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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 45, November-April 1964/65

Inhalt
Wilfried Berghahn
Die Frage des Fischers
Ich glaube, ich mag Fritz Lang
Fritz Lang
Zur Geschichte des dänischen Tonfilms
Die Errettung der physischen Realität
Filmliteratur
Filmographie Fritz Lang II [ins Heft 44 übernommen]
Rückumschlag
Der Diener
491
Sieben Tage im Mai
Marnie


Wilfried Berghahn

Das, was man jetzt gezwungen ist, als sein Werk zu bezeichnen, erscheint gering: eine Musilmonografie; einige Fernsehfilme, grossen Regisseuren der Gegenwart und aktuellen Problemen des Films gewidmet; und verstreute film- und literaturkritische Arbeiten in FILMKRITIK, DIE NEUE RUNDSCHAU, MERKUR, FRANKFURTER HEFTE.

Die Individualität seines Charakters, die Offenheit seiner Person deckt sich nicht mit der fixierten Hinterlassenschaft. Umso grösser ist der Schmerz über die Absurdität dieses frühen unfasslichen Todes. Denn mehr noch als das, was er getan hatte, war Wilfried Berghahn ein grosses Versprechen, wie keiner geeignet, es auch wirklich zu erfüllen.

Er konnte eine Sache lebhaft, plastisch, ironisch darstellen. Das Konkrete des Werkes war für ihn der Ausgangspunkt der Abstraktion, und das Abstrakte - die Kritik der Gesellschaft - fand er, gerechtfertigt, nur in der Immanenz des konkreten Werkes.

Wie alle Ironiker verstand er sich auf die Exegetik: jene Kunst, das Wort vor seinem verdeckten Hintergrund zu sehen. Er las in Filmen wie In Palimpsesten. Darin wurde sein Talent von niemandem übertroffen. Seine Analysen zu WOLFSFALLE, LA NOTTE, KAGI; seine luziden Erklärungen zu den Kurzparabeln Polanskis, in denen er, fast spielerisch, die Kontur der dialektischen Idee nachzeichnete: das gehört wohl zu den Musterbeispielen moderner Filmkritik, die sich auf der Höhe ihrer Zeit weiss.

Er mag sich in manchem geirrt haben - wer hätte es ungezwungener, einmal überzeugt, zugegeben als er? --; die Lust und das Vermögen, hinter dem Nebulosen und Missglückten die Umrisse einer verschütteten Wahrheit zu finden, mögen ihn manchmal in die Irre geführt haben. Jedoch die Integrität seiner Person - von den Managern der Kulturindustrie nicht korrumpiert -; der Witz und die skeptische Ironie, mit denen er sich von der dogmatischen Verdikten päpstlicher Kritik fernhielt, nahmen auch jene für ihn ein, die ihm dann nicht zustimmen wollten.

Dass die Filmkritik hierzulande ohne ihn nicht wäre, was sie geworden ist, gehört zu den selbstverständlichen Wahrheiten; was sie ohne ihn sein wird, das bleibt dahingestellt.

Er, wie er war, fehlt uns allen. §4Hanns Fischer;   Wolfram Schütte;   F.W.Vöbel;   Wolfgang Vogel
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Die Frage des Fischers Anmerkungen zum Thema Film & Bombe

Et quelque temps après, vint la destruction des Paris. Beaucoup moururent. Certains se crurent vainqueurs. D' autres se furent prisonniers. Les survivants s' établirent dans le réseau des souterrains de Chaillot.
Chris Marker LA JETEE.

1. Szene

Urlaub.

Die Familie Baldwin, Durchschnittsamerika, bescheiden wohlständig und "always keep up with the Jones", verlässt Los Angeles.

Ferien.

Zufrieden steuert Harry Baldwin den fast neuen Wagen über wenig belebte Strassen. Die Stadt liegt hinter ihm. Der Rückspiegel zeigt eine graue Masse, die in den Horizont taucht. Das Autoradio serviert die tägliche, für jedermann subtil aufbereitete Mischung aus Werbung und neuesten Schlagern. Fast zweihundert Kilometer hinter Los Angeles schrecken die Reisenden auf. Bislang haben sie fast unbeteiligt die karge Landschaft betrachtet, die jetzt von drei kurzen, kugelförmigen Blitzen in gleissende Helle getaucht ist.

Lagebericht.

Die thermonukleare Aggression feindlicher Verbände hat zum Zeitpunkt Null die grossen Städte Europas und Amerika zerstört. Die Verluste sind bisher nicht abzusehen. Militärische Objekte blieben aus ungeklärten Gründen vom Angriff verschont und sind voll einsatzfähig. Zum Gegenschlag wurde ausgeholt. Was nun Harry Baldwin?

2. Szene

Zum Flughafen Orly fahren des Sonntags die Familien, um den Kindern die schimmernden Flugzeuge zu zeigen.

Das Kind erinnert sich eines Sonntags.

In seiner Phantasie kehrt es zurück zur Sonne, zum metallnen Zierrat, gepflanzt an die Säume der Pisten. Aus der Vergangenheit dringt das Gesicht einer Frau.

Der Augenblick unterscheidet sich in nichts von der Erinnerung: Später erkannten sie sich wieder, an ihren Narben, als Krieg war, und das Gesicht schon Memorie war, des Friedens.

Das Kind - der Junge - der Mann dachte lange darüber nach: Hatte er diese Züge wirklich gesehen? Oder hatte er sich die Momente kurzer, schwerer Süsse nur eingebildet, vorgestellt, um jenen Augenblick des Irrsinns auszulöschen, der lärmend in die Stille brach.

Er dachte lange darüber nach, bis er begriff. Er hatte den Tod eines Mannes gesehen, die Gesten der Frau, den Körper, der zusammensank, er hatte die angsterfüllten Schreie der Menschen gehört.

"Und kurze Zeit darauf wurde Paris zerstört. Viele starben. Manche hielten sich für Sieger. Andere wurden Gefangene. Die Oberlebenden richteten sich ein im Netz der Kanäle von Chaillot. Die Oberfläche von Paris, und ohne Zweifel auch ein grosser Teil der Erde waren unbewohnbar geworden, verseucht mit Radioaktivität."

Was nun?

3. Szene

Das Unterseeboot, vor Tagen in Sidney, Australien, ausgelaufen, liegt in der Bai von San Franzisco. Im Periskop die Stadt.

Sie ist unzerstört, ein friedliches gar poetisches Bild. Zuweilen sehen Städte so aus, an einem Sommermorgen gegen drei Uhr vielleicht, wenn jedermann schläft, und eine grosse Lethargie die Stadt zu übermannen scheint. Aber selbst dann, wenn die Strassen leer sind bis auf die geparkten Autos, den Unrat in der Gosse und die verschnürten Zeitungsbündel vor den Türen der Kioske, spürt man die Menschen, man ahnt sie, weil man weiss, dass es sie gibt.

Die Eindrücke, die das Periskop des Schiffes zeichnet, sind ähnlich. Nur fehlt das Leben. Strontium 90. Eine Stadt ist tot, zum Denkmal ihrer selbst geworden.

Die Menschen am Periskop zehn Meter tief in der Bai von San Franzisco schaudern. Das Boot kehrt um. Zurück nach Sidney. Dort nimmt man unter Gebeten Zyankali.

Was nun?

4. Szene

Winter.

Man fand die Leiche des Fischers gegen Mittag. Noch am Morgen war er zur Kirche gekommen, ein linkischer und schweigsamer Mann, den seine Frau nur mit Mühe hatte dazu bringen können, mit dem Pfarrer zu sprechen.

Von ihm hatte er eine Antwort gewollt, obwohl er wusste, dass es keine gab, eine Antwort über das Verhältnis Gottes zur Welt Der Pfarrer hatte zugehört und geschwiegen. Der Fischer hatte von der Bombe gesprochen, von Versuchen und Verseuchung. Er hatte die Bombe in Beziehung zur Gnade des Allmächtigen gebracht, dessen die Menschen schützende Hand bezweifelt.

Drei Stunden später war der Fischer tot. Noch sein gekrümmter Leib im Schnee eine Frage:

Was nun?

Vorspiel

Seit den Detonationen der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki ist die Geschichte der Menschheit in eine neue Phase getreten, die des thermonuklearen Zeitalters. Malerei, Plastik, Literatur und Musik, wie Seismographen auf diese neue und angstvolle Wirklichkeit reagierend, haben sich unter der Oberfläche der Dinge angesiedelt, sind in die Welt des Mikrokosmos geflohen. Sie tragen der gewandelten Weltsicht der Menschen Rechnung, sie haben das kreisende Spiel der Atome entdeckt und begriffen, dass die Welt, wie sie sich den Sinnen bietet, nicht Welt ist, sondern nur Oberfläche. "Ein Haus ist nicht mehr darstellbar", sagen unsere grossen Maler, "man muss es zerlegen, wenn man die Wahrheit finden will."

Das klingt wie die Suche nach der verlorenen Metaphysik, nach den Idealbildern der Dinge.

Was dann in Farbe, Zement oder Ton erscheint, ist realistisch im Sinne des Mikrokosmischen und verkündet das Ende der Metaphysik. Der Charakter des Hieroglyphischen, der heutzutage jeglicher Kunst anhaftet, zeigt, dass die Suche nach den Idealbildern eine vergebliche sein muss. Das Meta-Physische, das jenseits allem Physischen liegende liefert nicht das Absolute, das Ur-Bild der Form, sondern nur mehr deren totale Auflösung. Das hat Konsequenzen. Die Interpretation eines Kunstwerks, für lange Zeit orientiert am Urbild, am Idealbild, an der Mitte (wie Sedelmayr sagen würde), ist nicht mehr möglich, da es sich herausgestellt hat, dass es dieses Urbild, dieses in der Mitte thronende Idealbild nicht gibt, es nie gegeben hat.

Das ist nur eine Konsequenz. Die zweite: das Kunstwerk vermag nicht mehr zu interpretieren. Das Produkt des nur mehr abschildernden Kunstmachers trägt die Zerstörung, das Chaotische in seinen Zeichen. Die thermonukleare Situation ist dadurch sicher genau erkannt, aber ihre Auswirkungen auf das Bewusstsein werden nur im Formalen sichtbar. Die Fragen nach dem Warum, dem Wie, dem Weshalb unterbleiben. Sie können nicht geleistet werden.

Zudem interessiert den Künstler von heute der Ablauf und das Zustandekommen eines Bewusstseins nicht mehr. Er schildert ein Endprodukt.

Der Film ist in derlei Zwänge noch nicht geraten. Er konstatiert noch Bewusstseinsabläufe. Dass er sich hauptsächlich im Trivialen bewegt, kommt ihm hierbei zugute. Er ist, um von der Position heutiger Kunst her zu interpretieren, zur reinen Schilderung des Endproduktes noch nicht übergegangen. An ihm ist also noch etwas ablesbar. Er dokumentiert noch Wandlungen, interessiert sich für den Menschen. Nun kann nicht geleugnet werden, dass nicht alle Filme, die sich speziell mit der Bombe, diesem äusseren und vielleicht wichtigsten Zeichen der Bewusstseinswandlung beschäftigen, wirkliches Bewusstsein schildern. Genau wie es falsch ist, anzunehmen, dass sich derlei neues Bewusstsein nicht auch in sogenannten "no-bomb-pictures" niederzuschlagen vermöchte. Antonionis Trilogie L' AVVENTURA, LA NOTTE und L' ECLISSE ist zusammen mit IL DESERTO ROSSO vielleicht das beste Beispiel.

Aber der Film ist noch eine menschliche Kunst. Er vermag die Frage nach dem Wasnun? noch zu beantworten. Damit ist er allenfalls noch vergleichbar mit gewissen Theaterstücken und Romanen. Aber nur mit diesen, denn er arbeitet dort, wo die Kunst seit den Detonationen der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki versagt: nicht an der Schilderung, sondern an der Interpretation unserer Wirklichkeit.

Belichtetes Drama

Die vier Szenen, an den Eingang unserer Auseinandersetzung über Film und Bombe gestellt, enden mit einer Frage: Was nun? Die Filme, denen sie entstammen, versuchen an den Angelpunkten ihrer dramatischen Konstruktion, diese Frage zu beantworten. Es handelt sich um PANIC IN THE YEAR ZERO, LA JETEE, ON THE BEACH und NATTVARDSGASTERNA.

Kehren wir zur ersten Szene zurück. Wir verliessen Harry Baldwin in einer chaotisch gewordenen Welt. Aber in dem Mass, in dem die Ordnung sich auflöst, erwacht in ihm das Bewusstsein des Pioniers, das Gefühl der Grenze.

Ohne sein Auto mit dem Planwagen vergangener Tage vergleichen zu wollen, drängen sich Parallelen auf. Harry Baldwin ist für sich und die Seinen verantwortlich, verantwortlich für die Moral seiner Frau, seines Sohnes und seiner Tochter. Für ihn ist zudem jedermann Feind, der nicht gewillt ist nach den Gesetzen zu leben, die vor dem Angriff galten. Nicht von ungefähr hat er plötzlich wieder den Revolver in der Hand, um diesen Gesetzen Nachdruck zu verleihen. Ein ihm befreundetes Ehepaar wird von drei jugendlichen Gangstern ermordet, zwei dieser Gangster rauben die junge Karin Baldwin. In einer Auseinandersetzung, dem "Showdown" des Western ähnlich, erscheint Harry zwei von ihnen und befreit seine Tochter. Den dritten tötet er, als dieser auf seinen Sohn Rick anlegt.

In diesen Gewaltakten wird deutlich, dass der Film PANIC IN THE YEAR OF ZERO das Phänomen der Bombe im Grunde nur als Vorwand benutzt. Sie setzt zu Beginn die grosse Zäsur, nach der die Menschen sich plötzlich zeigen, wie sie wirklich sind. Harry Baldwin sagt einmal, es komme nur darauf an "auf individueller Babis zu überleben". Den Beweis dieser These tritt der Film nicht an. Ja, es scheint vielmehr, dass Harry Baldwin jetzt viel eher derjenige sein kann, der er immer sein wollte - woran ihn nur die Normalität der Verhältnisse hinderte. Es ist ein Vulgärdarwinismus, den der Film predigt. Der Stärkere, Bessere, Gesündere überlebt. Expliziter Faschismus wird sichtbar, beherrscht das Verhalten, die Reden von Harry Baldwin. PANIC IN THE YEAR ZERO unterlässt es leider, solches Verhalten zu kritisieren, ja, propagiert es. Er liegt damit völlig auf der Linie der Propaganda, die in Amerika jedem nach einer nuklearen Auseinandersetzung eine Chance zum überleben einräumt. Als sei er aus einer "Jeder hat eine Chance" - Broschüre entstiegen, tut Harry Baldwin all jenes, was man von ihm als gutem Amerikaner erwartet. Er erweist sich umsichtig und als taktisch klug und lässt im ebenso umsichtigen Zuschauer die Meinung zurück, dass man in Amerika die Drohung der Bombe mit den Mitteln der Grenze zu lösen gedenkt.

Dies ist ohne Zweifel realistisch, was die Meinungsmache in den Vereinigten Staaten anbelangt, die die Bombe etwa mit den Kategorien einer Winchester misst: Sie ist zwar gefährlich, aber wir meistern sie und ihr Besitz schlägt uns im Letzten zum Guten aus. PANIC IN THE YEAR ZERO ist nicht der einzige amerikanische Film, der derlei verkündet. Nehmen wir nur als Beispiel IN LIEBE EINE EINS, einen Film, in dem eine Atomwaffengegnerdemonstration als pubertäre Spielerei abgetan wird, als humorvolle Aktion, die zum Leben amerikanischer Halbwüchsiger einfach dazugehört wie ein Häppchen Beatnik, Folklore und permanentes Petting. Oder: DER KOMMODORE. Wer diesen Film gesehen hat, wie er die Tatsache des Strategischen Bomberkommandos in einer Flut schöner, farbiger, mit dem Charakter des Majestätischen behangener Bilder rechtfertigt, weiss, worauf das hinauslaufen muss: auf ein zufriedenes Leben mit der Bombe. Dass Zufriedenheit, die mit apolitischem Verhalten gleichgesetzt ist, hier als eigentlich einzig mögliches Verhältnis zur Bombe begriffen wird, macht diese Filme fatal und die diesen Filmen Applaudierenden zum Spielball kommender, ja schon wie in PANIC IN THE YEAR ZERO eingeplanter Ereignisse. Der Protest gegen die Bombe ist nur mehr eine Frage des Generationenproblems in IN LIEBE EINE EINS. Und das. Problem der Atombombenträger wird in DER KOMMODORE zu einer Frage männlicher, sportlicher Betätigung: Wir müssen im Wettbewerb der Basen am besten abschneiden. PANIC IN THE YEAR ZERO, das Ereignis, womit sonst nur gespielt wird, ist eingetreten und hat seinen Wettbewerbssinn nicht verloren. Das ist das Schlimmste, was auf der Leinwand erscheinen kann.

Auch in SIEBEN TAGE IM MAI (s. Kritik hier werden, was das Verhältnis zur Bombe anbelangt, befremdliche Thesen verkündet. Zwar scheint, weil die Rebellion der Militärs, der Praktikanten der Bombe, noch einmal zugunsten einer, wenn auch geringen Politik der Verständigung abgewehrt wird, zwar scheint dieser Film deshalb gewisse progressive Züge aufzuweisen. Aber diese sind ebenfalls nur vordergründig. Man richtet sich gemütlich ein im Übel. Dabei gelingt die Zeichnung des rebellierenden Generals, der in etwa mit den Thesen Barry Goldwaters hausieren geht, weitaus prägnanter als die zögernde Person des Präsidenten. Im übrigen scheint im Bewusstsein des Amerikaners, wenn man Filmen wie ADVICE AND CONSENT oder THE BEST MAN trauen darf, das Zögern mit Intelligenz gleichgesetzt zu sein. Aber das Zögern in der Politik kommt immer einer partialen Anerkennung der Verhältnisse in gefährliche Nähe. Man muss nicht erst die Psychologie bemühen, um herauszufinden, dass auch hier mit dem Ernstfall gerechnet wird. In diesem Sinne ist der Film DIE MAUS, DIE BRÜLLTE trotz seines klamaukhaften Witzes ernst zu nehmen. Es kommt nicht darauf an, dass hier während eines nuklearen Probealarms eine in der Entwicklung befindliche Bombe ausgerechnet von mittelalterlichen Bogenschützen geraubt wird, nein, dies ist nur Mittel, um festzustellen, dass, wem die Bombe gehört, die Welt zu Füssen liegt. Das ist nur vermeintliche Realität, weil die Verantwortung negiert wird. Die Bombe wird ihres Charakters entkleidet und mehr zum religiösen Fetisch, vor dem die Menschheit in den Knien liegt wie die Botschafter der vier Grossmächte am Hofe jenes zwerghaften Fürstentums Gross-Fenwick. Mit der totalen Vernichtung wird Hallotria getrieben, in der Annahme, dass niemand so dumm sein würde, auf den berühmten roten Knopf zu drücken.

Auf die Frage Was nun?, dann wenn der rote Knopf wirklich betätigt wurde, hat man in jedem Fall Verhaltungsmassregeln bereit, die im Bewusstsein einer Negation der Gefahr entstanden sind. PANIC IN THE YEAR ZERO ist hierfür Beispiel. Denn Harry Baldwins Verhalten ist auch das Verhalten derer, die mit der Bombe hantieren, denen nicht einfällt, dass es nach der Zündung kein Verhalten mehr geben kann. Was diesen Filmen anhaftet, ist eigentlich eine völlig ungesellschaftiche Betrachtungsweise auf das Phänomen Bombe. Man projiziert Verhältnisse von vorher auf die Verhältnisse nachher, wobei man erst einmal konzediert, dass es diese Verhältnisse gäbe. Das Denken, das in all dem wohnt, ist im Grunde ein Denken der totalen Ignoranz, vergleichbar dem Bewusstsein, mit dem Indianer eine Attacke gegen die mit Gewehren bewaffneten weissen Usurpatoren ritten. Man wusste zwar von den Feuerwaffen, aber man schätzte sie gering ein. Das Ende war ein Ende, war fast totale Ausrottung. Im Falle der Bombe lässt sich das "fast" streichen.

PANIC IN THE YEAR ZERO ist ein moderner Rückfall in die Steinzeit neuzeitlichen Denkens, ein Beispiel für das Nicht-Bewältigen der nuklearen Situation. Denn die Frage Was nun, Harry Baldwin? lässt sich auf einfache, konventionelle Weise beantworten: Wir tun, was stets getan wurde. Wir gehorchen dem Gesetz. Das ist alles und in diesem Falle nichts

Die zweite Szene entstammt einem Film, der sich dem Thema Bombe ungemein ernster und differenzierter stellt. Unabhängig ist davon, dass Chris Marker, der Autor von LA JETEE, sich zum Marxismus bekennt. Wichtig ist dabei allerdings, dass die marxistische Grundhaltung dieses Films das Phänomen Bombe in seiner gesamten Breite und Vielschichtigkeit erkennt.

Von der Form her kann man LA JETEE kaum als Film bezeichnen. Die Bilder sind starr und das Ganze erscheint vielmehr als ein auf Filmmaterial kopierter Photoroman, wie ihn gewisse Illustrierte allwöchentlich ihren Lesern darbieten.

In der Manier des "nouveau roman" werden die Reflektionen eines Mannes geschildert. Vergangenes mischt sich mit Gegenwärtigem, eine heile Welt wird einer zerstörten konfrontiert. Jener Mord, der zu Beginn geschieht, draussen in Orly, an einem Sonntag, jener Mord, der sich zum Schluss wiederholt, steht nur für den Mord an den Vielen. Er ist der Katalysator des filmischen Geschehens, der dramatische Angelpunkt, von dem her der Autor seinen Protagonisten argumentieren lässt. In diesem Falle wird die Bombe in Kantscher Manier als die Zerstörung an sich begriffen. Aber Marker verfällt nicht dem so penetranten Irrationalismus, der das Oeuvre Kants kennzeichnet. Vielmehr will Marker diese Erkenntnis der Zerstörung an sich als einen dialektischen Prozess begriffen wissen. Hier bilden sich These dessen, was sein kann, und Antithese dessen, was sein wird, wenn das Unglaubliche geschieht, zur Synthese der Ablehnung, dass solches nicht sein darf.

Marker bleibt dabei hart an der Wirklichkeit. Die Fetzen der Erinnerung, die in den Gedanken des Mannes auftauchen, sich mischen mit den Reflektionen über das Augenblickliche, ergeben ein Pandaimonion des Irrsinns. Wie in PANIC IN THE YEAR ZERO ist auch bei Marker die Zerstörung geschehen. Nur, wenn sich jener Film wie ein Handbuch für unmenschliches Verhalten nach dem Eintritt des "so Unvermeidlichen" liest, wobei das Unmenschliche hinterher dem Unmenschlichen vorher deckungsgleich entspricht, wird in LA JETEE das Denken des Betrachters angesprochen. Es wird sein Urteil eingeholt über das, was geschehen ist. Vor allen Dingen werden jene Kräfte mobilisiert, die die Bombe in all ihrer schrecklichen Wirklichkeit zu ermessen imstande sind. Marker zeigt den Menschen nach dem atomaren Krieg in seiner totalen Zersetzung. Er weist auf, dass die Detonation der Bombe eine Rückkehr des Menschen in die Steinzeit erzwingt mit dem Unterschied, dass die vergleichsweise harmlose Welt der Steinzeit durch die radioaktive Verseuchung nicht mehr harmlos ist.

"Wir sollten uns nichts vormachen, was die Realität bedingt", äusserte Marker einmal dem Autor dieses Artikels gegenüber; das kann nur bedeuten - gemessen an LA JETEE - dass Film im Falle der Bombe agitieren muss. Er hat die Denaturation des Menschen zu zeigen. Nicht nur hinterher, sondern auch vorher. LA JETEE leistet dies in viel prägnanterer Argumentation als PARIS NOUS APPARTIENT. Wird in diesem Film die stückweise Denaturation des Menschen gezeigt anhand einer nebulosen, nicht genau umrissenen Verschwörung, der schon in ihrem Frühstadium etwa die an ihr Beteiligten zum Opfer fallen, LA JETEE dokumentiert mit Schärfe das Gegenteil. Trotz der differenzierten Form, die sicher das Verständnis erschwert, aber nicht unzugänglich ist und dem, der Zugang gefunden hat, die ganze Breite ihrer Argumentation aufschlüsselt, wird hier das Handeln angesprochen, das sich Kehren gegen die Bombe.

Solches beabsichtigt ohne Zweifel auch der Film ON THE BEACH. Lauter in seiner Absicht, geht er am kolportagehaften Charakter seiner Handlung zugrunde. ON THE BEACH nimmt die Detonnation der Bombe ebenfalls als gegeben an. Nur fragt er nicht nach dem Warum dieser Detonation, wie es Marker etwa versucht. Nein, es ist geschehen. Die Erde ist in eine radioaktive Wolke gehüllt, die alles Leben vernichtet hat und auf Australien zutreibt. Dorthin haben sich die letzten Menschen gerettet. Als offenkundig ist, dass durch ungünstige Windverhältnisse auch das Leben auf Australien nicht mehr zu retten ist, bricht so etwas wie geordnete Panik aus. Der Film demonstriert an Individualschicksalen, die er zu einem rührseligen Konglomerat vermengt, der Tod wird zum gefühlvollen Unausweichlichen.

Diesem Film entstammt auch unsere dritte Szene, die prototypisch ist für die Sentimentalität, mit der man der Bombe hier begegnet. Den Protagonisten ist ihr nahes Ende bekannt. Der Film untersucht nur, wie sie ihr Leben bis zu diesem Ende hinbringen. Man möchte mit der Bombe schrecken, möchte Kräfte gegen sie mobilisieren und verfällt dennoch in Fatalität. Denn, wenn man richtig hinschaut, könnte man auch annehmen, irgendeine Naturkatastrophe sei der Ursprung der Vernichtung, der jedermann entgegengeht. Die Bombe selbst wird als Phänomen nicht begriffen, dass sie zum Symbol des Todes wird, ist in ON THE BEACH, wie übrigens auch in HIROSHIMA MON AMOUR oder LADYBUG, LADYBUG, (s.a. Heft 43) rein zufällig. Was zeitweilig ergreift ist die Melancholie im Verhalten der Helden, ihre aufbrechende Todessehnsucht. Was verstört, ist die Haltung, mit der alles absolviert wird bis zum Empfang der tödlichen Tabletten unter dem Transparent "There is still time, brother!"

