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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 52, Januar-März 1967

Inhalt
FIAG - Seminar
Skandinavischer Film in der Isolation
Erstes Forum des Internationalen Studentischen Films
World of Comics oder der Komiker B. F.
Gespräch mit Jerzy Skolimowski
Gespräch mit Edgar Morin
Josef von Sternberg
Filmliteratur
Rückumschlag
Sandra
Elf Uhr nachts


FIAG - Seminar

Film, Filmschöpfer, sowie die Beziehungen zwischen beiden sind die Gegebenheiten, mit denen sich der Filmkritiker auseinanderzusetzen pflegt. Der dritte Faktor in dem Beziehungsbogen, der Zuschauer, bleibt in der Regel ausserhalb der Betrachtung. Das Verhältnis von Film und Zuschauer zu untersuchen, ist Aufgabe eines Seminars, das die FIAG (die Film- und Fernseharbeitsgemeinschaften an den deutschen Hochschulen) seit nunmehr drei Semestern an der Universität Köln durch die dortige "Arbeitsgemeinschaft für Filmfragen" in Zusammenarbeit mit dem Psychologischen Institut II (Leitung: Professor Dr. Salber) durchführt. Das Hauptgewicht der Untersuchungen liegt dabei auf der Frage nach der Struktur des Filmerlebens, das heisst auf der Frage, wie der Zuschauer das, was er während der Vorführung des Films sieht, rational und emotional verarbeitet und bewältigt, wie er mit dem Film ,fertig wird'. Das Filmerleben ist ein seelisches Geschehen, das sich aufbaut und das sich einstellt dadurch, dass sich einerseits etwas auf der Leinwand abspielt und dass andererseits vor der Leinwand der Zuschauer sitzt, der diesen Vorgang wahrnimmt. Zu diesem Erleben gehört all jenes, was man üblicherweise als Gefühle, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Überlegungen, Feststellungen, Stimmungen, Bedürfnisse usw. bezeichnet. Auf die Strukturierung dieser Erlebniszüge, ihr "Gefüge", das heisst, auf die Metamorphose seelischer Qualitäten zwischen einer Ausgangslage und einer Erfüllung, kommt es bei einer derartigen Analyse an.

Zu einer Beschreibung des Erlebniszusammenhangs der Zuschauer gelangt man entweder anhand von Erlebnisprotokollen, die die Zuschauer während der Filmvorführung anfertigen, oder mittels Interviews nach der Vorführung. Aus diesen vielen Erlebnisgestalten der einzelnen Zuschauer lässt sich dann eine prinzipielle Erlebnisform für diesen vorgeführten Film bilden, die alle jene einzelnen, die untereinander durchaus divergieren mögen, umfasst und die als verbindlich für einen bestimmten Kulturbereich (etwa den westeuropäischen) angesehen werden kann.

In den Seminaren konnten ferner interessante Modifikationen des Filmerlebens festgestellt werden, wenn ein zunächst als unzugänglich erlebter Film mehrmals vorgeführt wurde oder wenn mehrere Filme eines Regisseurs (als Beispiel wurde Buñuel gewählt) vorgeführt wurden. Hatte man etwa bei UN CHIEN ANDALOU ursprünglich erwartet, eine normale und verständliche Geschichte erzählt zu bekommen (Ausgangslage), so erlebte man eine stetige Störung dieser Erwartung, eine vergebliche Suche nach sinnvollen Zusammenhängen. Nur selten kam ein Gefühlsrhythmus (z. B. Ekel - Erregung - Abwehr oder Wunsch - Erwarten - Erfüllung) zu einem befriedigenden Ausbau. In diesem Verlustprozess, im Scheitern der Ordnungsversuche verharrt ein Teil der Zuschauer auch beim mehrmaligen Sehen dieses Films, während sich bei einem anderen Teil allmählich Übergänge ausbilden, in denen neue Bewältigungs- und Erlebnismöglichkeiten gesucht werden. Dies beginnt mit dem Nachlassen der Fragen und Vermutungen und im Zurücktreten der Interpretationen. So eröffnen sich neue Möglichkeiten, unmittelbar auf das Geschehen einzugehen; es wird mehr erlebt, "was ist", und nicht so sehr, "was sein soll". Auf diesen Veränderungen der Entwürfe bilden sich nun neue heran, die umfassend genug sind, eine weitgehend ungestörte Ordnung im Erleben aufzubauen.

Ähnliches spielt sich ab, wenn die Zuschauer von Film zu Film (gezeigt wurden weiter: EL, "Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz", NAZARIN, VIRIDIANA, "Tagebuch einer Kammerzofe") vertrauter mit der Welt Buñuels wurden. Dieser Prozess sei an einem kleinen Beispiel erläutert: In VIRIDIANA nimmt der lepröse Bettler eine Taube in die Hand und streichelt sie. Der Zuschauer, der Buñuel nicht kennt, erlebt diese Szene in einem positiven Sinne: in diesem Schmutz und Elend ein Mann, der sich ein zartfühlendes und weiches Herz bewahrt hat. So wird er ihm seine Sympathie zuwenden und im Folgenden Mitleid mit ihm haben und ihn bedauern. Wenn sich dann in der Orgie herausstellt, dass der Lepröse die Taube umgebracht hat und er ihre Federn verstreut, dann wird dieser Zuschauer Ekel und Abscheu erleben, die sich nicht nur auf diese Figur beziehen, sondern sich auch auf den Film erstrecken, der ein solch "schändliches Spiel" treibt. Der in der buñuelschen Welt erfahrene Zuschauer hingegen wird gleich in der ersten Szene ein ungutes Gefühl haben ("das arme Vieh lebt nicht mehr lange"), er erlebt die Szene ambivalenter und findet in der Orgie dann seine Erwartung bestätigt ("typisch Buñuel", "bei Buñuel muss man mit allem rechnen"). So ergab sich, dass die meisten Zuschauer im Laufe des Seminars einem ,Lernprozess' unterworfen wurden, in dessen Verlauf Qualitäten, die für die früheren Ordnungsprinzipien Störungen und Hindernisse bedeuteten und die Formungsprozesse verfallen liessen, schliesslich selbst zu tragenden Prinzipien wurden und die Ordnungsprozesse unterstützten. Die so erzielte Annäherung an die Welt Buñuels führte dazu, dass diese Zuschauer am Ende des Seminars nach weiteren Buñuel-Filmen verlangten.

Aus dem oben angeführten Beispiel wird weiter deutlich, wie sehr das Erleben eines ,Fachmannes', obwohl es natürlich denselben psychologischen Gesetzen folgt, sich von dem eines ,normalen Kinogängers' unterscheidet - eine Gegebenheit, deren sich jeder Filmkritiker bewusst sein sollte. Je mehr der Filmkritiker Fachmann ist, desto mehr entfernt er sich in seinen Kritiken, die ja auf seinem Erleben aufgebaut sind (auch wenn der Kritiker sich dies nicht klarmacht), von dem, was der normale Zuschauer erlebt hat. Er schreibt schliesslich seine Kritik nur noch für Fachleute, im äussersten Fall nur für sich selbst. So gerät er in eine Situation, die besonders für den sogenannten engagierten Kritiker gefährlich wird - sein Engagement droht ins Leere zu verpuffen.

In einem weiteren Seminar wurde anhand von acht deutschen Biografie-Filmen - vier aus der nationalsozialistischen Zeit und vier aus der Nachkriegszeit - die Art der Darstellung der Charaktere untersucht, besonders im Hinblick auf Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten zwischen den beiden Filmgruppen. Es stellte sich dabei heraus, dass alle diese Filme statische Charaktere zeigen und dass die Wandlungen, die die Charaktere im Filmgeschehen durchmachen, nur vom Film vorgetäuschte Wandlungen sind. Alle Filme bedienen sich hierzu des Kern-Schale-Modells vom Charakter. Hinter einer harten, grausamen, ja unmenschlichen Schale verbirgt sich der gute, mitfühlende, immer das beste wollende Kern, wie umgekehrt hinter einer verweichlichten Schale der aufrechte und starke Kern (z. B. "Der alte und und junge König"). Die Charaktere erweisen sich schliesslich stets als die, die sie immer schon - wenn auch verdeckt (durch die Schale) - waren. Ein anderer Trick, eine scheinbare Entwicklung glaubhaft zu machen, besteht darin, dass man den Charakter gleich zu Beginn des Films so umfassend anlegt, dass man zunächst einen Charakterzug und dann einen anderen in den Vordergrund rückt. Unterschiede in der Art der Charakterdarstellung konnten zwischen den beiden Filmgruppen ebensowenig festgestellt werden wie eine Wandlung der Darstellung im Laufe der zwanzig Jahre, in denen die Filme hergestellt wurden.

Im bisher letzten Seminar schliesslich wurden Fragen aus dem Bereich Literatur und Film behandelt. Da dieses Seminar noch nicht abgeschlossen ist, seien hier nur die wichtigsten Fragen aufgeführt: Unterscheidet sich das Erleben eines Lesers von dem eines Zuschauers? Worin besteht der Unterschied? Unterscheidet sich die Situation des Lesers von der des Zuschauers? Was wird bei einer Verfilmung eigentlich aus dem sprachlichen Medium ins filmische umgesetzt, und was bedeutet dieses Umsetzung für das Erleben? (Als Beispiele dienten: L' ASSOMOIR - GERVAISE, "Tagebuch eines Landpfarrers" und "Der Leopard"). Gibt es Filme, die ein Erleben hervorrufen, das dem gleicht, wenn man ein Buch liest? Sind dies Filme, die man .literarische Filme' nennt? Was ist überhaupt ein ,literarischer Film'? (Als Beispiele wurden vorgeführt: "Letzes Jahr in Marienbad", 8 1/2, "Die mit der Liebe spielen".) Welche Gegebenheiten müssen vorliegen, damit ein Leser ein Kunsterlebnis hat? Gibt es so etwas auch beim Filmerleben?       Hans Peter Kochenrath
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Skandinavischer Film in der Isolation

Als ein Fenster, durch das man auf die Filmnachbarn im Norden blickt, bezeichnen die lübecker Veranstalter gern die Nordischen Filmtage. Dies Fenster öffnet sich nun zum achten Male. 160 auswärtige Besucher sahen gemeinsam mit dem einheimischen Publikum elf Spielfilme, rund zwanzig Kurzfilme und ein knappes halbes Dutzend Kurzspielfilme aus Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland und Island.

