfilmgeschehens bedeuten unter dem Aspekt des Dokumentarischen eine Einengung. Erfasst der Kommentar das Ganze in wenigen Sätzen, so umkreist der Dialog oder die spezielle Handlung nur einen Aspekt. Insofern aber dienen die Handlungsteile der Konkretisierung grösserer Zusammenhänge in nuce. Nicht zuletzt durch sie erhält der Film die Dimension der Zeit. So wird der summarische Kommentar vom Dialog mit Gegenwartspartikeln durchsetzt, die seine zeitliche Distanz in den Strom unmittelbarer Vergegenwärtigung reissen. Das Zurückliegende erhält die Qualität des Hic et Nunc und bleibt doch immer Vergangenes. Weil die Spielebene nie auf Dauer absolute Realität an sich gewinnen kann (was sie der Fiktionalität näherte), sondern weil sie nur aus dem Dokumentarischen hervorgeht und in es wieder überführt, offenbart sie ihre Modellhaftigkeit. Das Spielgeschehen und die vermeintliche Unmittelbarkeit des Dialogs gewinnen dokumentarische Bedeutung und der referierende dokumentarische Stil löst sich in Spielhandlung ein.

Was sich in der Dialektik dieser Montagemomente beobachten liess, findet seine Entsprechung in der Kameratechnik, d. h. im kompositorischen Aufbau der Einstellung. Eines der auffallendsten Merkmale von SALVATORE GIULIANO ist Rosis ungewöhnliche Vorliebe für die Totale und das Panorama. (Die Separatistenunruhen, die Überfälle, die Maifeier etc.) Fast jede Sequenz beginnt mit einer Totalen, die oft in einen Panoramaschwenk übergeht. "Der moderne Film verwendet diese (das Panorama) aussergewöhnliche technische Fähigkeit der Kamera schon deshalb gerne, weil mit ihrer Hilfe die Glaubwürdigkeit der Aufnahme naturgemäss gesteigert wird. Das Panorama kann nicht .trügen', - wie es der Schnitt kann -, und es ermöglicht dem Zuschauer im Bildraum eine genaue Orientierung", schrieb Béla Balázs in seiner Filmästhetik (Der Film, Wien 1963). Glaubwürdigkeit der Aufnahme und genaue Orientierung: das sind Postulate des Dokumentarischen. Hinzufügen muss man zu diesen Bestimmungen, die exakt die Funktion des Panorama in SALVATORE GIULIANO beschreiben, noch einige Bemerkungen über die Totale. In ihr wird ein Ganzes in den Blick gerückt, das vorerst in seiner tatsächlichen Vielfalt bildlich-statisch festgehalten werden soll (meist der spätere Tatort). Nicht selten setzt sich die Kamera dann in Bewegung - man denke nur an den Überfall auf die Carabinieri im Jeep -, erfasst in einem Panoramaschwenk die ganze Szenerie; löst gleichzeitig damit die Statik des ersten Bildes episch auf, die sich, mit dem Erscheinen des Maschinengewehrlaufes am unteren Bildrand, dramatisch konzentriert.

Der Weg, den hier die Kamera in einer Einstellung von der Totalen über Panoramaschwenk zur Halbnahen nimmt, deckt sich mit der allgemeinen Bewegung des Films: des Abstrakten zum Konkreten, des Indifferenten zum Bestimmten, des Dekors zur Person, des Kommentars zum Dialog, der Sprache zur Musik.

So lässt sich die kritische Methode der Untersuchung, deren sich Rosi bedient, beschreiben als deduktiv und induktiv: deduktiv ist der Film in seinen einzelnen Sequenzen, induktiv im Ganzen, weil das Ganze sich erst aus der Kontrastierung seiner partikularen Momente ergibt.

Jedoch muss der Begriff der Distanz, wie er am Film bisher bestimmt wurde, korrigiert werden. Rosi versteht darunter nicht eine sich gleichbleibende Perspektive, unter der der Zuschauer vom Gegenstand ferngehalten wird. Damit würden wesentliche Unterschiede des Materials selbst verblassen; Unscharfe der Argumentation und Gleichgültigkeit gegenüber der Realität wären die Folge. Deshalb durchbricht Rosi an einigen Stellen die Distanz, die er sonst vorherrschen lässt. Der stürmische Lauf der Frauen, die wie ein anschwellendes Heer von Erinnyen durch die leeren Gassen Montelepres toben, die düstere Pathetik der Friedhofsszenen: das sind Sequenzen, in denen der Film sich unmittelbar mit den archaischen Zuständen in diesen Landstrichen Siziliens identifiziert. Bewusst nehmen sich die hektischen Szenen dumpfer Emotionalität wie Fremdkörper im kühlen stilistischen Fluss des Films aus. Als einzelne gesehen, scheinen sie dem Ganzen zu widersprechen; im konkreten Zusammenhang jedoch zeigen sie, wie flexibel Rosis Darstellungsweise ist, wie fern er jeglichem äusserlichen Formalismus steht. Die Methode der Darstellung ist eins mit ihrem Gegenstand und dieser mit ihr.

Auch die Musik - eigentlich wohl nur ein ostinater Ton oder ein an- und abschwellendes Intervall - setzt, leitmotivisch, Akzente. An bestimmten Wendepunkten, zentralen Bedeutungsstellen, kehrt sie wieder (nächtlicher Überfall, vor der Maifeier, Höhepunkt der Maifeier, Pisciottas Ermordung etc.).

Sie ist nicht an Menschen gebunden, deren psychologische Disposition sie wiedergeben soll. Auch der Begriff einer allgemeinen Stimmungs- und Hintergrundsmusik umfasst sie nicht; eher, könnte man sagen, artikuliert sie die Idee des Terrors, der Angst, des Schmerzes, der Gefahr. Was sich an den einzelnen kompositorischen Mitteln des Films erkennen liess, fällt auch an seiner Totalität auf. Die zeitlichen Brüche in seiner Erzählstruktur - es ist überhaupt die Frage, ob hier noch von einer erzählerischen Haltung gesprochen werden kann; auf die Vergleichsmöglichkeit zu den Romanen John Dos Passos sei nur hingewiesen, wiewohl mir die Unterschiede auch bewusst sind -, diese permanenten Zeit- und Ortswechsel, Zeitraffungen und Zeitdehnungen, geben dem Film die immanente Dynamik seines Gegenstandes, der zu einer Lösung drängt. Die Zustände, die er darstellt, existierten und existieren noch. Sie sind nicht auf die individuellen Fehler und die Bösartigkeit Einzelner zurückzuführen. Moralische Argumentation versagte vor der objektiven Materialität des gesellschaftlichen Phänomens. Giuliano ist zwar ein Name für das Übel, nicht aber dessen Inkarnation. Deshalb erscheint er auch nie en face in Grossaufnahme; sein Gesicht ist unwesentlich, beliebig für das, was Rosi zeigen will. Seine kritische Darstellung macht deutlich, dass der allgemeine historisch-politisch-soziale Zustand Siziliens anzuklagen ist. Eine Änderung oder Liquidation einzelner Phänomene, wie das Bandenwesen und die Mafia, die sich am weitesten ausserhalb der Legalität bewegen, wäre nutzlos, ja unmöglich. Justiz, Polizei, politisches Leben: all das ist eine unentflechtbare Einheit, die noch durch die feudalistische Struktur mit ihren extremen Klassengegensätzen verschärft wird.