Aber aus der Melancholie lassen sich keine politischen Aktionen zaubern. Mit Fatalismus ist nichts gewonnen. Wenn dieser Film trotz seiner Kolportage eine Wahrheit beinhaltet, dann ist es folgende: Dass der Mensch als Individuum dem Unvermeidlichen hoffnungslos unterlegen ist. Dass er ihm unterlegen sein muss, wenn er weiter, wie jetzt, in den Tag hineinlebt. In diesen Szenen, da die handelnden Personen ihr normales Leben weiterzuleben suchen, zeigt der Film bestürzende Wahrheiten über das Leben Unpolitischer, die zu spät begreifen, dass es politisch handeln heisst, um die kollektive Vernichtung abzuwehren.

Die vierte Szene entstammt einem Film von Ingmar Bergmann, der mit deutschem Titel LICHT IM WINTER heisst. Obwohl der Autor ein religiöses Problem, entsprungen seiner eigenen Frustration im Glauben, abhandelt, spielen sich Evidenzen ein: in der Person des Fischers, der als gläubiger Mensch nicht mehr ertragen kann, dass Gott angesichts der Bombe immer noch schweigt. In der dumpfen Gefühlsseligkeit des Films ist die Person des Fischers die einzige, der einigermassen rationales Verhalten nachgewiesen werden kann. Im Denken dieses einfachen Mannes lässt sich ein Schweigen Gottes, wenn es ihn gibt, mit christlicher Caritas nicht mehr vereinbaren. Seine Frage bleibt unbeantwortet, ja, Bergmann geht über sie hinweg, quasi zur Tagesordnung eines ungläubigen Pfarrers über, dessen persönliche Querelen in ihrer barocken Unverbindlichkeit nur wieder für das sattsam bekannte Flüchten ihres Autors vor den Problemen dieser Zeit stehen. Dennoch ergreift der Fischer in der Ausweglosigkeit seines Bemühens, in seinem Scheitern an der Realität.

Utopie

Neben LA JETEE gibt es eigentlich nur zwei Filme, die das Phänomen der Bombe vollkommen ausleuchten: DR. STRANGELOVE ODER WIE ICH LERNTE DIE BOMBE ZU LIEBEN und THE HOLE. In beiden Filmen wird den Menschen ihr apolitisches Verhältnis zur Bombe aufgerechnet. Auf DR. SELTSAM muss hier nicht näher eingegangen werden (siehe Heft 43 ). Der Interpretation sei nur Folgendes angefügt: Dem Sich-Einrichten des Menschen mit der Bombe wird satirisch begegnet, vielleicht die einzige Möglichkeit, seinem apolitischen Verhalten in Sachen Bombe die Basis zu entziehen. Ihm wird das Schrecklichste mit einem Lachen serviert, an dessen Ende das reinigende Grauen steht. In diesem Sinne ist DR. STRANGELOVE der grösste Film gegen die Bombe, der je gedreht wurde. Er zeigt die zwangsläufige Identität von kapitalistischem und militärischem Apparat, dem, die Möglichkeit der Vernichtung gegeben, nichts anderes beifallen kann, als diese Vernichtung zu betreiben.

THE HOLE arbeitet ebenfalls auf satirischer Basis. Der Film ist ein Trickfilm mit improvisiertem Dialog. Zwei Arbeiter in einem Loch unterhalten sich anhand einer Zeitungsmeldung über den Gebrauch des berühmten "roten Telefons", mit dem der amerikanische Präsident das Strategische Bomberkommando zum Einsatz bringen kann. Das Loch befindet sich auf einem Bauplatz und die Beiden reden, während sie Dreck in einen Behälter Schaufeln. Ihre Reflektionen und Mutmassungen setzt der Film sofort um. Der Vorwurf ist, dass ein Maulwurf sich im Drähtegewirr unterm Pentagon verheddert und das Angriffssignal des Präsidenten auslöst. Die Arbeiter spielen in ihren Worten jegliche Konsequenz durch. Und während sich in den Slang ihrer Formulierungen - der eine der improvisierenden Diskutanten ist im übrigen der Jazzmusiker Dizzie Gillespie - langsam das Grauen einschleicht, reisst am Baukran ein Seil, und ein Eisenteil stürzt in die Tiefe. Sein Aufschlagen markiert für die im Loch, da sie in ihrer Abgeschlossenheit plötzlich Wirklichkeit von Erfindung nicht mehr unterscheiden können, das Ende der Welt. Auch hier werden Kräfte mobilisiert, Einsichten gefordert, auf klare und einfache Weise. Hier wird politisches Handeln mit dem Lachen suggeriert, die Bombe in ihrer ganzen fürchterlichen Tragweite begriffen.

Epilog

Wenn an diesem Artikel deutlich wird, dass im Grunde nur drei der zitierten Filme, nämlich LA JETEE, DR. STRANGELOVE und THE HOLE dem Phänomen der Bombe gerecht werden, dann entspricht dies der Wirklichkeit, in der wir leben. Man muss sich nur vergegenwärtigen, dass die Unverbindlichkeit mancher Filme, was die Bombe anbetrifft nur der Unverbindlichkeit ihrer Zuschauer entspricht, die sich abgefunden haben. Das Verhältnis Film-Bombe ist nichts weiter als das Verhältnis Zuschauer Bombe: eine penetrante Sorglosigkeit, die den Pilz der Detonation, ob in der Wochenschau oder Jean Hermans ambitionierter TWIST PARADE als seriösen Kitzel goutiert. Das Warum dürfte auch hier im Phänomen der Angst liegen, die das Verhalten innerhalb unserer Gesellschaft regelt, eine Angst, die aus Angst vor dem fürchterlichsten Zerstörungsmechanismus der Menschheitsgeschichte, diese Angst zum Schock degeneriert, um damit leben zu können. Auch der Film die KINDER VON HIROSHIMA, dokumentarische Rekonstruktion, fällt unter diesem Gesichtspunkt in den Bereich des Schocks. Dass eine vernünftige Politik diese Angst beseitigen könnte, wird nicht erörtert.

Auf die Frage des Fischers weiss man keine Antwort. Wir haben zuvor die Behauptung aufgestellt, dass im Vergleich zu anderer Kunst, der Film im Bewältigen des thermonuklearen Zeitalters grössere Möglichkeiten habe. Dies trifft immer noch zu. Nur der Film hat sie bislang nicht genützt Wolfgang Vogel

Anmerkung:
Produktionsangaben zu den im Artikel zitierten Filmen:
PANIC IN THE YEAR ZERO (Panik im Jahre Null) USA 1963; Regie: Ray Milland
LA JETEE (der Titel bedeutet wörtlich übersetzt: Die Hafenmelodie, wobei Marker hier die Bezeichnung in den Bereich des Flughafens überträgt) Frankreich 1962; Regie: Chris Marker
ON THE BEACH (Das letzte Ufer) USA 1959; Regie: Stanley Kramer
NATTVARDSGÄSTERNA (Licht im Winter) Schweden 1963; Regie: Ingmar Bergman
TAKE HER SHE 'S MINE (In Liebe eine Eins) USA 1963; Regie: Henry Koster
A GATHERING OF EAGLES (Der Kommodore) USA 1962; Regie: Delbert Mann
SEVEN DAYS IN MAY (Sieben Tage im Mai) USA 1963; Regie: John Frankenheimer
ADVICE AND CONSENT (Sturm über Washington) USA 1961; Regie: Otto Premminger
THE BEST MAN (Der Kandidat) USA 1964; Regie: Franklin Schaffner
THE MOUSE THAT ROARED (Die Maus, die brüllte) England 1959; Regie: Jack Arnold
PARIS NOUS APPARTIENT (Paris gehört uns) Frankreich 1958; Regie: Jacques Rivette
HIROSHIMA MON AMOUR (Hiroshima mon amour) Frankreich 1959
LADYBUG, LADYBUG (Marienkäfer, Marienkäfer) USA 1963; Regie: Frank Perry
DR. STRANGELOVE OR HOW LEARNED TO STOP WORRYING AND LOVE THE BOMB (Dr. Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben) USA 1963; Regie: Stanley Kubrick
THE HOLE (Das Loch) USA 1962; Regie: John Hubley
TWISTPARADE (Twistparade) Frankreich 1962; Regie: Jean Herman
GEMBAKU NO KO (Die Kinder von Hiroshima) Japan 1952/53; Regie: Kaneto Shindo.

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Ich glaube, ich mag Fritz Lang Stenogramm zu seinen amerikanischen Filmen

Über den Weggang des Regisseurs aus seinem Heimatland gibt es mehrere Versionen. Da behaupten einige, dass Fritz Längs Gründe alles andere als politischer und weltanschaulicher Natur waren. Leider können wir uns, so lange seine Gegner nichts Ausführliches zu berichten wissen, nur auf die Aussagen des Regisseurs selbst verlassen. Lang schildert diesen Fortgang, der ihm gewiss nicht leicht gefallen ist, so: Goebbels habe ihm die Rolle des führenden deutschen Filmschaffenden angeboten. Weil er ablehnte und deswegen Repressalien fürchtete, sei er gleich darauf nach Frankreich geflohen. Wie sollte es sich anders verhalten haben? Wenn ja, hätten dann nicht die Nazis nach Längs Weggang diese anderen Umstände lauthals in die Welt posaunt, um den nunmehr unliebsamen Regisseur im Ausland zu diskrimieren?

Frankreich, ein Land, das Fritz Lang heute noch liebt vor allen anderen, ein Land, wo es wie nirgendwo auf der Welt künstlerische Freiheit - und diese besonders im Film gibt - wurde dem Regisseur nur zur Durchgangsstation. Er drehte einen Film, ein minderes Stückchen, ohne grosse Ambitionen: LILIOM. Gewisse Ähnlichkeiten in den Personen erinnerten an frühere Filme des Regisseurs. Ein Werk reiner Phantasie. Ein wenig Atmosphäre, eingefangen von Rudolf Mate, jenem Kameramann, der zu den berühmtesten der Filmgeschichte zählt: Und unter dem Eindruck seiner gerade erfolgten Flucht von den Schergen des Dritten Reiches hielten manche Kritiker LILIOM für einen grossen Film eines grossen Regisseurs. Gefehlt.

Lang hatte seine Fahrkarte nach Hollywood in der Tasche. Selznick, Erfolgsproduzent, der später auch Hitchcock in die Staaten holte, hatte dem Deutschen einen Kontrakt angeboten und den Zuschlag erhalten. Lang kannte Hollywood. Und kannte ein wenig von Amerika. Manhatten soll ihn in gewissem Sinne sogar zu METROPOLIS angestiftet haben. Was kann ihm 1933 dieses Land bedeutet haben? Die Aussicht auf eine amerikanische Karriere, wie sie Murnau und Lubitsch drüben gemacht hatten? Dachte er, sich - im Gegensatz etwa zu Paul Leni - in Hollywood gegen die Macht der Bonzen und Geldschränke durchzusetzen? Sicher war er eitel genug, dies anzunehmen. Er wollte schon lauter brüllen als der MGM-Löwe, der ja beileibe kein naives Kätzchen ist. Lang begann mit zwei Drehbüchern. Und fiel damit durch. Eine neue Dr. Jekyll and Mr. Hyde-Version unter dem Titel THE MAN BEHIND YOU und ein Stoff über eine aktuelle Schiffskatastrophe scheiterten am Einspruch der Manager. Inzwischen war es 1935.

1935. Das sieht heute so aus: Eine Menge Komödien. Viele darunter von Capra verfertigt. Eine Reihe netter Jungen und tüchtiger Mädchen. Cooper, Grant, Gable vor allen anderen. Und die Hepburn. Und Jean Harlow, die erst im nächsten Jahr von uns gewürdigt werden kann, wenn Joe Levines biographischer Film nach Deutschland kommt. Dann waren da natürlich die Intellektuellen. Fritz Lang gehörte sicher sehr bald zu ihrem Kreis. Roosevelt und New Deal. Das hatte Öffnung nach links bedeutet. Wo anders hin könnte man sich schon öffnen? Aber es war links auf amerikanisch. Idealismus und Kritizismus. Land und Leute waren interessant geworden. Dokumentarisches sah man auf der Leinwand. Man interessierte sich für Streiks. Und für Klu Klux Klan. BLACK FURY. Und dann war natürlich da John Ford. THE WHOLE TOWN 'S TALKING und jener INFORMER (Der Verräter). Was nicht mehr war, oder kaum'noch: Horror- und Gangsterfilm.

Fritz Lang erwischte einen guten Augenblick, die Zeit Hollywoods, die in gewissem Sinne einmalig war. Lang drehte 1936 FURY. Einer der wenigen Filme über das Lynchen.

Zufall? Eine Idee von Norman Krasna lag zugrunde. Lang arbeitete selbst am Drehbuch. Zusammen mit Bartlett Cormack. Was geschieht? Joe Wilson, ein einfacher Amerikaner, wird für einen Kindesentführer gehalten. Er soll gelyncht werden. Das Gefängnis brennt. Es gelingt ihm zu fliehen. Er versteckt sich. Schaut seelenruhig dem Prozess gegen die Anstifter aus sicherem Versteck zu. Seine Braut findet ihn. Er kommt zum Prozess. Vergibt seinen Schuldigern.

Fritz Lang bekannte selbst, er habe nicht erwartet, dass nach seinem Film das Lynchen aufhöre. Er sei kein Wundertäter, wolle nur Dinge zeigen, die er für falsch hält. Es gibt einen anderen Film über die Lynchjustiz. Gerade in Deutschland angelaufen ist THE OXBOW INCIDENT. Regie: William Wellman. Er machte THE STORY OF G. I. JOE (siehe Heft 42 ). Lang wie Wellman. Beide begrenzen ihren Fall der Lynchjustiz auf ein kleines Gebiet. Auf Nachbarschaft sozusagen. Anlass ist fast privater Natur. Kindesentführung, man kennt das. Das erinnert stark an Taximord. Bei Wellman die angebliche Ermordung eines allseits bekannten Farmers. Beide zeigen die Entwicklung einer allgemeinen Hysterie. Demagogen treten auf, setzen Emotionen frei. Beide zeigen richtig, dass gedankliche Rechtfertigung entfällt. Subjektives Rechtsbewusstsein? In M war die Situation ähnlich. Aber da werden die Demagogen entlarvt. Ihre Motive sind klar: der Kindesmörder stört die Kreise, die dunklen, empfindlich. Dafür schreien Frauen: "Hängt ihn auf"; und Krüppel: "Das ist kein Mensch mehr". In FURY werden die Motive nicht klar. Und bei Wellman lyncht man, weil man es so gewohnt ist. Da ist nicht die Rede von Elitegefühl. Von Ausmerzen. Warum nicht, wo Lang gerade dem Faschismus entkam? Von rassistischen Gesichtspunkten, beiden Ländern, Deutschland und den Vereinigten Staaten gemein. Kein einziges Wort. FURY: ein antifaschistischer Film? Eine persönliche Abrechnung eher. Cohn meint in seiner POSITIF-Rezension, Lang sei sehr durch die Nazi-Mitgliedschaft seiner Frau Thea von Harbou beeindruckt gewesen.

Lang bietet eine Alternative zu der Welt des Hasses und der Gewalt. Der blinden Gewalt. Liebe. Er setzt der konkreten Gefahr, einer gesellschaftlichen Gefahr privates Glück entgegen. Ausweg in eine individuelle Gefühlswelt. Ein einmaliger Fall von Lynchjustiz ist damit für ihn erledigt. "Sonst sollte ich Politiker werden". Lang in einem Interview. Aber er liebt gerade diesen Film. Neben M. Er weiss sich zeitnah. Weiss, dass das Publikum ihn voll und ganz versteht. Während zwei kurzer Stunden im Kino. Vielleicht manche auch danach.

Zweimal Rache. Die der Masse. Die eines Individuums. Beide geächtet vom Regisseur. Das hebt schliesslich auch die private Liebe des Joe Wilson auf eine andere Ebene. Also kein Ausweg. Einsicht. Ich finde das richtig.

Oder doch kein Film über das Lynchen. Ein Film über die Liebe eines jungen Mannes - dargestellt im übrigen von Spencer Tracy - und eines Mädchens (Katherine Hepburn). Dann würde das Lynchen zu einem beliebig austauschbaren Hindernis dieser Liebe, das es gilt, zu überwinden. Liebe zu Thea von Harbou, der der Faschismus in die Quere kommt. Und bei Cohn zu bleiben. Und weitaus persönlicher. Allerdings bin ich nicht der Psychiater des Regisseurs. Das verlangt Fritz Lang in seinem letzten Interview mit den CAHIERS DU CINEMA von Kritikern bisweilen.

Zweifellos reine Liebesgeschichte ist YOU ONLY LIVE ONCE. Ein früherer Gangster wird unschuldig eingesperrt. Seine Frau erwartet ein Kind. Bevor seine Unschuld sich herausstellt, gelingt es ihm, zu fliehen. Nicht ohne den Gefängnispfarrer zu erschiessen. Das Paar wird auf der gemeinsamen Flucht vor der mexikanischen Grenze getötet. Hier sind es Untersuchungs- und Vollstreckungsmethoden, die der Liebe entgegenstehen. Eigentlich steht der Liebe, dem privaten Glück bei Lang immer etwas entgegen. Machen wir die Rechnung auf: In YOU AND ME sind es die Vorurteile des Mannes gegen die kriminelle Vergangenheit seiner Frau. In RETURN OF FRANK JAMES muss erst die Rache ausgeführt sein, bevor man zur Liebe schreiten kann. In HANGMEN ALSO DIE sind es die faschistischen Okkupanten. Die gleichen in CLOAK AND DAGGER. Und allgemeiner Krieg in GUERILLA IN THE PHILIPPINES. Das endet bei der Hypnose in DIE TAUSEND AUGEN DES DR. MABUSE!!

Zwei Komponenten spielen bei Fritz Längs Liebesgeschichten Hauptrollen. Die Stärke des Mannes. Die erotische Faszination der Frau. (Sage bitte niemand, das sei immer oder auch nur normalerweise so!). Lang verschmäht Erotik nicht. Schon in DIE SPINNEN wirkte die Chefin eher durch ihre fraulichen Reize. Und auch DIE PEST IN FLORENZ, zu der Lang das Drehbuch schrieb, zeichnete sich durch Sadismus und derbe Erotik aus. Alice in RANCHO NOTORIOUS ist direkte Nachfahrin der SPINNEN-Frau. Ihr Haus ist nicht nur Zufluchtsort vor Verfolgern. Ihr zuliebe werden auch Verbrechen begangen. Lang gibt hier die letzte Bekräftigung des Mythos Marlene. Aber dieser bröckelt schon. Ein Jahrzehnt früher hatte sie noch gesungen - In Tay Garnetts SEVEN SINNERS: "I Can't Give You Anything But Love". Jetzt meint sie: "Frag nicht, wie alt ich morgen bin."

Das ist ein sehr schöner Film, dieser um CHUCK A LUCK. Ein Glücksspiel, ein Zufluchtsort. Nicht nur schön in den Bildern, in den Farben; er ist schön, weil er einfach ist. Einem Cowboy wird die Verlobte erschossen. Er verfolgt die Mörder. Gerät in ihren Schlupfwinkel, nachdem er mit einem der dort lebenden Outlaws Freundschaft geschlossen hat. Lernt Alice kennen. Faszinierend, aber schon müde. Schon bürgerliche Ruhe ersehnend. Sie trägt die Brosche, die seiner Freundin geraubt wurde. Hass? Rache, deren Motive sich bereits verschieben. Eifersucht. Dass der wirkliche Mörder sich zum Schluss wirklich auf der gegnerischen Seite befindet, scheint ihn schon gar nicht mehr zu interessieren. Die Rache für die Verlobte wird zur Rache für Alice, die Im Schlussgefecht tödlich getroffen wird. Das ist ein zufälliger Western." Ein Kostümfilm. In Zeit und Gegend angesiedelt, die diese einfache Fabel von Liebe und Rache ohne grosse gesellschaftliche Implikationen vertragen kann. Natürlich der Gegensatz zu FURY, der in dem Mischmasch von individueller und gesellschaftlicher Argumentation versinkt. Ein Märchen ist RANCHO. Kein Western.

In diesem Genre hat Lang natürlich auch gedreht. Eigentlich war das der Beginn seiner Nivellierung durch die Manager. Western sollten eigentlich nur von Amerikanern gedreht werden. Von Amerikanern - über Amerikaner - für Amerikaner. Hitchcock hat auch nicht das SIEGFRIED-Stöffchen gelotet. THE RETURN OF FRANK JAMES und WESTERN UNION zeichnen sich durch Distanz aus. Persönliches Engagement an einem der Helden oder an einem historischen Ereignis fehlt. An Hawks' RIO BRAVO oder an RED RIVER darf man nicht denken. Ein Vergleich mit Nicholas Rays THE TRUE STORY OF JESSE JAMES mit seiner feinen psychologischen Analyse verbietet sich. Obwohl die Arbeit der Schienenleger mit dokumentarischer Strenge nachgezeichnet wurde, wirkt alles fremd. Nicht verfremdet! Da ist viel Dekor drin. Und ein Studiowald brennt lodernd ab. Eine nicht alltägliche Art, sich mit seiner "ganzen Persönlichkeit in das Amerika" zu werfen, und es "ganz umarmen "zu wollen. Er kannte es wirklich nur aus Büchern und Filmen. Ja, seine "Dokumentation war ohne Fehler". Und ohne Leben. Ohne Herz.

Staffage wieder einmal für spezifisch Langsche Themen. Die Vorurteile in UNION. Die Rache in RETURN. Franks Motive sind gemischtes Altes und Neues Testament. Eigentlich will er gar nicht, der Frank. Dann muss er. Weil alle es erwarten. Dieser interessante Akzent hebt den Film schon über das Mittelmass. Aber das wird nicht ausgespielt. Und der Mythos Jesse schwebt obendrüber. Was hätte Ford wohl gemacht? Es fehlt wirklich Anteilnahme. Lang stellt historische Szenen nach. Ein bescheidenes Tableau in beiden Fällen. Aber - wie er selbst sagt - "Ohne Fehler".

Den Western kannte er aus Büchern und Filmen. Kannte er das Prag des Jahres 1942 ebenso gut? HANGMEN ALSO DIE. Hinweis auf Brechts Drehbuch und seine spätere Distanzierung vom Film. "Markt der Lügen"? Heydrichs Ermordnung. Verfolgung des Attentäters und seiner Komplizen. Verhaftung von Geiseln. Verhängnisvolle Verknüpfung. Der Vater des Mädchens, das den Attentäter versteckte, ist unter den Verhafteten. Soll sie verraten? Soll sie nicht. Der Rest ist Action. Aber gute Argumente fehlen nicht. Ich bin geneigt, diesen Aufruf zum Widerstand nicht nur Herrn Brecht zuzuschreiben. Das ist Lang in seiner härtesten Konfrontation mit dem deutschen Faschismus.

Hier geht Lang weiter als in M, als in FURY, als sonstwo. Hier zeigt er wenigstens einen Weg. Die Darstellung des Grauens genügt ihm nicht mehr. Das ist nicht mehr die symbolisch gemeinte MABUSE-Clique. Das sind deutsche Faschisten, die zynisch verhaften, abzählen lassen, morden. Es gibt wenige Filme, die zu jener Zeit weiter gingen als HANGMEN. Lang ist zu loben (Brecht auch). Den Geschehen fremd gegenüberstehende Schauspieler machten leider den Film zur Klamotte. Was die Besetzung der Tschechen betrifft. Joan Bennett. Weinerliche Plunse. Svoboda, der Attentäter, ein amerikanischer "tough guy" (Brian Donlevy) mit melancholischen Zügen. Muss damals eine Boxoffice-Besetzung gewesen sein. Die Deutschen gut getroffen. Staudte hat es nicht besser gemacht. Lang meint: Ein europäisches Publikum würde keinen Film akzeptieren, der einen Superman leicht über die Kräfte des Faschismus triumphieren lässt. Tatsächlich wird der Held durch allerlei Gestalten der Resistance kontrastiert. Der sentimentale Protest (Marscha), der philosophische (der Professor, ihr Vater), der politische, der nationale: alles formt sich zu solidarischem Kampf gegen den Faschismus. Dennoch fordert Lang nicht unbedingtes Märtyrertum. Wenn auch Opferbereitschaft. Und seine Widerständler folgen nicht der Autorität, sind vielmehr gleichberechtigte Kämpfer um die Freiheit. Nur der Schluss lässt Skepsis aufkommen. Der Regisseur verliert sich in einem Katz- und Mausspiel, das x-beliebigen Kriminalromanen entstammen könnte. Zufall regiert allerorten.

So bieten sich auch die beiden anderen Filme des Regisseurs, die man in diesem Zusammenhang nennen muss: THE MINISTRY OF FEAR und MAN HUNT. CLOAK AND DAGGER - nach dem Kriege gedreht - macht eine Ausnahme, hat aber ebenfalls wenig zu bieten. Bis auf die Anfangssequenz: zwei Agenten beobachten Eisenbahnzüge, die mit spaltbarem Material nach Deutschland fahren. In ihrem Versteck, einer festungsartigen spanischen Bodega werden sie verhaftet. MINISTRY ist ein ganz und gar lächerlicher Film - was seine Behandlung des Faschismus betrifft. Alles taucht in einer Atmosphäre reiner Phantasie unter. Man fühlt sich lebhaft an MABUSE erinnert. Dafür bietet dieser Film eine recht attraktive, in sich verschlingende Aktion, wenn auch das Arsenal der überraschenden Dekors und Gegenstände ermüdend wirkt. Was sollen alle diese Teufelserfindungen, fragt man sich. Überraschung und optische Faszination reichen nicht zur Erklärung ihrer Präsenz. Der Graham Greene wird sich ganz schön über diese Verfilmung seines Buchs geärgert haben.