Anlässlich der Eröffnung nahm Lübecks Kultursenator, nach lübecker Brauch nur nebenberuflich mit seiner Funktion betraut, Stellung zum Grundsätzlichen: die Nordischen Filmtage wollten kein Festival sein. Man vergebe keine Preise und wünsche weder Stars noch diesbezüglichen Rummel noch unerfreulichen Jurystreit. Die Befürchtungen des Senators waren unbegründet. Die Nordischen Filmtage sind kein Festival, nicht wegen des äusseren Rahmens, sondern einfach aus der Konzeption des Programms heraus. Die spektakulären Filme der skandinavischen Länder, das, was unter Filmkunst rangiert, wird auf die internationalen Festivals geschickt. In Lübeck läuft zumeist das, was danach kommt, Gebrauchsware für den baldigen Konsum, hin und wieder wohl auch die eine oder andere nicht uninteressante Arbeit eines Anfängers, dem der Schritt auf die grosse Bühne noch verfrüht erscheint. Indessen erlaubt ihr eingestandenermassen recht durchschnittliches Niveau keinen direkten Schluss auf die Berechtigung dieser Filmtage. Gerade die Konfrontation mit für den Tagesbedarf der Unterhaltungsindustrie angefertigten Durchschnittsproduktionen vermittelt ein weit repräsentativeres Bild der Mentalität und der Situation des jeweiligen Ursprungslandes, als ein von vornherein mit ganz anderen Ambitionen initiiertes Werk womöglich eines Aussenseiters es vermöchte. Darüber hinaus bieten gerade diese Filmtage ein Programm von seltener Einheitlichkeit.

Auffallendstes Merkmal in diesen drei Tagen war immer wieder die Naivität der meisten Regisseure und ihrer Filme. Sie sehen sich Bergen von Problemen zwischenmenschlicher Natur gegenüber, Problemen, die nicht nur den Film, sondern auch die gesamte Literatur seit ihren Anfängen mit Themen versorgt haben; aber man tut so, als seien diese Probleme niemals zuvor behandelt worden, und beginnt gewissermassen mit eigener Grundlagenforschung. Solche mühevollen Versuche der Bewältigung längst weit besser beantworteter Fragen wirken nicht nur im höchsten Masse verstaubt und konventionell, sie erwecken auch den Eindruck, als sei ganz Nordeuropa seit etwa vierzig Jahren von der übrigen Welt abgeschnitten, als seien Literatur und Film inhaltlich und oft auch formal irgendwann in ihrer Entwicklung stehengeblieben. Dass hier die Kolportage ganz nah ist, versteht sich von selbst.

Das typischste Beispiel derart provinziellen Filmemachens kam aus Norwegen. FØR FROST NETTENE ("Vor den Frostnächten") von Arnljot Berg zeigt einen erfolgreichen Arzt, der seinen vierzigsten Geburtstag feiert und sich aus diesem Anlass plötzlich bewusst wird, dass sein Leben anders verlaufen ist, als er es sich in seinen idealistischen Jugendträumen vorgestellt hatte. Es fehlen weder Rückblenden noch dramatische Ausbrüche noch die musikalische Untermalung alten Stils, die Psychologisches noch einmal mit Akribie in Akkorde übersetzt.

Nicht weniger hinter der Entwicklung zurück ist Jörn Donners HÄR BÖRJAR ÄVENTYRET ("Hier beginnt das Abenteuer"). Nach EN SÖNDAG I SEPTEMBER ("Sonntage im September") und ATT ÄLSKA ("Zu Lieben") und in Anbetracht seiner schriftstellerischen Tätigkeit und seines kosmopolitischen Denkens hätte man von Donners dritten Spielfilm eher die fällige eindeutige Äusserung seines persönlichen Stils erwarten dürfen. Nachdem man ihn früher neben Widerberg und Sjöman zu den kommenden Talenten des schwedischen Films gezählt hatte, ist diese oberflächliche, von Klischees strotzende, dilettantisch inszenierte Dreiecksgeschichte eine umso herbere Enttäuschung. Interessant ist Donners Film nur insofern, als er nebenher, ebenso wie ONNENPELI ("Glücksspiel") des jungen Finnen Risto Jarva und unausgesprochen auch einige andere Filme, die Frage zu beantworten sucht, wie es sich in den nordischen Ländern lebt. Das Gefühl einer gewissen Isolation oder auch Provinzialität klingt an, Paris ist die Alternative; man sammelt Gegenargumente und kommt schliesslich zu der Überzeugung, dass ein Leben losgelöst von der Atmosphäre des eigenen Landes, von den "Wurzeln", nicht mehr schöpferisch sein könne.

Aus Schweden kamen weiterhin von Arne Mattson, dem Regisseur der Bergman-Generation, VAXDOCKAN ("Die Wachspuppe"), 1962 gedreht, ein zerquälter "psychologischer Thriller" um einen Psychopathen, der sich in eine Schaufensterpuppe verliebt und darüber dem Wahnsinn verfällt," und der 1964 gedrehte und inzwischen mit einer staatlichen Prämie versehene Film KATTORNA ("Die Katzen") des Dänen Henning Carlsen. Carlsen beabsichtigt die realistische Schilderung der Arbeiterinnen in einer Wäscherei. Das Ergebnis ist ausgesprochene Pseudorealität, der man die Bemühtheit der Regie ständig anmerkt. Dänemark schickte, getreu seinem Ruf, zwei handgestrickte Lustspiele, die allerdings weniger humorvoll als einfach albern waren und die Grenze zur zeitlosen Klamotte mehr als einmal überschritten. Ein derartiges Lustspiel schien sich zunächst auch in NABOERNE ("Nachbarn") von Bent Christensen abzuzeichnen, bis sich herausstellte, dass die Geschichte von den einander bekämpfenden Nachbarn nicht wörtlich zu nehmen, sondern als ein Modell politischen Verhaltens zu verstehen sei - eine äusserst plumpe Allegorie, die dann auch alle im Film angelegten harmlosen Möglichkeiten verdarb.

Aus Dänemark kamen allerdings ebenfalls die beiden wirklich diskutablen Beiträge dieser Filmtage. SULT ("Hunger") von Henning Carlsen nach dem autobiografischen Roman von Knut Hamsun ist eine dänisch-norwegisch-+ schwedische ' Gemeinschaftproduktion. Der schon in Cannes gelaufene Film beschreibt mit grosser Eindringlichkeit das immer aussichtslosere Bemühen eines sensiblen Schriftstellers, sich trotz seines ins Unermessliche gesteigerten Hungers normal zu benehmen. Abgesehen von der manchmal um Nuancen zu pittoresken Schilderung des sozialen Elends der Umwelt gelingt dem Film eine eindrucksvolle psychologische Studie.

Das unumstrittene Ereignis der Filmtage bildete DER VAR ENGANG EN KRIG ("Es war einmal ein Krieg") von Palle Kjaerulff-Schmidt (WEEKEND). Erzählt wird eigentlich nur von einem Halbwüchsigen, dessen Pubertät in die Zeit der deutschen Besetzung fällt. Man hat an seinem Alltag teil, an den Vergnügungen, den Spielen, der ersten Liebe und an seinen Träumen; aus diesen Bausteinen entsteht unversehens und wie zufällig ein zwingend realistisches Bild der Atmosphäre im besetzten Dänemark, ein Bild der Erwachsenen, die zwar im privaten Kreise ihrem Widerstand Ausdruck geben, die sich imgrunde jedoch recht gut mit den Zuständen arrangiert haben. Besser als dieser Film es zwischen den Zeilen tut, hätte weder ein Dokumentarbericht oder gar einer der üblichen Besatzungsfilme diese Stimmung wiedergeben können. Es wäre zu wünschen, dass DER VAR ENGANG EN KRIG möglichst bald bei uns zu sehen ist. Ohne einige FSK-Schnitte wird er allerdings voraussichtlich leider nicht davonkommen.

Die Kurzfilme hatten entweder dokumentarischen Charakter oder hielten sich an eingeführte Stilformen wie den Zeichentrickfilm oder das free cinema. Lediglich die Kurzspielfilme zeugten von etwas mehr Einfallsreichtum; letzten Endes kamen aber auch sie über das Konventionelle nicht hinaus.       Barbara Bernauer
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Erstes Forum des Internationalen Studentischen Films

In Zusammenarbeit mit der Mannheimer Filmwoche veranstalteten die studentischen Filmclubs der Bundesrepublik das Erste Forum des Internationalen Studentischen Films. Man hatte es sich, laut Programmzettel, zum Ziel gesetzt, "wichtige Ausdrucksformen des un-professionellen Films einem Publikum zur Diskussion zu stellen, das sich nicht scheut, Filme anzusehen, über die man nachdenken muss".

Leider war einiges darunter, was des Nachdenkens nicht lohnte, so FELICIA, ein amerikanischer Film über ein Negermädchen, ihre Umwelt und ihre Lebensgewohnheiten (Heick) oder der Ballettfilm aus Hamburg, die sich beide mit jenem unfunktionellen Dilletantismus im Umgang mit der Technik, den man so gerne manchen Filmen der Münchener Gruppe unterschieben möchte, und platter Abfilmerei, jener nichtssagenden Form des Dokumentarfilms, die aufnimmt, was ihr gerade vor die Linse kommt und dies in und-+ dann-Manier aneinanderklebt, begnügten.

Aus der Schweiz kam DER ZERTEILTE: Drei Männer warten um das Sterbelager eines vierten - alle vier vom gleichen Schauspieler, mal mit, mal ohne Bart, Brille und sonstige Requisiten dargestellt -, um sich nach dem Ableben des Kranken um dessen Vermächtnis, einen Lederbeutel, zu streiten und dabei gegenseitig umzubringen, worauf sich der nur vermeintlich Verblichene erhebt, um seinen Schatz wieder an sich zu bringen: Die Kostbarkeit im Beutel besteht aus Glasmurmeln. Der Regisseur nahm besonders den Schlussgag so ernst, dass er hinweisenden Schwenks und tiefsinnigen Zooms bis hin zum säuerlichen Kitsch verfiel, anstatt seine Mittel, wie wohl ursprünglich beabsichtigt, durch Überhöhung zu parodieren. Erfreulich war dagegen der andere schweizer Film DAS PORTRAIT. Regisseur Murer bringt hier, ganz anders als Heick seine Felicia, mit Witz und viel Pop den Maler Urban Gweder samt Frau und Sohn auf die Leinwand. Ebenfalls recht amüsant: BJJ-459, ein Film aus der Universität Kiel über einen 2 CV (der Titel ist die Autonummer) und einen mit Sack und Pack per Anhalter reisenden Studenten.