Der gordische Knoten, den diese Wirklichkeit geschürzt hat und die der Film durch seine mehreren Zeit-, Orts- und Kompositionsebenen dialektisch widerspiegelt, wäre auf einen Schlag nur radikal und damit umfassend zu lösen. Das ist das Ergebnis von Rosis Untersuchung, die These, die SALVATORE GIULIANO formuliert.       Wolfram Schütte

Julia lebt

DEFA 1963; Regle: Frank Vogel; Buch: Konrad Schwalbe, Manfred Freitag, Joachim Nestler; Kamera: Werner Bergmann; Musik: Hans-Dieter Hosalla; Darsteller: Jutta Hoffmann (Penny), Angelica Domröse (Li), Peter Sindermann (Gunter Rist), Heinz Dieter Knaup (Bob Hasslinger), Martin Flörchinrer (Professor Berger) u. a.

Der erwartete Höhenflug blieb 1963 für die Ateliers in Potsdam-Babelsberg aus. Das Mittelmass, die Mittelmässigkeit triumphierten. 1963 war ein Filmjahr ohne Experimente. Ein Jahr der Konventionen und Schablonen. Das Echo bei Filmpresse und Publikum war entsprechend. Die einzelnen Streifen, die im Laufe des verflossenen Jahres aus Babelsberg kamen, wurden mehr oder weniger sorgsam zur Kenntnis genommen, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Weder war eine besondere Bewegung an den Kassen zu konstatieren (nur der Spionagefilm FOR EYES ONLY, der die Tätigkeit eines V-Mannes in der Bundesrepublik zeigt, erfreute sich regen Zuspruchs), noch eine besondere Diskussionsfreudigkeit der Filmrezensenten. Eigentlich brachte nur ein Film etwas Abwechslung in diesen monotonen Rhythmus, schieden sich an nur einem Film die Geister: Frank Vogels JULIA LEBT.

Von den einen als Durchbruch zur modernen psychologischen Filmerzählung apostrophiert, von den anderen als unreife Adaption eigener Pubertätsproblematik diskriminiert, schwankte das Urteil über diesen Film merkwürdig hin und her. Leserzuschriften im "Filmspiegel" (Nr. 25/63) gaben noch einem anderen Aspekt der Kritik Ausdruck. So hiess es hier bezüglich der Hauptfigur des Films: "Ich muss leider sagen, dass dieser Film der grösste Kitsch war, den ich bisher von allen DEFA-Filmen gesehen habe. Diese Julia fand ich albern und unnatürlich. Sie hat nichts mit der heutigen Jugend zu tun." Und: "Ich frage mich: sind wir so? Kann man denn Penny mit der Jugend unseres Staates vergleichen? Sie passt nicht in unsere Welt. Wenn sie sich in ihr zurechtfinden will, so soll _... sie es mal mit etwas Arbeit versuchen. Dort könnte ihr ein Kollektiv helfen. Die Liebe allein verbindet die Menschen nicht."

Was provozierte zu solch emphatischen Tönen der Ablehnung? Schauen wir uns den Film etwas näher an. Er hat eine sehr einfache, leicht überschaubare Fabelkonstruktion. Ein junger Grenzsoldat, Gunter Rist, lernt nacheinander zwei Mädchen kennen, die Professorentochter Penny und die Krankenschwester Li. Er muss sich entscheiden zwischen den auch geistig grundverschiedenen Partnerinnen. Doch ehe es zu einer klaren Lösung kommen kann, trifft Gunter Rist eine Kugel.

Hinter dieser fast simplen Fabel verbirgt sich jedoch nach Äusserungen der Filmschöpfer eine verschlüsselte Botschaft. Julia sei nicht nur eine Rolle, sondern ein Symbol. In jedem Mädchen stecke eine Julia. Julia quasi als ein Synonym für Liebe, Liebesfähigkeit, ja weiter für Menschlichkeit und Menschsein schlechthin. Dieses Symbol sei zwar bedroht, aber nicht zu töten (siehe Filmtitel). Der fertige Film widerspiegelt deutlich eine Unentschiedenheit: worüber soll erzählt werden, über den Zusammenstoss konträrer Auffassungen über den Sinn des Lebens (Gunter - Penny - Li) und ihr Austragen im Liebeskonflikt oder über die "Erfüllung" des Juliasymbols in der sozialistischen Gesellschaft? Zu beiden Komplexen steuerte das Drehbuch jedoch nur Gedankenfragmente bei. Der verworrene (nicht komplizierte!) Aufbau des Films demonstriert es: zunächst als Liebesspiel und Widerstreit zweier unterschiedlicher moralischer Prinzipien (Gunter - Penny) angelegt, kommt es jedoch, noch bevor dieser Konflikt behandelt wird, zu einer konventionellen Dreieckskonstellation (Begegnung Gunters mit Li), die für den ursprünglichen Ausgangspunkt keinerlei Bedeutung besitzt. Aber auch der Dreieckskonflikt wird wieder fallengelassen, ohne zu ernsthaften Komplikationen zu führen. Zurück bleibt wieder die Auseinandersetzung Gunter - Penny, der jedoch die Schüsse auf Gunter Rist dramaturgisch ein baldiges Ende setzen.

Dies alles ist ein bisschen viel für einen 84-Minuten-Film und konnte schwerlich gut gehen. Soll man dazu noch hinter den verschiedenen Handlungsfragmenten jeweils eine allgorische Überhöhung vermuten, wird das Ganze leicht abstrus. Die Verquickung verschiedener Motive, ihr willkürliches Aufnehmen und Fallenlassen stimulieren die Phantasie des Zuschauers durchaus nicht. Der mangelnde Mut zur offenen Lösung war in der Vergangenheit typisch für die meisten DEFA-Produktionen. Die Alternative dazu kann jedoch kaum so aussehen, nun überhaupt alles offenzulassen. Ein gedankliches Fragment bleibt ein Fragment. Da nützt selbst die Berufung auf die Anregung des Denkprozesses wenig. Da kein Motiv klar behandelt wird, ist es auch schwierig, der Shakespeare-Analogie zu folgen und die Romeo-Julia-Situation 1963 zu definieren. Die die Erfüllung der Liebe bedrohenden Momente werden verschwommen, teilweise spekulativ wiedergegeben, überhaupt wird die Julia-Analogie recht äusserlich durch einen von Penny rezitierten Julia-Monolog hergestellt. Damit ist keinesfalls schon eine geistig-moralische Vergleichsebene gegeben. Diese Unentschiedenheit und Unvollkommenheit der gedanklichen Konstruktion des Films ist seine Hauptschwäche.

Ein nicht zu unterschätzender Vorzug des Streifens ist jedoch, dass er bei allem Fragmentarischem Gestalten aufweist, die zu interessieren vermögen. Mit Penny (Jutta Hoffmann) gelang eine künstlerisch interessante Figur, deren geistiges Milieu bislang tabu schien. Die Ausgangssituation der Beziehungen Pennys zu Gunter wird psychologisch richtig intoniert: das Gegensätzliche als Motiv der gegenseitigen Anziehung. Bei Gunter ein ungläubig-naives Erstaunen vor der selbstverständlichen Exklusivität im Professorenhause Berger (_... wie im Kommunismus"), die Verzauberung durch eine ihm bisher unbekannt gebliebene Welt - mit Penny gleichsam als Märchenprinzess. Die Sinnlichkeit einer Villonschen Ballade unterstreicht die diesen Szenen eigene Atmosphäre. Hier gelingen auch Regie und Kamera Sequenzen von faszinierender Dichte, von überzeugender Stimmungssuggestion. Penny fühlt sich ihrerseits instinktiv von der Natürlichkeit in Gunters Handlungen angezogen (dies leicht parodierend: "Wie Sie sich vorhin geprügelt haben, richtig urwüchsig _...").