MAN HUNT ist dagegen recht originell. Ein Engländer legt zum Vergnügen sein Jagdgewehr auf Hitler an. Wird gefangen und gefoltert. Kann entfliehen. Verfolgt. Schliesst sich der Royal Air Force an. Um wirklich zu schiessen. Thorndike, der Held, gerät - wie viele Lang-Helden vor ihm - unschuldig in eine Maschinerie, deren Opfer er zu werden droht. Lang verweigert seinem Protagonisten das Recht, auf Hitler zu schiessen, wenn nicht dahinter die berechtigte Forderung der antifaschistischen Völker steht. Erst als er selbst den Terror am eigenen Leibe erfahren hat, darf er. Erfahrenes Leid gibt die Legitimation zum Tyrannenmord. Will Lang das sagen? Wäre das wiederum eine Variante seiner individuellen Rächer? Einfacher. Der Film ist ein Aufruf: "Join the Army!" Der Film ist voller Widersprüche. Warum befindet sich Thorndike überhaupt in der Nähe des Führerhauptquartiers. Ist er zufällig auf der Jagd nach Gemsen? Wenn er tatsächlich den Gedanken gehabt hat, Hitler zu erschiessen, warum tut er es dann nicht. Moullet meint: "Der Jäger tötet Hitler nicht, weil dieser nicht bewaffnet ist, und obwohl er weiss, dass dieser den Tod tausendfach verdient." Bei so einfacher - und so starker - Moral, die die eines Western sein könnte, käme eigentlich nur ein Duell Hitler gegen Thorndike in Frage. Schön, dass Lang auf diese Möglichkeit verzichtete.

Die Nazis tauchen danach nur noch einmal konkret in einem Lang-Film auf. In DIE TAUSEND AUGEN DES DR. MABUSE. Angeblich reizte es ihn, "sein" altes Thema in neuem Gewand zu präsentieren. Es kam ein intelligent gemachter Reisser heraus, der in Deutschland seinesgleichen sucht und die biederen Wallace-Schinken weit hinter sich lässt. Aber Aber eigentlich erinnert nur die bombastische Kulisse des Hotels, in dem das Geschehen hauptsächlich spielt, an Nazismus. Die Erben bedienen sich nur noch einer tausendjährigen Fernsehanlage. Dass sie die Weltherrschaft durch Terror anstreben, könnte auch nur eine zufällige Ähnlichkeit mit dem Faschismus sein. Lang würde das sicher heute lieber mit dem Bolschewismus gleichsetzen. Er betrachtet ja HANGMEN heute auch als antisowjetischen Film. Sein gutes Recht. Hoffentlich hat er die letzten Veränderungen mitbekommen.

Genug mit den Faschisten. Lang hat Besseres gedreht. Zum Beispiel WOMAN IN THE WINDOW. Stichwort: schwarze Serie. Kommen wir wieder auf die Faszination der weiblichen Erotik zurück. Und wieder das unerbittliche Schicksal: ein Professor lässt sich aus Neugier mit einer Frau ein, ersticht in Notwehr deren eifersüchtigen Liebhaber, bringt die Leiche um die Ecke. Ein Erpresser ahnt, meldet sich. Alles scheint verloren. Der Professor nimmt Gift. Und wacht aus seinem Traum auf. Die Binnenhandlung ist typisch Lang. Ein melancholischer Edward Robinson. Ein Bürger, der eigentlich nicht weiss, warum er das Abenteuer sucht. Auf der Angst dieses Bürgers spielt Lang virtuos. Er führt ihn gemeinsam mit Freunden an das Versteck der Leiche, hetzt ihn. Knüpft wieder die Verbindung zu der Frau, die der Professor schon gelöst glaubte. Der Erpresser. Dan Duryea. Hart, hart, hart. Der krepiert in einem Kellerloch. Man hält ihn für den Mörder. Der wirkliche Mörder hat seinen Selbstmord inzwischen eingeleitet.

Fischer warf Lang in (s. Heft 42 ) vor, dass dieses harte, realistische Geschehen als Traum entlarvt wird. Dazu Lang: "Ich verwarf dieses logische Ende (den Film in der Realität zu belassen, mit Selbstmord oder Prozess gegen den Professor abzuschliessen, d. Verf.), weil es mir zu defätistisch erschien _... Ein Mensch wäre gefangen und bestraft worden für einen Mord, den er in einem einzigen Moment fehlender Kontrolle beging." Lang verteidigt schlicht den Totschläger, den Affektmörder, den Mord in Notwehr. Alles das wäre "Once Off Guard", wie auch die Vorlage zu diesem Film heisst. Sicherlich hätte ein abschliessender Prozess selbst mit Freispruch wegen mangelnder Beweise (der einzige potentielle Zeuge, der Erpresser, war erschossen worden) dem Film viel von seiner Spannung genommen. Und blosses Davonkommen hätte allemal gegen die Zensur verstossen.

Konsequenter ist der Schluss seines nächsten Films: SCARLET STREET. Ein Remake von Renoires LA RUE ROUGE. Die ganze Sache auf amerikanisch. Wiederum eine femme fatale. Lazy Legs heisst das Ding. Wieder Robinson und Joan Bennet (Wie WOMAN). Man wundert sich heute noch, wie dieser Film die Zensur passieren konnte. Ein Unschuldiger wird verurteilt. (Für WOMAN lehnt Lang diese Lösung noch ab!) Der wirkliche Mörder bleibt frei. Allerdings geplagt von seinem Gewissen. Ein sehr poetischer Film. Nicht so realistisch wie sein Vorgänger. Das erinnert auch an Sternbergs BLAUEN ENGEL.

Ich kenne SECRET BEHIND THE DOOR nicht, der angeblich mit WOMAN und SCARLET STREET ein Trilogie bildet. Weitere Lang-Filme, die ich nicht kenne sind übrigens HOUSE BY THE RIVER, YOU AND ME, THE BLUE CARDENIA. Lassen wir diese also.

Und noch ein Remake. Wieder nach Renoir HUMAN DESIRE. Eine phantastische Eingangssequenz. Ein Pullmanzug. Schienen. Die Kamera stur auf die Schwellen gerichtet. Dann Glenn Ford. Koreaheimkehrer. Kleines Mädchen wartet. Femme fatale, diesmal Gloria Grahame. Ihr Mann, älter, auch Eisenbahnarbeiter, mordet aus plötzlicher Eifersucht, Glenn Ford deckt diesen Mord. Verfällt ihr. Kommt doch noch frei, nachdem er versucht hat, ihren Mann zu ermorden, um ihm die Beweise der Tat abzunehmen. Frau und Ehemann ermorden sich gegenseitig. Glenn bekommt das nette, kleine Mädchen. Broderick Crawford spielt den mörderischen Ehemann. Ein Bär. Wilder noch als in der Kampfszene von IL BIDONE. Lang zieht wiederum einen Mann gegen seinen Willen in ein Verbrechen. Anders als in YOU ONLY LIVE ONCE kann er sich hier rein halten. Er vollbringt den Mord nicht, er hat nichts zu sühnen. Die griechische Tragödie von Schuld und Sühne bleibt aus. DESIRE ist ein sehr nüchterner Film. Stark von der Realistik der beginnenden fünfziger Jahre geprägt.

Dazu gehört THE BIG HEAT. Ein Stück wie von Chandler. Eine amerikanische Kleinstadt von Gangstern beherrscht. Eine korrupte Polizeibürokratie. Bannion, der Mann, der seiner spontanen Vermutung nachgeht (Glenn Ford) handelt nicht aus privaten Gründen. Erst als seine Frau von den Gangstern ermordet wird, stehen für ihn private Rachegründe mit im Vordergrund. Beide Motive bleiben verquickt - wie selten bei diesem Regisseur. Echtheit und Allgemeinverbindlichkeit zeichnen den Film aus. Bemerkenswert: die Behandlung der Frau. Lee Marvin - in einer seiner ersten Rollen - schüttet der Grahame siedenden Kaffee ins Gesicht, verbrennt einem anderen Mädchen die Hand mit seiner Zigarette. Die Negation des Weiblichen hat ihren Höhepunkt in der Ermordung von Bannions Frau. Der Schluss zeigt einen desillusionierten Bannion, der von seiner privaten Rache befreit, sich nurmehr allein seiner gesellschaftlichen Aufgabe als Polizeigewaltiger widmen wird.

In BIG HEAT verwendet Lang noch einmal alle die Elemente, die für die "schwarze Serie" stehen: Misogynie, Gewalt, ausgefallene Dekors (Der Autofriedhof). Es ist sein klarster Film, den er in den Fünfzigern gedreht hat. Folgen in der Reihe der realistischen Kriminalfilme WHILE THE CITY SLEEPS und BEYOND A REASONABLE DOUBT! CITY spielt im Zeitungsmilieu. Anhand einer geheimnisvollen Mordserie entwirft Lang mit leichter Hand einige ausgezeichnete Charakterstudien. Der Clevere. Der Skrupellose. Der-von-der-Pike-auf. Der Schwächling. Der Intellektuelle mit Skrupeln. Mit dem gewissen Degout, aber mit Treue und Pflichterfüllung. Auch hier zieht er wieder ins Private. Der Intellektuelle bietet dem Mörder seine eigene Verlobte als Opfer an. Aber das ist ordentlich gemacht. Guter Film.

JENSEITS ALLEN ZWEIFELS kann Fritz Lang bei dem gleichnamigen Film nicht bleiben. Man hört, das fatale Ende sei in einer Preview oder gar in einem Preisausschreiben bestimmt worden. Die Previews, Privat- oder Testvorführungsn schätzt Fritz Lang sehr. Er ist sicher bereit, dem dort anwesenden Publikum Konzessionen zu machen. Was passiert in BEYOND? Der Film beginnt als überlegtes Pamphlet gegen die Todesstrafe. Ein Verleger und ein Journalist sammeln in einem Mordfall Beweise gegen sich selbst. Um im entscheidenden Augenblick die Gegenbeweise zu liefern. Der Journalist wird verhaftet. Die Beweise seiner Unschuld scheinen jedoch bei einem Autounfall des Verlegers verbrannt zu sein. Verwicklungen. Mit der Verlobten, der Tochter des Verlegers, die aber schliesslich die Gegenbeweise findet. Rechtzeitig: denn: in einem abschliessenden Gespräch stellt sich heraus, dass der Journalist wirklich der Mörder war. Ein Film für die Todesstrafe? Keineswegs.

Gerade dass Lang sich dem Ergebnis der Previews gebeugt hat, zeigt seine Meisterschaft. Wenn nicht die, so wenigstens seine List. Er hat Hays Office und Manager glänzend überspielt, die Abschwächung verlangten. Indem Lang diese Sache nachträglich als richtig beweist, führt er sie in die glatte Absurdität. Wen sollte dieses jämmerliche Produzentenende interessieren. Das Prinzip: Überraschung auf jeden Fall, ist hier so fein ausgestrickt worden, dass es seine Art hat. Wir sehen eine schlüssige Gechichte. Leute, die Beweise sammeln gegen sich selbst. Die Todesstrafe wird von vornherein in Frage gestellt. Ihre moralische Berechtigung angezweifelt. Und alle Logik stürzt nicht ein, obwohl Benayoun das meint. Gerade durch den verblüffenden Schluss tritt alles Vorhergehende klarer in Erscheinung. Alle Argumente gegen die Todesstrafe passieren Revue. Mögen TWELVE ANGRY MEN oder I WANT TO LIVE stärker sein. Der eine auf der intellektuellen, der andere auf der emotionalen Ebene. Das "Siehste, der war ja doch 'n Verbrecher", bleibt den Leuten im Kopf stecken, wenn sie nur ein wenig nachdenken. Und sie denken über diesen Film nach. Fritz Lang ist doch JENSEITS ALLEN ZWEIFELS. Bei mir.

CLASH BY NIGHT, ein Film nach Clifford Odets, der tatsächlich ein wenig angestaubt von der Sozialromantik der dreissiger Jahre wirkt, gilt dagegen mit Recht für ein minderes Werk des Regisseurs. Obwohl er viele richtige Seiten hat, der Film. Warum die alternde und in ihr heimatliches Städtchen zurückgekehrte Barbara Stanwyck ausgerechnet den einsamen, bärbeissigen Paul Douglas mit samt seiner skurilen Familie ehelichen muss, bleibt fraglich. Recht heftig inszeniert wird dagegen das jugendliche Kontrastpaar - das Mädchen wird von Marilyn Monroe in einer ihrer ersten Rollen dargestellt. Da ist Lang der Wahrheit mal wieder auf der Spur. Robert Ryan übertreibt seinen Part als männlichkeitsstrotzenden Verführer und Kinovorführer recht drastisch, stattet ihn bisweilen mit mephistophelischen Zügen aus. Übertreibung, Übertreibung.

Der übelbeleumdetste Film Fritz Längs ist zweifellos AMERICAN GUERILLAS IN THE PHILIPPINES. Eine Brotarbeit. Wie man so schön sagt. Nicht einmal einer der üblichen Militärschinken. Eine ansprechende Liebesgeschichte. Viel Hurra. Viel Pfadfinderbewusstsein. Aus der Konservendose baut noch jeder Amerikaner einen Kurzwellensender. Ein ironischer Schluss. Kann aber nicht versöhnen. Den Helden überreichen Dorfbewohner während des Krieges wohlverwahrte Coca Cola. Drüber brummen friedlich, doch mächtig, Flugzeuge der US-Streitkräfte.

Einundzwanzig Filme hat Fritz Lang in Amerika gedreht. MOONFLEET habe ich vergessen. Für ihn gilt fast, was für RANCHO NOTORIOUS gilt. Nur ist alles noch eine Nuance schöner. Ein Gleichnis über die Freundschaft. In mittelalterlichen Kostümen. Ein kleiner Junge gewinnt die Zuneigung eines adligen Schmugglers und Gentlemanverbrechers. Ein Film der Erinnerung, der reinen Liebe. Sehr viel Geheimnis. Und Mantel und Degen. Und Edelmut. Fritz Lang ist mit der vorliegenden Schnittfassung nicht zufrieden. Ausgerechnet ein Mann namens Akst hat sich darüber gemacht. Verzeihen wir ihm.

Über zwanzig Jahre Amerika. Dann drei deutsche Filme DER TIGER VON ESCHNAPUR - DAS INDISCHE GRABMAL. Ein Doppelschinken. Kaum des Regisseurs würdig. Gelegentliche Einfälle. Alles ist Spätwerk. Doch nicht vom Range des LIBERTY VALANCE. Oder MARNIE. Oder HATARI. In TAUSEND AUGEN noch einmal den Schlüssel ins Schloss gesteckt. Ohne umzudrehen.

Was waren die letzten dreissig Jahre Lang. Wenige Höhepunkte. Ein Erzähltalent, das mit seinen Geschichten möglichst viele Leute erreichen wollte. Welcher Produzent wollte das nicht? Immer mehr eingesponnen in das Cineastenghetto Hollywood. Den Blick immer mehr verbaut. Den Blick auf das, was wirklich in der Welt geschieht. In den letzten Jahren Verbindungen mit Frankreich. Ein Film. Autobiografische Rolle in Godards LE MEPRIS. Viel gelesen. Aber immer der gleiche geblieben. Fritz Lang. Ein Redlicher. Mit gelegentlich kruden Ideen. Gegen die man eigentlich nichts haben kann. Besessen von einem Bild des Menschen, das er in seiner Retorte schuf. Mischung aus MABUSE und Joe Wilson. Blinder Protest, menschlicher. Ein Mann, dem niemand mehr in Hollywood etwas anvertrauen will. Ein Mann ausser Kurs. Vielleicht Mythos geworden. Sicher ist er geizig! Aber liebenswert. Ein Hotelpage muss sich jedenfalls seinen Groschen bei ihm verdienen. Von vielen missachtet. Von einem karikiert. Von Jerry Lewis, dessen Gesicht übrigens schöner ist als das von Buster. Ein Regisseur. Auf den amerikanischen Hund gekommen. Von Zeit zu Zeit. Ein Angepasster. Man nenne mir einen, der Hollywood schadlos überstanden hätte. Chaplin etwa?

Ich glaube, ich kann Fritz Lang gut leiden.       Alexander Fouquet
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Fritz Lang

Frage: Sie sagten in Ihrem letzten Interview mit den Cahiers du cinéma, dass der Film für Sie eine Art Laster sei _...

Lang: Filme drehen ist für mich fast das gleiche wie eine Droge nehmen. Es ist ein Laster, das ich verehre. Ohne den Film könnte ich nicht leben. Ich liebe diese Kunst, die leider in den meisten Ländern zur Industrie geworden ist. Aber ich wollte damit niemals sagen, dass der Film für den Künstler - oder besser für den Schöpfer eines Films - eine Droge sei, um Gewisse Hindernisse zu überwinden, wie es z. B. Fellini in ACHTEINHALB gezeigt hat. Ich habe nur einfach ausdrücken wollen, dass, weil ich den Filmliebe, ich mich ihm verschrieben habe, wie man sich einem Rauschgift hingibt.

Frage: Aber hat der Film nicht einen heilsamen Einfluss auf das Leben bestimmter Cineasten?

Lang: Ich wüsste wirklich nicht _... Aber ich glaube, Sie haben da einen wichtigen Punkt angerührt: vielleicht muss jeder Künstler einfach schaffen, um einen Ausweg aus seinen Gefühlen, seinen Gedanken zu finden. Ich glaube z. B., ich könnte keinen Menschen töten oder bestehlen - vielleicht könnte ich vergewaltigen, ich weiss es nicht. Nur ein Psychiater könnte diese Fragen wirklich beantworten. Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, die vielleicht etwas Licht auf dieses Problem wirft. Es ist vielleicht acht Jahre her, da hat man mir hier in Hollywood gesagt: "Ich kann Ihnen ganz genau sagen, was Sie gedacht haben, als Sie M drehten, und warum Sie den Film gemacht haben." Und er hat begonnen, mir das auseinanderzusetzen. Ich habe ihm geantwortet: "Alles, was Sie mir da sagen, ist sehr nett aber ich glaube, dass Sie vollkommen Unrecht haben. Ich wollte von solchen Monstrefilmen wie METROPOLIS oder DIE FRAU IM MOND wegkommen, ich wollte einen intimeren, einen tiefergehenden Film machen. Und ich war sehr interessiert daran, was im Geiste eines Mörders vor sich geht, ganz besonders eines Kindermörders. Das hinderte mich natürlich nicht daran, gegen ihn Stellung zu nehmen. Ein'anderes Mal hat mich in Paris jemand - ich weiss nicht mehr wer und für welche Zeitschrift - interviewt. Wir haben über meinen Beruf als Regisseur gesprochen und kamen bei der Darstellerregie auf das gleiche Problem. Ich sagte ihm, dass meiner Meinung nach ein Regisseur dem Schauspieler nicht zeigen sollte, was er zu tun hat. In einem Wort: ich möchte keinesfalls, dass der Schauspieler mich nachäfft. Die Rolle des Regisseurs ist es im Gegenteil, das Beste aus dem Schauspieler herauszuholen, was er in sich hat. Aus diesem Grunde muss er jedesmal eine Art Psychiater sein und die Rolle dem Schauspieler erklären, ihm helfen, die Person zu entdecken, die er ausgehend vom Drehbuch wiederbeleben muss. Und in diesem Moment habe ich mich gefragt, ob es nicht vielleicht die Rolle des Kritikers sei, ebenfalls als Psychiater, allerdings als der des Cineasten aufzutreten. Das tiefste Warum seiner Filme herauszufinden. In einem gewissen Sinne beantwortet das die Frage, die Sie mir gestellt haben. Vielleicht, wenn Sie imstande sind, diese Sorte von Psychoanalyse zu machen, und das wird sicherlich viel Zeit in Anspruch nehmen, würden Sie herausfinden, warum ein Cineast seine Filme nötig hat zu seinem Leben, und warum ich diesen oder jenen meiner Filme inszeniert habe _...

Die Frage kommt übrigens auch darauf zurück, was Kritik überhaupt sein soll, sei es de Kritik eines Films, sei es die an einem Schaffensprozess. Und es wäre tatsächlich erregend herauszufinden, aus weichem Grunde der Filmschöpfer gewisse Dinge tut. Aber ich habe davor sehr viel Angst! Ich kannte einmal einen sehr guten - na, sagen wir ausreichend talentierten - Schriftsteller, der sich psychoanalysieren liess. Zwei Jahre später konnte er nichts mehr schreiben. Ich glaube unsere schöpferische Arbeit ist das Ergebnis einer gewissen Frustration, nein: nicht Frustation, eher - wir müssen sehr genau auf die Wahl unserer Worte aufpassen: das Ergebnis einer Anomalie. In gewissem Sinne sind wir anders. Schliesslich muss man verrückt sein, um Filme zu machen. Um auf den Fall jenes Schriftstellers zurückzukommen: er war sich zu sehr über sich selbst klar geworden. Er stellte sich keine Fragen mehr über die Welt, was sich dort tut, über seinen richtigen Platz in dieser Welt, über das Warum der Dinge. Das interessierte ihn überhaupt nicht mehr. Seine Probleme waren gelöst. Aber er konnte nicht mehr schreiben. Das also, was wir in unseren Filmen machen, ist unser eigener Kommentar über ein ungelöstes Problem.

Frage: Nehmen wir den Fall Antonioni. Er wiederholt in seinen Filmen die Unmöglichkeit des Lebens, zu kommunizieren, zu lieben, aber dennoch hilft ihm das anscheinend nicht zu leben.

Lang: Ich weiss nicht, ob die Filme nicht zum Leben helfen. Mag sein, ja. Vielleicht aber auch - ich weiss nicht ganz genau, ob es stimmt - ist er unfähig zu leben und versucht, sich selbst zu beweisen, dass das Leben unmöglich ist, was ich in keiner Hinsicht glauben kann.

Frage: Glauben Sie also, dass die Probleme des Cineasten sich in seinem Stil oder in seiner Art der Regie zeigen. Man kann z. B. eine gewisse Beziehung zwischen einer ganz bestimmten Schwierigkeit der Kommunikation und dem Gebrauch des Dialoges feststellen.

Lang: Ich weiss es nicht. Aber ich habe einmal mit einigen Schriftstellern und Cineasten über den Gebrauch oder Missbrauch des Dialogs im Film diskutiert. Der Film - darüber sind wir uns einig - ist das Bild in Bewegung, nicht das verfilmte Theater. Nun, wie zeigt man z. B. ohne Hilfe des Dialogs, dass ein Ehemann und seine Frau sich zwar noch gut verstehen, aber dass die erste, grosse Liebe nicht mehr zwischen ihnen besteht. Hier das, was ich vorschlug: Nehmen wir an, die Szene ereignete sich in einem Hotel. Das Paar fährt in einem Fahrstuhl. Sagen wir bis zur 17. Etage. Ehemann und Frau sind beide sehr sympathisch, weder zu alt noch zu jung, und der Ehemann hat seinen Hut auf dem Kopf behalten. In der 10. Etage hält der Fahrstuhl an, und ein junges Mädchen steigt ein. Der Ehemann nimmt seinen Hut ab, und der Fahrstuhl fährt weiter. Man hat so in perfekter Manier und ohne ein einziges Wort ausgedrückt, dass die Liebe des Paares nicht mehr das ist, was sie einmal war, dass die Faszination zwischen Liebhaber und Geliebten fehlt. Der Mann denkt nicht mehr daran, diese natürliche Höflichkeit, mit der man in Gegenwart einer Dame seinen Hut abnimmt, bei seiner eigenen Frau anzuwenden, sondern nur bei einer anderen. Auf diese Weise kann man in einer stummen Szene etwas sehr Präzises ausdrücken. Aber wie es Antonioni macht, dass er eine Frau immer wieder durch eine Strasse gehen lässt, das kann gottweisswas bedeuten, es hat keinen dramatischen Inhalt.

Aber man kann natürlich auch einen Filmkritiker danach fragen, was er darin gesehen hat. Was sehr gefährlich ist an dieser Haltung, an der Haltung unserer Zeit - Ihrer Zeit -, dass sie dazu führt, in dieser Art von Filmen ein wenig die Entschuldigung zu sehen. Man sagt das Leben ist so. Und obwohl diese Filme in gewisser Weise helfen zu leben, überzeugen sie gleichzeitig davon, dass es unnütz ist, im Leben zu kämpfen, dass auf jeden Fall der Kampf von vornherein verloren ist. Und niemand strengt sich mehr an.

Frage: Werden die Personen in Ihren Filmen nicht immer ein wenig vom Schicksal verfolgt?

Lang: Das ist genau das Problem, das mich immer interessiert, um nicht zu sagen besessen hat. Alles ist irgendwie unausweichlich. Ein bestimmter Prozess löst sich aus, und niemand kann ihm entkommen. Aber was ich darüber hinaus immer zeigen und definieren wollte ist die Haltung des Kampfes, die die Leute angesichts dieser fatalen Ereignisse einnehmen. Es ist nicht wichtig, nicht wesentlich, das man als Sieger aus diesem Kampf hervorgeht. Es ist der Kampf selbst, der wichtig ist _... Vor einiger Zeit habe ich mich mit Gene Fowler über das Glück unterhalten und über den Wert dieses Glücks. Wir versuchten, seinen Standort, seinen Inhalt zu definieren und es gelang uns nicht, uns einen Zustand anhaltenden Glücks vorzustellen. Denn das hiesse, dass es überhaupt keinen einzigen Wunsch mehr gäbe, dass man wie ein Engel zum Harfenklang im Paradies lebte.

Was ich Glück nenne, ist die Verfolgung dieses Glücks. Für mich als Cineast ist Glück nicht das, was sich nach Beendigung eines Films einstellt, wenn man sich sagt, dass man etwas geschafft hat. Für mich ist das Glück - und darin besteht mein "Laster" - einen Film zu drehen. Selbst wenn die Bedingungen sehr, sehr schwierig sind, vergesse ich alles. Und nur in diesem Moment bin ich vollkommen glücklich. Der Kampf um etwas, das ist das Wichtige, nicht das Resultat. Man muss natürlich im Hinblick auf ein Resultat kämpfen, aber ein Resultat ist niemals definitiv, ist niemals das Ziel des Kampfes. Wenn man irgendetwas erreicht hat, so ist das kein Grund, stehen zu bleiben. Das Leben bleibt auch nicht stehen. So wie das Leben muss man immer wieder neu beginnen, immer wieder von vorn anfangen. Deshalb kämpfen meine "verfolgten Personen" - wie Sie sagen - nicht wie im griechischen Drama gegen Götter oder gegen das Schicksal, sondern gegen die einfachen Umstände des Lebens gegen - was soll ich sagen - die Meinung ihrer Nachbarn, gegen dumme Gesetze und andere Dinge dieser Art. Wenn man z. B. für seine Liebe kämpft, wenn es einem gelungen ist, alle Hindernisse zu beseitigen (Lang unterbricht sich einen Augenblick, bevor er plötzlich fortfährt), dann beginnt der Kampf erst richtig, wenn man endlich verheiratet ist. Und dann beginnt das Leben.

Frage: Zeigt sich der Kampf in Ihren Filmen nicht durch einen gewissen Gegensatz von Bewegung und Immobilität.