Fünf Filme aber waren des Nachdenkens und der Diskussion in besonderen Masse wert (sind deshalb alle fünf von der Auswahlkommission der Filmwoche für den Wettbewerb abgelehnt worden?). Wim van der Linden, Kameramann von Wim Verstappen in dessen DE MINDER GELUKKIGE TERUGKEER VAN JOSZEF KATUS NAAR HET LAND VAN REMBRANDT, zeigte RAPE und TULIPS. RAPE erzählt - in einer Mischung aus gängiger Horror- und Tränendrüsenmanier in delikaten Grautönen und mit schwülstiger musikalischer Untermalung von einer pilzsuchenden Nonne, die im Wald von einem Wüstling vergewaltigt wird. Anders als in DER ZERTEILTE gelingt hier die Parodie der technischen Klischees, wahrscheinlich deshalb, weil van der Linden dazu eine ebenso abgeleierte Trivialgeschichte benutzt. In dem farbigen Film TULIPS zeigt er eine halbe Minute, fast unendlich lang, mit unbewegter Kamera, einen Tulpenstrauss auf gutbürgerlichem Fernsehapparat mit Spitzendeckchen. Erwartungsvolle Musik, vom gleichen Schlage wie in RAPE, führt bedeutungsschwanger zum Finale: ein Blütenblatt löst sich von einer Tulpe und sinkt bedächtig auf den blankpolierten Televisor. Dieser Film scheint mir besser als RAPE. Hier geht van der Linden über die simple Parodie hinaus, indem er das Publikum täuscht, in ihm durch die Musik Erwartungen weckt, die sich nicht in der gewohnten Weise erfüllen, indem er durch die Beschreibung einer Trivialität den Betrachter zur Reflexion über die Trivialität eines sonst Üblichen provoziert.

Peter Staimmer zeigte seinen ersten Film EVE OF DESTRUCTION. Bei seiner Uraufführung im Juli im frankfurter Filmstudio an der Universität errang der Streifen einigen Beifall. Nach mehrmaligem Sehen erkennt man eine klare Linie, die die Aufeinanderfolge der zuerst scheinbar ungeordneten Bilder und die Verwendung des Tones bestimmt. Staimmer entwirft das Portrait eines jungen Mädchens des Jahrgangs 44 - das Jahr, in dem die Frankfurter Oper zerstört wurde: Das Portrait des Mädchens entsteht anhand ihres Erlebens von Zeiterscheinungen: Gammler auf Frankfurts Hauptwache, Atomwaffengegner mit Plakaten, Publikumsstimmen zum Ostermarsch, eine Protestkundgebung; anhand ihrer Erinnerungen, eine Kinderzeichnung, Donald Duck, Originalszenen aus anderen Filmen, die gleichzeitig nebeneinander auf der Leinwand ablaufen wie auf vielen Monitoren, oder wie die Fotos in der Illustrierten, die das Mädchen zuvor in der Hand gehalten hat und aus der die Filmsequenzen gleichsam aufzusteigen scheinen; anhand kurzentwickelter Handlung: sie inszeniert die Kinderzeichnung, die für den Wiederaufbau der Oper wirbt, in der Ruine nach. Bei den Aufnahmen der Ostermarschierer und bei der Nachinszenierung der Kinderzeichnung ist der Protestsong "Eve of Destruction" zu hören: "I want to go home" untermalt die eigentliche Kinderzeichnung, während die Zeile "I got my College degree by color TV" die Aufnahmen der zerbröckelnden Fassade des Opernhauses mit der Inschrift "Dem Wahren, Schönen, Guten" begleitet. Überstrapazierte fotografische und filmtechnische Symbole (besonders auffallend die schön-sinnlosen Auf- und Seitwärtsschwenks bei den Aufnahmen des Opernhauses und des Museumsaufgangs), überführt der Film ebenso der Banalität und Abgeschliffenheit wie die alte Form der Kunstproduktion, für die die Ruine der Oper steht. Die Aufnahmen der Gammler und Ostermarschierer sind so unsauber mit "Eve of Destruction" unterlegt, dass der Text nur noch in Bruchstücken verständlich ist; denn der Anspruch des Liedes, in dem von Krieg, Ungerechtigkeit und Diskriminierung gesungen wird, hat sich schon dadurch aufgehoben, dass das Lied ein Hit geworden ist, mittlerweile ebenso wirkungslos wie die Protestkundgebungen, die zur Institution geworden sind. Mit dieser Vielschichtigkeit appelliert Staimmer an die Erinnerung des Zuschauers, die Erinnerung an andere Filme, bereits bekannte Darstellungstechniken und daran, alte und neue Thesen zu überprüfen.

Werner Nekes, malender Student aus Bonn, zeigte FEHLSTART und START. In dem früheren FEHLSTART versucht er, eine Geschichte anhand von Gegenständen (Balkon, Schaufensterpuppe, Gitter, Haus) und zwei dazwischen agierenden Personen zu erzählen. Der spätere START besteht aus zwei Teilen. Im ersten sieht man den Regisseur auf einer Waldlichtung im Kreise gehen, wobei die im Mittelpunkt fixierte Kamera ihm gleichmässig folgt. Im zweiten Teil nimmt die Kamera ihn auf, wie er in wechselndem Rhythmus, hüpfend, laufend, springend, in verschiedener Choreographie - diagonal, in Schlangenlinien - sich im Bild bewegt. Dieser Teil wird mehrmals unterbrochen von eingeschnittenen Aufnahmen in verschiedenen Filmtechniken wie Zeitlupe und Zeitraffer. In beiden Filmen, ganz konsequent in START, interessieren die Personen nur als Objekte, als Farbmaterial, die die Farbwerte des Hintergrundes durch ihre Bewegung ändern. Die Filmleinwand ist gleichsam die Leinwand eines Bildes, auf das immer wieder verschiedene Schichten aufgetragen werden. Die einzelnen Schichten die sich in einem Bild aufeinanderlegen, erlebt man in den Filmen hintereinander in zeitlicher Abfolge. Die Geschichte der Filme ist gewissermassen die Genese eines Bildes, das erst hinterher im Kopf des Zuschauers entsteht. Als Untermalung verwendet Nekes in beiden Filmen selbstkomponierte Musik, gespielt auf japanischer Flöte, Maultrommel, Makumba und Glöckchen, dazu Bruchstücke aus Schlagerplatten und Geräusche. Während in FEHLSTART die Musik noch einigemale illustrativ erscheint (Balkontanz), ist sie in START ein Gewebe, in dem sich die Töne - analog den Bewegungselementen des Bildes - überlagern und durchdringen.

Gemeinsam ist allen Filmen ihre Bezugnahme auf vertraute Maschen und ihre Reflexion darüber. Während Wim van der Linden sich aber mit dem Aufzeigen der Abgenutztheit gängiger Filmmittel begnügt, versuchen Staimmer und Nekes zugleich neue Ausdrucksformen zu finden, denn die Hoffnung, die alte Naivität, mit der man früher Techniken und Symbole verwendete, wiederzufinden, haben sie längst aufgegeben. (Staimmer zeigt das am Beispiel der Kinderzeichnung in seinem Film: die originale Zeichnung unterlegt er mit "I want to go home", die Nachinszenierung mit "Eve of Destruction"). Um aber auf ihrer Suche nach einer neuen Bildsprache nicht in die alte zurückzuverfallen, versuchen sie ganz aus der Gesetzlichkeit der eigenen Filme heraus neue Techniken zu erfinden. Dadurch scheinen sie zuerst vom Bild her unverständlich, müssen es sein, denn die neuen Methoden der Verständigung zwischen Autor und Betrachter wollen sie ja erst entwickeln. Zur Verdeutlichung ihrer Bilder bedienen sie sich der Musik. Staimmer, dessen Film sonst wie ein Stummfilm vom Bild her bestimmt ist, setzt in den wenigen Synchronstellen von Bild und Ton den unterstreichenden Akzent. Nekes nimmt im Hörerlebnis der Gleichzeitigkeit und gegenseitigen Durchdringung verschiedener Tonelemente vorweg, was der Zuschauer mit den Bewegungselementen des Bildes, den Farben und Formen, selbst vollziehen soll. Damit verlangen sie von ihren Zuschauern bedeutend mehr als, wie Wim van der Linden, nur Kenntnis von Filmgeschichte, Klischees und Tricks. Ihre Filme sind weit weniger Konserven als diejenigen, die bereits fertig sind, bevor sie zur Aufführung kommen, sie erhalten ihre Bedeutung erst im Mit- und Weiterdenken des Betrachters, in dessen eigener Reflexion über Film und seine Mittel.

Es wäre zu wünschen, dass 1967 ein zweites Forum des Internationalen Studentischen Films zustandekommt, auch und vielleicht gerade mit solchen Filmen, die, wie diese fünf, bei anderen Festivals abgelehnt wurden.       Alja Naliwaiko
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World of Comics oder der Komiker B. F.

"Niemand kann die verantwortlichen Männer der FAZ zwingen, den journalistischen Ehrenkodex, den sie selber unterschrieben haben, täglich zu verleugnen. Sie tun, was sie tun, freiwillig und aus eigenem Antrieb. Mildernde Umstände gibt es nicht" (H. M. Enzensberger)

- auch nicht für einen Herrn Bernhard Franke, Bernd Frank oder B. F. - auf welche Chiffre man sich schliesslich geeinigt hat. Mag er selbst (und ein durch manches Leid geprüfter Setzer) auch lange nicht gewusst haben, wie er heisst oder wie er sich nennen soll, ich wusste sogleich, wer er ist: der bundesdeutsche Filmschmock - einen grösseren sah man nie.

Was ihm an bescheidenster Erfahrung und Kenntnis im Umgang mit dem fehlt, worauf er seinen Eifer ansetzt, macht er mit einer verdoppelten Unverfrorenheit wett, die ihm so leicht zur Hand geht wie kaum etwas sonst. Seine offenkundige Ignoranz in fast allem, was er in die Nähe seines journalistischen Tätlichkeitenfeldes zieht, empfindet er nicht als Mangel, der ihn seinen allzu eilfertigen Selbstentblössungen abhalten könnte. Man muss dieses durch keinen blauen Schimmer den Kenntnis getrübte Feuilletonbewusstsein viel eher als den eigentlichen Motor jener zweifelhaften Begabung ansehen, der - einem heruntergekommenen Midas gleich - alles, was ihr in die Hände fällt, zu Dreck wird, den sie drucken lässt. Und gedruckt wird er, weil die paar Fehlinformationen, regelmässigen Halbwahrheiten und selbstherrlichen Verdrehungen, die dem Blatt, in dem B. F. publiziert,- durch seine Laxheit in Fragen journalistischer Sorgfaltspflicht zuwachsen, gar nicht mehr ins Gewicht fallen, wo doch die Waage dort ohnehin weit nach rechts überhängt. Wer seinen täglichen Weinstein aus Vietnam geschluckt hat, dem werden auch die (im Vergleich dazu harmlosen) Pröbchen eines ohnmächtigen Ringens mit der eigenen Unfähigkeit, die ihm ein frankfurter Frankenstein appliziert, nicht mehr schwer im Magen liegen.

Schauspieler, der er war - und in einem tieferen Sinn doch erst wurde, als er zu schreiben begann -, hat man oft den Verdacht, dass er sich einen Jux machen will aus dem Metier, in das es ihn verschlagen hat, weil wohl für das groteskkomische Talent, das sich in den Gespreiztheiten seiner Prosa so unübertrefflich ausdrückt, auf unseren Bühnen kein Platz zu finden war.