Es stimmt der Ausgangspunkt, es stimmt auch das langsame Zerbröckeln der ersten Faszination, der Beginn einer genaueren Prüfung der Charaktere. Auch für den Film ergibt sich jetzt die Notwendigkeit, die Charaktere stärker zu profilieren. Doch gerade hier bleibt ein Vakuum. Noch am deutlichsten wird Pennys Eingesponnensein in eine Welt der Illusionen, die Zerbrechlichkeit und Oberflächlichkeit ihres Falterdaseins (nicht zuletzt durch die schauspielerische Sensibilität von Jutta Hoffmann). Ihre Abneigung gegen eine sogenannte Pflichtwelt, gegen die "Pflichtmenschen" wirkt jedoch schon wie eine kindliche, nicht ernstzunehmende Laune. Trotzköpfchenmanieren verbinden sich mit einer esoterischen Lebensauffassung. Doch vor allem bei der Gestaltung des Kreises um Penny gibt es reichlich unechte Töne. Hier ist das Schema schmerzhaft spürbar: Snobs in Bilderbuchausfertigung mit Pfeife, Brechtfrisur und halbintellektuellem Geschwätz ("Die Impressionisten sind dumm, sie haben nur ihren subtilen Nervenkitzel gemalt"). Dazu stelzt die verkorkste Figur des Bob Hasslinger alias Pfeifenbob durch den Film, um ein krankhaft hohles Lebensprinzip zu demonstrieren. Diese krampfhaften Karikaturen auf eine Jugend mit "Westtick" sind selber nicht sehr ernst zu nehmen. Diese Dekadenz für zwei Groschen ist einfach zu billig, um eine authentische Aussage über die Geistesverfassung bestimmter Teile der Jugend machen zu können. Sie ist auch zu billig, um den Sieg eines "gesünderen Prinzips" beweiskräftig zu machen. Es wirkt nur peinlich, wie Gunter gegenüber Bob Hasslinger und seinem Klüngel kommen, sehen und siegen muss und Penny blitzartig erkennt: "Seit gestern weiss ich, dass wir alle stinklangweilig sind." Mit solchen Sentenzen werden die Realität und der Zuschauer nicht ernst genommen.

Die Absicht, einen unschematischen Film zu machen, kann Frank Vogel mit gutem Gewissen zugestanden werden. Unter anderem ist auch die einfallsreiche Bildkomposition dafür ein Beweis. Aber die Unfertigkeiten auf der einen Seite, die Bereitschaft zum Kompromiss mit dem Schematismus auf der anderen Seite liess "Julia lebt" zwangsläufig zwischen zwei Fegefeuer geraten. Vogel kam sowohl in den Geruch eines Dogmatikers als auch in den eines ideologisch fragwürdigen Cinéasten. Die Ursache dafür muss er bei sich selbst suchen. Er öffnete dem Schematismus, den er vorn hinauswarf, die Hintertür der platten Didaktik. Vogel blieb damit immer noch seiner eigenen "Tradition" verhaftet, den Sieg der ideologischen, moralisch-ethischen Maximen des Marxismus schier kampf- und konfliktlos zu zeigen. 1959 war sein Film "Die Entscheidung des Dr. Ahrendt" ein Musterbeispiel von dogmatischem Dilettantismus auf der Leinwand. Aber auch in seinem 13.-August-Film _... und deine Liebe auch" entwertete die oberflächliche Charakterisierung der Geistesverfassung eines Grenzgängers und die ihm aufgezwungene rhetorische Wandlung das stilistisch bemerkenswerte Experiment, das sich stark an Vorbildern des cinéma vérité orientierte. Trotz allem gehört Vogel zu den echten Hoffnungen unter den jungen Babelsberger Regisseuren. Seine letzten beiden Filme sind Versprechen, die in der Zukunft eingelöst werden sollten.       Lars Holger

Der Leopard

IL GATTOPARDO - Italien 1963; Verleih Centfox; Regie: Luchino Visconti; Buch: Suso Cecchi d' Amico, Pasquale Festa Campanile, Massimo Franciosa, Enrico Medioli und Luchino Visconti; Kamera: Guiseppe Rotunno; Musik: Nino Rota; Darsteller: Burt Lancaster, Claudia Cardinale, Alain Delon, Rina Morelli, Paolo Stoppa.

In seinem Gespräch mit Georges Sadoul hat Luchino Visconti erläutert, worum es ihm bei der Verfilmung von Tomasi di Lampedusas Roman "Der Leopard" ging: um die "Geschichte eines Mannes und das Abtreten einer Gesellschaft vermittels des Bewusstseins, das dieser Mann davon hat; das alles in einem fest abgegrenzten, historischen Rahmen." Der historische Rahmen des Films ist in der Tat "fest abgegrenzt". Viscontis "Leopard" beginnt mit der Landung Garibaldis in Marsala im Mai 1860 und endet mit der Hinrichtung der Garibaldi-Anhänger, die mit ihm bei Aspromonte im August 1862 gefangen genommen worden waren. Zum Verständnis des Films ist es indessen notwendig, die Bedeutung dieser Daten innerhalb des italienischen "Risorgimento" genauer zu untersuchen.

Die Landung in Marsala bedeutete die Zertrümmerung des (rückständigen) bourbonischen Königreichs beider Sizilien und machte damit den Weg frei für Cavours Gründung eines italienischen Nationalstaates unter König Viktor Emanuel aus dem Hause Piemont, dem auch Garibaldi huldigte. Seine Freischaren wurden damals in die neue königliche Armee übernommen; er selbst zog sich zunächst zurück. Die Kämpfe in Sizilien, die Volksabstimmung für den "Piemonteser" Staat und die Übernahme der Garibaldianer in die reguläre Armee sind in Viscontis Film wichtige, wenngleich nicht immer sofort verständliche Stationen. So wird der Betrachter vielleicht zunächst die Bedeutung der Tatsache übersehen, dass die ehemaligen Garibaldi-Offiziere um Tancredi (Alain Delon) jetzt die königliche Uniform statt der revolutionären "Rothemden" tragen. Später, bei dem grossen - und von Visconti mit grosser Meisterschaft inszenierten - Schlussball im Palais Pontoleone, erfährt er dann von der Niederlage Garibaldis bei Aspromonte und lernt in Tancredis Reaktionen einen zynischen Opportunisten kennen.

Es wird jedoch niemals - wenigstens nicht in der mir allein zugänglichen, gekürzten, deutschen Fassung - erläutert, was die Aktion von Aspromonte eigentlich bedeutete. Dem Betrachter muss sich aus dem Kontext die allgemeine Vorstellung aufdrängen, es handle sich hier um einen Sieg der "Reaktion" gegenüber Garibaldis Versuche, die Revolution zur Republik voranzutreiben, wie Theodor Kotulla (in "Filmkritik", XII, 63) es formuliert, der hier die eigentliche "Gesinnung" Viscontis am schärfsten bekundet sieht. Tatsächlich treffen sich an diesem Punkt die Beurteilungen des konservativen Romanciers Lampedusa und des "linken" Regisseurs Visconti hinsichtlich des Risorgimento als einer "verratenen Revolution". (Vergleiche das Visconti-Interview von Antonello Trombadori, deutsch in: "Filmkritik", XII, 63.)