Lang: Ich weiss nicht, ob das stimmt. Das hiesse, wenn ich richtig verstanden habe, in gewissem Sinne dasselbe, was wir vorhin gesagt haben, dass wenn irgendeiner - nehmen wir an eine meiner Personen - den Kampf aufgibt, er aufhört zu progressieren. Das geschieht mit meinen Personen nicht. Sie hören nicht auf zu kämpfen, aber, um Ihre Frage zu beantworten, muss man sich selbst erst fragen, wie es möglich ist, eine Aktion zu filmen, d. h. eine Bewegung, ein Drama, die dennoch statisch ist. Die Immobilität zu filmen, das könnte auf das zurückgehen, was Corneille einmal sagte: "Es ist logisch, dass das Unlogische dem Logischen entgegensteht." Na, schön. Wenn man merkt, dass auf Grund irgendeines plötzlich eintretenden Ereignisses der Kampf sichtlich an seinen Schlusspunkt gekommen ist, oder wenn man sich in einer Sackgasse befindet, muss man sich tatsächlich eine Sekunde lang ausruhen unter der Wirkung dieses Ereignisses. Wenn Sie im Film einen Menschen in seinem Zimmer auf und ab gehen sehen, und wenn er plötzlich stehen bleibt, dann sagen Sie sich als Zuschauer, er hat eine Idee. Dann setzt er seinen Marsch fort, nicht wahr. So hält er in dem Augenblick, wo dieses Ereignis eintritt an, anstatt sich wie ein Tier in seinem Käfig herumzuwerfen. Das heisst also, dass etwas sich in ihm bewegt und dass dieses sich im Anhalten der Bewegung ausdrückt, dass diese Immobilität voller Aktion ist. Das heisst also, dass eine statische Aktion nicht Inaktion ist.

In einem meiner Filme sieht man einen Mann, der entflieht und der Freiheit entgegenläuft. Aber plötzlich gewahrt er an einer Strassenecke einen Polizisten. Er bleibt abrupt stehen und man sieht ihn in der Grossaufnahme. Aber dieses Anhalten, diese Grossaufnahme dauert nur eine Sekunde. Plötzlich reagiert der Mann. Er macht kehrt und flieht.

Frage: Aber wird die Aktion nicht durch die Grossaufnahme selbst unterbrochen?

Lang: Nein. Denn es ist kein Moment der Reflexion, den ich auf dem Gesicht in Grossaufnahme zeige. Ich zeige nur das Ereignis selbst, die offensichtliche Überraschung. Ich glaube, es ist nicht die Reflexion, sondern der Instinkt, der den Mann so schnell umkehren und die entgegengesetzte Richtung einschlagen lässt. Deswegen zeige ich nicht, wie er erst nach rechts, dann nach links schaut, was Zögern bedeuten würde und tote Zeit innerhalb der Aktion. Hier ist es eine Reaktion auf eine dramatische Emotion. Nehmen wir noch einmal das Beispiel des zum Tode Verurteilten auf dem elektrischen Stuhl. Es stimmt nicht, dass er unbeweglich bliebe, dass er ruhig sein könnte, dass keine einzige Emotion in ihm wach wäre, nur weil er sich bereits tot weiss. Nein. In Wirklichkeit schlägt er um sich wie ein wildes Tier. Er hat noch nicht aufgegeben. Zweifellos hilft ihm dieser letzte Kampf keineswegs. Er fühlt sich vielmehr durch einen ganz tierischen Instinkt getrieben, und weigert sich, seine Situation, auf dem Stuhle gefesselt zu sein und sterben zu müssen, zu akzeptieren.

Natürlich ist es viel einfacher, diese Widersprüche zu lösen, indem man sie - wie man es im Stummfilm machte - in stilisierten Situationen behandelte. Es ist heute modern, niemals Leute während eines Gespräches unbeweglich zu zeigen. Aber wenn sie gerade beim Essen sind, kann man sie auch nicht dauernd sich erheben und wieder hinsetzen lassen, übrigens gibt es sehr dramatische Situationen, wo weder Bewegung noch Aktion nötig sind. Ein Paar speist gerade in seiner Wohnung. Die Frau sagt ihrem Gatten, sie habe ihn betrogen. Ich könnte verstehen, wenn dieser sich sofort erhebt, anfängt zu schreien und ausser sich gerät. Aber wenn sich dieselbe Szene in einem Restaurant abspielt, wird er sich nicht mehr bewegen können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Stellen Sie sich diesen Mann vor, der seiner Frau gegenüber sitzt, die ihm kaltblütig erklärt, das sie ihn gestern betrogen habe. Und er kann weder eine Bewegung machen, noch ein einziges Wort sagen, kann nicht einmal aufstehen, um sie zu ohrfeigen. Ist diese Szene so nicht viel stärker. Eben durch diese forcierte Inaktion erhält sie ihre Bedeutung und mehr dramatische Intensität. Die Emotion ist viel grösser, weil die Gefühle im Zaum gehalten werden, und das Publikum erlebt sie mindestens so stark mit, als wenn sie sich leidenschaftlich manifestierte. Vielleicht kommt es daher, weil wir im Stummfilm gearbeitet haben, dass wir die Aktion, die Bewegung über alles lieben. Wir waren in unseren Stummfilmen verpflichtet, uns durch die Aktion auszudrücken, während Godard zum Beispiel - so scheint es mir - weniger an der Aktion selbst interessiert ist als an ihrem Resultat, an ihrer Wirkung. Es hat mich sehr interessiert, ihn drehen zu sehen, und ausserdem mag ich ihn sehr. Er ist sehr aufrichtig. Er liebt den Film. Und er ist fanatisch, wie ich es selbst einmal war. Tatsächlich glaube ich, dass er versucht, das fortzusetzen, was wir einmal unternommen haben, als wir begannen, unsere ersten Filme zu drehen.

Frage: Sagten Sie nicht, dass ein Film während der Montage noch mehr modelliert wird?

Lang: Ja, aber nur, wenn man über genügend Material verfügt. Es gibt einen Satz, den ich sehr liebe: Einen Film montieren heisst, ihn noch einmal schreiben. Man schneidet gewisse Dinge und man modifiziert andere. Godard hat das nicht nötig. Er braucht nur den Film zu drehen. Er filmt sehr wenig in Grossaufnahmen, während ich das sehr häufig mache. LE MEPRIS wurde in Technicolor und auf der grossen Leinwand realisiert. Wie heisst das noch? Ach ja, Cinemascope. Wozu mir gerade etwas einfällt: Das Cinemascope ist nicht für menschliche Wesen. Es ist für Schlangen und Beerdigungen. Man wird sich dieses Ausspruchs erinnern. Aber wenn ich den Film gemacht hätte, hätte er viele Grossaufnahmen gehabt.

Godard brauchte sich dieses Problem nicht zu stellen. Er kämpft darum, seinen Filmen eine sehr persönliche Form zu geben. Aus diesem Grunde hat er Ärger mit seinen Produzenten, übrigens wollen diese Leute immer irgendetwas ändern. Es gibt nur wenige richtige Produzenten. Ein richtiger Produzent müsste ein guter Freund des Regisseurs sein. Aber die meisten sind eifersüchtig auf ihn. In einem meiner Filme gab es einmal eine Szene, die der Produzent nicht liebte, und ich sehr gut fand. Und sehr komisch. Ich habe eine Woche lang mit ihm diskutiert und habe ihn darauf hingewiesen, dass unsere "previews" aus dem Grunde gemacht werden, um die Reaktion des Publikums festzustellen. Der Produzent erlaubte mir, anlässlich einer Privatvorstellung festzustellen, ob ich unrecht hätte. Aber das Publikum mochte die Szene, viel gelacht und viel applaudiert. Dennoch stellte sich der Produzent mir entgegen und sagte: "Ich werde den Film so oft vorführen, bis ich ein Publikum finde, das diese Szene nicht mag. Das ist so dumm. Das sind vielleicht frustrierte Leute. Sie haben RANCHO NOTORIOUS gesehen, nicht wahr? Na gut. Zuerst hiess er CHUCK A LUCK, weil die Ranch so hiess und es auch ein Spiel dieses Namens gibt. Ausserdem behandelt auch das Lied in dem Film dieses CHUCK A LUCK. Aber Mr. Howard Hughes nannte den Film RANCHO NOTORIOUS. Als ich ihn fragte, warum, antwortete er mir, dass man in Europa nicht wüsste, was CHUCK A LUCK bedeute. Aber weiss man denn ,n Europa, was RANCHO NOTORIOUS heisst? Sehen Sie, es gibt kein Copyright für einen Regisseur noch für irgendjemand, der sich in dieser Industrie des Unglücks befindet. Ein dramatischer Autor hat eine Menge Rechte, und wenn er sich weigert, hat man nicht das Recht, auch nur ein Komma in seinem Stück zu ändern. In den USA haben wir - wie ich Ihnen schon sagte, ein System, das in Europa unbekannt ist: die Previews. Wenn die, die man Produzenten nennt, wirkliche Menschen wären, und ehrlich, würden sie erkennen, dass man nur da feststellen kann, ob der Film gut ist oder nicht, ob die Leute ihn lieben oder nicht. Dann gäbe es vielleicht eine Art Übereinstimmung zwischen Produzenten und Regisseuren und diese würden die Änderung bestimmter Stellen akzeptieren, die dem Produzenten nicht gefallen. Aber wenn jene um jeden Preis Recht haben wollen, ist Übereinstimmung nicht mehr möglich. Heute nenne ich den Film eine Industrie. Und er hätte Kunst sein können. Man hat eine Industrie daraus gemacht. Man hat die Kunst getötet. Aber die Industrie mit.       (Aus CAHIERS DU CINEMA Nr. 156)
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Zur Geschichte des dänischen Tonfilms
[Zur Geschichte des dänischen Stummfilms s. Heft 43 ]

I.

Dass der dänische Film die Weltkrise und die Filmkrise überleben konnte, ist in erster Linie das Verdienst Carl Bauders. Er hatte bereits in der Mitte der Zwanziger Jahre die neuen Möglichkeiten des Tonfilms erkannt und die Weltpatente des Tonsystems Petersen und Poulsen erworben und sich dann die Aktienmajorität der Nordisk gesichert. Als die alte Nordisk Films Kompagni in Liquidation trat, übernahm er den Neuaufbau und gründete die Nordisk Tonefilm. Am 11. Juni 1928 wurden die ersten dänischen Tonfilme im "Grand Theateret" gezeigt. Es war ein Versuchsprogramm mit Werbefilmen und kleinen Sketches. Am 4. März 1929 gab es in vier grossen Kinos Premieren mit einem dänischen Tonfilm. Das Programm war aus Kurzfilmen zusammengestellt. Am 9. Oktober 1930 wurde der erste Spielfilm mit dänischem Dialog in Kopenhagen aufgeführt, die skandinavische Co-Produktion ESKIMO unter der Regie von Georg Schnévoigt. Von diesem Film wurden auch deutsche und französische Fassungen hergestellt. Am 7. Mai 1931 kam es dann endlich zur Premiere des ersten dänischen Tonfilms PRAESTEN I VEJLBY (Der Pfarrer aus Vejlby) nach einer Erzählung von Steen Steensen Blicher. Sein Regisseur war wiederum Georg Schnévoigt und in den Hauptrollen sah man Hendrik Malberg, Karin Nellemose und Eyvind Johan Svendsen. Das dänische Publikum nahm den Film mit Begeisterung auf; der Tonfilm hatte sich durchgesetzt und die Existenz des dänischen Films war gesichert.

DER PFARRER AUS VEJLBY besass künstlerische Qualitäten. Die vollständige künstlerische Beherrschung des neuen Mediums war natürlich nicht erreicht, aber im Vergleich mit anderen gleichzeitige Tonfilmexperimenten lag DER PFARRER AUS VEJLBY weit über dem Durchschnitt. Künstlerische Werte waren auch in den folgenden dänischen Tonfilmen zu finden: KIRKE OG ORGEL (Kirche und Orgel) und HOTEL PARADIES (Hotel Paradies), beide von Georg Schnévoigt. Aber der Publikumerfolg des ersten wiederholte sich nur im bescheidenen Masse bei den späteren Filmen, und so wurde schon bald das künstlerische Leben des dänischen Tonfilms in Gefahr gebracht.

Als Produktionsphänomen existierte der dänische Tonfilm weiter, wenn auch ohne wirklich zu leben. Die Produktionskosten stiegen unaufhörlich und mussten sich deshalb hemmend auf die Produktion auswirken, weil der internationale Markt verloren gegangen war. Nur der norwegische und zum Teil der schwedische Markt hatte ökonomische Bedeutung. Dänemark wurde von der Weltwirtschaftskrise hart getroffen. Die Produzenten waren nicht bereit, ein wirtschaftliches Risiko einzugehen und es kam deshalb zu einer etwa zehnjährigen künstlerischen Stagnation der Filmproduktion. Die in dieser Zeit entstandenen Filme zeigten in rein technischer Hinsicht sogar bemerkenswerte Leistungen. Es mangelte auch keineswegs an guten Schauspielern, aber man wird vergebens nach den Spuren einer Gegenwartsthematik und sozialer Bezogenheit suchen. Als dann der Faschismus ganz Europa zu bedrohen und zu okkupieren begann, steckten die dänischen Filmproduzenten die Köpfe in den Sand und lebten weiter in ihrer Scheinwelt der Konfliktlosigkeit und verlogenen Harmonie.

Nur zwei Filme wichen von dieser Linie ab: Der dokumentarische DANMARKSFILMEN (Der Dänemarkfilm) im Jahre 1935 des Architekten Poul Henningsen, produziert mit Unterstützung des dänischen Aussenministeriums, und der erste Drehbuch-Versuch Theodor Christensens und Karl Roos': JENS LANGKNIV (Jens mit dem langen Messer) - ein dänischer Robin Hood, der im Mittelalter gegen den eindringenden deutschen Adel gekämpft hat. Der DÄNEMARKFILM stiess zuerst beim Publikum und bei der Kritik auf Ablehnung. Um den Film JENS LANGKNIV (1939-40, Regie: Per Knutson) entstand ein filmpolitischer Skandal. Da der Film ein geschäftliches Fiasko wurde, bekämpften sich Autoren und Regisseur in scharfen Auseinandersetzungen.

Der DÄNEMARKFILM war seiner Zeit weit voraus und wird heute überall anerkannt. JENS LANGKNIV, künstlerisch unausgereift, war ehrlich gemeint und ein Versuch, das dänische Volk auf die Gefahr des Faschismus aufmerksam zu machen. Seine Botschaft wurde jedoch in weiten Kreisen des Publikums nicht verstanden. Der faschistische Überfall auf Dänemark am 9. April 1940 traf die dänische Bevölkerung gänzlich unvorbereitet. Der dänische Film hätte auch seinen Teil zur Bewusstseinsbildung der Bevölkerung beitragen können.

II.

Der schockartige Überfall Deutschlands auf Dänemark wirkte zunächst lähmend auf die dänische Bevölkerung. Schon bald gab es aber die ersten Widerstandsversuche, die, nachdem Hitler zunächst beschlossen hatte, Dänemark zu einem "Musterprotektorat" zu machen, in der Hauptsache auf der geistigen Ebene zu suchen waren. Um die faschistischen Propagandafilme so weit wie möglich von den dänischen Kinos fernzuhalten, erreichte man z. B. ein Abkommen mit den deutschen Besatzungsbehörden, wonach ein dänischer Kurzfilm immer Vorrang gegenüber einem deutschen haben sollte. Als den Deutschen bekannt wurde, dass die dänische Kurzfilmproduktion sehr bescheiden war, stimmten sie dieser Forderung zu. Aber mit der deutschen Übereinkunft in der Tasche, entschloss man sich nun, eine Kurzfilm-Produktion zu gründen und die nötige finanziellen Mittel zu bewilligen. Damit hat sich Dänemark sozusagen über Nacht eine Kurzfilmproduktion geschaffen.

Die Dokumentarfilmproduktion der Okkupationszeit hat also ihr Entstehen einem Abwehrmanöver zu verdanken. Die jungen Filmschaffenden, denen sich jetzt praktisch grosse Möglichkeiten eröffneten, entdeckten sofort, dass ihnen damit auch eine Waffe in die Hand gegeben war. Sie erkannten bald sehr klar, dass man mit der sich jetzt entfaltenden Kurzfilmproduktion nicht nur die faschistischen Propagandafilme fernhalten konnte, sondern dass man nun auch in der Lage war, der dänischen Bevölkerung zu einem nationalen und politischen Bewusstsein zu verhelfen und den Widerstandswillen zu fördern und zu stärken.

Mit der kurz nach der Okkupation gegründeten "Ministeriernes Filmcentral" (Filmzentrale der Ministerien) als Zentrum und mit der finanziellen Unterstützung des Staates, begann dann eine Gruppe von jungen Filmenthusiasten unter Leitung von Theodor Christensen und Karl Roos mit der Arbeit: Astrid und Bjarne Henning-Jensen, Ole Palsbo, Hagen Hasselbalch, Soren Melson, Nie. Lichtenberg sowie später Jörgen Roos, Ove Sevel und Svend Aage Lorentz. Die zwangsläufige Spielzeit von 7 bis 8 Minuten erforderte eine konkrete und direkte Beschäftigung mit dem jeweiligen Problem und eine strenge Ökonomie der künstlerischen Mittel. Das Resultat war eine ungeschminkte, wahrheitsuchende Wirklichkeitsdramatik. Filme über die sozialen Institutionen Dänemarks wechselten mit "Bereitschaftsfilmen" und Streifen, die sich direkt mit der Situation des Landes beschäftigten. Die Linie führt von MODREHJAELPEN (Die Mutterhilfsinstitutionen - im Ausland bekannt als GOOD MOTHERS, inszeniert von Carl Th. Dreyer) über PAPIR (Papier - Bjarne Henning-Jensen), SPILD ER PENGE (Alteisen ist Geld - Ole Palsbo) zu FAREN FRA LUFTEN (Die Gefahr aus der Luft - Ingolf Boisen) und zwei weiteren Filmen, die unter den dänischen Flüchtlingen in Schweden gedreht wurden: FLYKTNINGAR FINNER HAMN (Flüchtlinge finden Rettung) und BRIGADEN I SVERIGE (Die dänische Brigade in Schweden), beide inszeniert von Astrid und Bjarne Henning-Jensen, die selbst im Jahre 1944 zur Flucht gezwungen wurden. Es gab auch Versuche, in äusserlich harmlose Filme eine verborgene politische Aussage einzuschmuggeln. Das beste Beispiel hierfür ist der in 1944 gedrehte Streifen KORNET ER I FARE! (Das Korn ist in Gefahr!) von Hagen Hasselbalch. Angeblich schilderte er die Bekämpfung von Kornrüsselkäfern. Der Film zeigte aber beispielsweise eine Landkarte von Dänemark, über die sich von Süden her die Parasiten ergossen und das ganze Land überschwemmten, während der Kommentar dazu erläutert: "- Sie kommen aus dem Süden, überall dringen sie ein und zerstören alles auf ihrem Wege!" Die Dänen erkannten sofort die Parallele und die Kinos wurden von begeisterten Zuschauern gestürmt. "Das Korn ist in Gefahr" wurde hauptsächlich zu deutschen Spielfilmen gezeigt; wenn der Kurzfilm vorbei war, verliessen die Zuschauer demonstrativ den Saal.

Da sich die Lage in Dänemark langsamer verschärfte als in vielen anderen okkupierten Ländern, hatte die dänische Wiederstandsbewegung Zeit, illegale Filmgruppen zu organisieren. Als dann der faschistische Terror im August 1943 mit voller Kraft ausbrach, waren diese Filmgruppen imstande, die Gewalttaten der Okkupanten und die Arbeit und Aktionen der Wiederstandsbewegung zu verfolgen. Das Herausschmuggeln von Filmmaterial über Schweden war bereits 1940 organisiert worden, jetzt wurde diese Arbeit verstärkt und erweitert. Theodor Christensens DENMARK FIGHTS FOR FREEDOM, ein Film über den Freiheitskampf der dänischen Bevölkerung, wurde auf diesem Wege 1944 ins Ausland gebracht, und aus dem Filmmaterial der illegalen Filmgruppen stellten Theodor Christensen und Karl Roos kurz nach der Befreiung im Jahre 1945 das grosse Epos über die Okkupationszeit: DET GAELDER DIN FRIHED (Es geht um deine Freiheit) zusammen, ein stolzer und würdiger Beweis für den Einsatz der jungen dänischen Filmgeneration in den Jahren der faschistischen Okkupation.

Für den dänischen Spielfilm hatten die Kriegs- und Okkupationsjahre keine vergleichbare Entwicklung wie beim Dokumentarfilm gebracht. Künstlerische Widerstandskundgebungen wurden zuerst auf den dänischen Bühnen publik. Nach und nach trat auch die Literatur damit hervor. Jedoch machte sich auch im Spielfilm eine gewisse Änderung bemerkbar. Die dänische Spielfilm-Idylle brach entzwei unter den harten Realitäten der Nazi-Okkupation.

1938 kehrte Benjamin Christensen aus Hollywood nach Dänemark zurück und gleich in seiner ersten dänischen Spielfilmaufgabe (seit 1915) SKILSMISSENS BØRN (Kinder der Scheidung - 1939) stiess man zum ersten Mal nach vielen, vielen Jahren auf eine soziale Problematik im Spielfilm. Auch seine zwei folgenden Filme BARNET (Das Kind - 1940) und GA MED MIG HJEM (Geh mit mir nach Hause - 1941), beide nach literarischen Vorlagen von Leck Fischer, brachten eine Wendung zum Realismus. Sein letzter Film DAMEN MED DE LYSE HANSKER (Die Dame mit den Handschuhen - 1942) nach eigenem Manuskript, war ein Kriminalfilm, der kein Publikumserfolg wurde. Danach fand der dänische Film keine weitere Möglichkeit für diesen internatonal berühmten Filmregisseur. Als entscheidender Punkt in der Entwicklung des dänischen Films wird gewöhnlich AFSPORET (Entgleist - 1942), Regie: die königliche Schauspielerin und Theaterregisseurin Bodil Ipsen gemeinsam mit Lau Lauritzen jun., angesehen. Der Bericht des Handlungsschemas dieses Films wirkt heute keineswegs überraschend oder überzeugend: Ein junges Mädchen, Tochter eines berühmten Arztes, verliert durch einen Unfall das Gedächtnis und gerät unter Prostituierte und Kriminelle. Ein Hehler entdeckt ihre Identität und versucht eine Erpressung. Während eines Feuerkampfes zwischen Polizei und Verbrecher wird das Mädchen erschossen. Vergleichspunkte mit gewöhnlichen Filmklischees sind leicht beweisbar und auch der Filmstil lässt gewisse Vorbilder, z. B. im französischen Vorkriegsfilm, erkennen. Aber dieses Milieu war bis zu diesem Zeitpunkt fast undenkbar in einem dänischen Film, ebenso die Personenschilderung und psychologische Motivierung. Wohl deshalb wurde dieser Film vom dänischen Publikum für etwas absolut Neues und Unerwartetes gehalten. "Entgleist" war der erste Versuch Bodil Ipsens im Film. Später wirkte sie als Personen-Regisseurin in einer Reihe dänischer Filme mit. Sie hat vor allem viele dänische Filmschauspieler stark beeinflusst

Ehrlicher Realismus machte sich auch in Filmen wie JEG MØDTE EN MORDER (Ich habe einen Mörder getroffen - Reg. Lau Lauritzen jun. 1943), NATEXPRESSEN P903 (Nachtzug P903 - Reg. Sven Methling, 1942) und DRAMA PA SLOTTET (Drama auf dem Schloss - 1943) und MORDETS MELODI (Melodie des Mordes - 1943), beide von Bodil Ipsen inszeniert, bemerkbar. Die Okkupationsjahre brachten auch die Rückkehr Carl Th. Dreyers zum dänischen Spielfilm nach 18 Jahren mit VREDENS DAG (Tage des Zorns - 1943). Einige Leute sind der Meinung, dass dieser Film verborgene antinazistische Aussagen einhält, was sicherlich nicht zutrifft. Das Reich Dreyers ist gewiss nicht von dieser Welt. Jedoch spiegelt die mittelalterliche Dunkelheit dieses Films möglicherweise den Zeitpunkt wider, als das Mittelalter sich erneut über ganz Europa senkte. Im grossen und ganzen darf man wohl sagen, dass die Jahre der Okkupation für den dänischen Spielfilm eine Zeit der Vorbereitung waren. Erst die Befreiung im Jahre 1945 ermöglichte einen neuen, künstlerischen Vorstoss.

III.

Befreiung und Wiederaufbau. Jetzt war die Zeit gekommen, wo alles gesagt werden konnte, was vorher verboten war.

Es überrascht nicht, dass nun auch in Dänemark Widerstandsthemen sehr bald auf der Leinwand behandelt wurden, wenn auch nach Anzahl bescheiden. Zusammen mit den dokumentarischen Streifen DET GAELDER DIN FRIHEDI erlebten wir eigentlich nur zwei reine Widerstandsfilme: DE RØDE ENGE (Rote Wiesen - Reg. Bodil Ipsen) und DEN USYNLIGE HAER (Die unsichtbare Armee - Reg. Johan Jacobsen), beide 1945. STOT STAR DEN DANSKE SOMAND (Fest steht der dänische Seemann - Reg. Bodil Ipsen und Lau Lauritzen jun., 1948), ein Film über den Einsatz dänischer Seeleute während des Krieges, gehört wohl auch dazu. Aber damit war es vorbei, und erst zehn Jahre später nahmen dänische Spielfilme wieder die Okkupationsthemen auf.

ROTE WIESEN hielt sich, seiner ehrlichen Personenschilderung zum Trotz, mehr an äussere Dramatik. DIE UNSICHTBARE ARMEE dagegen nach dem gleichnamigen Roman des bekannten Schriftstellers und Dramatikers Knud Sonderby gab eine eindringlichere, psychologische Analyse. Eine Frau steht zwischen zwei Männern: einem Aktivist und einem Passivisten. Als der aktive Widerstandskämpfer von der Gestapo getötet wird, übernimmt der Passivist zögernd seinen Platz in einer Sabotageaktion und zahlt dafür mit seinem Leben. Die Aktion gelingt, aber zurück bleibt die Frau, die jetzt beide Männer verloren hat.