Diesem einzigen Talent des Herrn B. F., das ihm nur der hämischste Neid absprechen könnte, dieser Lachmuskelknetung von Friederike Kempnerschen Ausmassen, dieser Prosaakrobatik, mit der er über den tieferen Gründen seiner Seichtheiten sich munter hin- und herschwingt, sei nun "Manege frei!" gegeben.

Nur dort, wo sich die Welt, wie sie sich in des Künstlers Bewusstsein spiegelt, allzu sehr auf den Kopf gestellt fand, habe ich sie hilfreich wieder durch die heilsame Nüchternheit der Fakten auf die Füsse gestellt. Nicht aber, um die Wirkung dieser pieces d' art zu stören, sondern um sie einem verfeinerten Verständnis aufzuschliessen. Sofern die Texte und Zitate, wie fast immer, für sich sprechen, habe ich selbstverständlich auf Hilfestellungen verzichtet. Sie wären ohnedies nur einem dilettantischen Pinselstrich an dem kunstvollen satirischen Portrait zu vergleichen, das Herr B. F. von sich selbst entworfen hat.

P. S.: Die Zitate stammen aus unten aufgeführten Arbeiten B. F.'s; weder sind alle seiner frühen Artikel berücksichtigt - den Liebhabern solcher Begabungen seien sie empfohlen -, noch ist der folgende Zitatenschatz auf den aktuellsten Stand gebracht. Insofern bin ich mir der Vorläufigkeit dieser schmalen Sammlung bewusst; Herr B. F., der ja immer noch publiziert, könnte sie täglich übertreffen: das Reservoir seines unbewussten Witzes dürfte unerschöpflich sein.

I. Artikel:
Sadismus für den Hausgebrauch (Sad.)
Die Revolte der Comics (Rev.)
Eine Frau in der sozialistischen Gesellschaft (Frau)

2. Kritiken:
Hi-Hi-Hilfe (Hi)
Alvarez Kelly (Al.)
Ganovenehre (Gan.)
Drei auf einer Couch (Drei)
Unschuldige Zauberer (U. Z.)
Ein Platz ganz oben (Platz)

I Scherz, Satire, Ironie des B. F.

Es sind fast stets die gleichen Gesichter, die in der Welt des Jerry Lewis über die Leinwand spazieren. (Drei)

Die kommunistischen "Welteroberer" müssen vor Neid erblassen, wenn sie sich den alles umfassenden Sieg der Beatles vor Augen halten. Was den kommunistischen Ideologen und Strategen in Jahrzehnten nicht gelang, die Pilzköpfe schafften es in zwei Jahren. Sie haben im Spiel (anstatt mit Terminologie und Krieg) die westliche Gesellschaft, Kultur und Zivilisation unterwandert. Auch wenn heute schon Diadochenkämpfe um die Beatle-Nachfolge ausgefochten werden, so heisst das doch nur, dass die Beatles auswechselbar, entpersonalisiert wurden, Allegorie der Bewegung des Pop: und damit selber Ideologie. (Hi)

Die Liverpooler Vier mit den wunderschönen langen Hemdkragen, den noch viel längeren frisch gewaschenen Haaren und all ihren traumhaft schicken Kleidern könnte man mit jener sagenumwobenen Flöte vergleichen, die man einmal einem Kaiser schenkte. Durch jedes ihrer Löcher konnte der Kaiser eine Richtung der modernen Kunst sehen: Er pfiff darauf.

Der amerikanische in England filmende Regisseur Richard Lester ist nicht so borniert. Er entlockt jener Pfeife die unwahrscheinlichsten Töne, die in sich tausendfach gebrochen, alle Nuancen unserer Gesellschaft und Kultur widerspiegeln. Lester macht es allen, die hinhören wollen, bewusst, dass die Beatles nicht nur banale Komiker sind. Er zeigt vielmehr, dass seine vier Schützlinge geniale Erscheinungen sind. Jeder ihrer mit eleganter Nonchalance und fast spielend hervorgeschleuderten Sätze schlägt gleich mehrere Eier des Kolumbus auf den Kopf und löst tausend gordische Knoten. (Hi)

Ringo und seine Kumpane behalten auch in den erschröcklichsten Lagen Ihren Charme, bleiben immer hübsch anzusehen. Auch wenn der eine von ihnen durch eine Spritze aus Versehen zu einem mausgrossen Wesen schrumpft, das in sanftem Schwung durch sein linkes Hosenbein herausplumpst und In Aschenbechern herumplanscht! Cartoon- -und Comic-strip-Effekte überstürzen sich und heben das Realitätsgefühl auf. John, der Dichter, spielt seine Klaviermelodien nicht etwa nach Noten, nein, er spielt sie von Comic-Heften ab. (Hi)

Die alte Welt der Fabeln und Mythen ist tot. Wer dem Mann auf der Strasse von den Atriden, den Achäern oder den Phylaken erzählte, dem würde bestenfalls mit einem Achselzucken geantwortet. Mythologisches hat seine Bildhaftigkeit auch für den Gebildeten verloren. Heutzutage bestellen, an Stelle der sprach- und bildschöpfenden Autoren, Historiker, Gesellschaftstheoretiker und Philosophen das Feld der Mythe. (Sad)

Die beiden Komiker erfanden schon damals eine Art Supergrossvater ihres Trivial-Enkels Bond. Sie zerschlagen und zerteppern dabei im wörtlichen und übertragenen Sinn die Fassaden des Bürgermiefs. Aber merkwürdigerweise bleiben sie und ihre Mitspieler in dieser chaotischen Welt ganz unberührt, so gleichgültig, als ob sie nicht dazugehörten. Dadurch werden sie wirklich "sur-real", während der Mister 007 nach wie vor nach Retorte muffelt. Die "Uberwirklichkeit" in ihrer gewollt komischen Wirkung, die von Bond ausgeht, entlarvt sich selbst durch ihre Scheinhaftigkeit. (Rev.)

Die Gags und Einfälle überstürzen sich. Das Prinzip ihrer Reihung ist Ringo, der hässlichste von die vieren, der einzige, der bisweilen aneckt, der komischste und witzvollste. (Hi)

Als ihr die Scheidung aus "bürgerlichen" Prestigegründen nicht gewährt wird, zerschlägt sie die gesellschaftliche Eierschale, in die sie verkapselt ist. (Frau)

"Dinosaurus" ist eine interessante Mischfigur. Er erzählt zu den prähistorischen Monstern, trägt aber auch eine Portion Science-Fiction in seinem Super-Wesen. In dem Dinosaurus-Film wird geschildert, wie ein Ingenieur auf einer einsamen Insel plötzlich aus Versehen während eines grässlichen Sturmes einen Brontosaurus, einen Tyrannosaurus und einen Urmenschen zum Leben erweckt. (Sad.)

Wetter auch eins, der Hautgout des deutschen Spiessertums muss für manche Filmmacher so etwas wie die blaue Blume der Romantik sein. Wenn den Bürgermief-Jägern nichts mehr einfällt, frischauf zum fröhlichen Parforceritt in die Historie. In den zwanziger Jahren, daran lässt sich nichts deuteln, da muss dar manch ein spiessiges Blümlein blühn. Filmregisseur Wolfgang Staudte, auch eines der jungen, wenn auch nicht mehr ganz so jungen, Atlas-Paradepferde, hat schon einmal statt einer schönen "brechtischen" Blume nur das Gras gefunden, an dem sich der Haifisch seiner Dreigroschenoperverfilmung die Zähne ausgebissen hat. Er hätte gewarnt sein sollen. (Gan)

Der Anflug eines guten Kerns, der ihnen vom Regisseur gelassen wird, ist nichts weiter als ein gängiger Westerntopos, unerlässlich als Motivierungsquell für die Handlung eines Films. (Al.)

Die Rehabilitierung von Laurel & Hardy, sozusagen post mortem, hat genealogische Hintergründe. Denn Frank Tashlin, der als Bindeglied zwischen dem alten amerikanischen Slapstick und der "neuen Art von Komik" gilt, wirkte in seinen Anfängerjahren lange Zeit als Gagman für Stan Laurel. Seine Satire wirkt in einer' bewussten Verzerrung der Gegenstände des täglichen Lebens. Die Dinge sind oft lebendiger als die handelnden Personen. In einzelnen Sequenzen, die man mit den Episoden des alten Picaro-Romans vergleichen könnte, nur dass hier anstatt der Personen oft Dinge eine Hauptrolle spielen, wird die uns bekannte Welt auf den Kopf gestellt und tüchtig durchgeschüttelt. Sie wird dabei ausgestaubt wie ein Teppich auf der Teppichstange. (Rev.)

Aus Lesters Regie, seinen Gags und Überraschungen, könnte man mit gewisser Mühe auch das Salz der Satire herauskosten. Aber von Gesellschaftskritik im üblichen Sinne darf man hier nicht sprechen. Die heiligen Güter der Nation, Lester ergreift sie und wirbelt und schwenkt sie nach Starmixmethode tüchtig herum, so dass zum Schluss alles zertrümmert und zerkleinert ist, auch was vorher niet- und nagelfest war. (Hi)

Den meisten seriösen Inszenierungen einer Satire fehlt die eine oder andere der von dem Dramatiker Grabbe im Titel seines Lustspiels "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" gut gemischten Ingredienzen. Oder sie sind in der Reihenfolge vertauscht. Die tiefere Bedeutung dominiert, die Ironie hat Schlagseite, sie ersäuft in Tief- und Trübsinn, und der Scherz geniert sich in so vornehmer Gesellschaft. Er versteckt sich hinter den Rockschössen von allzu tiefer Bedeutung, Satire oder Ironie.

Auf Teufel komm 'raus hat Jerry Lewis in seinem Film (Produktion, Regie und Hauptrolle: Jerry Lewis) "Drei auf einer Couch" die gewiss nicht erst von Grabbe erfundene Stufenleiter des Komischen in der gesellschaftssatirischen Komödie wiederhergestellt. Schon Grabbe hat ja bewiesen: Nur wenn Scherz und handfester Spass den Anfang machen, kommt der Teufel wirklich heraus, sonst friert ihn die Langeweile, und er hält sich warm im Höllenofen.