Eine solche Interpretation ist selbstverständlich möglich und unter bestimmten Voraussetzungen auch legitim, doch würde dazu die volle Kenntnis der historischen Fakten gehören, die Visconti den Besuchern des Films vorenthält. Garibaldis Zug nach Aspromonte war nämlich der Versuch, ähnlich wie zwei Jahre vorher Sizilien nun auch Rom und den Kirchenstaat im Handstreich zu nehmen, um die Einigung Italiens - König Viktor Emanuel residierte noch in Turin und Florenz - zu vollenden. Gegen diese heissblütige Aktion sprachen gewichtige aussen- und innenpolitische Gründe. Tatsächlich wurde ihr Ziel erst acht Jahre später erreicht, als in Folge des deutsch-französischen Krieges und der vorangegangenen Niederlage Österreichs 1866 die politische Konstellation unvergleichlich günstiger war.

Ein Film ist kein historisches Seminar, in dem alle Gesichtspunkte wissenschaftlich exakt vorgetragen und erwogen werden könnten. Aber Visconti will entschieden als ein Regisseur des "Realismus" - und das heisst bei diesem Sujet doch wohl: des kritisch-historischen Realismus - gelten, und er glaubt, gerade im "Leopard" die Probleme des Realismus weiter erkundet zu haben. Tatsächlich hat er mit ungeheurem Kostenaufwand das historische Milieu des Siziliens von 1860 rekonstruieren lassen und verweilt auf ermüdend langen Strecken seines Films bei dessen optischer Darbietung. Aber man rekonstruiert die historische Situation nicht, indem man Palermos Fassaden stilecht verputzen lässt, jeden Hinweis auf die komplizierte Position Cavours zwischen Österreich, dem Kirchenstaat und dem Frankreich Napoleons III. aber unterlässt. Enthüllt hier das "realistische" Prinzip nicht eine prinzipielle Fragwürdigkeit der Beweisführung, indem die bestehende Authentizität des Dekors zu der Annahme verführt, auch die Darbietung des historischen Gehalts geschähe mit gleicher Akribie, während in Wirklichkeit das "Engagement" des linken Regisseurs Visconti die Konzeption bestimmt?

Demgegenüber bleibt es verhältnismässig unerheblich, ob Visconti den Konservatismus Lampedusas tatsächlich "verfremdet" hat, wie es die deutsche Kritik zum Teil beobachtet haben will. Der Fürst Salina ist eindeutig, wie im Roman, die Hauptfigur des Geschehens, und nicht zufällig bestätigt die auch körperlich alle anderen Mitwirkenden überragende Figur Burt Lancasters - der die Rolle im Film spielt - diese imponierende Vorzugsstellung. Neben ihm, dem Repräsentanten der untergehenden Feudalwelt Siziliens, erscheinen die anderen Figuren, vor allem die Vertreter der neuen Bourgeoisie, plump, raffgierig, anmassend, unterwürfig und lächerlich. Salina behandelt sie dementsprechend, als er sich mit ihnen -- gemäss seinem Wahlspruch, es müsse sich alles ändern, damit alles bleiben könne - zu arrangieren sucht, und das Publikum darf vollauf die Verachtung des Aristokraten für die aufkommende neue Mittelmässigkeit teilen. Wenn diese Verachtung nur gegenüber den gesellschaftlichen Umgangsformen und der Geschäftemacherei zur Schau getragen würde, wäre sie am Ende noch psychologisch erklär- und damit annehmbar. Doch sie gilt bedenklicherweise auch der Praxis demokratischer Wahlen bei der Errichtung neuer staatlicher Ordnungen. Und selbst als Salina gegenüber dem in der Maske Cavours auftretenden Piemontesen Chevally, der um seine Mitarbeit am neuen Staat wirbt, persönliche Achtung empfindet, veranlasst ihn dies nicht zu einer Revision seiner politischen Ansichten, sondern zur Klage über die Verständnislosigkeit des Partners für die Romantik Siziliens.

Wahr ist, dass bei alledem der Untergang der feudalen Welt, ihr Anachronismus, ja ihre Dekadenz unverkennbar sind. Aber es entsteht das Bild eines Unterganges, in dem eine immer noch respektable Aristokratie von einem in sich selbst bereits angefaulten Bürgertum zersetzt wird. Insofern enthüllt sich der Film über die Ablehnung der Bourgeoisie hinaus auch als eine Ablehnung der gesamten parlamentarisch-liberalen Entwicklung als eines - in marxistischen Augen - "Umweges" bei der Entwicklung vom Feudalismus zur kommunistischen Gesellschaft (um nicht zu sagen: von den Privilegienträgern des Feudalismus zu den Privilegienträgern des Kommunismus). Für Visconti selber, den Aristokraten mit der Vorliebe für die Liste der italienischen KP, mögen persönliche Motive dabei mitentscheidend gewesen sein. Für den Betrachter seiner Filme bleibt, ähnlich wie schon beim Schluss des (von mir sehr viel höher geschätzten) "Rocco" der Verdacht, Viscontis im Kern von politischer Ratlosigkeit zeugende politische These laute: "Heute ist es eher schlimmer als gestern, aber vielleicht wird es morgen besser!"       Walther Schmieding

Winnetou I

Deutschland-Jugoslawien 1963, Verleih: Constantin; Regie: Dr. Harald Reinl; Buch: Harald G. Petersson; Kamera: Ernst Kalinke; Musik: Martin Böttcher; Darsteller: Lex Barker (Old Shatterhand), Pierre Brice (Winnetou), Mario Adorf (Santer), Marie Versini (Nscho-Tschi), Ralf Wolter (Sam Hawkens), Chris Howland (Reporter).

Der Westernfilm europäischer oder gar deutscher Provenienz ist durchaus kein Novum, auch wenn Joe Hembus, den man eigentlich seitdem er Jean-Louis Rieupeyrouts "Der Western" herausgegeben hat, zu den Experten rechnen sollte, die Existenz einer europäischen Westernproduktion im Presseheft zu WINNETOU I abstreitet. Dennoch entstand in Deutschland in den zwanziger Jahren mancher semi-Western im Stile von James Fenimore Cooper - u. a. DER LETZTE DER MOHIKANER mit Bela Lugosi - und vor dem 2. Weltkrieg wurden GOLD IN NEW FRISCO, SERGEANT BERRY und WASSER FÜR CANITOGA in deutschen Ateliers gedreht. Diesen Filmen kann man getrost das Attribut der deutschen Westernproduktion zuschreiben; das einheimische Pendant zum amerikanischen Original ist demzufolge nicht erst mit der Karl May-Verfilmung DER SCHATZ IM SILBERSEE (1962) geboren, vielmehr wiedergeboren worden.

Der nachkriegsdeutsche Western floriert zur Zufriedenheit seiner Hersteller. Trotz sich verschärfender deutscher Kinokrise liess der Verleih von DER SCHATZ IM SILBERSEE in den Filmfachzeitschriften inserieren, dass man "Kassen wie in alten Zeiten" erzielt habe. Ein Jahr nach dem ersten Verfertigen eines deutschen Nachkriegs-Western sind alle Vorbereitungen getroffen, um eine neue Serienproduktion anlaufen zu lassen, zu einem Zeitpunkt, in dem die ersten Brucherscheinungen in der Wallace-Kette wahrzunehmen sind, die sich nach dem Niedergang der Periode der Heimatfilme zusammengesetzt hat. Wenn man sich die Liste der in Kürze in Produktion gehenden Filme ansieht, darf man konstatieren, dass Karl May 52 Jahre nach seinem Ableben zum erfolgreichsten Stofflieferanten der ideenarmen deutschen Filmindustrie avancieren wird. So sollen neben diversen Verfilmungen von Mays Amerikaromanen dem WINNETOU I noch insgesamt drei Fortsetzungen folgen.