Die Entwicklung, die während den Okkupationsjahren begann, wird in den ersten Nachkriegsjahren zu Ende geführt. Dänemark produzierte in diesen Jahren Filme wie DITTE MENNESKEBARN (Ditte, ein Menschenkind - 1946) nach dem Roman von Martin Andersen Nexo, DE POKKERS UNGER (Verflixte Rangen - 1947) und KRISTINUS BERGMAN (1947), alle unter der Regie von Astrid und Bjarne Henning-Jensen, SOLDATEN OG JENNY (Der Soldat und Jenny - 1947) und TRE AAR EFTER (Drei Jahre später - 1948), von Johan Jacobsen, TA' HVAD DU VIL HA' (Nimm was du wünschst - 1946) und FAMILIEN SCHMIDT (Familie Schmidt - 1950), von Ole Palsbo. Auch der bezaubernde Kinderfilm Astrid Henning-Jensens PALLE ALENE I VERDEN (Palle allein in der Welt - 1949) verdient genannt zu werden. Mit diesen Filmen fand Dänemark zum ersten Mal seit 1914 wieder Anerkennung im Ausland.

DER SOLDAT UND JENNY nimmt das Problem der Schwangerschaftsunterbrechung und die damit verbundenen menschlichen und juristischen Probleme auf. NIMM WAS DU WÜNSCHST beschäftigt sich mit menschlichem Egoismus und der Gier nach Geld und Erfolg, FAMILIE SCHMIDT zeichnet ein scharfes Porträt einer kleinbürgerlichen Familie in der Provinz und ihre heuchlerischen Verhältnisse zu Lebensproblemen und ihren Mitmenschen; DREI JAHRE SPÄTER schilderte mit Mut, wie schnell jene Leute, die während der Okkupation eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Okkupanten aufgenommen hatten, im Nachkriegs-Dänemark wieder zu Machtpositionen kommen. Die Themen und die Haltung zu den Problemen sind kritisch und herausfordernd und der Spielfilm wurde endlich zu einem Faktor im dänischen Kulturleben.

In dieser Periode des künstlerischen Aufstiegs gab es in Dänemark ein System der staatlichen Film-Prämiierung. Spielfilme mit hohem künstlerischen Niveau oder sozial bedeutsamen Themen erhielten eine Geldprämie. Dieser staatlichen Hilfe verdanken die besten Filme der damaligen Zeit ihr Entstehen. Mit Hilfe dieser Prämien konnten damals auch einige interessante biographische Filme geschaffen werden, so z. B. der Film KAMPEN MOD URETTEN (Kampf gegen das Unrecht, Ole Palsbo, 1949), der das Leben des bekannten dänischen Sozialreformer Peter Sabroe beschrieb. Gegen Ende des Jahres 1950 wurde die staatliche Prämienordnung geändert und es kamen nun alle dänischen Filme in den Genuss einer Steuererleichterung - ohne Rücksicht auf Thema und künstlerische Qualität. Die Folgen zeigten sich sehr bald. Nun setzte ein künstlerischer Niedergang ein. Die soziale Problematik begann wieder aus dem dänischen. Film zu schwinden.

Auch der dänische Dokumentarfilm zeigt eine Entwicklungskurve, die ähnlich der des Spielfilms verläuft. Zwar erlebte Dänemark in den ersten Jahren nach der Befreiung eine noch nicht dagewesene Erweiterung der Kurzfilmproduktion. Es zeigte sich jedoch bald, dass die staatlichen Institutionen sich jetzt viel mehr in die Arbeit einmischten. Anfangs konnte man diese Beschränkungen noch fernhalten. Aber die Wirkung wurde bald spürbar: das Tempo wurde gemessener, das Drama vom epischen Bericht abgelöst, und die Experimentatoren an die Peripherie gedrängt. Doch das Niveau war noch anerkennenswert und brachte Dänemark viele Erfolge auf internationalen Filmfestspielen. Der dänische Dokumentarfilm war immer dann am besten, wenn er sich mit scheinbar kleinen Dingen beschäftigte, wie beispielsweise in BONDEGARDEN (Der Bauernhof) oder POLENS BØRN (Die Kinder von Polen), beide von Nie. Lichtenberg gedreht. So verschieden die Milieus waren - hier die dänische Sommerlandschaft und dort die Ruinenfelder Polens -_ so zeugten doch beide von der gleichen lebensnahen menschlichen Wärme und Humanität, die für die besten dänischen Dokumentarfilme kennzeichnend sind. Beide beschäftigten sich mit kleinen, aber wichtigen Dingen: Die Ernte wird ins Haus gebracht, einem hungrigen Kind wird Essen gegeben.

Man findet aber auch andere Anzeichen in den dänischen Dokumentarfilmen jener Periode. In der Kategorie der Aufklärungsfilme (gegen Verkehrsunfälle z. B.) trifft man oft eine destruktive Rauhheit: ein schneller und unerwarteter Tod wird mit kaum zu überbietender visueller Kraft geschildert. Und es gibt schliesslich die extrem-experimentierende Linie, die hauptsächlich von Svend Age Lorentz repräsentiert wird. Im Bestreben um visuelle Stimmungswirkung wird der dokumentarische Rahmen gesprengt, um den Teil des menschlichen Bewusstseins zu erreichen, wo Traum und Wirklichkeit, Phantasie und Realität sich vermischen. Der fabulierende Film VAND (Wasser- 1949) von Lorentz ist einer der bedeutendsten Filme aus dieser Periode.

Als die fünfziger Jahre sich ihrem Ende näherten, nahmen jedoch die Kontrollmassnahmen immer mehr und mehr zu. Während die staatlichen Filmindustrien sich im Jahre 1949 zu einigen ambitiösen Spielfilmexperimenten verlocken liessen - in erster Linie KONGEN B0D (Der König dekrediert, Svend Methling) - die mit schweren finanziellen Verlusten endeten, setzte gleichzeitig ein Angriff auf die dänische nichtkommerzielle Filmproduktion ein, die sie in eine schwere Krise brachte. Das Resultat war, dass sich in die Kurzfilmproduktion der fünfziger Jahre grosse Unsicherheit und Ratlosigkeit dokumentierte.

In dieser Zeit des künstlerischen Abstiegs fiel der Beginn des Fernsehens, das im Laufe einiger Jahre zu einer stürmischen Aufwärtsentwicklung gelangte. Hätte das vordringende Fernsehen nicht eine stagnierende, sondern eine lebendige und verantwortungsbewusste Filmproduktion vorgefunden, so wäre die Entwicklung sicher anders verlaufen. Die Voraussetzungen für einen sinnvollen künstlerischen Wettbewerb wären dann gegeben gewesen.

IV.

Die ersten Anzeichen einer Neuentwicklung datieren 1952 mit VEJRHANEN (Die Wetterfahne). Der Film glossiert den Bürokratismus einer dänischen Kleinstadt. Ohne ein grosses Kunstwerk zu sein, brachte er frischen Wind in die dänische Produktion. Das Manuskript schrieb der junge dänische Schriftsteller Johannes Allen, Regie führte Lau Lauritzen jun. Die gleiche Gruppe schuf im folgenden Jahr FARLIG UNGDOM (Gefährdete Jugend). Die mitwirkenden Jungen waren fast alle Laien. Dieser Film verdient besondere Aufmerksamkeit, weil er bestrebt ist, die Probleme der Jugend von ihrem Standpunkt aus und unter ihren Aspekten zu betrachten.

Im Jahre 1954 erlebten wir einige recht bedeutende künstlerische Ereignisse: HIMLEN ER BLA (Der Himmel ist blau) und VORES LILLE BY (Unsere kleine Stadt) - nach vielen Jahren die ersten "unabhängigen" Produktionen in Dänemark. DER HIMMEL IST BLAU wurde von Svend Age Lorentz inszeniert, der auch als Produzent zeichnete. Das Manuskript, von dem jungen Dramatiker Finn Methling geschrieben, bestand aus verschiedenen Episoden und verdankt in gewisser Weise seine Entstehung dem neorealistischen Film. Der Film war gekennzeichnet durch poetischen Charme und dokumentarische Echtheit in der Schilderung von alltäglichen Begebenheiten, aber bedauerlicherweise war das dänische Publikum ausserstande, diese ihm neue filmische Ausdrucksform entsprechend einzuschätzen.

Henning Ørbak, der mit UNSERE KLEINE STADT debütierte, kam wie Lorentz vom Dokumentarfilm. Das Manuskript wurde von dem jungen dänischen Schriftsteller Ove Bronnum geschrieben. Auch hier einfache Menschen, deren Leben ohne grosse Dramatik verläuft. Zwar machten sich die bescheidenen finanziellen Mittel der Produktionsgesellschaft bemerkbar, aber der von einem poetischen Grundton getragene Film wies künstlerischen Atem auf.

ORDET (Das Wort), von Carl Th. Dreyer, erschien im Jahre 1955 und ist natürlich von Bedeutung. Zugrunde liegt ein Drama von Kaj Munk, einem Pfarrer aus Jütland, der von den deutschen Faschisten während der Okkupation ermordet wurde. Aus Achtung vor dem Drama hielt der Regisseur es für erforderlich, sich genau an den äusseren Rahmen zu halten. Eine solche Haltung verdient zwar Anerkennung in einer Zeit, wo Literatur und Dramatik, wenn sie in die Mühle der Filmindustrie geraten, häufig bis zur Unkenntlichkeit verändert werden. Jedoch entsprach der Film nicht den Erwartungen der Anhänger Dreyers.

Den besten Film des Jahres 1955 finden wir auf dem Gebiet des Dokumentarfilms. Mit seinem Film über Hans Christian Andersen: MIT LIVS EVENTYR (Das Märchen meines Lebens) setzte sich Jörgen Roos an die Spitze des dänischen Dokumentarfilms. Ein altes Problem des Dokumentarfilms: das "statische Bild", d. h. die Anwendung der Insert-Technik, findet hier zum ersten Mal im dänischen Film eine effektive Lösung und eine längst entschwundene Zeit wird wieder lebendig.

Im Jahre 1956 konnte die "Nordisk Films Kompagni" ihr 50jähriges Jubiläum feiern. Das Jubiläum wurde mit dem ersten Farb-Spielfilm Dänemarks begangen: KISPUS (Liebesschabernack), unter Regie von Erik Balling. Der Film ist nicht von besonderer Bedeutung, er karikiert aber in treffender Weise gewisse Schauspieler- und Modekreise in Kopenhagen.

Zur gleichen Zeit fuhr Bjarne Henning-Jensen nach Grönland, um dort seinen Film HVOR BJERGENE SEJLER (Wo die Berge segeln) für Dansk Kulturfilm zu drehen. Die Aufgabe des Films war es, das Eindringen der modernen Zivilisation in das Land der Eskimos zu untersuchen. Verschiedene Instanzen verhinderten zum Teil eine wirklich tiefgehende Schilderung dieser Entwicklung. Trotzdem enthält der Film viele echte Details und Menschentypen. Zu erwähnen sind die wohlgelungenen Aufnahmen der gewaltigen Natur Grönlands. Durch diesen Erfolg ermutigt, fuhr auch Erik Balling im Sommer 1956 nach Grönland, um dort den eigentlichen Jubiläumsfilm QIVITOQ für die "Nordisk" zu drehen. Das Manuskript schrieb Leck Fischer, der kurz nach Beendigung seiner Arbeit starb. Das Drehbuch basiert auf einer ausgezeichneten Idee - schwache menschliche Naturen zerbrechen unter den harten Bedingungen der arktischen Umgebung -, wird aber durch eine Reihe klischeeartiger Einfälle und billiger Effekte verflacht. Die Schilderung der Grönländer ist von zweifelhaftem Charakter und fand den Widerspruch vieler Dänen. Die schön photographierte Natur und das fremdartige Milieu bewirkten dennoch, dass der Film in vielen Ländern ein Publikumserfolg wurde.

Abermals fand sich der beste Film des Jahres auf dem Gebiet der Kurzfilme: BALLETTENS BØRN (Kinder des Balletts, Astrid Henning-Jensen). Hier herrscht fast die Atmosphäre der Märchen Hans Christian Andersens. Der Film führt uns in die Welt des Kindes, wo alles noch seltsam und voller Wunder ist. Diese Welt dominiert, ohne verlogen zu wirken. Es ist eine wirklich grossartige Idee, die realistisch-wahrhafte, die märchenhaft-idyllische und die moderne zivilisierte Welt in einer Weise zusammenzuführen, die auch die Anteilnahme des erwachsenen Zuschauers findet.

Ähnliche Poesie fand sich auch in INGEN TID TIL KAERTEGN (Sei lieb zu mir), mit dem Anneliese Hovman 1957 ihr Regiedebüt gab. Dieser Episodefilm, der etwas den Stil der Italiener übernommen hat, handelt von der Flucht eines vernachlässigten kleinen Mädchens aus dem Elternhaus. Während seines Herumirrens trifft es verschiedene Menschen. Die Regisseurin vermischt zum Teil verschiedene Stilformen, aber trotz dieser Schwäche ist es ihr gelungen, einen poetischen Grundton in ihrem Film anklingen zu lassen.

V.

Seit den dreissiger Jahren dominierten im dänischen Spielfilm die sogenannten "Grossen Vier", d. h. die vier Produktionsgesellschaften: "Nordisk", "Paladium", "ASA" und "Saga-Film". Diese vier Firmen konnten ihre Filme in eigenen Premiertheatern herausbringen und dadurch gewisse Steuervorteile in Anspruch nehmen. In Dänemark ist der Betrieb eines Lichtspieltheaters von einer staatlichen Genehmigung abhängig und jeder Antragsteller kann nur ein einziges Kino betreiben. Dieses Verfahren soll verhindern, dass sich mit ausländischem Kapital Kino-Ketten bilden. Gegen 1950 kam noch eine fünfte Gesellschaft hinzu, die "Flamingo-Film" von Jacobsen, die bereits seit Kriegsende tätig war, aber erst jetzt die Genehmigung zum Betrieb ihres Premieren-Kino erhielt. Diese fünf Firmen beherrschten fast die gesamte dänische Filmproduktion, und unabhängige Produzenten konnten nur ganz selten zum Zuge kommen.

Zwei unabhängige Filmprodutionen im Jahre 1945 waren höchst ungewöhnlich, aber seitdem begann sich dieser Zustand zu wandeln. Die unabhängigen Produzenten gelangten zu grösserer Bedeutung und seit etwa 1960 haben sie ihren Einfluss soweit gestärkt, dass auch die grossen Firmen ihre Haltung ändern mussten.

Dass ein Film von einem unabhängigen Produzenten hergestellt wird, besagt allerdings noch nichts über seinen künstlerischen Rang. Gewisse unabhängige Produzenten kehrten nach einigen anerkennenswerten Erfolgen auch bald wieder zu den konventionellen Methoden zurück; andere hatten nie eine andere Absicht. Aufgeschreckt durch einige neue Produzenten und durch das Fernsehen, entschlossen sich dann auch die alten Produktionsgsellschaften zu neuen Versuchen und gaben jungen, unbekannten Regisseuren Gelegenheit zu arbeiten. Heute ist es durchaus möglich, dass die Produktionsgesellschaften für ihre Filme Mitarbeiter des Fernsehens verpflichten, was vor einigen Jahren völlig undenkbar gewesen wäre. Nebenbei setzen die traditionellen grossen Firmen allerdings ihre konventionelle Produktion fort. Diese Situation macht es augenblicklich sehr schwierig, eine Charakteristik des gesamten dänischen Films zu geben. Der dänische Film befindet sich zweifellos in einem Stadium des Aufbruchs, überall versucht man neue Wege zu finden. Einige davon werden sicher in einer Sackgasse enden, und es gibt hierfür schon Beispiele. Wohin die anderen Wege führen werden, ist schwer zu sagen. Ein einheitliches Gesicht des dänischen Films ist gegenwärtig noch nicht zu entdecken.

Einige Beispiele aus der Produktion der letzten Jahre sollen dazu dienen, die Lage zu beschreiben.

HARRY OG KAMMERTJENEREN (Harry und der Kammerdiener - 1962) war sicher ein Film, der die Entwicklung mit vorangetrieben hat. Zum ersten Mal wurde die Öffentlichkeit auf Bent Christensen aufmerksam. Er hatte bisher im traditionellen Stil für die grossen Gesellschaften gearbeitet und als Produzent mit einem recht konventionellen Film: PIGEN I SØGELYSET (Das Mädchen im Rampenlicht- 1959), debütiert.

Bei HARRY UND DER KAMMERDIENER war Bent Christensen Produzent und Regisseur und dieser Film zeigte zum erstenmal seine unverwechselbare Handschrift. Der Film handelt von einem alten Aufseher eines Autofriedhofes. Als Harry unerwartet eine Erbschaft macht, entschliesst er sich, einen Kammerdiener einzustellen, denn das war stets sein Traum. Durch das Zusammentreffen der Menschen so unterschiedlicher sozialer Herkunft ergeben sich für beide Teile weitreichende menschliche Konsequenzen. Ohne ein Kunstwerk zu sein, zeichnet sich der Film durch grosse menschliche Wärme aus und sein Hauptverdienst besteht, darin, dass er mit der herkömmlichen Art der leichten Unterhaltungsfilme gebrochen hat.

Die Produktionsfirma "Nordisk" überraschte kurz darauf mit einem beachtenswerten Film des Regisseurs Knud Lejf Thomsen, der vom Fernsehen kommt und mit diesem Film als Spielfilmregisseur debütierte. Es ist der Film DUELLEN (Das Duell), zu dem der Regisseur auch die Idee und das Drehbuch lieferte. Der Film bietet eine ideologische Auseinandersetzung. Er ist antimodernistisch, skeptisch und zweifelt an den moralischen Qualitäten des Menschen. Im Grunde neigt er einem reaktionären Standpunkt zu. Es ist ein Versuch der offenen Auseinandersetzung, die uns schliesslich nicht oft im Film begegnet. Der dänische Film verfügt nur über wenige Beispiele, die ein offene geistige Auseinandersetzung provozierten. Schliesslich sind die herkömmlichen Unterhaltungsfilm auch mit reaktionären Ideen angefüllt, doch sie versuchen dies stets auf geschickte Weise zu verbergen. Dieser Film stellt die Frage, ob der Mensch nicht wieder in das Stadium des Affen zurückgesunken sei. Moral und Ehrbegriffe sind in Auflösung begriffen, der alte Rittergeist, durch das Duell symbolisiert, existiert nicht mehr. Die Handlung des Films ist ein Duell - nicht mit Waffen - sondern mit Meinungen und Standpunkten. Es ist der Kampf zwischen der jungen und der alten Generation, ein Kampf der Geschlechter und ein Kampf des Menschen mit sich selbst. Alle Standpunkte erweisen sich als unhaltbar. Der moralische Auflösungsprozess endet im Selbstmord, begleitet von einem dämonischen Lachen, das von einem Tonband erklingt, während ein Schimpanse sich auf ein Trapez schwingt. Der Homo Sapiens ist auf die Bäume zurückgekehrt.

Obwohl dieser Film nicht die Stärke der Arbeiten Buñuels besitzt, gibt er jedoch durch bittere Ambivalenz und blutigen Hohn das Verlangen nach der besseren Moral zu erkennen und ist deshalb ernst zu nehmen.

Als Antwort der jungen Generation auf "Das Duell" war der Film WEEK END gedacht. Wie HARRY UND DER KAMMERDIENER ist er wieder von Bent Christensen produziert. Regie führt der junge Regisseur Palle Kjaerulff-Schmidt, der früher Regie-Assistent war und bereits für das Fernsehen arbeitete. Das Manuskript stammte von Klaus Rifbjerg, einem modernen Dichter, Kunstkritiker und Redakteur der literarischen Zeitschrift "Vindrosen". Diese Zeitschrift ist die Plattform der jungen dänischen Dichter. Der Film erzählt die Ereignisse eines Wochenendes. Drei junge Ehepaare treffen mit einem jungen Kunstmaler zusammen. Die Ehemänner: ein Professor, ein Lehrer und ein Handwerker. Sie begegnen sich in einem Ferienhaus, um den Alltag zu vergessen. Sie wollen ihren täglichen Problemen entfliehen, aber die Probleme folgen ihnen nach. Die Konflikte verschwinden nicht, sondern brechen um so heftiger hervor. Nach einem heiteren Abend gibt es einen gemeinsamen Spaziergang in den Wald der Mittsommernacht. Hier kommt es zu einer Jagd der Ehemänner auf die Frauen ihrer Freunde. Hinzu kommt der aussenstehende Kunstmaler, der sich dem Treiben anschliesst. Einer der Männer läuft Gefahr, übrig zu bleiben. Im Morgengrauen versucht dann einer der Ehemänner ein junges Mädchen zu vergewaltigen. Der Versuch misslingt. Auch die Bemühungen all der anderen Akteure scheitern, sobald sie ihre Gefühle zu realisieren versuchen. Diese jungen Rebellen haben keinerlei Beziehungen zum Leben und sie wissen nicht, wogegen sie ihre Rebellion richten sollen. Die grösste Sicherheit entfaltet der Handwerker, weil er den besseren Kontakt zur Wirklichkeit hat.

In WEEK END beschränken sich Autor und Regisseur jedoch nicht auf die blosse Feststellung der Lebensuntüchtigkeit, sondern zeigen eine nach Auswegen suchende junge Generation. Leider ist es dem Film nicht gelungen, seine Auffassungen mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck zu bringen. WEEK END ist nicht mit der gleichen künstlerischen Sicherheit und Konsequenz wie DAS DUELL gestaltet und seine Wirkung könnte deshalb eher zum Negativen ausschlagen.

Es ist sicher von grosser Bedeutung, dass die jungen Intellektuellen mit den Mitteln des Films ihre Standpunkte zu äussern versuchen, aber es fehlt ihnen bis jetzt noch die erforderliche Konsequenz. ;

Der Einfluss des Fernsehens macht sich am deutlichsten bemerkbar in dem Film GADEN UDEN ENDE (Strasse ohne Ende, Mogens Vemmer). Als Grundlage des Films dienen Tonband-Interviews mit Prostituierten Kopenhagens. Mit diesen Tonbandaufnahmen als Ausgangspunkt lässt der Regisseur dann junge (anonyme) Laien die Figuren gestalten. Aus dieser Kombination wird ein soziologisches Dokument etwa in Form eines dänischen "Cinéma vérité". Das Endbild ist natürlich erfunden und die Rolle des Regisseurs ist grösser als in der reinen Form des Cinéma vérité. Mogens Vemmer hat eine starke, mitreissende, künstlerische Filmdokumentation geschaffen, die wohl kaum in der internationalen Filmproduktion ein Gegenstück findet. Der Film ist vollständig frei von Spekulationen in Sachen Sex und Sensationen. Er verklärt nicht das Verhalten der Prostituierten, sondern sucht die Ursachen. Der Regisseur verurteilt sie nicht, verteidigt sie auch nicht, obschon er ihnen mit gewisser Sympathie begegnet. Und doch ist der Film ein Angriff; gegen die Ursachen der Prostitution, gegen jene Männer, die die Liebe kaufen, und noch entschiedener gegen jene, die die Prostituierten ausbeuten.

Der kühnste Versuch eines unabhängigen Produzenten und Regisseurs gelang Henning Carlsen mit dem Film DILEMMA. Er schildert die Konflikte eines jungen Engländers, der nach Südafrika kommt und glaubt, die Probleme der Rassendiskriminierung ignorieren zu können. Durch ein persönliches Erlebnis mit zwei Frauen wird er jedoch gezwungen, Stellung zu nehmen. Indem Henning Carlsen zum Ausdruck bringt, dass der Mensch soziale Verantwortung zu übernehmen hat, tat er den entscheidenden Schritt und gelangte damit über die eben erwähnten dänischen Filme weit hinaus. Der Film von Henning Carlsen hat denn auch bereits eine internationale Verbreitung und Anerkennung gefunden. Die Antwort des dänischen Spielfilms auf die Herausforderung durch das Fernsehen besteht bis jetzt teils in künstlerischen Filmen, die sich mit Problemen der Menschen unserer Zeit befassen, teils in Unterhaltungsfilmen achtbarer Qualität. Noch ist die Lage unausgeglichen, noch hat sich dieser neue Standpunkt nicht überall durchgesetzt.       Borge Trolle
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Die Errettung der physischen Realität von Siegfried Kracauer

Eine Kunst, die anders ist

Doch um uns die physische Realität erfahren zu lassen, müssen Filme wirklich zeigen, was sie zeigen. Diese Anforderung ist so wenig selbstverständlich, dass sie die Frage nach der Beziehung des Mediums zu den traditionellen Künsten aufwirft.

Streng genommen stellen Malerei, Literatur, Theater usw., soweit sie Natur überhaupt einbeziehen, diese gar nicht dar. Sie benutzen sie vielmehr als Rohmaterial für Werke, die den Anspruch auf Autonomie stellen. Im Kunstwerk bleibt vom Rohmaterial selbst nichts übrig; oder genauer gesagt, alles, was davon übrig bleibt, ist so geformt, dass es die Intentionen des Kunstwerks erfüllen hilft. In gewissem Sinne verschwindet das realistische Material in den Intentionen des Künstlers. Seine schöpferische Fantasie mag sich zwar an realen Gegenständen und Ereignissen entzünden, aber anstatt sie in ihrem amorphen Zustand zu bewahren, gestaltet er sie spontan im Einklang mit den Formen und Vorstellungen, die sie in ihm wachrufen.

Das unterscheidet den traditionellen Künstler, sei er Maler oder Dichter, vom Filmregisseur; ungleich diesem würde er aufhören, Künstler zu sein, wenn er Leben im Rohzustand, wie es von der Kamera wiedergegeben wird, seinem Werk einverleibte. Wie realistisch er auch sein mag, er überwältigt eher die Realität, als dass er sie registriert. Und da es ihm freisteht, seinen formgebenden Tendenzen zu folgen, kann sich sein Werk zu einem sinnvollen Ganzen entwickeln. Deshalb bestimmt die Bedeutung eines Kunstwerks die seiner Elemente; oder umgekehrt, seine Elemente haben Bedeutung insoweit, als sie zur Wahrheit oder Schönheit beitragen, die dem Werk als Ganzem innewohnt. Ihre Funktion ist nicht, die Realität widerzuspiegeln, sondern eine Vision von ihr zu vergegenwärtigen. Kunst geht von oben nach unten. Vom entlegenen Gesichtspunkt der fotografischen Medien aus gilt das auch für Werke, die sich in Naturnachahmung ergehen, vom Zufall Gebrauch machen oder nach Art des Dadaismus Kunst sabotieren. Der Zeitungsfetzen in einer geglückten Collage verwandelt sich aus einer Musterprobe äusserer Realität in den Ausdruck einer "Ideen-Konzeption", um Eisensteins Terminologie zu benutzen.