Bevor Lewis der Gesellschaft, die ihm zuschaut, das satirische Salz peinlicher Entlarvung in die Nase streut, lässt er sie erst einmal herzhaft lachen, damit das Prusten hernach um so erschütternder werde. Dabei kommt ihm eines zugute: der Anfang seiner Karriere beim Varieté. Aus dieser Vergangenheit hat er sich kunstgerecht einen gewissen Hautgout bewahrt: Wer ihn nicht riechen kann, ist es nicht wert. Diesen unangenehmen Beigeruch verstärkt Lewis noch durch die Wahl seiner Mitarbeiter und Komparsen (Juden und Farbige) und durch den tendenziös pazifistischen Nebengeschmack seiner Pointen. (Drei)

Und die tiefere Bedeutung? Auch sie hat eine Hauptrolle in diesem Film. Doch ihren ersten Auftritt hatte sie längst, bevor die erste Klappe gefallen war. Und dabei jagte sie allen Umstehenden einen solchen Schrecken ein, dass sie schnell zu filmen begannen. Und deswegen bewegt man sich in echten Lewis-Filmen so abrupt, deshalb spricht man so schnell, gleichzeitig und sinnlos nebeneinander her, nur aus diesem Grund steht Jerry Lewis nach dem raffiniert fotografierten Tanz mit einer Bardame schliesslich wie eine leblos verwinkelte Vogelscheuche da und fällt beim ersten Windstoss in sich zusammen: Die tiefere Bedeutung sitzt ihnen im Nacken. (Drei)

Keine falschen Töne sind möglich, weder im Wechselspiel von Personen und Situationen, noch im schauspielerischen Ausdruck. Ein so guter Schauspieler wie Zbigniew Cybulski erfüllt die Nebenrolle eines Freundes mit unglaublicher Präsenz und Leichtigkeit, und der inzwischen weltberühmte Roman Polanski ist in der kleinen Rolle des Jazz-Bandleaders zu sehen. Man muss ihn hier erlebt haben, um seinen späteren Film "Messer im Wasser" zu verstehen. (U. Z.)

Das in der dargestellten überwachen Welt schliesslich doch so etwas wie ein aufkeimendes Gefühl von Liebe möglich ist, das ist das Geheimnis des "unschuldigen Zauberns". Wachheit, die Nacht zum Tage machen, Spiel und Sehnsucht (nicht Hoffnung), die kommunistischen Bürger am Morgen mit getriebener Sturheit zur Arbeit gehen zu sehen - das sind Erlebnisse, die gerade aus der Sicht einer polnischen Kamera im Westen aufsehen lassen. (U. Z.)

Exkurs zu den Fehlern

Das Frankfurter "atelier am Zoo" ist soeben mit dem Gilde-Preis 1965 für das beste Jahresprogramm eines Repertoire-Lustspiel-Theaters ausgezeichnet worden. Aus diesem Grunde zeigt es seinem Publikum eine besondere filmische Kostbarkeit, Andrzej Wajdas ,Die Unschuldigen Zauberer" (Niewinni Czarodzieje). (U. Z.)

Es bekam den Gilde-Preis, wie anders nicht möglich, als Repertoire-Filmtheater.

"Boeing-Boeing"

Das Lustspiel "Boeing-Boeing" Marc Camolettis ging mit grossem Erfolg über die Bühnen der Boulevardtheater in aller Welt. Seine Wirkung beruht auf einem zeitgemässen dramaturgischen Trick. Das klassisch-polygame Dreieck wird durch Reihung "nach Fahrplan" ad infinitum und damit ad absurdum geführt. Doch der gewiefte Camoletti zog in seinem Stück nicht die Konsequenzen. Stewardessenjongleur Bernard wird schliesslich monogam und heiratet die energische "Air France" tritt die "Swissair" an seinen Freund Robert ab. Die exaltierte "Pan American" fängt zu guter Letzt einen Millionär aus eigenem Land.

Dies zweifelhafte Ende muss den Antimatrimonarchisten Jerry Lewis gestört haben. Sonst hätte er zusammen mit seinem Freund Dean Martin wohl kaum dem jungen Regisseur John Rich sein Mitwirken zugesagt. Alle drei Frauen sind in dem gemeinsamen Film dieses Teams ihrer schiefen Situation entsprechend in Rollen des austauschbaren Sex zurückgedrängt. Aus Rücksicht gegen die amerikanische Frauenbewegung ist der Part der "Pan American" einer knacker- und sauerkrauthungrigen "Lufthansa" übertragen worden.

Dean Martin muss sich in diesem Film zum freiwillig-unfreiwilligen jonglierenden Artisten zwischen drei Frauen, einem Appartement und seinem journalistischen Beruf machen lassen. Sein alter Partner in vielen Filmen, Jerry Lewis, lässt sich, obwohl rüde zurückgestossen, in seiner Zuneigung zu seinem alten Freund nicht beirren _... Damit hat Lewis, der Dramaturg, das Loch in Camolettis infinitesimaler Reihung aufgedeckt. Als nämlich ein übereifriger Vermittler im Zuge der Flugzeitenverkürzung den drei Mädchen noch zwei weitere exotische Exemplare zur Beschleunigung des Martinschen Herzinfarktes herbeiführen will, ist endlich der Knoten geplatzt _... Trotz der härteren Akzentuierung durch Jerry Lewis ist dieser Film nicht seinen ganz und gar gelungenen zuzuzählen. Man merkt ihm an, dass er nicht bis ins Letzte von den genialen Ideen des amerikanischen Komikers durchdrungen ist. Ausserdem muss man lange auf seinen ersten Auftritt warten. Solange muss der Zuschauer sich mit den begabten, aber doch im ganzen nur konventionellen Ideen des Regisseurs Rich begnügen.

Aber mit Jerrys erstem Auftritt steigert sich der filmische und vor allem schauspielerische Genuss. Die einzelnen Sequenzen sind zwar nicht so gut vorbereitet, sie haben auch nicht den Atem und die Steigerung wie gewöhnlich bei Jerry Lewis. Aber wenn man die Qualität ähnlicher Filmlustspiele vergleicht, ist man zufrieden und hat seine Freude an jeder noch so verkürzten Szene.

Partner von J. L. in "Boeing-Boeing" war Tony Curtis.

"Ein Platz ganz oben"

Der Film "Der Weg nach oben" mit Laurence Harvey und Simone Signoret, der die skrupellose Karriere eines Emporkömmlings im gesellschaftlich verkasteten England zeigt, war aus mehreren Gründen filmgeschichtlich interessant. Erstens erinnert man sich an die grosse schauspielerische Charakterleistung der Signoret, in ihrer Bedeutung nur der Vivian Leigh in "Endstation Sehnsucht" vergleichbar. Ausserdem war jener englische Film von Ted Kotcheff ein Markstein der Filmregie. Der englische Realismus wurde zum ersten Male aus seinem Ateliermief befreit, und die Bahn wurde der Free-Cinema-Bewegung geebnet.

Ted Kotcheff hat nun den gefährlichen Versuch eines Fortsetzungsfilmes gemacht. Der Joe Lampton Laurence Harveys ist nun selbst seit etwa zehn Jahren Mitglied jener Gesellschaft, zu der er durch seine Machenschaften als Outsider Zutritt gewonnen hatte. Der Skrupellose von einst hat inzwischen immerhin Charakter genug, seine Outcaststellung beizubehalten. Rebellisch legt er sich Steine in den eigenen politischen und geschäftlichen Weg. Er beschwört die Krise, verlässt seine Frau und die gesellschaftliche Position, die er sich erkämpft hat, an der Seite einer jungen Fernsehansagerin (von der schauspielerisch erstaunlich weiterentwickelten ehemaligen Goldfinger-Geliebten Honor Blackman dargestellt). Doch es stellt sich heraus, dass Lampton nicht mehr die Kraft hat, ganz von vorne anzufangen. Lampton kehrt an den heimischen Herd und in den Betrieb seines Schwiegervaters zurück. Ein gewiss konventioneller Schluss, der aber in sich eine scharfe Anklage enthält: Wer sich einmal in die Fänge dieser Gesellschaft begeben hat, ist ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Selbst der verbissenste Karrieremacher wird zum müden Kompromissler umgekrempelt.

Das etwa könnte die Devise des neuen Kotcheff-Filmes sein. Es ist dabei kein Zufall, dass vor dem Hintergrund einer solchen Handlung der künstlerische Elan des alten Kotcheff an Frische verloren hat, wenn nicht gar zum Teufel gegangen ist. Die Kamera ist müde und schleppend, keine überflüssige Einstellung bleibt dem Zuschauer erspart. Immerhin scheint Kotcheff seine gute Hand in der Führung seiner Schauspieler behalten zu haben. Im Jahre 1959 hatte er die Signoret bis zum Äussersten ihrer Ausdruckskraft getrieben. Diesmal ist es der alternde Hollywoodstar Jean Simmons, der sich unter seiner Regie auf erstaunliche Weise zu einer sehr warmblütigen, aber dennoch faszinierenden Filmtragödin gemausert hat.

Der Regisseur von "Der Weg nach oben" war Jack Clayton; der Regisseur von "Ein Platz ganz oben": Ted Kotcheff. Sie sind nicht verwandt; ebensowenig derselbe, wie B. F. meint.

Die jungen Kritiker der "Cahiers du Cinéma" (zu ihnen zählten die bekannten Regisseure der "Nouvelle Vague" Chabrol, Truffaut, Rohmer, Rivette und Godard) sahen in seinen Filmen die These ihres Mentors, des Pariser Regisseurs Alexandre Astruc, bestätigt: "Filme sollten Bekenntnis und Schöpfungen eines einzelnen sein!" Damit war das "Autor-Kino" gemeint, das "die Kamera zum Federhalter machen" sollte, zum "camera-stylo", der notwendig zu einer Abwendung vom herkömmlichen Realismus führen musste. In der "Nouvelle Vague" kann man Versuche zu diesen Gedanken sehen. In Godards "Le Mepris" (Die Verachtung) deutet sich sogar bereits eine kritische Auseinandersetzung mit jener Entwicklung an. Auf der Suche nach einer neuen Realität fanden die Leute um Astruc bei Jerry Lewis und den ihm gleichgesinnten amerikanischen Regisseuren die Bausteine ihrer neuen Theorie: in der alogischen Konsequenz der Comic strips und der Animated Cartoons. (Rev.)

Jeder, der Filme kennt, weil er sie gesehen und nicht, weil er einmal so flüchtig über sie gelesen hat, dass er noch nicht einmal Namen und Sachverhalte korrekt abschreiben kann, weiss, dass der Theoretiker und Regisseur, von dem B. F. redet, Alexandre Astruc heisst.

Gass' Film "Kommando 52" sollte ebenfalls in Heidelberg aufgeführt werden. (Frau)

"Kommando 52" ist von Scheumann/Heynowski.

Boris Karloffs Frankenstein-Darstellungen regieren den Markt. Karloff hat übrigens die 1816 von Mary Shelley, der Frau des Lyrikers Perry Bysshe Shelley und der Freundin Lord Byrons erfundene Frankenstein-Gestalt dämonisiert. (Sad.)

So sehr Popist B. F. an Perry Como denken mag, Shelleys Vorname lautet immer noch Percy.