Die deutschen Produzenten erschliessen sich den amerikanischen Westen, auch wenn dieser aus finanziellen Gründen in Jugoslawien abfotografiert wird. Und wie man sieht, akzeptiert das Publikum bereitwillig das offerierte Traumsurrogat, das einen leicht einzuschlagenden Fluchtweg aus einer durchrationalisierten Gesellschaft verspricht, die in ihrem Konsum- und Erfolgsstreben ansonsten nur bedingt ein Ausbrechen ins Irrationale ohne zu erwartende Sanktionen erlaubt. Karl May bietet sich für ein Abkehren von dem problematischen Leben in der Gegenwart in geradezu verlockender Weise an: er verheisst ein Betrachten, ohne dem Betrachter ein Nachdenken abzufordern; seine Tatmenschen vermögen die ihnen gestellten Aufgaben direkt und im Grunde unkompliziert zu lösen, weil seine Gesellschaft in den Amerika- und Orientromanen nur die Gemeinschaft und den Antagonismus von Gut und Böse kennt - wobei der geographische Rahmen allein ein gewisses exotisches Flair liefert und nicht mehr; zudem gestaltet die dick aufgetragene Deutschtümelei in seinen Geschichten, dem Glauben an eine gewisse nationale Überlegenheit nachzuhängen. Bedenklich wird es bei May vor allem dann, wenn sein blonder Überheld die Unterwerfung unter sein Kommando von der Gefolgschaft fordert, weil sonst die jeweilige Situation nicht zu meistern ist. Die Verfilmer haben jenes Postulat unreflektiert in ihre Leinwandfabeln eingebaut, wer es nicht anerkennt, wird erschossen. Das wird besonders in der Sequenz deutlich, in der Old Shatterhand mit seinen Mannen seinen Gegner Santer und dessen Klique in einem Saloon belagert. Als ein Bahnbaumeister aus Shatterhands Gruppe glaubt, einen Kompromiss mit den Gaunern schliessen zu können, und sich aus der Deckung wagt, streckt ihn Santer zu Boden. Dass die anderen Kriterien Mayscher Romandramaturgie auch in der filmischen Adaption wiederzufinden sind, versteht sich am Rande, da man bei allen Einwänden zugestehen muss, dass ihre Hersteller um eine adäquate Übertragung redlich bemüht waren.

Liebhaber des amerikanischen Western werden über DER SCHATZ IM SILBERSEE und WINNETOU I gleichermassen belustigt sein, beide Filme stellen einen Rückfall in die naive Periode des Western dar, die hier mit dem Auftauchen solcher Charaktere wie Tom Mix, Hopalong Cassidy, Roy Rogers und dem Lone Ranger oberflächlich gekennzeichnet sei. Die Protagonisten dieser Periode, die bis zum Verschwinden der sogenannten B-Western von den Tagen der stummen Leinwand bis in die Mitte der fünfziger Jahre immer wieder zum Durchbruch kam, sind Superhelden, denen kein Makel anhaftet. Ihnen allen ist das nichtalltägliche Bestehen von Abenteuern gemeinsam, die zufällig den background des amerikanischen Western besitzen. Diese Abenteuer werden in langen Serien stereotyp variiert, ohne einen direkten Bezug zur amerikanischen Geschichte zu haben, den die Filme der klassischen Westernregisseure wie John Ford, Raoul Walsh, Henry King, William A. Wellman, Henry Hathaway oder King Vidor mehr oder minder aufweisen. Wie sehr losgelöst von dem historischen Hintergrund des far west die naiven Helden sind, unterstrich Tom Mix am deutlichsten, indem er TOM MIX IN ARABIA für die Fox drehte und später DICK TURPIN, ein Ritterspektakel, für das er seinen Colt mit einem Schwert vertauschte.

Karl Mays literarische Versuche über den Westen Amerikas, am deutschen Schreibtisch fabriziert, sind ähnlich naiv, eine Mischung aus abenteuerlichem Märchen und schlichter Kolportage mit dem Reiz des "Abenteuer(s) der Fremde", wie es Ernst Bloch definierte. Die Figuren des Old Shatterhand und des Winnetou sind im höchsten Masse idealisierte Wunschbilder, Helden jeder Lage, denen ein ausgeprägter christlicher Glaube eigen ist. Die Gesinnung färbt ihre Handlungen und lässt dementsprechend nur eine humane Bestrafung des bad guys zu. Karl May hat diesen Umstand zum Stilelement erhoben, und es gelang ihm über Hunderte von Seiten immer wieder, seine Protagonisten stets neu gegen ihre Gegner antreten zu lassen. Dem Film, der sich auf eine genormte' Länge beschränken muss, fiel die Aufgabe zu, die Fülle der Handlung zu komprimieren und die guten wie die schlechten Helden zu relativieren. Dennoch bleibt Old Shatterhand immer noch extrem "super", desgleichen Winnetou und auch die Gegenspieler der beiden. Alle erwecken sie den Eindruck von eingefrorenen Klischeetypen, die nicht einer einzigen Wandlung unterliegen. In WINNETOU I wird daher von Anfang an streng schematisiert. Der outlaw Santer wird als ausgemachter Sadist eingeführt, der reihenweise Büffel schiessfreudig niedermäht und den sichtliche Befriedigung erfasst, als er sein brennendes Zigarillo einem geknebelten Indianer vor die Nase hält. Obwohl Old Shatterhand ein Greenhorn, also ein Neuling im Westen, ist, vermag er auf Anhieb einen Planwagentreck vor den angreifenden Kiowas in Sicherheit zu bringen. Während des ganzen Films besteht er jede Prüfung, stets geht er als strahlender Held hervor, dem die Unbeflecktheit aus den Augen strahlt. Er beschmutzt sich noch nicht einmal mit dem Blut seines Widersachers Santer, der wie von selbst von einer hohen Felswand in den Abgrund stürzt. Der Apachenhäuptling Winnetou entspricht seinem späteren Freund Shatterhand, auch wenn er seine Krieger gegen die "weissen Männer" auf den Kriegspfad führt. Aber diese Handlung ist gerechtfertigt, denn Santer und seine Anhänger haben versucht, eine Eisenbahn quer durch das Gebiet der Apachen zu legen, obwohl ein Vertrag den Indianern die Unantastbarkeit ihres Territoriums zugestand. Nachdem die Fronten klar abgesteckt sind, wird die Handlung dem archaischen Westernschema entsprechend, "good guy meets bad guy, bad guy turns worse - Showdown", abgespult. Psychologische Motivationen sind da überflüssig, die Aktion dominiert.