Die Invasion der Kunst in den Film vereitelt die dem Kino eigenen Möglichkeiten. Wenn Filme, die von den traditionellen Künsten beeinflusst sind, es aus Gründen ästhetischer Reinheit vorziehen, die vorhandene physische Realität unbeachtet zu lassen, dann versäumen sie eine dem filmischen Medium vorbehaltene Chance. Und wenn sie unsere sichtbare Welt abbilden, so zeigen sie diese trotzdem nicht, weil die Aufnahmen von ihr dann nur den Zwecken einer Komposition dienen, die sich als künstlerisch ausgeben lässt; infolgedessen büsst das in solchen Filmen verwendete realistische Material seinen Charakter als Rohmaterial ein. Hierher gehören nicht nur künstlerisch anspruchsvolle Experimentalfilme - zum Beispiel UN CHIEN ANDALOU von Buñuel und Dali -, sondern auch die unzähligen kommerziellen Filme, die, obwohl sie mit Kunst nicht das geringste zu schaffen haben, ihr dennoch einen halb-unbeabsichtigten Tribut zollen, indem sie den Spuren des Theaters folgen.

Niemand würde es einfallen, den Unterschied zwischen UN CHIEN ANDALOU, einem Zwitter von grossem künstlerischen Interesse, und der üblichen, sich ans Theater anlehnenden Filmproduktion zu verkleinern. Und doch stimmen das Routine-Erzeugnis und das Werk des Künstlers darin überein, dass sie das Medium den ihm eigentümlichen Bestrebungen entfremden. Verglichen mit UMBERTO D. oder CABIRIA, müssen theaterhafte Durchschnittsfilme und gewisse hochqualifizierte Avantgarde-Filme sozusagen in einen Topf geworfen werden, ungeachtet all dessen, was sie voneinander trennt. Filme dieser Art durchdringen nicht die materiellen Phänomene, die sie verwenden, sondern sie exploitieren sie; sie verwenden sie nicht in deren eigenem Interesse, sondern in der Absicht, ein sinnvolles Ganzes zu etablieren; und indem sie irgendein solches Ganzes herausstellen, verweisen sie uns von der materiellen Dimension zurück auf die der Ideologie. Kunst im Film ist reaktionär, weil sie Ganzheit symbolisiert und derart die Fortexistenz von Glaubensinhalten vorspiegelt, welche die physische Realität sowohl anrufen wie zudecken. Das Ergebnis sind Filme, die die herrschende Abstraktheit unterstützen. Ihr quantitatives Übergewicht lässt sich nicht leugnen, sollte aber nicht dazu führen, das Vorkommen von Filmen zu unterschätzen, die sich gegen die "Lüge der ,Kunst'" richten. Diese Filme reichen von schlichten Tatsachenfilmen - Wochenschauen oder rein faktischen Dokumentarfilmen - bis zu ausgewachsenen Spielfilmen, die von den formgebenden Bestrebungen ihrer Autoren erfüllt sind. Die Filme der ersten Gruppe, die gar nicht Kunst sein wollen, folgen einfach der realistischen Tendenz - womit sie wenigstens der Mindestforderung der "filmischen Einstellung" genügen. In den hier gemeinten Spielfilmen dagegen treffen die realistische und die formgebende Tendenz aufeinander; aber diese versucht niemals, sich von jener zu emanzipieren oder sie gar zu überwältigen, wie sie es in jedem theaterhaften Film tut. Man denke an POTEMKIN, die Stummfilmkomödien, GREED (GIER), mehrere Wildwest- und Gangsterfilme, LA GRANDE ILLUSION, die Hauptwerke des italienischen Neorealismus, LOS OLVIDADOS, LES VACANCES DE MONSIEUR HULOT, PATHER PANCHALI usw.: sie alle verlassen sich weitgehend auf die Suggestivkraft des von der Kamera eingeheimsten Rohmaterials; und sie alle entsprechen mehr oder weniger Fellinis Gebot, ein "guter Film" solle nicht auf die Autonomie eines Kunstwerks abzielen, sondern "Irrtümer in sich bergen wie das Leben, wie die Menschen".

Strebt das Kino Filmen dieser Art zu? Ihre besonderen Qualitäten haben jedenfalls die Tendenz, sich allenthalben in der Filmproduktion geltend zu machen, oft an Stellen, wo man sie am wenigsten erwarten würde. Immer wieder geschieht es, dass ein im übrigen theatralischer Film eine Szene enthält, deren Bilder wie aus Versehen ihre eigene Story erzählen und uns vorübergehend die manifeste Story des Films vergessen lassen. Man könnte von einem solchen Film sagen, er sei schlecht komponiert; aber sein angebliches Gebrechen ist in Wahrheit sein einziges Verdienst. Der Trend zu halb-dokumentarischen Filmen ist, teilweise, ein Zugeständnis an die Vorzüge dramatischer Dokumentarfilme. Die typische Komposition des Musicals spiegelt die prekären, wenn nicht antinomischen Beziehungen wider, die in der Tiefe des Mediums zwischen realistischer und formgebender Tendenz walten. Kürzlich sind Versuche gemacht oder vielmehr wieder aufgenommen worden, von literarischen Vorbildern und starrer Story-Konstruktion dadurch loszukommen, dass man die Schauspieler extemporieren lässt. (Ob diese Versuche dazu angetan sind, echte Zufallsereignisse einzuführen, ist freilich eine andere Frage.) All das besagt nicht, dass Kamera-Realität und "Kunst" einander ausschlössen. Aber wenn Filme, die wirklich zeigen, was sie zeigen, Kunst sind, dann sind sie Kunst von anderer Art. Film ist, zusammen mit Fotografie, tatsächlich die einzige Kunstart, die ihr Rohmaterial zur Schau stellt. Die besondere Kunst, die sich in filmischen Filmen bewährt, muss auf die Fähigkeit ihrer Schöpfer zurückgeführt werden, im Buch der Natur zu lesen. Der Filmkünstler gleicht einem fantasievollen Leser oder einem Entdecker, der von unstillbarer Neugierde getrieben wird. Er ist - um eine Definition zu wiederholen, die in einem früheren Zusammenhang gegeben wurde - "ein Mann, der mit dem Erzählen einer Geschichte beginnt, während der Dreharbeit aber so überwältigt wird von seinem eingeborenen Verlangen, die gesamte physische Realität einzubeziehen - und auch von dem Gefühl, er müsse sie einbeziehen, um die Story, jede Story überhaupt, filmgerecht zu erzählen - dass er sich immer tiefer in den Dschungel der materiellen Phänomene hineinwagt, auf die Gefahr hin, sich unrettbar darin zu verlieren, wenn er nicht mittels grosser Anstrengungen zur Landstrasse zurückfindet, die er verlassen hat."

Momente des täglichen Lebens

Der Kinobesucher folgt den Bildern auf der Leinwand in einem traumartigen Zustand. Man darf also annehmen, dass er physische Realität in ihrer Konkretheit wahrnimmt; genau gesagt, er erfährt einen Fluss zufälliger Ereignisse, verstreuter Objekte und namenloser Formen. Im Kino, ruft Michael Dard aus, "sind wir Brüder der Giftpflanzen, der Kieselsteine _..." In der Tat bewirkt sowohl die Affinität des Films zum physischen Detail wie auch der Niedergang der Ideologie, dass wir, deren innere Welt aus Fragmenten besteht, nicht so sehr Ganzheiten in uns aufnehmen als "kleine Momente des materiellen Lebens" (Balázs). Nun kann aber materielles Leben zu verschiedenen Dimensionen gehören. Die Frage ist, ob die "kleinen Momente", denen wir uns ausliefern, einer besonderen Lebenssphäre zugerechnet werden müssen.

In Spielfilmen sind diese kleinen Einheiten Elemente von Handlungen, die sich über alle erdenklichen Sphären erstrecken mögen. Sie können versuchen, die Vergangenheit zu rekonstruieren, können in Fantasien schwelgen, einen Glauben propagieren, einen individuellen Konflikt, ein merkwürdiges Abenteuer oder was immer darstellen. Man betrachte irgendein Element eines solchen Story-Films. Zweifellos hat es die Aufgabe, der Story zu dienen, zu der es gehört; aber gleichzeitig affiziert es uns auch stark, vielleicht sogar in erster Linie, als ein fragmentarisches Moment der sichtbaren Realität, umgeben von einem Hof unbestimmbarer Bedeutungen. Und in dieser Eigenschaft löst sich das Element von dem Konflikt, dem Glauben, dem Abenteuer ab, dem das Ganze der Story zustrebt. Ein Gesicht auf der Leinwand kann uns als eine ungewöhnliche Manifestation von Furcht oder Glück in seinen Bannkreis ziehen, ganz ungeachtet der Ereignisse, die seinen Ausdruck motivieren. Eine Strasse, die als Hintergrund zu einem Streit oder einer Liebesaffäre dient, kann sich in den Vordergrund drängen und eine berauschende Wirkung ausüben.

Strasse und Gesicht eröffnen dann eine Dimension, die viel weiter reicht als die der Spielhandlung, der sie dienen. Diese Dimension erstreckt sich sozusagen unterhalb des Überbaus der spezifischen Story-Inhalte; sie besteht aus Momenten, die in unser aller Reichweite liegen, Momenten, die so allgemein oder alltäglich sind wie Geburt und Tod, wie ein Lachen oder das "Zittern der im Winde sich regenden Blätter". Gewiss, was in jedem dieser Momente geschieht, sagt Erich Auerbach, " _... betrifft zwar ganz persönlich die Menschen, die in ihm leben, aber doch auch eben dadurch das Elementare und Gemeinsame der Menschen überhaupt; gerade der beliebige Augenblick ist vergleichsweise unabhängig von den umstrittenen und wankenden Ordnungen, um welche die Menschen kämpfen und verzweifeln; er verläuft unterhalb derselben, als tägliches Leben." Diese Beobachtung bezieht sich zwar auf den modernen Roman, gilt aber nicht weniger für den Film - falls man, was in diesem Zusammenhang möglich ist, die Tatsache ausklammert, dass die Elemente des Romans das seelisch-geistige Leben in einer Weise erfassen, die dem Film versagt ist.

Auerbachs beiläufiger Hinweis auf das "tägliche Leben" enthält einen wichtigen Fingerzeig. Von den kleinen Zufalls-Momenten, die dir und mir und dem Rest der Menschheit gemeinsame Dinge betreffen, kann in der Tat gesagt werden, dass sie die Dimension des Alltagslebens konstituieren, dieser Matrize aller anderen Formen der Realität. Es ist eine sehr substantielle Dimension. Wenn man für einen Augenblick artikulierte Glaubensinhalte, ideologische Ziele, besondere Unternehmungen und dergleichen beiseite lässt, so bleiben immer noch die Sorgen und Befriedigungen. Zwiste und Feste, Bedürfnisse und Bestrebungen, die jeder Tag mit sich bringt. Als Produkte von Gewohnheiten und mikroskopisch kleinen Wechselwirkungen bilden sie ein elastisches Gewebe, das sich nur langsam ändert, das Kriege, Epidemien, Erdbeben und Revolutionen überlebt. Filme tendieren dazu, dieses Gewebe des täglichen Lebens zu entfalten, dessen Komposition je nach Ort, Volk und Zeit wechselt. So helfen sie uns, unsere gegebene materielle Umwelt nicht nur zu würdigen, sondern überall hinauszudehnen. Sie machen aus der Welt virtuell unser Zuhause.

Das wurde schon in den früheren Tagen des Mediums gesehen. Der lange in Amerika lebende deutsche Kritiker Hermann G. Scheffauer sagte bereits 1920 voraus, der Mensch werde durch den Film "die Erde kennenlernen wie sein eigenes Haus, auch wenn er niemals über die engen Grenzen seines Dorfes hinauskommt." Mehr als dreissig Jahre später äussert sich Gabriel Marcel in ähnlicher Weise. Er spricht dem Film, besonders dem Dokumentarfilm, die Kraft zu, "unsere Beziehung zu dieser Erde, die unsere Wohnstätte ist", zu vertiefen und inniger zu gestalten. "Und ich möchte noch sagen", fügt er hinzu, "dass mir, der ich dazu neige, dessen müde zu werden, was ich gewohnheitsmässig sehe - das heisst, was ich in Wirklichkeit gar nicht mehr sehe - diese dem Kino eigene Kraft buchstäblich erlösend (salvatrice) erscheint."

Materielle Evidenz

Indem das Kino uns die Welt erschliesst, in der wir leben, fördert es Phänomene zutag deren Erscheinen im Zeugenstand folgenschwer ist. Es bringt uns Auge in Auge mit Dingen, die wir fürchten. Und es nötigt uns oft, die realen Ereignisse, die es zeigt, mit den Ideen zu konfrontieren, die wir uns von ihnen gemacht haben.

Das Haupt der Medusa

Wir haben in der Schule die Geschichte vom Haupt der Medusa gelernt, deren Gesicht mit seinen Riesenzähnen und seiner heraushängenden Zunge so schrecklich war, dass bei seinem Anblick Mensch und Tier zu Stein erstarrten. Als Athene Perseus beauftragte, das Ungeheuer zu erschlagen, warnte sie ihn, er dürfe niemals das Gesicht selber anzusehen, nur sein Spiegelbild im blanken Schild, den sie ihm gab. Perseus folgte dem Rat der Athene und enthauptete die Medusa mit einer Sichel, die Hermes zu seiner Ausrüstung beigesteuert hatte.

Die Moral des Mythos ist natürlich, dass wir wirkliche Greuel nicht sehen und auch nicht sehen können, weil die Angst, die sie erregen, uns lähmt und blind macht; und dass wir nur dann erfahren werden, wie sie aussehen, wenn wir Bilder von ihnen betrachten, die ihre wahre Erscheinung reproduzieren. Diese Bilder sind nicht von der Art jener, in denen künstlerische Fantasie unsichtbares Grauen zu gestalten sucht, sondern haben den Charakter von Spiegelbildern. Unter allen existierenden Medien ist es allein das Kino, das in gewissem Sinne der Natur den Spiegel vorhält und damit die "Reflexion" von Ereignissen ermöglicht, die uns versteinern würden, träfen wir sie im wirklichen Leben an. Die Filmleinwand ist Athenes blanker Schild.

Aber das ist nicht alles. Der Mythos gibt ausserdem zu verstehen, dass die Abbilder auf dem Schild oder der Leinwand Mittel zu einem Zweck sind; sie sollen den Zuschauer befähigen - mehr noch: dazu antreiben -, das Grauen zu köpfen, das sie spiegeln. Viele Kriegsfilme schwelgen in Grausamkeiten aus eben diesem Grund. Erfüllen solche Filme ihren Zweck? Im Mythos selber bedeutet die Enthauptung der Medusa noch nicht das Ende ihrer Herrschaft. Athene, so wird uns berichtet, befestigte den entsetzlichen Kopf an ihrer Ägis, um ihren Feinden Schrecken einzujagen. Perseus, dem Betrachter des Spiegelbildes, gelang es nicht, das Gespenst für immer zu bannen.

So erhebt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, die Bedeutung solcher Schreckensbilder in den ihnen zugrundeliegenden Intentionen oder ihren Ungewissen Effekten zu suchen. Man denke an Georges Franjus LE SANG DES BETES, einen Dokumentarfilm über ein Pariser Schlachthaus: Pfützen von Blut breiten sich auf dem Boden aus, während Pferde und Kühe methodisch geschlachtet werden; eine Säge zerteilt Tierkörper, die noch voll warmen Lebens sind; und da ist die unergründliche Aufnahme der in Reihen angeordneten Kalbsköpfe - eine Art rustikalen Arrangements, das den Frieden eines geometrischen Ornaments atmet. Es wäre töricht anzunehmen, diese unerträglich widrigen Bilder hätten die Absicht, die Botschaft des Vegetariertums zu verkünden; ebensowenig können sie als ein Versuch gebrandmarkt werden, dunkle Sehnsüchte nach Szenen der Zerstörung zu befriedigen.

Die Spiegelbilder des Grauens sind Selbstzweck. Und als Bilder, die um ihrer selbst willen erscheinen, locken sie den Zuschauer, sie in sich aufzunehmen, um seinem Gedächtnis das wahre Angesicht von Dingen einzuprägen, die zu furchtbar sind, als dass sie in der Realität wirklich gesehen werden könnten. Wenn wir die Reihen der Kalbsköpfe oder die Haufen gemarterter menschlicher Körper in Filmen über Nazi-Konzentrationslager erblicken - und das heisst: erfahren -, erlösen wir das Grauenhafte aus seiner Unsichtbarkeit hinter den Schleiern von Panik und Fantasie. Diese Erfahrung ist befreiend insofern, als sie eines der mächtigsten Tabus beseitigt. Perseus' grösste Tat bestand vielleicht nicht darin, dass er die Medusa köpfte, sondern dass er seine Furcht überwand und auf das Spiegelbild des Kopfes im Schild blickte. Und war es nicht gerade diese Tat, die ihn befähigte, das Ungeheuer zu enthaupten?

Konfrontationen

Bestätigende Bilder - Filme oder Filmpassagen, die sichtbare materielle Realität mit unseren Vorstellungen von ihr konfrontieren, können diese Vorstellungen entweder bestätigen oder Lügen strafen. Die erste Möglichkeit ist von geringerem Interesse, weil sie selten echte Bestätigungen einbeschliesst. Bestätigende Bilder werden in der Regel nicht dazu benutzt, eine Idee auf ihren Realitätsgehalt hin zu prüfen, sondern sollen uns dahin bringen, dass wir sie ohne zu fragen annehmen. Man erinnere sich der offen zur Schau gestellten Glückseligkeit der Kolchosenbauern in Eisensteins GENERALLINIE, der begeisterten Menge, die Hitler in Nazifilmen zujubelt, der wunderbaren religiösen Wunder in Cecil B. De Milles THE TEN COMMANDMENTS (DIE ZEHN GEBOTE) usw. (Trotz allem, welch unvergleichlicher showman De Mille doch war!)

All das ist fabrizierte Evidenz. Diese Scheinbestätigungen sollen uns glauben machen, nicht sehen lassen. Manchmal enthalten sie eine stereotype Aufnahme, die ihr Wesen schlagartig erhellt: ein Gesicht ist so gegen das Licht fotografiert, dass Haar und Wange von einer leuchtenden Linie umrahmt sind, die wie ein Heiligenschein anmutet. Die Aufnahme hat nicht eine enthüllende, vielmehr eine schmückende Funktion. Wann immer Bilder diese Funktion annehmen, können wir ziemlich sicher sein, dass sie dazu dienen, einen Glauben zu propagieren oder den Konformismus zu ermutigen. Im übrigen versteht es sich, dass nicht alle bestätigenden Bilder trügerisch sind. In LE JOURNAL D' UN CURE DE CAMPAGNE beglaubigt das Gesicht des jungen Priesters mit eigentümlicher Kraft die ehrfurchtgebietende Realität seines religiösen Glaubens, seiner spirituellen Anfechtungen.

Entlarvungen - Natürlich sind bestätigende Bilder von geringerem Interesse als solche, die unsere Vorstellungen von der physischen Welt in Frage stellen. Nur dann können Filme die Realität, wie die Kamera sie einfängt, mit den falschen Vorstellungen, die wir uns über sie machen, konfrontieren, wenn die ganze Beweislast den Bildern und allein ihnen zufällt. Und da es ihre dokumentarische Qualität ist, auf die es dann ankommt, stehen derartige Konfrontationen sicherlich im Einklang mit der filmischen Einstellung; tatsächlich können sie ebenso direkt wie der Fluss des materiellen Lebens als Manifestation des Mediums gelten.

Kein Wunder, dass viele der vorhandenen Filme voll solcher Konfrontationen sind, Die Stummfilm-Komödie, wo sie zu komischen Effekten benutzt werden, hat sie aus den technischen Eigenschaften des Kinos entwickelt. In einer Schiffs-Szene von Chaplins THE IMMIGRANT macht ein von hinten gesehener Reisender lauter Bewegungen, die auf Seekrankheit schliessen lassen; kaum aber wird er von der entgegengesetzten Seite gezeigt, so entpuppt er sich als ein Angler. Eine Änderung der Kamera-Position, und die Wahrheit kommt an den Tag. Es ist ein immer wiederkehrender Gag - eine Aufnahme klärt irgendein Missverständnis auf, das durch die vorangegangenen Aufnahmen absichtlich genährt worden ist.

Ob es sich nun um Spass oder Kritik handelt, das Prinzip bleibt dasselbe. Wie zu erwarten, war D. W. Griffith der erste, der die Kamera als ein Mittel der Entlarvung benutzte. Er betrachtete es als seine Aufgabe, "die Menschen sehen zu lehren"; und er war sich darüber klar, dass diese Aufgabe nicht nur die Darstellung unserer Umwelt, sondern auch die Aufdeckung von Vorurteilen verlangte. Unter den vielen Modellen, die er zur Zeit des Ersten Weltkrieges schuf, befindet sich jene Szene aus BROKEN BLOSSOMS, in der er das noble Gesicht des chinesischen Helden seines Films mit den Nahaufnahmen zweier Missionare kombiniert, deren Gesichter salbungsvolle Scheinheiligkeit ausstrahlen. Griffith konfrontiert so den Glauben an die Überlegenheit des weissen Mannes mit der Realität, auf die er sich angeblich gründet, und denunziert ihn durch eben diese Konfrontation als ein unhaltbares Vorurteil.

Dem Beispiel, das er gab, sind viele in der Absicht gefolgt, soziale Ungerechtigkeit und die mit ihr verbundenen Ideologien blosszustellen. Béla Balázs, der um die "innerste Tendenz (des Kinos) _... zur Enthüllung und Entlarvung" weiss, preist die Eisenstein- und Pudowkin-Filme der zwanziger Jahre als den Gipfel der Filmkunst, weil sie auf Konfrontationen dieser Art abzielen.

Muss ausdrücklich gesagt werden, dass viele ihrer scheinbaren Enthüllungen in Wahrheit vehemente Propaganda-Botschaften sind? Aber so wenig wie die öffentliche Meinung kann dokumentarisches Film-Material unbegrenzt manipuliert werden; hier und da muss etwas Wahres ans Licht kommen. In DIE LETZTEN TAGE VON ST. PETERSBURG zum Beispiel erhellt die Szene mit dem jungen Bauern, der an den Säulenpalästen der zaristischen Hauptstadt vorbeigeht, blitzartig das Bündnis, das autokratische Gewaltherrschaft mit architektonischem Glanz zu schliessen pflegt.

Es ist nicht nur das Sowjet-Kino, das Kamera-Exerzitien in sozialer Kritik begünstigt. John Ford zeigt das Elend herumziehender Landarbeiter in THE GRAPES OF WRATH, und Jean Vigo geisselt in A PROPOS DE NICE das Dasein reicher Müssiggänger, indem er Zufalls-Momente ihres leeren Treibens darstellt. Eine der vollendetsten Leistungen auf diesem Gebiet ist Georges Franjus L' HOTEL DES INVALIDES, ein Dokumentarfilm, der im Auftrag der französischen Regierung gedreht wurde. Oberflächlich gesehen, ist der Film nichts weiter als ein schlichter Bericht über eine Führung durch das historische Gebäude; von Touristen umgeben, ziehen die Führer, alte Kriegsinvaliden, von einem Ausstellungsstück zum anderen, wobei sie sich über Napoleon, die gepanzerten Ritter und die siegreichen Schlachten verbreiten. Ihre abgeleierten Kommentare sind aber mit Bildern synchronisiert, die sie in subtiler Weise ihrer Bedeutung entleeren, so dass das Ganze zu einer Anklage gegen Militarismus und abgestandenen Heldenkult wird.

Oder es wird physische Realität in der Absicht exponiert, das Gewebe von Konventionen zu durchdringen. Erich von Stroheim lässt in GREED und anderswo seine Kamera auf den krassesten Manifestationen des Lebens verweilen - all dem, was sich unter der dünnen Schicht der Zivilisation umtreibt. In Chaplins Film MONSIEUR VERDOUX, der in Entlarvungen geradezu schwelgt, steht die Totalaufnahme von dem See mit dem kleinen Kahn für den Traum eines Sonntagsfotografen von Frieden und Glück; aber der Traum wird durch die sich unmittelbar anschliessende Nahaufnahme des Kahns zerstört, in dem Chaplin als Monsieur Verdoux gerade im Begriffe ist, ein weiteres Opfer zu ermorden. Wer genau hinsieht, wird des Grauens gewahr, das hinter der Idylle lauert. Dieselbe Moral kann Franjus Schlachthaus-Film entnommen werden, der tiefe Schatten auf den Prozess des Lebens wirft.

Solche Entlarvungen haben eine Eigenschaft mit filmischen Motiven gemeinsam: ihre ansteckende Kraft ist so stark, dass durch ihre blosse Gegenwart ein im übrigen theaterhafter Film in so etwas wie einen richtigen Film verwandelt werden kann. Ingmar Bergmans DET SJUNDE INSEGLET (DAS SIEBENTE SIEGEL) ist im wesentlichen ein Mysterienspiel, aber was sich hier an mittelalterlichem Glauben und Aberglauben zur Schau stellt, wird durchweg vom forschenden Geist des Ritters und dem ausgesprochenen Skeptizismus seines Schildknappen in Frage gezogen. Beide Charaktere neigen zu einer realistischen Einstellung. Und ihre säkularen Zweifel ziehen Konfrontationen nach sich, die den Film bis zu einem gewissen Grade dem Medium anpassen.

Von unten nach oben

Alles, was bisher gesagt wurde, bezieht sich auf Elemente der Momente der physischen Realität, wie sie sich auf der Leinwand entfalten. So sehr nun die Bilder materieller Momente in sich selber bedeutungsvoll sind, in Wirklichkeit begnügen wir uns nicht damit, sie in uns aufzunehmen, sondern fühlen uns dazu gedrängt, das, was sie uns erzählen, in Zusammenhänge einzufügen, die das Ganze unserer Existenz betreffen. Michael Dard formuliert das so: "Indem das Kino alle Dinge aus ihrem Chaos heraushebt, bevor es sie wieder ins Chaos der Seele eintaucht, erzeugt es in dieser grosse Wellen, jenen vergleichbar, die ein sinkender Stein auf der Oberfläche des Wassers verursacht."