III _... und was er für tiefere Bedeutung hält

Zeitige Meisterwerke

Roberto Rossellini wird 60 Jahre alt

Wie wohl auf kaum einen anderen, so trifft auf den Filmregisseur Roberto Rossellini eines zu: seine Filme sind vitalen Spannungen zwischen Gesellschaft, Politik und Individuum entsprungen. Er brauchte das düstere Kolorit des Krieges, die chaotische Aufgebrochenheit der Nachkriegszeit oder die Doppeldeutigkeit zwielichtiger Privataffären. Nur dann wurde es für ihn möglich, ein filmschöpferisches Sturmgewitter zu entfachen. "Roma, città aperta" (Rom, offene Stadt), dieser berühmte Film, entstand 1944, kurz nachdem die Deutschen die Ewige Stadt geräumt hatten. Gleichzeitig mit diesem Werk war ein Stil geschaffen, der für die Entwicklung des Films bis in unsere Tage von entscheidender Bedeutung ist: der "Neoverismo". Heute, aus historischer Sicht, scheint es beinahe, als ob vor Beginn der zeitigen "veristischen" und verschieden akzentuierten realistischen Filmversuche, in denen das Dokumentarische eine immer grössere Rolle spielt, in den beiden Meisterwerken Rossellinis ("Rom, offene Stadt" und "Das Wunder") ein umfassendes Modell geschaffen wurde. Neoverismus heisst deshalb einerseits: Dokumentarismus. Er bedeutet aber auch: künstlerisch-stilistische Überhöhung, in der emotionellen Wirkungen von Bedeutung sind. Eine wahrhaft romaneske Filmdramaturgie, die ihre Vorläufer bei den französischen Romantikern, etwa in der Formulierung des "Sublimen und des Grotesken" von Victor Hugo, hat.

Die unvergessliche Folge von Sequenzen aus "Roma, città aperta", in der eine sterbende schwangere Frau in den Armen des Priesters Ruhe findet, der in harter Schnittfolge den von der Folter zugerichteten und verstümmelten Widerstandskämpfer und die Passion Christi beweint und segnet, offenbart das Dokumentarische bei Rossellini als bohrendes Mittel der Erschütterung und des quälenden Fragens.

Es ist kein Zufall, dass der langjährige Regieassistent Rossellinis, Federico Fellini, gerade in seiner jüngsten Entwicklung, wie in "Julia und die Geister", an die "überreale" Überhöhung Rossellinis anknüpft. Dagegen ist der sensible Lehrer Fellinis an der Entwicklung und Ausweitung seines Lebenswerkes zerbrochen. Nicht unter seinen Händen erschlaffte die filmische Formel "Neoverismus. Er hat seine Stilkonzeption nicht durchgehalten, fiel bald in einen mitunter platten Naturalismus zurück. Durch seine Liebesaffären (mit der Schwedin Ingrid Bergman und mit der Inderin Sonali das Gupta) fiel er aus der Zeit, seine weltoffene Aufnahmefähigkeit wurde verschüttet und durch das Private zugedeckt. Rossellini blieb fortan ein Regisseur der Mittelmässigkeit. Darüber vermag auch das späte Comeback mit seinem Streifen "II Generale della Rovere" (Der falsche General), der 1959 noch einmal mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, nicht hinwegzutäuschen.

Die künstlerische Epoche Rossellinis ist beinahe zur Legende geworden. Sein sechzigster Geburtstag am 8. Mai scheint uns ein'guter Zeitpunkt zu sein, an die Verdienste eines Mannes zu erinnern, um den es so früh schon trotz seiner Bedeutung still geworden ist.

Die formale Revolution der Comic-Filme hat durch Blake Edwards, eine der interessantesten Figuren der jungen Garde, wichtige Anregungen erfahren. Seine Filme "Der rosarote Panther" und "Ein Schuss im Dunkeln" üben Kritik an den romantischen Utopien und ihrer Verzerrung in die Banalität, ähnlich wie dies bereits Büchners Leonce in der zynischen Schilderung seines Utopia versucht. Clouseau, Edwards Held, sieht sich als grosser Verführer, den grössten Detektiv der Welt, als den Alleswisser. Wie Leonce ist er jedoch nicht dumm. Darin hebt sich seine Komik ab von der unfreiwilligen Lächerlichkeit ähnlicher Figuren. Er hat eine gewisse Grösse. Zugleich ist er ein "Ober-Mensch" im Sinne Golls, ein Stück "Über-Realität", an der sich die Wirklichkeit die Zähne ausbeisst.

Clouseau denkt wie schon Leonce im Zeitrafferverfahren. Er hat ein Computerhirn; dadurch bringt er aber seine Umwelt zur Raserei. Während die Gegenspieler des Büchnerschen Helden sich noch in ihrer Verzweiflung mit einem Fingerschnippen begnügen, versetzt die Roboterlogik Clouseaus seinen Gegenspieler Dreyfus in Raserei, der sich in einem Anfall blinder Wut mit einem Zigarrenabschneider einen Finger abschneidet. (Rev.)

In der "Animation" von Tashlins Figuren - durch Verwendung von Tiergestalten - und in der "synthetischen" Welt seiner Filme, die jedes Gesetz der empirischen Realität verleugnen, ist eine Parallele zu den "Überdramen" Iwan Golls geschaffen, der selber in seinem Vorwort sagt: "Der Dichter muss wissen, dass es noch ganz andere Welten gibt als die der fünf Sinne _..." Bei Goll findet sich eine frühe literarische Prägung der Animation: Im "Methusalem" erheben sich die zur Wohnungseinrichtung gehörenden Tiere (Kuckucksuhr, Hirschkopf über dem Tiersims etc.) und machen Revolution.

Laurel & Hardy leben in Tashlins Schüler Jerry Lewis weiter, der die neue Form auf ihren Höhepunkt führte. Er konnte als Schauspieler seine Konzeption suchen, bevor er sie als Regisseur verwirklichte. Seine Deformationskunst der Glieder und Gesichtszüge liess ihn bald ganz als verzerrtes, tierhaftes, bisweilen kindliches Wesen erscheinen, als wahre menschliche Tom-&-Jerry-Figur. (Rev.)

In der Filmkritik ist in letzter Zeit ein Schlagwort Mode geworden: Man spricht vom Action-Film. Im Action-Film (das englische Wort action bedeutet Handlung, Bewegung) ist die "kinetische" Energie der Bilder auf der Leinwand nach aussen gerichtet. Sie zielt direkt in den Zuschauerraum. Das hat mehrere Konsequenzen. Zunächst und am vordergründigsten wird die Wirkung eines solchen Films durch die Turbulenz in der Folge der Bilder und in der Abfolge der Handlung gesteigert. Aber die Führung der Handlung und der Bilder muss gradlinig sein. Rhythmusverschiebungen oder gar Tempowechsel, ebenso wie übertriebene Zeitsprünge, entwickeln den Action-Film zu einem charakteristischen Slapstick- oder sogar Comic-Film. Was nichts weiter als die nahe Verwandschaft zwischen diesen beiden Filmgattungen zeigt. (Al.)

Inzwischen ist der Comic längst zur Masche des internationalen Filmgeschäfts geworden. Zahlreiche Serien wie Tarzan, Zorro, Maciste, Hercules, Diabolik, Mandrake, Sadik und Fumettik in ihren austauschbaren Klischees machen einander Konkurrenz. James Bond und Lemmy Caution regieren die westliche Filmleinwand. James Bond hat mit Filmkunst nichts zu tun. Sogar die Ironie wird da eingespannt in einen alles verschleissenden Aufwand der Technik, die durch groteske Montage bisweilen das Surreale streift. Godards Adaptation des Lemmy Caution jedoch zeigt, dass die Comics und die ihnen ursächlich verwandten Cartoons auch im Begriff sind, den künstlerischen Film zu ursurpieren. Der Weg zu Agnes Vardas "Le Bonheur" (Das Glück) und der Welt des Film-Pop, zur Kunst aus zweiter Hand, ist angebahnt.

Im Nu hat der künstlerische Comic auch seine historische Herleitung gefunden. Eine eigene Terminologie ist schnell zur Hand. (Rev.)

Georg Büchner, ein früher Vorläufer der modernen Pop-Bewegung, lässt in seinem Lustspiel Leonce und Lena seinen Helden mit zerfurchter Stirn nach den vielfältigen Möglichkeiten einer Pop-Betätigung suchen. Leonce müht sich ab, dreihundertfünfundsechzigmal hintereinander auf einen Stein zu spucken, stellt Überlegungen an, wie er sich wohl selbst auf den Kopf sehen könnte. Will gar Ameisen zergliedern, Staubfäden zählen, sucht nach einer Kinderrassel, "die ihm erst aus der Hand fällt, wenn er Flocken liest und an der Decke zupft". Leonce hat den Nachteil, ein Aristokrat zu sein. Als solcher trägt er mit an Verantwortung für die Not seiner Bauern und Arbeiter. Er muss daher in der Vorrede zu seinem Stück gleichzeitig nach dem Ruhm (Ja Fama") auch nach dem Hunger (Ja Farne") fragen. Sein Lustspiel ist ein halbes Trauerspiel.

Bei den Beatles ist alles anders. Sie stammen selber aus der sogenannten kleinbürgerlichen Gesellschaftsschicht. Sie brauchen sich also keine Gewissensbisse zu machen über das Glück, das sie erreicht haben. Sie wohnen nicht in einem Schloss, sondern hinter spiessbürgerlicher Fassaden, hinter winzigen Vorgärten. (Hi)

Jerry Lewis ist zugleich der unberechenbarste und menschlichste "Comic"-Filmkünstler. Er leistet auf seine Weise einen Beitrag zum beliebten Klischee des amerikanischen Films: dem zertretenen, missachteten Individuum im Kampf mit einer konformistischen Gesellschaft. Dieser Konflikt wird bei ihm aber nicht in der Manier der üblichen Comics gelöst. Beispielsweise erfindet Lewis im "Verrückten Professor" eine Droge, die ihn zum Superboy macht. Aber er findet damit nicht den gewünschten Kontakt, er "kommt nicht an" bei seinen Mitmenschen. Lewis lässt damit seine dialektische Absicht durchschimmern: Verwirklichung seiner selbst. Seine Komik ist daher oft nichts anderes als ein ekstatischer Ausdruck amerikanischer Populärpsychologie, mit einem gehörigen Schuss von individualistischem Anarchismus. (Rev.)

Monster und Horror auf der Leinwand, in den Comics und auf den Schallplatten kommen heute nicht von ungefähr. Ihre Voraussetzungen sind bereits in der Poetik der Romantik geschaffen worden. Victor Hugo hat als erster die Monsters theoretisch in seiner Dramaturgie erfasst. Es ist daher kein Zufall, dass aus seinen Stücken und Prosawerken die Verkörperer des Bizarren, die Buckligen, Gnomenhaften und Verschrobenen in "Horrorwood", dem imaginären Hollywood der Monster, noch heute akzeptiert werden. Der Glöckner von Notre Dame geniesst die Hochachtung der Monsterianer.