André Bazin hat den Western als "Le cinéma americain par excellence" bezeichnet. Dabei war er sich sehr wohl bewusst, dass man den Western nicht als ein realistisches Genre auffassen darf. Wie wären sonst wohl die Abweichungen bei der Darstellung historischer Ereignisse in den Filmen verschiedener Regisseure auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen? Wie könnte man sich sonst erklären, dass Raoul Walsh in THEY DIED WITH THEIR BOOTS ON (1941) General Custer als schneidigen Operettenhelden darstellt, dem am Little Big Horn durch die Sioux ein tragischer aber kaum verschuldeter Untergang bereitet wird, während John Ford in FORT APACHE (1948) Kritik am Verhalten des grossen Indianerschlächters übt? Der Western verklärt die geschichtliche Realität zum historischen Mythos, seiner Hersteller haben es selten bestritten. Doch bei aller Mythologisierung lässt sich kaum leugnen, dass alle Westernregisseure in Amerika mit und an geschichtlichen Ereignissen arbeiten. Karl May tat das nie und Dr. Harald Reinl war es bei WINNETOU I daher nicht in den Sinn gekommen. Als Verfilmer der Erzählungen des ersteren bevölkert Reinl einen imaginären Westen und um dem Publikum zu geben, was es zu wünschen scheint, greift man nach den Grundelementen des amerikanischen Western. Aber Eisenbahnbau, Indianerkämpfe, Überfälle auf Planwagentrecks, Bodenspekulationen und Ansätze zum goldrush bleiben Staffage und wirken aufgesetzt, weil sie austauschbar sind.

Den amerikanischen Western zu imitieren, war der Produktionsgesellschaft RIALTO oberstes Gebot. Um die Aktionsszenen für den Exportmarkt so gekonnt wie möglich aufzubauen, bediente man sich eines Regieassistenten aus den Staaten (Charles Wakefield), der die "stunts" sehr präzise eingesetzt hat. Dennoch bleibt es bei WINNETOU I, ebenso wie bei DER SCHATZ IM SILBERSEE, ein unerklärliches Phänomen, dass nach einem Schusswechsel, bei dem eine beachtliche Zahl Statisten von den Pferden fällt, in der nächsten Einstellung der Boden von keiner einzigen Leiche bedeckt ist.

Im Augenblick glaubt der einheimische Produzent, bei der frisch entdeckten May-Westernserie auf eine unverhoffte Goldader gestossen zu sein. Nach zwei Filmen, die den erfolgreichen Anfang gemacht haben, die jedoch in ihrer Herstellung sehr kostspielig waren und deren Niveau nicht über das der amerikanischen B-Western - die es heute nicht mehr gibt - hinausgingen, ist man vom ökonomischen Standpunkt ausgehend schon heute versucht, die Prognose zu stellen, dass die augenblickliche Ertragsblüte des deutschen Western nicht lange vorhalten wird. Aus Hollywood, wo man in den letzten zwei oder drei Jahren die Westernproduktion aus verschiedenen Gründen stark reduziert hatte, dringt frohe Botschaft: John Ford dreht CHEYENNE AUTUMN, Raoul Walsh A DISTANT TRUMPET, die Fox plant einen grossen Film über General Custer, Sam Peckinpah trifft die letzten Vorbereitungen für MAJOR DUNDEE und John Sturges wird THE HALLELUJAH TRAIN machen. Gottlob, sie drehen wieder! Der Absatzmarkt für deutsche Kinowestern in Amerika, mit dem man hierzulande rechnet, ist im Schwinden begriffen, und drei Millionen DM und mehr lassen sich schwer im deutschen Kinopark einspielen, auch wenn man nach Frankreich und Italien exportieren kann.       Klaus Hellwig

Schlachtgewitter am Monte Cassino (zurück zu Heft 45 )

THE STORY OF G.I. JOE - USA 1944/45 - Regie: William A. Wellman unter Mitarbeit von Andrew Marton; Regieassistenz: Robert Aldrich; Drehbuch: Leopold Atlas, Guy Endore, Philip Stevenson; Musik: Ann Roneil, Louis Applebaum; Kamera: Russel Metty ASC; Schnitt: Otho Lovering unter Mitarbeit des Regisseurs; Ton: Frank McWorther; Besetzung: Robert Mitchum (Lt./Cpt. Walker), Burgess Meredith (Ernie Pyle), Freddie Steele (Sgt. Warnicki), Wally Cassell (Private Dondaro), Jimmy Lloyd (Private Spencer), Jack Reilly (Private Murphy), Bill Murphy (Private Mew); Verleih: Ton-Film.

Das Schicksal dieses Films ist identisch mit dem vieler anderer historisch bedeutsamer in der Bundesrepublik: unter dem marktschreierischen Synchrontitel der schäbigen Dutzendware flimmert er über die Leinwände der Vorstadt- und Peripheriekinos, verkannt und vergessen. Zusammengeschnitten auf nunmehr 84 Minuten, fehlen ihm wichtige Szenen, was man den unmotivierten - und für einen Regisseur mit so ausgesprochen epischer Inszenierungsweise wie William A. Wellman undenkbaren - Handlungs- und Bildsprüngen anmerkt; zumindest aber eine Szene von sicherlich grosser inhaltlicher Bedeutung (man kann es nur erahnen), hat dieser oder auch der vorausgegangene Verleih (Lehmacher) entfernt: der Kommentator und - dramaturgisch - der Erzähler Ernie Pyle, Kriegsberichterstatter, steht zusammen mit einem G. I. vor einer Mauer in einem italienischen Dorf, auf der überdimensional in Versalien IL DUCE steht, worunter die Bewohner, kurz vor der Einnahme durch die Amerikaner, VIVA GLI AMERICANOS geschrieben haben. Mag sein, dass diese Szene nur eine kleine Betonung setzt, kaum mehr als ein Akzent auf einem Wort ist, doch auch sie würden wir nicht kennen, gäbe es nicht "The Film Till Now" von Rotha, worin ein Bild, eben eines aus dieser Szene, publiziert worden ist. Sowohl bei Rotha als auch bei Sadoul wird der Film ausführlich gewürdigt, wogegen in der Filmgeschichte von Gregor-Patalas ihm nicht einmal Erwähnung getan wird und der Regisseur falsch geschrieben im Register auftaucht; das dementiert einerseits die Verlässlichkeit dieses letztgenannten Werkes, beweist aber auch, wie unbekannt der Film in der Bundesrepublik geblieben ist, obgleich er schon 1957/58 einmal im Verleih war.

"Schlachtgewitter am Monte Cassino" ist unbekannt geblieben, wie fast alle Filme des Regisseurs, zumal seine besten; wer kennt denn schon PUBLIC ENEMY (1930), A STAR IS BORN (1937) oder OXBOW-INCIDENT (1943)? Mir erscheint der Film deshalb so bemerkenswert, weil er, wie ich glaube, in eine Reihe mit WESTFRONT 1918 (G.W. Pabst - 1930) und ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (Im Westen nichts Neues - L Milestone - 1930) gestellt werden muss, wenn man ihm gerecht werden will. Zweifellos aber ist er einer der besten Filme über den Zweiten Weltkrieg in Europa, wenn nicht überhaupt der beste. Ausserdem soll aufmerksam gemacht werden auf einen Regisseur, der mit drei mittelmässigen oder schlechten Western im Verleihangebot bei uns vertreten ist und der immerhin einige der berühmtesten Filme der amerikanischen Filmgeschichte gedreht hat.