Diese grossen in der Seele erregten Wellen treiben Vorstellungen und Urteile über den Sinn der von uns konkret erfahrenen Dinge ans Ufer. Filme, die unseren Wunsch nach solchen Propositionen befriedigen, können sehr wohl in die Dimension der Ideologie hineinreichen. Doch wenn sie dem Medium gemäss sind, werden sie nicht von einer vorgefassten Idee zur materiellen Welt herabsteigen, um diese Idee zu erhärten; umgekehrt, sie beginnen damit, physische Gegebenheiten auszukundschaften, und arbeiten sich dann in der von ihnen gewiesenen Richtung nach oben, zu irgendeinem Problem oder Glauben hin. Das Kino ist materialistisch gesinnt; es bewegt sich von "unten" nach "oben". Die Bedeutung seines natürlichen Hangs für eine Bewegung in dieser Richtung kann kaum überschätzt werden. Auf ihn führt Erwin Panofsky, der grosse Kunsthistoriker, den Unterschied zwischen Film und traditioneller Kunst zurück: "Die Verfahrensweisen aller früheren repräsentativen Kunstgattungen entsprechen zu einem höheren oder geringeren Grade einer idealistischen Konzeption der Welt. Diese Künste operieren sozusagen von oben nach unten, nicht von unten nach oben; sie beginnen mit einer Idee, die in formlose Materie projiziert wird, und nicht mit den Objekten, aus denen die physische Welt besteht _... Das Kino, und nur das Kino, wird jener materialistischen Interpretation des Universums gerecht, die, ob wir es nun mögen oder nicht, die heutige Zivilisation durchdringt."

Geleitet vom Film, nähern wir uns also den Ideen, wenn überhaupt, nicht länger auf Strassen, die durch die Leere führen, sondern auf Pfaden, die sich durchs Dickicht der Dinge winden. Während der Theaterbesucher einem Schauspiel folgt, das in erster Linie seinen Geist beansprucht und durch diesen erst sein Empfindungsvermögen, befindet sich der Kinobesucher in einer Situation, in der er nur dann Fragen stellen und nach Antworten tasten kann, wenn er physiologisch saturiert ist. "Das Kino", sagt Lucien Sève _... verlangt vom Zuschauer eine neue Form der Aktivität: sein durchdringendes Auge muss sich vom Körperlichen zum Geistigen bewegen." Auch Charles Dekeukeleire weist auf die Bedeutung dieser Aufwärtsbewegung hin: "Wenn die Sinne einen Einfluss auf unser geistiges Leben ausüben, dann wird das Kino dadurch, dass es die Zahl und Qualität unserer Sinneswahrnehmungen vermehrt, zu einem mächtigen Ferment der Spiritualität."

"The Family of Man"

Und wie steht es mit dem spirituellen Leben selber? Obwohl die Ideen, die Filme auf ihrem Weg von unten nach oben entwickeln, ausserhalb des Bereiches dieses Buches liegen, sind doch zwei sie betreffende Bemerkungen angezeigt, und sei es nur, um das Bild abzurunden. Zunächst gilt, dass alle Versuche, eine Hierarchie unter diesen Ideen oder Botschaften zu errichten, bisher fehlgeschlagen sind. Béla Balázs' These, das Kino sei nur dann wirklich Kino, wenn es revolutionären Zwecken diene, ist so unhaltbar, wie es die ihr verwandten Ansichten der Neorealisten und anderer Gruppen sind, die eine enge Beziehung des Mediums zum Sozialismus oder Kollektivismus postulieren. Auch Griersons Definition des Films, besser des Dokumentarfilms, als eines erzieherischen Instruments, eines Mittels zur Förderung verantwortungsbewussten Bürgertums, schliesst nicht alle Möglichkeiten ein. Zahllose andere Propositionen sind gleichermassen legitim. Da ist, um nur ein paar zu nennen, Fellinis intensive Bemühung um das verlassene, obdachlose Individuum auf der Suche nach Sympathie und Sinn; Buñuels Verstricktsein in die Grausamkeiten und Gelüste, welche die Rumpelkammern unserer Existenz füllen; Franjus Entsetzen über den Abgrund, der unser tägliches Leben ist, jenes Entsetzen, das einen jungen Menschen befällt, wenn er nachts aufwacht und plötzlich die Gegenwart des Todes spürt, das Beieinander von Lachen und Schlachten _...

Eine der filmischen Propositionen verdient besondere Erwähnung, weil sie die gegenwärtige Annäherung zwischen den Völkern reflektiert und bejaht. Erich Auerbach spielt auf sie an, wenn er aus seiner Beobachtung, dass die im modernen Roman dargestellten Zufallsmomente des Lebens "das Elementare und Gemeinsame der Menschen überhaupt" betreffen, folgert: "Es muss aus der absichtslosen und vertiefenden Darstellung der gedachten Art zu entnehmen sein, wie sehr sich, unterhalb der Kämpfe, schon jetzt die Unterschiede zwischen den Lebens- und Denkformen der Menschen verringert haben _... Unterhalb der Kämpfe und auch durch sie vollzieht sich ein wirtschaftlicher und kultureller Ausgleichsprozess; es ist noch ein langer Weg bis zu einem gemeinsamen Leben der Menschen auf der Erde, doch das Ziel beginnt schon sichtbar zu werden _..." Auerbach hätte hinzufügen können, dass die Aufgabe, die Menschheit auf dem Weg zu diesem Ziel sichtbar zu machen, den fotografischen Medien vorbehalten ist; sie allein sind in der Lage, die materiellen Aspekte gemeinsamen täglichen Lebens an vielen Orten wiederzugeben. Es ist kein Zufall, dass die Idee der Ausstellung The Family of Man von einem geborenen Fotografen stammt. Und einer der Gründe für den Welterfolg von Edward Steichens Ausstellung muss eben der Tatsache zugeschrieben werden, dass sie aus Fotografien besteht - Bildern, in deren Natur es liegt, die Realität der von ihnen gemeinten Vision zu beglaubigen. Ihres fotografischen Charakters wegen sind Filme dazu prädestiniert, eben dieses Thema aufzugreifen. Manche tun es tatsächlich. So demonstriert der Film WORLD WITHOUT END von Paul Rotha und Basil Wright die Ähnlichkeit zwischen Mexikanern und Siamesen, demonstriert sie umso überzeugender, als er die Grenzen des Nivellierungsprozesses anerkennt: die verfallene Dorfkirche bringt es fertig zu überleben, und der alte Buddha meditiert über die Geschwindigkeit der Lastwagen.

Oder man denke an Satyajit Rays APARAJITO, einen Episodenfilm, der reich ist an Szenen wie dieser: Die Kamera richtet sich auf die ornamentale Rinde eines alten Baums und senkt sich dann langsam zum Gesicht von Apus kranker Mutter herab, die sich nach ihrem Sohn in der grossen Stadt sehnt. In der Ferne fährt ein Zug vorbei. Die Mutter geht schwerfällig zum Hause zurück, wo sie sich einbildet, Apu "Mutter" rufen zu hören. Kommt er heim zu ihr? Sie steht auf und sieht hinaus ins leere nächtliche Dunkel, das Wasserreflexe und tanzende Irrlichter zum Glühen bringen. Indien ist in dieser Episode, aber nicht nur Indien. "Was mir bemerkenswert an APARAJITO erscheint", schreibt ein Leser der New York Times an den Redakteur der Filmseite, "ist dies: man sieht diese Gesichter in ihrer exotischen Schönheit, und man hat dennoch das Gefühl, als passierte dieselbe Geschichte jeden Tag irgendwo in Manhattan oder Brooklyn oder der Bronx." Wie sehr diese Propositionen sich ihrem Inhalt nach unterscheiden mögen, sie alle durchdringen die vergängliche physische Realität, brennen durch sie hindurch. Doch um es nochmals zu sagen: Ihr Bestimmungsziel gehört nicht mehr zu den Gegenständen dieser Untersuchung.

(Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages entnommen dem Buche THEORIE DES FILMS VON SIEDFRIED KRACAUER)
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Filmliteratur

Terry Ramseye: A Million And One Nights, A History of the Motion Picture Through 1965, New York 1964, $ 3.95, Paperback, 868 Seiten.

Ramseyes Geschichte des frühen amerikanischen Films - bekannt als Standardwerk und Pionierleistung der Filmgeschichtsschreibung - erschien erstmals im Jahre 1926; bis zu diesem unveränderten Nachdruck war dieses wichtige Buch kaum noch zugänglich.

Seine Bedeutung liegt in der unmittelbaren Auswertung des Quellenmaterials. Spätere Untersuchungen ergaben zwar, dass Ramsayes Ausführungen nicht in allen Punkten einer Nachprüfung standhielten, z. B. was Edisons Erfindung und seine vielen Prozesse anbelangt. Gordon Hendricks hat Edisons eigene Darstellung, die Ramseye übernahm, weitgehend berichtigt - wenn auch 35 Jahre später. Die Unmenge des mitgeteilten Materials und die Dokumentierung des Geschehens auf Grund von Äusserungen der unmittelbar Beteiligten machen jedoch die Fehleinschätzungen Ramseyes durchaus wieder wett.

René Jeanne et Charles Ford: Sjöström;
Vê-Hô: Mizoguchl;

Sacha Ezratty: Kurosawa;

Paris 1963/64, je Band NF 6.20.

Die vorzüglichen Monographien der éditions universitaires sind schon wiederholt in dieser Zeitschrift vorgestellt worden. Auch die drei neuen Bände stehen den bisherigen Veröffentlichungen in nichts nach und geben wie stets einen umfassenden Einblick in das Werk des jeweiligen Regisseurs. Hervorzuheben ist noch, dass der schon einmal in der Arbeit über de Sica gemachte Versuch, die Filme des Regisseurs auch mit den anderen Produktionen seines Landes in Beziehung zu setzen, jetzt wieder aufgenommen wurde. So bei Sjöström, dessen Bedeutung für den schwedischen Film eingehend dargestellt und dessen Wirken mit dem Mauritz Stillers vergleichend untersucht wird. Die Arbeit über Kurosawa bringt ausserdem eine kleine Chronologie des japanischen Films und ein Lexikon, das die dem Europäer unbekannt gebliebenen japanischen Begriffe kurz erläutert.

Fritz Kempe: Film - Technik, Gestaltung, Wirkung, Braunschweig 1958, 196 Seiten.

Dieses Buch will jenen praktische Hilfe leisten, "die sich als Eltern und Pädagogen, als Priester und Jugendleiter um die Bewältigung der durch die Massenmedien gestellten Aufgaben bemühen". So das Vorwort.

Dieser Beschränkung entspricht durchaus das Ergebnis: über eine populäre, vereinfachende Darstellung der Grundlagen, Mittel und Möglichkeiten des Films gelangt Kempe an keiner Stelle hinaus. Störend wirken vor allem die Schreibweise ("und die Caine verliert ihre Schicksalhaftigkeit, wenn die Kamera plötzlich von der verderbenumtosten Kommandobrücke irgendwo an den Himmel springt, um uns ein schaukelndes Dampferchen zu zeigen") und der Eifer des Autors, den Zeigefinger allzu oft warnend zu erheben, vor allem, wenn 's mal nicht ganz keimfrei auf der Leinwand zugeht. Des Pädagogen Grenzen zeichnen sich spätestens dann ab, wenn er anhebt, den "schlechten Schlechten-, guten Schlechten-, schlechten Gutendem guten Guten-Film" gegenüberzustellen und diese freihändig zu definieren. Und dann gibt es natürlich noch den "schönen Film", meint Kempe.

Mehr nicht. Eigentlich doch schade.

Internationale Filmbibliographie 1963-1964, Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Filmwissenschaft und Filmrecht. Band 1/Supplement 1; Zürich 1964, 71 Seiten.

Schon ein Jahr nach Erscheinen des Hauptbandes, der die internationale Filmliteratur der Jahre 1952 bis 1962 bibliographisch erfasste, legt der Verlag Rohr nun den ersten Ergänzungsband vor. (Hauptband s. Heft 40 )

Dieser neue Band ist-entsprechend dem Hauptband - in 12 Abteilungen eingerichtet: von "Dokumentationen" über Filmgeschichte, Szenarios und Biographien bis hin zu filmrechtlichä und filmwirtschaftlichen Publikationen vermittelt diese Bibliographie einen wohl lückenlosen Überblick. Bei einigen Titeln sollte der Herausgeber jedoch auch die (billigeren) Paperback-Ausgaben mitverzeichnen; auch im Rahmen der bewusst getroffenen Auswahl bedarf die Abteilung "Filmzeitschriften" dringend der Erweiterung.       Wy.

STERNE OHNE GLANZ

"Die von ihnen verkörperten Gestalten bilden ein besonderes Kapitel in der Mythologie des Films, aber sie selbst wurden nicht zum Mythos, weil ihnen notwendigerweise eine Starqualität abging: die scheinbare Identität von wirklicher und Leinwandexistenz." So eine Fussnote in
Enno Patalas: Sozialgeschichte der Stars,
Marion von Schröder Verlag, Hamburg, DM16,80.

Es ist die Rede von Boris Karloff, Lon Chaney, Peter Lorre und Bela Lugosi, jenen Schauspielern also, die als irre Wissenschaftler, geile Vampire oder anderweitig gruslige Ungeheuer über die Kinoleinwand besonders der dreissiger Jahre huschten. Und natürlich scheint diese These erst einmal zu stimmen, da sich zwischen der totalen Irrationalität und dem Realen keine Übereinstimmung denken lässt. Aber gerade hier liesse sich ein typisches Beispiel für die Mythologisierung eines Schauspielers finden. Ich meine Bela Lugosi, der auf dem Wege über Deutschland - er spielte in JANUSKOPF von Murnau, 1920 - nach Hollywood kam. Der 1882 geborene Ungar wurde 1931 mit einem Schlage berühmt, als er in Tod Brownings DRACULA - eine Verfilmung des gleichnamigen Buches von Bram Stoker, das auch als Vorlage zu NOSFERATU von Murnau gedient hatte - die Titelrolle, also jenen vampirischen Grafen, spielte.

In den kommenden Jahren spielte Bela Lugosi die Rolle dieses Unholds unzählige Male auf der Leinwand und auf der Bühne. Bei grossen Premieren wurde er als schlafender Blutsauger in einem geschmückten Sarg auf die Bühne getragen. Clevere Public-Relations-Manager überredeten ihn schliesslich, in der Öffentlichkeit nur noch als schwarzgekleideter Graf Dracula aufzutreten. Zahlreiche Fans schlössen sich zu Fanclubs zusammen. Noch in den letzten Jahren widmete einer aus der Garde der kalifornischen Beat-Lyriker dem Schauspieler ein Gedicht. (Das Gedicht erschien in deutscher Sprache in der Anthologie: JUNGE AMERIKANISCHE LYRIK, herausgegeben von Walter Höherer und Gregory Corso.) Tatsächlich aber war es so weit gekommen, dass amerikanische Mütter ihre Kinder nicht mehr mit Dracula, sondern mit Bela Lugosi schreckten, ein Faktum, das noch weiter über die übliche Identifizierung von Film und Wirklichkeit hinausgeht.

Bela Lugosi starb 1956. Die ihm von Produzenten und Werbeleuten und vom Publikum auferlegte "Identität von wirklicher und Leinwandexistenz" hatte bei ihm eine schwere Schizophrenie hervorgerufen. Er starb - nach Zeugenaussagen - mit den Worten: "Ich bin unsterblich. Ich bin Graf Dracula." Ähnliches - allerdings nicht in diesem Ausmass - lässt sich auch von Boris Karloff und Lon Chaney, dessen Sohn heute noch vom Ruhme seines Vaters zehrt, berichten.

Nun sind das keine wesentlichen Einwände gegen Patalas und seine Thesen. Wesentliches lasst sich gegen das Buch überhaupt nur schwer sagen, wenn man bedenkt, dass diese Publikation mal wieder die erste ihrer Art in Deutschland ist. Und so grosse Bedeutung misst der Autor seinem Werk auch nicht bei. Er will vielmehr "nur eine Einführung geben". Entstanden aus "Bildlegenden" präsentiert sich so ein Buch, das inzwischen sicher vielen Redakteuren bei ihrer Arbeit unersetzlich geworden ist. Unersetzlich?

Es wird allerhöchste Zeit, dass dieses Buch ersetzt wird. Jedenfalls, was die Arbeit der Redakteure, die es als Nachschlagewerk benutzen, betrifft. Denn: der vielbeschäftigte Patalas hat mit den Daten dermassen geschludert, dass es einen graust. So lässt er etwa die "schwarze Serie" - Lesern des FILMSTUDIO hinlänglich vertraut - mit Billy Wilders DOUBLE INDEMNITY (Frau ohne Gewissen, 1944) beginnen. Als Entstehungsdatum des Films gibt er u. a. das Jahr 1941 an. (Insgesamt finden sich drei verschiedene Jahreszahlen zu diesem Film.) Auch bei anderen Filmen überliess er vieles dem Zufall und dem Hauskorrektor. Und natürlich dem eigenen Geschmack. So zitiert er stolz, dass Humphrey Bogart sich sieben Jahre lang unter den TOP TEN MONEY MAKING STARS befunden hat. Von Marie Dressler, die ebenfalls um 1930 lange Zeit zu den grössten amerikanischen Stars zählte, nimmt er allenfalls in einer kurzen Zeile Notiz. Da kann man wirklich von "unterschiedlichen Proportionen" sprechen.

Natürlich muss man seiner Methode, die Stars in ihrem gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang zu stellen, applaudieren. Anders lässt sich dieses Phänomen nicht darstellen, ohne in wertfreie Biografie oder blinde Apologetik auszuarten. Aber gerade diese Methode verlangt eben nach drei Autoren: dem Historiker, dem Soziologen und dem Filmkundler. So kommen geschichtliche und gesellschaftliche Tatsachen in Patalas SOZIALGESCHICHTE einfach zu kurz, bleiben zu allgemein. Auch die Einteilung in Typen erweist sich als problematisch, weil sie zu häufig den Zusammenhang mit dem gleichzeitig laufenden Gegenpol vernachlässigen muss. Unersetzlich?

Man sollte dieses Buch ersetzen. Durch eine erweiterte, gewissenhaft überarbeitete Neuauflage. Einmal. Dann aber durch eine wirkliche SOZIALGESCHICHTE DER STARS, durch die sich der Leser zu mehr als "zur Reflexion über jene Stars angeregt fühlte, die ihn selbst fasziniert haben". Natürlich. Man könnte auch erst einmal die Bücher, die Patalas in seiner angefügten Bibliographie "Stars, allgemein" anführt, übersetzen. Aber erst einmal: vielen Dank für den Versuch.       H. F.

Robbe-Grillet

Der moderne französische Film verdankt dem wohl differenziertesten Autor des "nouveau roman", Alain Robbe-Grillet, zweifelsohne einige Anregungen. Das lässt sich sehr exakt an folgenden Publikationen abmessen:

Alain Robbe-Grillet: LETZTES JAHR IN MARIENBAD
und Alain Robbe-Grillet: DIE UNSTERBLICHE,
beide Szenarien erschienen im Carl Hanser Verlag, München. Preis pro Band 4,80 DM.

Hier werden Möglichkeiten einer Prägnanz des Filmischen deutlich, Dimensionen einer neuen Betrachtungsweise gezeigt, die man, wenn man sie sich schon nicht zueigen zu machen gewillt ist, doch auf ihre Verwendbarkeit prüfen sollte. Wege aus dem Bereich der Trivialität, in der der Film schon so lange heimisch ist, werden von Robbe-Grillet gangbar gemacht. Zumindest zeigen die Szenarien das. Die filmische Umsetzung ist da ein anderes Problem. Der Regisseur Alain Resnais konnte es im Falle LETZTES JAHR IN MARIENBAD adäquat lösen.

Robbe-Grillet selbst ist dies, als er die Schreibmaschine mit dem Regiepult vertauschte, um DIE UNSTERBLICHE selbst zu inszenieren, nicht gelungen. Das spricht nicht gegen ihn, denn seit wann hat der Autor auch ein passender Interpret seiner selbst zu sein?       WV
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Filmographie Fritz Lang II [in das Heft 44 übernommen]
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Rückumschlag

In den USA haben wir ein System, das in Europa unbekannt ist: die Previews. Wenn die,die man Produzenten nennt, wirkliche Menschen wären, und ehr- lich, würden sie erkennen, dass man nur da feststellen kann, ob der Film gut ist oder nicht, ob die Leute ihn lie- ben oder nicht. Dann gäbees viel leicht eine Art Übereinstimmung zwischen Produzenten und Regisseuren, und diese würden dieÄnderung bestimm- terStellen akzeptieren,dieden Produ- zenten nicht gefallen. Aberwenn jene um jeden Preis Recht haben wollen, ist Übereinstimmung nicht mehr mög- lich. Heute nenne ich den Film eine In- dustrie. Und er hätte Kunst sein kön- nen. Man hat eine Industrie daraus gemacht. Man hat die Kunst getötet. Aber die Industrie mit.       Fritz Lang


Der Diener

THE SERVANT; Schwarz/Weiss; England 1963; Regie: Joseph Losey; Buch: Harold Pinter nach dem Roman von Robin Maugham; Kamera: Douglas Slocombe; Produktion: Joseph Losey und Norman Priggen (Springbock) für Associated British Pathé; Darsteller: Dirk Bogarde (Barrett), James Fox (Tony), Sarah Miles (Vera), Wendy Craig (Susan); Verleih für die Bundesrepublik: Warner Bros.
Von Joseph Losey weiss man, dass er einer der Cinéasten ist, die von der Filmindustrie zwar beschäftigt, jedoch in ihrer künstlerischen Betätigung von kommerziellen Regulativen dirigiert werden. Seine Exegeten haben dementsprechend auch das oft zwiespältige Moment seiner Filme den Verleihern und Produzenten angelastet. Bisher haben diese Loseys Intensionen nur partiell toleriert, und nicht selten wurden aus seinen Filmen einzelne Sequenzen eliminiert; die filmdramaturgische Behandlung der einzelnen Stoffe wurde ebenfalls bereits vor Drehbeginn festgelegt. Aber trotz der stark erschwerten Arbeitsbedingungen haben Publizisten in seinem Werk eine Bestätigung ihrer Theorie vom Kino der Autoren gefunden. Vor allem in Frankreich wurde er zum dankbaren Objekt kultischer Verehrung, und man machte ihn zum "Cinéaste maudit". THE SERVANT ist Loseys erster Film, den er nach eigenem Willen drehen konnte. Dank eines gewissen Prozesses der Literarisierung im englischen Film war es ihm vergönnt, unbehelligt seinen formalästhetischen Ambitionen wie auch seinen sozialphilosophischen Thesen nachzugehen. Zudem konnte er sich ein Scenario von Harald Pinter, einem Dramatiker des gemässigten absurden Theaters, aussuchen, das ihm sehr entgegen kam
Loseys dichotomes Weltbild findet sich darin wieder: in den Figuren des Vertreters einer indolenten gesellschaftlichen Oberschicht und des ihm dienenden Butlers. Beide sollen paradigmatisch für eine Herrschaftsform in der modernen Gesellschaft stehen. Es sei Losey konzediert, dass England, vornehmlich im privaten Bereich, diesem Abhängigkeitsverhältnis noch eine gewisse Bedeutung zukommt, Schlüsse auf gesamtgesellschaftliche Verhältnisse lässt es aber doch wohl schwerlich zu. Die traditionale Machtentfaltung, die auf dem Glauben an die seit jeher geltenden Traditionen und auf der Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen baut, stellt nur ein Randproblem bei den möglichen Arten der Herrschaft dar. Von ungleich grösserer Bedeutung ist das Problem der Macht durch Organisation, die materielles und zweckrationales Handeln bestimmt. Losey geht darauf nicht ein, wie ihm auch die Vorstellung von einer pluralistischen Gesellschaft völlig fremd zu sein scheint.
Anscheinend war er sich jedoch der Gefahren bewusst, die das Verhältnis von Herr zu Diener in der Parabel birgt. So wird das Kammerspiel, dass sich fast ausschliesslich in der distinguierten Atmosphäre eines Viktorianischen Hauses im exclusiven Londoner Viertel Knightsbridge entfaltet, sporadisch unterbrochen. In dem Restaurant, in dem der Herr mit seiner Verlobten Susan zu speisen pflegt, treten zwei geistliche Herren in Erscheinung. In der Konstellation Priester-Kaplan soll eine andere Befehlshierarchie repräsentiert werden. Wenige Tische weiter in der gleichen Lokalität offenbart sich Abhängigkeit, diesmal im sexuellen Bereich, bei zwei Lesbierinnen. Man versteht den Hinweis: Macht und Gehorsam bestimmen gesellschaftliches Verhalten im allgemeinen. Loseys Ansätze entbehren ganz ohne Zweifel nicht der realistischen Einsicht, doch seine Vertreter der Antipoden lassen soziale Relevanz vermissen. Somit erfasst die kritische Position allein Epiphänomene, am Kern des Problems geht sie vorbei.
Der Diener Barrett ist der Repräsentant der dienstleistenden Berufe, der nach Macht, materiellem Wohlstand und dem Erlangen des Prestiges strebt, das einer Klasse anhaftet, die ihre soziale Rechtfertigung verloren hat. Seinem Herrn Tony weiss er sich unentbehrlich zu machen, indem er ihm die Annehmlichkeiten des feudalen Alltagslebens zur lieben Gewohnheit werden lässt. Zu der materiellen Abhängigkeit des Dieners von seinem Herrn gesellt sich mit der Zeit das Pendant der utilitaristischen Abhängigkeit des Herrn von seinem Diener. Dieser treibt die Verkehrung der ursprünglichen Rollenverteilung in ihr Gegenteil langsam weiter voran. Als er Vera als Dienstmädchen in das Haus nimmt, vermag er sogar in die sexuelle Sphäre seines Herrn einzudringen. Mit Hilfe eines geschickt durchgeführten Manövers gelingt es ihm, Tony an das sinnliche Mädchen zu verkuppeln und ihn zum Beischlaf zu verleiten. Als Tony eines Abends spät nach Hause kommt, muss er feststellen, dass sein Diener mit Vera sein Schlafzimmer für gemeinsame Liebesspiele auserkoren hat. Er setzt die beiden vor die Tür. Tony bleibt allein in seinem der Integrität beraubten Haus zurück. Bald wird ihm bewusst, wie sehr ihm der Diener fehlt. Wenig später holt er ihn in seine Dienste zurück, nachdem dieser Reue für sein Verhalten geheuchelt und Besserung gelobt hat. Sprunghaft verschieben sich von nun an die Machtverhältnisse. Die beiden Männer essen zusammen an einem Tisch, der Diener kommt seinen Verpflichtungen nicht mehr nach und Tony serviert ihm bereits auf Wunsch den Brandy. Als Barrett ihn zudem noch zum Konsum von Narkotika verleitet, ist das Desaster der ursprünglichen Verhältnisse vollkommen. Auf einer Fête cochon hat sich der Tausch der Fronten dann vollständig vollzogen. Barrett kommentiert den Abstieg seines Herrn, der im Delirium durch die Zimmerfluchten torkelt, mit mephistophelischem Sarkasmus.
Da die ursprünglichen Rollen von Herr und Diener sich als austauschbar erwiesen haben, glaubt Losey die Existenzberechtigung einer Oberschicht widerlegt zu haben. Doch um stringent seine Theorie vom Absurden der Realität dieser Kreise zu Ende führen zu können, werden gar zu viele Komponenten bemüht, die sich nur aus dem individuellen Verhältnis der beiden ableiten lassen. Vor allem betrifft dies die sexuellen Aspekte des Vorgangs. Losey verweist beispielsweise auf eine homosexuelle Verbindung zwischen Tony und Barrett. Beim infantilen Spiel auf der Treppe werfen sich die beiden Männer Bälle an die Genitalien. Sado-masochistische Bezugslinien werden hier gezogen, von denen im Dialog über die Armeerlebnisse schon zuvor die Rede gewesen war. Die Affaire mit dem Rauschgift, die den Untergang schliesslich forciert, unterstreicht ebenfalls den Ausnahmefall. Zudem ist die Figur des jungen, unerfahrenen Herrn nicht gerade glücklich gewählt. Sie weist nur wenige Züge auf, die den typischen Vertreter der geschilderten Klasse ausgeben. Altersbedingte Unsicherheit und Charakterschwächen auf Seiten des Herrn und der starke Aufstiegswille des Dieners prädestinieren zu stark das Folgende, um nachher in der Umkehrung der Rollen die beim Betrachter vom Regisseur erwartete Reaktion auslösen.
Loseys visuelle Bravour und seine formalen Gestaltungsfähigkeiten haben ihm grosse Bewunderung eingetragen. Es ist bezeichnend, dass englische und französische Rezensionen fast ausschliesslich seine exquisiten Exzesse bei der Mise-en-Scène hervorkehren, während die Fragen des Inhalts nur am Rande angeschnitten werden. Man lobt seine Bemühungen um das artifizielle Kalkül und das ungemein "Filmische" seines Werkes. Es handelt sich unbestreitbar bei THE SERVANT um einen in der Form erlesenen Film, der bei Formalästheten helle Begeisterung hervorrufen dürfte. Es fängt bei den Kamerafahrten von Douglas Socombe an. Seine Schwenks karessieren das eigens für sie arrangierte Dekor in einer Weise, die vermuten lässt, dass Loseys Kritik ihre Begründung in dem Umstand findet, nicht selbst zu jenen Kreisen zu gehören, deren morbide Struktur er angreift. Sein Hang zum schönen Bild ist unuübersehbar, vor allem dann, wenn er Spiegel verwendet, um doppelte Einstellungen zu erzielen.
In THE SERVANT dürfte er sich mit maximal 6 solcher Takes begnügt haben, die mit verzerrten Spiegeln von Regency arbeiten. Loseys Vorliebe für diese Art von Effekten war deutlich in seinem letzten Film EVA zu konstatieren, wo über 60 Einstellungen eingschnitten waren, die Spiegelreflexe nutzten. In einem Interview über die Funktion der Spiegel befragt, gab er zu verstehen, dass er sich in subtiler Sexualsymbolik versucht habe, deren Verständnis für den unvoreingenommenen Betrachter jedoch nicht unbedingt notwendig sei. Somit weist sich Losey als Verfertiger von kinematographischem Ästhetizismus par excellence aus, wie auch sein ganzer Film den Eindruck hinterlässt, er sei als Versuch gedacht, wie beeindruckend geschmackvoll sich im Film eine Geschichte erzählen lässt.       Klaus Hellwig
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491