Victor Hugo hat im zweiten Teil seiner "Preface de Cromwell" eine epochemachende Simplifizierung Shakespeares und der aristotelischen Dramarturgie in der Forderung geleistet, das Groteske mit dem Erhabenen zu mischen. Der 25. Februar 1830, das Uraufführungsdatum der "Bataille d' Hernani", ist berühmt als Absage an die klassischen Normen.

Die Regeln der Klassik wurden in einer offenen literarischen Schlacht attackiert. Man hatte sich den Namen Shakespeares aufs Panier geschrieben und merkte im Eifer des Gefechtes nicht, dass man im Kampf um die Regeln den grossen englischen Dramatiker gründlich missverstanden hatte. Wie es aus zeitgenössischen Theaterberichten hervorgeht, wurde die individualistische Charakterkunst der Schauspieler bereits damals vergröbert. Aber gerade damit wurden die Voraussetzungen für spätere Groteskformen des Theaters und für den Expressionismus geschaffen. Der Weg zu den alogischen, jeweils zahlreiche Glieder überspringenden Kettenreaktionen der Comics und Animated Cartoons zeichnete sich ab. Alfred Jarrys erst heute verstandener "Ubu Roi" und Ivan Golls "Über-Dramen" sind sensibel vorausgeahnte Fixpunkte dieser Entwicklung. (Sad.)

Ausbrüche aus den gesellschaftlichen Normen der Moralvorstellungen sind bei Kleist erstmals in verblüffender Krassheit formuliert. Später, etwa bei Hasenclever und Sorge, werden sie fast schon wieder zur Norm. Sie sind mitbestimmt durch das Dilemma des einzelnen gegenüber dem Ballast und der Vielfalt der überkommenen mythischen Bilder. Kleist macht diesen Vorgang in seiner Penthesilea deutlich. Die Amazonenfürstin wird sich ihrer Beziehung der Gesellschaft und der Religion gegenüber klar bewusst und flüchtet sich folgerichtig in das Unerlässlichste, was dem Menschen gegeben ist, in ihr Gefühl. Eine selbstherrliche Idiosynkrasie, die nicht anders als in der Selbstauflösung enden kann.

Wie es die Ausgeburt der modernen Schock- und Monster-Movies beweist, ist die Gesellschaft, auch im Bewusstsein verlorener Bezüge, nicht in der gleichen schwierigen Situation. Sie kann sich neue allgemeine Vorstellungsbereiche erschliessen. Das Gefühl wird in ihr zum Unbewussten hinaufdestilliert. Für das Unbewusste einer Masse aber lassen sich rasch übergreifende Gemeinsamkeiten finden, allgemeinverständliche Bilder, die voller Anspielungen auf verstandene und missverstandene Vorgänge der Zeit sein können. (Sad.)

Man hat neue Wege gefunden, den Klischees und Konventionen unserer Welt auf den Leib zu rücken, indem man die Klischees selbst übereinander herfallen lässt. Aber heisst das nicht eigentlich den Teufel mit Beelzebub austreiben? (Rev.)

Gewiss.       Wolfram Schütte
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Gespräch mit Jerzy Skolimowski

Am 18. November 1966 hatte "Barriere", der neueste, dritte Film von Jerzy Skolimowski, seine Erstaufführung im Warschauer Kino "Atlantic". Den Namen dieses jüngsten polnischen Filmregisseurs merkten sich Filmjournalisten zum erstenmal während der Internationalen Filmwoche Mannheim 1964, wo man "Besondere Kennzeichen keine", den Debütfilm eines Aussenseiters, der unter ungewöhnlichen Bedingungen während Skolimowskis lodzer Studienzeit entstanden war, ausserhalb des Wettbewerbs sehen konnten. Die Auswahlkommission des Kurzfilmfestivals, das lange Debütfilme fördern möchte, zeigte abermals - seinerzeit wurde auch Polanskis "Das Messer im Wasser" abgelehnt - kein Fingerspitzengefühl, indem er diesem Autorenfilm von Skolimowski ein polnisches Blut- und Bodendrama vorzog. Die meisten Journalisten liessen sich jedoch nicht täuschen, und in zahlreichen Festivalbesprechungen wurde der Film - den man in einer speziellen Vorführung in Mannheim sehen konnte - als der moralische Sieger des Debütfilm-Wettbewerbs der Mannheimer Filmwoche gewürdigt. 1965, anscheinend um die Blamage des Vorjahres zu tilgen, wurde "Walkover", Skolimowskis zweiter - und zugleich erster in der "normalen" Filmproduktion gedrehter - Film zum Debütwettbewerb eingeladen. Der Film wurde zwar nur mit einem Ehrendiplom bedacht, aber der Regisseur erntete erneut grösstenteils lobende Kritiken. Skolimowskis letzter Film "Barriere" erlebte seine Uraufführung im Ausland. Der Film wurde zum Wettbewerb des Autorenfilms - welcher zum erstenmal während des diesjährigen Filmfestivals in Bergamo ausgetragen wurde - eingeladen. Unter sechs Bewerbern errang der Film den Grand Prix, und Skolimowski konnte eine beachtliche Geldprämie einstecken. Zur Zeit dreht er - in Belgien - seinen vierten Spielfilm, aber das Drehbuch seines nächsten Films, unter dem Titel "Hände hoch", ist bereits akzeptiert, und der Regisseur hofft, diesen Film im Frühling 1967, wenn er nach Polen zurückgekehrt ist, beginnen zu können.

"Barriere" wurde von einer münchener Firma für die westlichen deutschsprachigen Länder erworben. "Besondere Kennzeichen keine" und "Walkover" wurden vom Zweiten Deutschen Fernsehen gekauft und dürften in den nächsten Monaten auf den Bildschirmen der Bundesrepublik erscheinen. Jerzy Skolimowski, der ziemlich zufällig zum Film kam, ist ein typischer Vertreter des sogenannten Autorenfilms. Der frühere Boxer, Schlagzeuger und Poet macht nicht nur seine Filme nach eigenen, meist autobiographisch gefärbten Einfällen - denn von Drehbüchern kann wohl kaum die Rede sein -, aber er bevorzugt auch vor allem sich selbst als Hauptdarsteller, ist von der ersten Klappe bis zum letzten Schnitt unmittelbar an der Gestaltung seiner Filme tätig. Skolimowski ist die grosse Hoffnung des polnischen Films.       Bohdan Ziolkowski

Frage: Um ganz am Anfang zu beginnen: Sie schrieben zusammen mit Andrzej Wajda das Drehbuch zu seinem Film "Die unschuldigen Zauberer". Die ungewöhnliche Position dieses Films im Schaffen Wajdas wurde erst verständlich, als man Ihre beiden Filme "Besondere Kennzeichen keine" und "Walkover" sehen konnte. Wie gestaltete sich Ihre Mitarbeit bei dem Film von Wajda?

Skolimowski: In Hinsicht auf mein Alter war ich sozusagen Spezialist für Jugendangelegenheiten. Die Hauptfigur, den Sportarzt, wie auch die Gestalt des Boxers habe ich mit zahlreichen autobiographischen Fähigkeiten ausgestattet. Wie Sie wissen, boxte ich als junger Bursche, später interessierte ich mich für Jazz. Die Jazzbewegung war damals - also um 1955/56 - in Polen äusserst expansiv. Um diese Zeit gehörten die Jazzmusiker ganz sicher zu der intellektuellen Elite des Landes. Weil ich daran nicht nur als Zaungast teilnehmen wollte, versuchte ich selbst zu musizieren, ich spielte Schlagzeug. Es ist sogar passiert, dass ich einmal öffentlich mit der "Melomani"-Band spielte (eine der besten damaligen polnischen Jazzgruppen - Anm. B.Z.). "Dentox"-Sobocinski, der professionelle Schlagzeuger, kam nicht, und man erlaubte mir, mich an die Trommeln zu setzen; das war auf irgendeinem Tanzabend. Jedenfalls kannte ich dieses Milieu, was dann auch in der Gestalt des schlagzeugspielenden Arztes zum Ausdruck kam: das Jazzen passioniert ihn viel mehr als seine berufliche Tätigkeit als Sportarzt. Das Sportmilieu wiederum war mir aus meiner Boxerzeit bekannt. Ich schrieb damals sogar über Sport, kurze Zeit war ich auch Sportjournalist. Allerdings wurde ich später auch Filmjournalist; ich schrieb kurze Filmbesprechungen, Produktionsreportagen; ich erinnere mich sogar, was für Filme das waren: "Schwarze Flügel" und "Die Stimme aus dem Jenseits" von Rózewicz.

Frage: Also in gewisser Hinsicht schlugen sie einen Weg ein wie die jungen Franzosen?

Skolimowski: Aber ich versuchte es mit mehreren Berufen. Wie Sie sehen, habe ich hier ganz schnell drei oder vier aufgezählt, und es waren ihrer noch mehr, so dass die journalistisch Tätigkeit wohl doch nicht so typisch wie bei den Franzosen war. Auch heute noch habe ich ab und zu Lust, etwas zu schreiben, wenn ich wütend werde, wenn ich gewisse Rezensionen gelesen habe.

Frage: Wäre das in Ihrer gegenwärtigen Situation unmöglich?

Skolimowski: Es ist nicht einfach, weil das doch Interventionen in eigener Sache wären. Ich bin ein bisschen jünger als die anderen, und das ist kein günstiger Ausgangspunkt für kritische Bemerkungen. Wenn ich Staatspreisträger werde, was mir vielleicht in fünfzig Jahren widerfährt, werde ich auf meine heutigen Bemerkungen zurückkommen.

Frage: War Ihr Mitwirken an "Den unschuldigen Zauberern" - als Drehbuch-Coautor und nachher als Schauspieler - Ihre erste praktische Filmerfahrung?

Skolimowski: Welcher Film war früher: die "Zauberer" oder "Eroica"?

Frage: "Eroica".

Skolimowski: Ja, "Eroica" das war im Winter, und das Drehbuch zu den "Zauberern" schrieben wir im Frühjahr. Eine Filmkamera habe ich zum erstenmal während der Aufnahmen zu "Eroica" gesehen. Das war 1958, damals habe ich auch Andrzej Munk kennengelernt. Ich kann wohl mit Recht sagen, dass wir uns während der späteren, einige Jahre dauernden Bekanntschaft angefreundet haben. Ausserdem hat mir Munk sehr bei meinen ersten Versuchen in der Schule (Filmhochschule in Lodz - Anm. B.Z.) geholfen, auch bei meiner Drehbuchtätigkeit. Es ist zum Beispiel völlig unbekannt, dass Munk unser - Polanskis und mein - Drehbuch zu "Das Messer im Wasser" konsultiert hat. Ich habe sogar noch zu Hause einige Fassungen dieses Drehbuches, die mit Bemerkungen Munks übersät sind. Sie waren meistens sehr treffsicher, manchmal boshaft, aber geholfen haben sie uns immer sehr.