Topographisch ist THE STORY OF G. I. JOE abgerückt von der gängigen amerikanischen Kriegsfilmlandschaft; er spielt nicht im Far East, nicht auf den Inseln, sondern in Europa, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch zum allergrössten Teil: die Stationen heissen Tunesien, Sizilien, Monte Cassino. Am Horizont, gleichsam als Versprechen und Gelöbnis für die Soldaten, steht ROM, magische Chiffre für einen Kampf, der von allen geführt, aber nur von wenigen gewonnen wird. Das zweite auffallende Merkmal, und das gewichtigere, ist, dass in dem Film nicht gesiegt wird (- was besonders bedeutsam ist, bedenkt man, dass der Film noch während des Krieges gedreht wurde, gewissermassen zu dem Zeitpunkt, zu dem er spielt -), im Gegenteil, die Eingangsszenerie ist die des Rückzugs, der Niederlage und der Vernichtung für die Amerikaner in Tunesien, die Frage, die der Major sich laut stellt, heisst: "Wann fangen eigentlich wir einmal an zu siegen?" Es herrscht also keine Victory-Hochstimmung, die ein Bruchteil für das Ganze nimmt und dieses durch jenes verfälscht und ideologisch auflädt, wie man es aus zahllosen amerikanischen Machwerken kennt, die mit dem Krieg ihr Geschäft betreiben, besonders aus Fritz Längs unsäglichem AMERICAN GUERILLAS IN THE PHILIPPINES (Der Held von Mindanao - 1949/1950); die Dezenz, mit der noch in den brutalen Kampfszenen von Andrew Marton, einem der berühmtesten "second-unit" Regisseure, gezeigt wird, wie das vernichtende Gesicht des Krieges aussieht, verbietet wie von selbst eine Heroisierung für den Regisseur; der schliesslich doch errungene Sieg ist nur einer dem Namen nach - die Überwindung der deutschen Besatzer von Monte Cassino, die dort unter dem Schutz des Klosters einen Beobachterposten unterhielten, wird in der Vermittlung durch ihre realen Folgen gezeigt: eine lange Reihe von Toten sind sichtbares Resultat dessen, was man Sieg nennt. In THE STORY OF G. I. JOE erfuhr der die Berechtigung des Kampfes negierende Siegestaumel der amerikanischen Öffentlichkeit noch im Jahre seiner Entstehung die dialektische Verkehrung zur Wahrheit hin: die Synthesis aus Krieg und "Menscheneinsatz", die Wellman visuell, dramaturgisch und vom Dialog her erzwingt, artikuliert die Bedeutungslosigkeit des Sieges für den Krieg, wenn er auf die Individualität der Beteiligten zurückgenommen wird. Und das, wäre es alles, was dieser Film enthält, bedeutet schon viel mehr, als die überwiegende Mehrheit aller sogenannten Antikriegsfilme zustande gebracht hat. Was ihn vor diesen auszeichnet, ist seine überzeugende, behutsame Aufrichtigkeit, wie sie vielen neorealistischen Filmen der folgenden Zeit eigen war. Die Grösse des Films liegt in seiner klassischen Zurückhaltung von jeder suggestiven Aussage.

Die Rhythmik des dramaturgischen Wechsels von Szenen, in denen Handlung im überhöhten "action"-Sinne gestaltet wird, zu denen, die das psychologische Detail summieren, ist die von der Äusserlichkeit zur kontemplativen Zeichnung einzelner Charaktere, gleichsam, als wollte Wellman deutlich machen, dass es zwei Seiten des Krieges gibt, die erst zusammen sein Bild mit Konturen ausfüllen, die über die bloss klischierter Schemen hinausgehen: wie er sich darstellt, nur qualitativ und konkret (objektiv), und wie er wirkt auf diejenigen, die ihn nach Dienstplan und Befehlsgebung vollziehen, also abstrahiert von der Oberfläche (subjektiv); diese Verflechtung zweier an sich heterogener Elemente zu einem ineinander verwobenem Ganzen von nahtloser Dichte ist von der Regie ausserordentlich sorgfältig verwirklicht worden. Während noch die Eingangssequenzen (wenigstens nach der deutschen Fassung zu schliessen) lediglich hintereinander geschnitten sind, um raffend die Zeit zu charakterisieren - Beginn der Invasion in Afrika, Tunesien, Vormarsch der deutschen Truppen, der siegreiche Feldmarschall Rommel -, ist das Folgende, die eigentliche Handlung, episch, mit dem Atem des Erzählers inszeniert, um das dokumentarisch errichtete Gerüst mit Realität zu füllen. Die vorangestellte, kurze Chronik ist exemplarisch, austauschbar gegen andere Aufnahmen, doch zeigt es eine Eigentümlichkeit der Regiekonzeption Wellmans, der die Chronik, das Erzählen in der Reihenfolge und die gelegentliche Raffung liebt; bis zum mythologischen Überschlag lässt es sich an BUFFALO BILL (1944) nachweisen. Gleichzeitig entsteht vor den Augen des Zuschauers das Portrait einer Kompagnie in seinen Umrissen, die in der Folge Strich für Strich ergänzt werden: das der C-Kompagnie des 18. Infantrie-Regiments der US-Infantry.

Da sind vornehmlich drei Personen, die bis zum Ende des Films als Zentralgestalten die Fortführung der Handlung bestimmen und um die sich ein halbhierarchisches Leben entfaltet: Leutnant Walker, der später zum Captain befördert wird, sein Erster Sergeant Warnicki und schliesslich der immer wiederkehrende Erzähler, das lebendige Leitmotiv, Ernie Pyle, der die Geschehnisse, sichtbar für sein überseeisches Publikum, einführt und kommentiert, selbst an ihnen teilnimmt, um von Zeit zu Zeit, wenn es notwendig wird, zu raffen, aus dem "off" nacherzählt, den Anschluss wiederherstellt. (Gerade daran scheinen sich die Verleiher mit der Schere betätigt zu haben: oftmals fehlt nämlich ein Bezugspunkt, der bei Pyle dargestellt worden sein muss und auf den später ein Element zurückgreift!) In Ellipsen gruppieren sich um diese drei Personen die anderen; Murphy, der eine Krankenschwester heiratet und dann fällt, Dondaro, ein egoistischer Eigenbrötler, Mew mit seiner Versicherungspolice und Spencer, ein Draufgänger. Dramaturgisch werden alle einmal, für eine Szene oder auch eine Sequenz, zum Handlungsträger; so der einfältige Mew, der nicht weiss, was er mit einer ihm zugesandten Versicherungspolice anstellen soll, wessen Namen er eintragen soll, da er doch weder Verwandte, noch eine Freundin hat und dann einige seiner Kameraden an deren Stelle einschreibt, das zerknitterte Blatt Papier, dessen Sinn er nicht erfasst, immer wieder hervorholt, um einen Gefallenen zu streichen und einen neuen Namen einzutragen oder aber eines Anderen Summe zu erhöhen, weil er, der quasi ein Testament macht, seine Erben überlebt. Hieran verdeutlicht sich ein Wesensmerkmal der Methode Wellmans, zeigt sich die ihm eigene Verfremdung, die Distanzierung von der Oberfläche des Spektakulären weg zum Teilstück, die schon bei seinem zwei Jahre früher gedrehten OXBOW-INCIDENT auffällt: das Komplexe ins Detail zu verlegen und jenes so auf eine präzise Weise überflüssig zu machen. So zeigt er, beispielsweise, die Lynchhinrichtung in OXBOW-INCIDENT nur durch das sich Strecken der Beine der Opfer und durch die Schüsse aus der Winchester eines der angemassten Richter, dann blendet er ab, zeigt er Neues, die Folge, die ein Fazit aus der dazwischen geschnitten Totalen zieht. Hier, im Kriegsfilm, deutet er den Tod des frischgetrauten Murphy nur dadurch an, dass er den Hund, den jener zu versorgen hatte und der das Maskottchen der Kompagnie war, suchend an der Lagerstatt seines Herrn schnuppern und indem er Ernie Pyle mit dem Bild der verwitweten Frau zu dieser gehen lässt.