491; Schweden 1964; Regie: Vilgot Sjöman; Drehbuch: Lars Görling, Vllgot SjSman; Kamera: Gunnar Fischer, Rolf Holmquist; Produktion: Svensk Filmindustri; Darsteller: Lars Lind, Frank Lundström, Leif Nymark, Lena Nyman, Lars Hansson, Stig Törnblom, Steven Algotsson, Bo Andersson, Torleif Lederstrand, Mona Andersson, Jan Blomberg, Ake Grönberg; Verleih: Schorcht.

Vilgot Sjöman, dessen Debütfilm ÄLSKARINNAN (Schlafwagenabteil) in Deutschland einige Beachtung fand, hat als zweites Opus einen Film mit dem lakonischen Titel 491 vorgelegt: Eine gleichnamige Romanverfilmung, die die Resozialisierung asozialer Jugendlicher zum Thema hat. Von den Auguren bürgerlicher Wohlanständigkeit beizeiten als pornographisches Optimum ausgespäht, geeignet, an der brüchigen Prosperitätsmoral noch weiter zu knacken, hatte dieser Film schnell eine zweifelhafte Publizität erlangt.
In Schweden selbst wurde der Film um 35 Meter gekürzt freigegeben, nachdem ein generelles Verbot erwogen worden war. Welche und wieviele Kürzungen der Film in der deutschen Verleihfassung hinnehmen musste, bleibt weitgehend im Dunklen.
Sjöman, der wie die meisten jungen schwedischen Regisseure von der Bergmanschen Stilmanier abgeht und das Sujet direkter ansteuert, weniger artifiziell und metaphorisch, zeigt in seinem Film 491 in drastischer Weise, wie der Versuch, sechs jugendliche Kriminelle in die Gesellschaft zu reintegrieren, an den untauglichen Mitteln dieser Gesellschaft scheitert. Die Jugendlichen, die in einer Stockholmer Wohnung versuchsweise untergebracht und einem inkompetenten Betreuer und einem homosexuellen Sozialbeamten anvertraut sind, leben ihr gewohntes Leben weiter. Dem bürokratischen Eifer, der ihnen gilt, setzen sie Misstrauen und Widerstand entgegen. Und auch die Missionierungssucht ihres Betreuers Krister verdächtigen sie nicht ohne Grund. Sie fühlen die Verlogenheit einer Gesellschaft, die sich erst um sie kümmert, nachdem ihre Ordnung ernstlich erschüttert worden ist.
Es bekommt dem Film sehr gut, dass er fast ausschliesslich Laiendarsteller agieren lässt. Die Typologie des jugendlichen Kriminellen, seine habituellen Äusserungen sind genau getroffen. Die Sprache, in der sie sich verständigen, ist segmentiert und brutal und weist auf die gestörte Beziehung zur Realität. Der Film kann damit gleichzeitig glaubhaft machen, dass die Brutalität dieser Jugendlichen im Grunde nur die Form ihrer Anpassung darstellt. Eindrucksvolle Sequenzen, ein oft aufs Bild aufgesetzter memorierender Monolog (Nisse), das plötzliche überwechseln vom Bewegungsbild zum Standbild und umgekehrt z. B. beim Besuch des Theaters, verdeutlichen die Entfremdung der Jugendlichen von ihrer sozialen Umgebung.
Dass der Film sehr starke christliche Elemente enthält, ist kein Zufall. Hier ist der Einfluss Bergmans auf seinen Schüler noch am handgreiflichsten erhalten. Sie dienen nicht nur dazu, das rüde Handlungsgeschehen zu kontrastieren, sie sollen vor allem den Bruch zwischen christlichem Illusionismus und einer monströs geratenen Realität aufzeigen. Diese Intentionen werden sehr deutlich in der Predigt des Pfarrers. In Abwandlung des Christuswortes aus dem 18. Kapitel des Matthäus-Evangeliums sagt er zu den teilnahmslos um ihn herumsitzenden Jugendlichen: "Siebzig mal sieben Mal wird euch vergeben werden, aber nicht das vierhunderteinundachzigste Mal." Dann nämlich gibt es keine Verzeihung mehr. Diese abstrakte Symbolik, die wie die ganze fossile Humanität der Reedukation bei Sjöman als Vehikel der Kritik fungiert, bleibt für die Jugendlichen unverständlich und beziehungslos. Die Rechnung 70x7 + 1, von einem der sechs Akteure ins Tischholz eingraviert, markiert die bewusstseinslose Hybris dieser Jugendlichen und den Widerstand gegen eine glatte Gesellschaftsapparatur, von der keine wirkliche Hilfe zu erwarten ist. Das hinzuaddierte, auftrumpfende einte Mal birgt denn auch das explosive Moment dieses Films, weil es die bei 490 scheinbar genau abgezirkelte Grenze des gesellschaftlichen Moralkodex überschreitet. 491 ist für die Autoren dieser Geschichte die Wende zum Bösen, deren Kausalität untersucht werden soll.
Eine Ausnahme unter den Jugendlichen bildet der Jüngste der Gruppe, aber auch er verspricht letztlich keine Hoffnung: Er beschliesst sein Leben mit einem tödlichen Sprung aus dem Fenster. Kurz bevor die Handlung hier ihren Kulminationspunkt erreicht, setzen auch schon die bis dahin gewissermassen nur aufgeschobenen Sanktionen der Gesellschaft ein. Das sterile Experiment, dem die Jugendlichen unterworfen waren, endet mit dem Auftritt der Polizei.
Die Schwäche und Unsicherheit des Films liegt auf der Hand. Das christliche Mysterium und seine Surrogate als Mittel der Kontrastierung gesellschaftlicher Widersprüche bleibt letzten Endes unbefriedigend, weil es offenkundig nicht ausreicht und selbst auch wieder vernebelt. Das zeigt sich besonders deutlich an den Rollen von Nisse und seinem Pendant Krister. Nisse bleibt in seinen Handlungsmotivationen zumeist unklar. Mit seinem kindlichen und erfrorenen Gesicht, mit seiner Verschlossenheit und stummen Aktion, ist er eine merkwürdige Mischung aus Schuldbewusstsein und Rächertum. Sei Zynismus ist unartikuliert, auch wenn er anderen das zufügt, was ihm selbst angetan worden ist und damit die Gesellschaft als die allein schuldige denunziert. Die Regieführung vermag nicht den Kern seiner Absichten überzeugend blosszulegen.
Wirkt Nisse zu dämonisiert, so erscheint Krister zu sehr zum Heiligen stilisiert. Seine bussfertige Christusgewandung wirkt im Fortgang der Handlung immer penetranter. Das, was der Film nötig gehabt hätte, nämlich seinen eigenen Rahmen zu transzendieren und auch der rationalen Reflexion Eingang zu verschaffen, darauf hat er leider verzichtet.       Hartmut Engelmann
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Sieben Tage im Mai (zurück zum Artikel

SEVEN DAYS IN MAY; Regie: John Frankenheimer; Produktion: Kirk Douglas, John Frankenheimer und Seven Arts Productions; Verleih: Paramount; Schwarz/Weiss; Breitwand; Drehbuch: Rod Sterling, nach dem Roman von Fletcher Knebel und Charles W. Bailey II; Kamera: Ellsworth Fredericks; Bauten: Cary Odell; Dekorationen: Edward Boyle; Schnitt: Ferris Webster; Darsteller: Frederic March als Präsident Lyman, Burt Lancaster als General Scott, Kirk Douglas als Oberst Casey, Edmond O'Brien als Senator Clark, Martin Balsam als Paul Girard, George MacReady als Christopher Todd, Hugh Marlowe als TV-Ansager und Ava Gardner als Eleanor; Originallänge: 3232 m.

John Frankenheimer kam 1956 vom Fernsehen zum Film. Wie seine Kollegen Delbert Mann (MARTY, 1955) und Sidney Lumet (12 ANGRY MEN, 1957) erweckte er mit seinem Filmerstling das Interesse der Öffentlichkeit: THE YOUNG STRANGER - bei uns in Action-Kinos als DAS NACKTE GESICHT herausgebracht - war ein unpathetischer Film über Probleme der amerikanischen Jugend; nicht so sehr wegen seiner Thematik und Tendenzen, sondern eher durch die auffallend sachlich klare Betrachtungsweise und unkonstruierte Gestaltung von Bedeutung. Die zahlreichen Hollywoodmüden sahen in Mann, Frankenheimer und Lumet eine neue Hoffnung; doch in allen drei Fällen blieb sie unerfüllt.
Konnte John Frankenheimer zwar in seinen nächsten Filmen ein gewisses Mass an Kunstfertigkeit unter Beweis stellen, das über die übliche Formalroutine hinausging (wie etwa seine stilistische Eigenart, prägnante knappe Szenenschnitte hintereinanderzuschalten und mit epischen Szenen zu kontrastieren, oder das Fernsehen als realistisches und distanzierendes Medium zu verwenden), so fand er selbst als sein eigener Produzent zu keinem künstlerischen Durchbruch. THE YOUNG SAVAGES (1960, Die Jungen Wilden) und ALL FALL DOWN (1961, Mein Bruder - ein Lump), die sich thematisch an THE YOUNG STRANGER anschlössen, liessen den Wahrheitswillen hinter Schaueffekten zurücktreten; die ergiebige Story THE BIRDMAN OF ALCATRAZ (1961, Der Gefangene von Alcatraz) wurde in Frankenheimers Hand zu schwülstiger, langarmiger Quasselei. Mit THE MANCHURIAN CANDIDATE (1962, Botschafter der Angst), einem üblen Anti-Russen-Film, wo sowjetische Spionage-Schlägerbanden die braven Koreakämpfer Amerikas misshandeln, der Gehirnwäsche unterziehen und sie zu willigen Werkzeugen machen, beginnt Frankenheimer seine zweifelhafte politische Filmarbeit. Dieser Linie folgt nun SEVEN DAYS IN MAY.
Die Situation: Im Jahre 1974 - also genau zwischen heute und Orwells Big-Brother-Zeit wird der amerikanische Präsident mit Russland einen Abrüstungsvertrag unterzeichnen, mit dem nur 30 % der amerikanischen Bürger einverstanden sind. Sein oberster Stabchef General Scott, inszeniert einen Militärputsch. Der Wachsamkeit des verfassungstreuen Oberst Casey und der intensiven Abwehrarbeit des Präsidenten und einer Schar aufrechter Friedensverteidiger verdankt Amerika die Rettung von der Katastrophe eines Atomkriegs.
Der erste Teil des Films bis zur Suche nach dem geheimnisvollen ECOMCON, ist in sachlich klarer Form abgewickelt. Die Eingangssequenz - Demonstrationszüge vor dem Weissen Haus geraten in eine Schlägerei - ist auf knappe Reportage reduziert. Die anschliessenden Szenen im Weissen Haus sowie die Debatten im Pentagon dienen der Information: es werden die Lage geklärt, der Spielraum vorbereitet und die tragenden Personen eingeführt. Mit der Charakterisierung der Handlungsträger wird bereits deutlich, wie Frankenheimer seine Recherchen zieht. Denkt man den überflüssigen Kommentator weg, so ist der bisherige Teil ein geschicktes Exposé.
Präsident Lyman erscheint sofort als der Mann, der sein Leben und seine Gesundheit für den Frieden der Welt opfert, der es sich nicht leisten kann, länger auszuruhen als "10 Minuten im Swimmingpool", der mit "6 Jahren seinen letzten Urlaub" gemacht hat. Ein solcher ideeller Aufwand kann letzten Endes gar nicht schlecht enden; nur ein gleichwertiger Gegenspieler hätte hier einen fruchtbaren Konfliktstoff entwickeln können, zumal Frederic March eine hervorragende Charaktergestalt abgibt.
Burt Lancasters General Scott darf zu Beginn zwar sympathisch wirken, doch schon die erste Kameraeinstellung (von hinten über die Schulter mit gekippter Kamera, Gegenschnitt: ein hartes, kaltes Gesicht in Grossaufnahme) verrät das Monströs-Gefährliche. Später, nach seiner Fernsehansprache darf Lancaster nur noch mit unbewegter Maske, starr, flimmernden Machthunger im Auge auftreten; in monoton-dumpfer Manier bringt v er seine Stellungnahme hervor, die Kamera dämonisiert ihn durch Froschperspektiven. Kein Moment der Schwäche, kein sympathischer Zug, nur die negative Charakterisierung durch die geheimnisvollen Briefe und Reden seiner ehemaligen Geliebten: diese Gesta!t nimmt den Problemen für oder gegen den Abrüstungsvertrag jede Schwerkraft. (Abgesehen davon, dass diese Frage im folgenden nicht mehr erwähnt wird.)
Unprofiliert bleibt nur Oberst Casey, der wohl seinem Chef ergeben ist, den später jedoch Sorge um das Land und Treue zur Verfassung zur Aktion treibt.
War der erste Teil des Films von sachlicher Eindringlichkeit, so beginnt mit der Suche nach ECOMCON ein völlig neuer Stil: in raschem Tempo wird eine Fülle von Konfliktstoffen aufgeworfen, eine Thrillerstory setzt ein, die die nächsten 60 Minuten des Filmes ausfüllt: da geht Casey, der Mann der Tat, auf eigene Faust der geheimnisvollen Spur nach; da wird im Weissen Haus ein Schlachtplan nach der Landkarte entworfen, als wäre Scotland Yard auf Gangsterjagd; in El Paso kommt Clark, einer der Getreuen, an eine einsame Bar; langsam fährt das Auto durch den weissen Wüstensand und geheimnisvoll erscheint ein Hubschrauber - dann ein scharfer Schnitt nach Gibraltar, wo Girard, der Privatsekretär des Präsidenten, auf einem Dampfboot, die Diplomatenmappe in der Hand, dem einsamen Schiff entgegenfährt, wie wir es aus den James-Bond-Filmen oder ähnlichem kennen; dann das Zweiergespräch auf dem Schiff, die reisserische Telefonhausszene, wo Girard das Geständnis in das Zigarettenetui steckt, das dann nach den Gesetzen der Filmlogik auf dem kilometerweiten Absturzplatz unter den Flugzeugresten (!) gefunden wird; die thrillerhafte Flucht Clarks aus ECOMCON und die Pressekonferenz des Präsidenten, zu der gerade rechtzeitig das Belastungsmaterial aus der Zigarettendose eintrifft, das ausreicht, um Scott und seine Gefolgsleute zur Demission zu zwingen. Das alles ist eine nach allen Regeln des Gangsterfilms inszenierte Kolportage; geschickt sind die verschiedenen Spannungsbogen so hintereinandergeschaltet, dass sie sich überschneiden: immer wird der Thrill-Effekt indirekt ausgelöst. Aber die Handlung ist so unglaubwürdig konstruiert, der Zufall wird allzuoft zur Lösung der Konflikte herangezogen, das macht den Film letztlich unglaubwürdig; abgesehen davon, dass die anfangs gestellte Thematik nicht wieder aufgegriffen wird. Kurz vor Schluss erfolgt noch einmal, diesmal schleichend, ein Übergang in eine realistische Atmosphäre: am Ende soll der Zuschauer wieder auf die scheinbare Authentizität des Films aufmerksam gemacht werden. Mittel ist jetzt das Fernsehen, durch dessen Einbeziehung die Situation aktualisiert und gleichsam distanziert wird. Am Schluss die realistische Tatsache: es sprach der Präsident der Vereinigten Staaten.
Nicht zu leugnen bleibt die Geschicklichkeit mit der die Kolportage überdeckt wird: der reportageähnliche Anfang, die realistische Atmosphäre und die politische Situation bezeugen, dass eine exemplarische Situation aufgezeigt wird. Für den Konflikt, um den es dem Film ja nicht geht, wird der Zuschauer in eine spannende Abenteuerhandlung verwickelt, die sich allmählich wieder zur realistischen Situation zurückentwickelt; mit der Tendenz ist das eben gezeigte also eine gefährliche Möglichkeit, bzw. eine mögliche Gefahr.
Frankenheimer geht es ganz offensichtlich darum, einen Konfliktstoff vorzutäuschen: Kritik am Staat, ein heisses Eisen, das bedeutet immer einen gewissen Wirbel. Gleichzeitig ist er aber so raffiniert, der Regierung und den braven Staatsbürgern den Bart zu kraulen: der Staat wacht über eure Sicherheit; schwarze Schafe unter den Offizieren können nicht unbemerkt bleiben: denn tapfere Männer wie Kirk Douglas werden immer rechtzeitig zur Stelle sein. SIEBEN TAGE IM MAI ist leider ein durch und durch unkritischer Film.       Heiko R. Blum
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Marnie

MARNIE; USA 1964; Regie: Alfred Hitchcock; Drehbuch: Jay Presson Allen; Kamera: Robert Burks; Musik: Bernhard Herrmann; Produktion: Alfred Hitchcock; Darsteller: Tippi Hedren, Sean Connery, Diane Baker u* a.; Verleih: Universal.

Nicht nur Fernseh- und Taschenbuchserien, auch Hitchcock selbst macht Anleihen bei Hitchcock. Schon DER MANN, DER ZUVIEL WUSSTE war das Remake einer frühen Inszenierung. MARNIE, sein jüngstes Werk, erinnert in seiner psychoanalytischen Thematik, trotz PSYCHO und VERTIGO, am auffälligsten an SPELLBOUND (Ich kämpfe um dich), in dem einst Ingrid Bergman als unerschrockene Ärztin den Komplexen des geliebten Mannes (Gregory Peck) beim Skilaufen auf die Spur kam.
Rund zwanzig Jahre später sind die Rollen vertauscht. Diesmal ist 's der Mann, der die Frau, eben jene "Marnie", von den Komplexen erlöst und zur Liebe ertüchtigt. Freud ist geblieben, aber auch Hitchcock geht mit der Zeit. Mochte man in den Vierziger Jahren, entsprechend den seelischen Erschütterungen der männlichen amerikanischen Kriegsgeneration, den Mann als labiles, Depressionen unterworfenes und aus der Bahn geratenes Wesen ansehen, so steht heute, im Zeitalter der Johnson und Goldwater, männliche Aktivität wieder hoch im Kurs. Hitchcock reagierte darauf, indem er dem James-Bond-Darsteller Sean Connery die Hauptrolle übertrug.
Allerdings muss Connery sein Temperament diesmal zügeln. Er kämpft nicht gegen Dr. No und seine Schergen, sondern gegen einen - wie sich herausstellt - viel schwieriger zu bewältigenden Gegner: gegen Marnies Frigidität. Marnie nämlich nimmt an den Männern keinerlei sexuelles Interesse, und sie revidiert diese Haltung auch nicht, als der attraktive junge Verleger (Connery) sie geheiratet hat; im Gegenteil. Als der Ehemann auf der Hochzeits-Schiffsreise ihr mit Gewalt den Pyjama vom Körper reisst, findet er am nächsten Morgen Marnie im Schwimmbassin des Dampfers. Sie hat sich das Leben nehmen wollen.
Aber Marnie kann auch sinnlich werden, allerdings nur beim Anblick eines Geldschrankes. Sie ist, wie man ausführlich sieht, eine Diebin, ja eine Kleptomanin, die das in sie gesetzte Vertrauen der Firmen, denen sie sich verdingt, schnöde dadurch enttäuscht, dass sie den Barbestand aus dem Tresor nimmt und dann spurlos verschwindet. Einziges Hindernis bei diesem von ihr mit sportlichem Ehrgeiz betriebenen Hobby: Marnie kann die Farbe "Rot" nicht sehen.
Bei Gregory Peck, in SPELLBOUND, waren es damals Linien auf weissen Flächen, etwa die Muster auf der Bettwäsche, die ihn verstörten. Diesmal, weil 's ein Farbfilm ist, siehe Marnie bei jeder Gelegenheit - oder eigentlich nicht bei jeder, manchmal beherrscht sie sich auch ganz gut -, sieht Marnie jedenfalls immer dann, wenn es dramatisch wird, "rot". Und jeder Zuschauer und allmählich auch ihr Ehemann begreift, dass "Rot" und die Kleptomanie und die Frigidität in einer geheimnisvollen Beziehung zueinander stehen müssen.
Die klassische Situation fast aller Hitchcock-Filme - der Wettlauf zwischen der privaten Ermittlung und der offiziellen Polizei - ist damit zwar gegeben, wird aber nicht voll ausgespielt. Auch Marnie hätte zwar die Polizei oder die Anzeige bei ihr zu fürchten, aber die hier aufkeimenden Gefahren erstickt der hochmögende Ehemann mit Leichtigkeit. Das entscheidende Problem ist Marnies Frigidität. Auch hierin ist Hitchcock also durchaus auf der Höhe der Zeit.
Das Problem löst sich schliesslich mittels suggestiver Befehle des Ehemannes ("Erinnere dich, Marnie, was war damals!") und reichlicher Benutzung der Rückblenden. Marnies Mutter hat, als Marnie noch klein war, allerlei schlechten Umgang - mit Matrosen - gehabt. Und einen davon hat Marnie, ihrer Mutter zu Hilfe eilend, getötet. Das Blut, das dem Seemann über den Kopf rann, ist das "Rot", das Marnie nun nicht mehr sehen kann. Kleptomanie und Frigidität waren die Folgen. Von nun an ist Marnie geheilt und ihr willensstarker Ehemann kann endlich, um im Bild zu bleiben, "Grün" sehen.
Es gibt ein paar Szenen in diesem Film, in denen Hitchcocks Meisterschaft im Erzeugen unheimlicher Spannung sichtbar wird, etwa bei Marnies Diebstahl im Verlag oder bei der Party, auf der sie erkannt wird. Andere verraten jedoch auch ein merkwürdiges Ungeschick. Das Haus der Mutter ist vor einen handgemalten Horizont gestellt, der jedem B-Film stören würde. Die Ironie, sonst Hitchcocks Trumpf, blitzt diesmal nur wenig auf, und die Schauspieler lassen mit den Stars früherer Hitchcock-Filme nur schmerzliche Vergleiche zu. Tippi Hedren, zum Beispiel, würde auch bei einem minder scharfsinnigen Denker den Verdacht erregen, ihre Frigidität sei heilbar.
Aber vielleicht kommt MARNIE dennoch in Hitchcocks "Oeuvre" - wie man als Cineast wohl sagen muss - eine grosse Bedeutung zu. Man könnte an ihr beiläufig entdecken, dass ihr Schöpfer doch nicht der ist, als den ihn uns die "Neue Welle" schilderte, sondern nichts weiter als ein begabter und routinierter, mit allen Wassern des Film- und Showgeschäfts gewaschener Regisseur, der den Leuten für ihr gutes Geld seine Markenware verkaufen will.
Diesmal etwas weniger.       Walther Schmieding
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