In diesen Szenen sind subjektive und objektive Elemente des Kampfes und der Vernichtung verschmolzen zur Einheit, die in sich ein Bild gibt von beidem: der sichtbaren und der unsichtbaren Zerstörung, des Chaos um den Menschen, der darin verstrickt ist, und in ihm selbst. Der Umgang mit der Vernichtung und die Spuren des Leidens, das sie hinterlässt, tragen dazu bei, dass sich alle Personen im Verlaufe des Films in einer spezifischen Weise ändern: sie werden zur Personifizierung der Oppression des Krieges; Warnicki, der die Ruhe in Person scheint und seine Gefühle bis zur Kaltschnäuzigkeit verloren hat, wird, als er endlich ein Grammophon "organisieren" kann und es auch in Gang bekommt, um sich die aus der Heimat geschickte Platte mit der Stimme seines Sohnes abzuspielen, die er bislang nie hören konnte, in einem Ausbruch der zerstörten Emotionalität zum Amokläufer, der "die alle umbringen" will, die ihn dazu zwingen, sich, statt mit der Wirklichkeit zu erfreuen, mit dem Surrogat bescheiden zu müssen. In diesem Panorama, von dem einige Punkte zitiert wurden, fehlen die gängigen Klischees vollkommen; die Glaubwürdigkeit der Verhaltensweisen und Reaktionen macht es zu einem echten Panoptikum des physischen und psychischen Untergangs; die Physiognomie des verletzten Menschen besteht in einer solchen Zeit aus dem Zerrbild aller seiner Eigenschaften.

Bewunderung verdient die Souveränität, mit der es dem Regisseur Wellman gelingt, Innerlichkeit und Oberfläche des Krieges zusammenzuzwingen, ohne mit unscharfen Mitteln arbeiten zu müssen. Keine Geste ist outriert, keine Reaktion konstruiert. Der Realismus erweist sich in diesem Film an der Zusammenstellung charakteristischer Details zu einer wahren Summe, die ihre Legitimation aus sich heraus bezieht. Es sei nur an die Szene in der völlig zerstörten Kirche von Rovioli erinnert, in der Walker zusammen mit Warnicki zwei deutsche Soldaten erschiesst, die als einzige noch Widerstand leisteten. Mit der Selbstverständlichkeit desjenigen, der kann über das Geschehene reflektiert, kniet sich Warnicki vor dem zertrümmerten Altar, über dem ein umgefallenes Kruzifix baumelt, voller Ehrfurcht nieder und stellt seine Maschinenpistole zur Seite. In das Gebet hinein, das er beginnt, fällt der Schuss eines Deutschen von der Empore, Warnicki ergreift wie mechanisch seine Waffe und tötet den Feind mit vor Hass verzerrtem Gesicht. (Die Szenerie erinnert im übrigen an Andrzej Wajdas POPIOL I DIAMENT, wo Krystina und Maicek in eine ebenfalls zerstörte Kirche eintreten, der Zuschauer sieht sie von einem grossen, im Vordergrund herabhängendem Kruzifix überschattet.) Ähnlich ist eine andere Szene, auch in der Kirche, als Murphy getraut wird und Tiefflieger einen Angriff auf die in der Kirche Versammelten fliegen. Hierin werden prismatisch die völlig konträren Gefühle und Handlungen eingefangen, die dem Menschen Konsequenzen nicht mehr möglich machen.

Der Einwand, die Kritik Wellmans richte sich gegen Nebensächlichkeiten und nicht gegen die Hauptsache, verurteile nur das Tötenmüssen und nicht den Krieg, trifft nicht; es hiesse, den Film in seiner historischen Stellung zu verkennen und aus dem herauszureissen, wodurch er seine überragende Bedeutung erlangt. Er ist im Jahre 1945 entstanden, damals war sein kritisches Potential immens gross. Er stellte nämlich die Frage, ob dieser Krieg nicht durch seine individuelle Vernichtung mehr Schaden angerichtet hat als er Nutzen brachte, ob nicht der Krieg per definitionem auch den Sieger um den Sieg bringt, die Aktualität der Fragestellung ist noch heute gegeben. Die Schlusssequenz des Films ist in diesem Sinne konkreter Ausspruch und eindeutiger Beleg, in ihr sind sowohl die Assoziationen des "Oh My Darling Clementine", das während des Films die Kampfpausen musikalisch skizziert, als auch die Brutalität der Kampfszenen und der Vernichtung der Individualität durch zermürbendes Wartenmüssen auf das Wer-weiss-was kontaminiert; die Kamera, die niemals abrupt schwenkt oder kippt, sondern stets gleichbleibend ruhig und "ableuchtend" fährt, geht abwechselnd, in einem gleitenden Rhythmus, von der Halbtotalen in die "Amerikanische", die wiederum nur sehr selten innerhalb des Films zur Nah- oder gar Grossaufnahme wird. Das mit der Grossaufnahme verbundene Pathos, die affektbesetzte Regung, sind so zugunsten einer analytisch-klinischen Demonstration vermieden und doch büsst die Darstellung dadurch nichts an Intensität ein. Die Melancholie, die in der Gestalt Ernie Pyles liegt, teilt sich in dieser Schlusssequenz, gleichsam noch einmal mit aller Macht, dem ganzen Film mit, hier kulminiert sie, aber nicht zur Resignation, sondern zur Aufforderung, dafür Sorge zu tragen, dass das Zurückliegende als Einmaliges der Vergangenheit vorbehalten bleibe. Durch sie werden gleichzeitig die etwas unentschlossen-zurückhaltende Skepsis Walkers und das obstinate, unreflektierte Soldatentum Warnickis gereinigt; das, was von der C-Kompagnie übrig geblieben ist, versammelt sich, um von Walker, der - im Film wird es nicht gezeigt - gefallen ist, Abschied zu nehmen. Die Kamera erfasst den Hügelzug, schwenkt von der Reihe der zermürbten Männer zu den am Boden liegenden Leichen der Kameraden und folgt dem sich langsam entfernenden Ernie Pyle, bis dieser in der Totalen aus dem Gesichtskreis entschwunden ist. Zurück bleibt seine Mahnung, die er als alter Mann (realiter ist er erst 42 Jahre alt!) angesichts der Vernichtung der Jugend ausspricht. Die Handlung ist abgeschlossen, die Geschichte erzählt; der namenlose G. I. Joe ist tot oder lebt noch, der Unterschied ist nur von individuellem Interesse. Die Fähigkeit, im modernen und technischen Krieg Mensch bleiben zu können, ist verloren gegangen. Solange das Bewusstsein des Individuums bis zum Extrempunkt der Gleichgültigkeit deformiert ist, blieben allenthalben Geschlagene zurück. Die Nuance von der Niederlage zum Sieg denunziert Wellman als Spekulation, die auch durch die Notwendigkeit des gerechtfertigten Kampfes nicht annulliert werden kann. Die Unbarmherzigkeit von NOBI etwa ist nur die veränderte Notwendigkeit nach dem Ablauf der distanzierenden Zeit. Was bei Ichikawa vor Grauen erschaudern lässt, war für Wellman noch nicht zu erkennen; zudem ist Zurückhaltung, indirekter Stil, nicht Sache des japanischen Regisseurs. Zwischen 1945 und 1960 liegen mehr als 15 Jahre. Es ist die Fähigkeit des Menschen, seine Erinnerung zur Gegenwart zu machen und dafür fehlte dem Amerikaner der Abstand. Für das Enstehungsjahr und das nationale Bewusstsein seines Landes war Wellmans Film THE STORY OF G. I. JOE schockierender als es NOBI heute für uns ist.       Peter H. Schröder
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