Auf Ihre Frage zurückkommend: während der Aufnahmen zu "Eroica" habe ich tatsächlich zum erstenmal einen lebendigen Regisseur gesehen, zum erstenmal sah ich eine Filmkamera, Schauspieler; Munk drehte gerade die winterliche Episode des Films, auf die er dann während des Schnitts verzichtet hat. Dort hatte ich auch die Gelegenheit, zum erstenmal im Film zu spielen. Ich durfte nämlich einen Schauspieler vertreten, der schlecht Ski fuhr. Ich fuhr zwar auch nicht besonders gut, aber ich war auf alles gefasst, und obwohl ich sah, dass die Abfahrt senkrecht in die Tiefe führte, sagte ich, dass ich ausgezeichnet Ski fahren könne, sauste runter und, wie Sie sehen, lebe ich noch. Effektvoll ausgedrückt kann man sagen, dass ich meine Filmkarriere als Stuntman begonnen habe.

Frage: Noch einmal zu den Anfängen Ihrer Filmbiographie: mich würde Ihre Zusammenarbeit mit Polanski an dem Drehbuch zu "Das Messer im Wasser" interessieren.

Skolimowski: Ich bewarb mich um die Aufnahme in die Filmhochschule, glaubte im Ernst aber gar nicht daran, dass es gelingen könnte. Das war im Sommer 59, und ich war in Lodz zu den Atelieraufnahmen zu "Die unschuldigen Zauberer". Ich erinnere mich jetzt nicht mehr ganz genau, aber es war doch wohl Wajda, der eines Tages sagte: "Warum hast du dich eigentlich nicht zur Aufnahmeprüfung für die Schule gemeldet?" Jemand anders sagte darauf, dass es jetzt so gut wie zu spät sei, weil die Prüfungen schon begonnen hätten, so dass ich es also erst im nächsten Jahr versuchen könne. Ich überlegte es mir, rannte zur Schule, und es stellte sich tatsächlich heraus, dass die Prüfungen bereits vor drei Tagen begonnen hatten. Man hat mich ziemlich komisch angeschaut, aber durch irgendeinen glücklichen Zufall konnte ich alle Formalitäten erledigen, und nach kurzer Zeit sass ich schon zwischen den anderen Aspiranten. Von fast hundert Bewerbern wurden damals fünf in die Regiefakultät aufgenommen. Ich bestand die Prüfung wahrscheinlich nur deswegen, weil mich das alles im Grunde genommen kaum etwas anging. Überhaupt habe ich damals den Film nicht ernst genommen. Ich war ein junger Dichter, der gerade seine ersten Bändchen herausgegeben hatte, und das begeisterte mich damals wirklich. Film hingegen - Der Gedanke, dass ich es nach langen Jahren zum Regisseur bringen würde, war so irreal, dass ich das Ganze sehr leicht nahm.

Frage: Hatten Sie damals schon irgendwelche Studien beendet? (Das war damals die Grundbedingung für Bewerber der Regiefakultät)

Skolimowski: Ich hatte eine ganze Menge angefangener Studien und tat so, als ob ich ein Studium bereits beendet hätte. Ich legte nämlich mein Studienbuch vor, wo selbstverständlich viele Examensbestätigungen fehlten, aber theoretisch stand ich vor der Abschlussprüfung; es waren ethnographische Studien.

Frage: Formell haben Sie diese Studien niemals zu Ende geführt?

Skolimowski: Nein, ich bekam sogar das Thema meiner Abschlussarbeit, aber damit begnügte ich mich.

Frage: Ich komme noch einmal auf "Das Messer im Wasser" zurück: wie gestaltete sich Ihre Zusammenarbeit mit Polanski? Hat er das Drehbuch geschrieben, und Sie haben sich erst später eingeschaltet?

Skolimowski: Nein, als ich hinzukam, stand noch kein Wort auf dem Papier. Es gab nur eine Erzählung von Romek, die er allerdings überall und allen zum besten gab, im Schauspielerklub, im Zug, in der Strassenbahn, auf der berühmten Treppe in der Schule. Selbstverständlich verfeinerte er auf diese Weise die Erzählung. Einen Film konnte man daraus wohl kaum machen, es fehlte auch an dramaturgischen Ansatzpunkten. Das alles musste erst geformt werden. Mein eigentliches Verdienst bestand darin, dass ich eine dramaturgische Konstruktion entwarf. Es gelang mir, die Geschichte, die bei Romek drei oder zweieinhalb Tage dauerte, auf vierundzwanzig Stunden zusammenzuraffen. Selbstverständlich begriff Romek blitzschnell, dass dies der richtige Weg sei, und so begann unsere Zusammenarbeit. Praktisch sah das so aus, dass wir uns für eine Woche in seiner Wohnung einschlössen. Man muss noch hinzufügen, dass der Sommer 1959 besonders heiss und unerträglich war. Barbara Kwiatkowska(-Lass-Böhm) versorgte uns mit erfrischenden Säften, und wir sassen bei verhängten Fenstern, eingehüllt in feuchte Bettlaken, und brüteten die ganze Geschichte aus. Wir arbeiteten sehr kurz an diesem Drehbuch. In einer Woche, vielleicht in sechs Tagen, war es fertig. Selbstverständlich war das erst der Anfang. Dann kamen die Umänderungen, Verbesserungen. Das alles dauerte ziemlich lange, so dass der Film erst zwei Jahre später realisiert wurde. Dann hat man Polanski vorgeschlagen Stanislaw Dygat solle die Dialoge zu diesem Film schreiben, und ich muss betonen, dass Roman sich kategorisch geweigert hat, obwohl der Vorschlag für ihn schmeichelhaft sein musste, denn Dygat war damals schon ein angesehener Schriftsteller.

Frage: Dygat war damals der führende Dialogist im polnischen Film.

Skolimowski: Das stimmt und seine Mitarbeit an einem Film musste man als eine gewisse Auszeichnung werten. Alle waren auch äusserst erstaunt, als Romek auf die Mitarbeit Dygats verzichtete und es durchsetzte, dass ich die Dialoge schrieb. Ich glaube, dass das keine schlechte Idee war und die Dialoge dem Film geholfen haben.

Frage: Eine Frage, die vielleicht komisch klingen wird: dachten Sie damals nicht daran, den Film selbst zu machen?

Skolimowski: Nicht im geringsten. Ich dachte damals überhaupt noch nicht daran, dass ich jemals Filme machen könnte. Wenn man ein frischgebackener Student an der Filmhochschule ist, denkt man wirklich noch gar nicht daran. Das Bewusstsein dieser Kluft, die einen Studenten im ersten Studienjahr von einem Regisseur, der seinen Film präsentiert, trennt, ist so ungeheuer und deprimierend, dass ich mit Bewunderung all diese jungen Menschen, zu denen ich selbst noch vor kurzem gehörte, beobachte, die an sich glauben und nicht aufgeben. Wenn ich, schon als älterer Student, mir vorstellte, ich müsste von vorne anfangen - na, ich weiss nicht, ob ich mich zum zweitenmal entschliessen würde.

Frage: Einige unserer jüngeren Regisseure äussern die Meinung, sie verdankten einen grossen Teil des Erfolgs ihrer Ausbildung in der Schule der Besichtigung alter Filme. Was meinen Sie dazu? Sind Sie gerne "ins Kino gegangen"?

Skolimowski: Ins Kino zu gehen, war eine der Möglichkeiten, die Vorträge zu schwänzen. Weil ein gewisser Snobismus es befiehlt - immer und in allen Schulen -, an möglichst wenigen Vorlesungen teilzunehmen, sassen wir selbstverständlich in den Vorführräumen. Es ging dabei nicht nur um Filme; dort führten wir Gespräche, dort flirteten wir und besorgten uns unsere Lektüre. Ich möchte dem Anschauen alter Filme keine übermässige Bedeutung beimessen. Wenn es Sie interessiert, worin ich die eigentliche Bedeutung der Schule sehe, dann kann es nur eine Antwort geben: dass man in der Schule Filme machen kann. Alles, was ich in der Schule gelernt habe, verdanke ich der Möglichkeit des praktischen Filmemachens und der späteren Beurteilung dieser Filme durch Fachleute. Gleichzeitig ist es sehr gut, dass die Beurteilung durch verschiedene Personen vorgenommen wird, von verschiedenen Gesichtspunkten aus; dabei kann man etwas lernen. Alles, was man selbst gemacht hat, jede Schnittstelle, die nachher analysiert wird, ob man das hier nicht zu sehr gekürzt hat oder ob man es nicht doch ein bisschen schneiden könnte - das ist die eigentliche Lehre. Ich habe mit Erstaunen gehört, dass in anderen Schulen, vor allem im Westen, die Studenten während der ganzen Studienzeit einen oder zwei Filme machen. In dieser Hinsicht ist die polnische Schule vorbildlich, denn in jedem Studienjahr macht man wenigstens einen, öfter zwei oder mehr Filme. Ich selbst habe in der Schule mindestens sieben Übungsfilme gemacht, den Film "Besondere Kennzeichen keine" gar nicht mitgerechnet, der doch auch aus einigen Filmen bestand. In den praktischen Möglichkeiten, die in der Schule gegeben sind, besteht nach meiner Meinung ihre grundlegende Bedeutung, und darum kann man dort etwas lernen.

Frage: Wann kam Ihnen die Idee, "Besondere Kennzeichen keine" in der Schule in Abschnitten zu realisieren und den Film nachher zusammenzufügen?

Skolimowski: Ich erzählte so eine eindrucksvolle Geschichte, dass ich nur auf die Filmhochschule gegangen sei, um diesen Film zu machen. Das hört sich gut an. In Wirklichkeit war es ein bisschen anders. "Besondere Kennzeichen keine" war ein Durchhaltefilm, es war Selbstverteidigung gegen die freiwillige, einige Jahre dauernde Isolation vom normalen Leben. Ich musste auf alles andere verzichten, auf meinen Beruf, mein Heim, die Schar meiner Bekannten. Ich lebte zur Pension in einer anderen Stadt, weil die Schule in Lodz und nicht in Warschau ist. Eigentlich hatte ich schon damals eine gewisse Position als Schriftsteller, konnte aber die neuen Studien mit meinem Beruf nicht kombinieren. Es war also eine bewusste Resignation. Von all dem, was ich bisher gemacht hatte, zog ich mich zurück, dafür suchte ich eine Entschädigung. Eine zu geringe Entschädigung schien mir die Möglichkeit des selbständigen Debüts nach einigen Jahren - was ja auch ungewiss war, weil ein Debüt von so vielen Faktoren abhängig ist. Es war, glaube ich, während des zweiten Studienjahres, als ich zu der Überzeugung kam, dass meine Studien nur dann sinnvoll wären, wenn ich meinen Einfall bezüglich "Kennzeichen" verwirklichen könnte. Das wuchs so langsam in mir, sowohl die Idee des Films wie auch die Absicht, einen so "grossen" Film daraus zu machen. Etwa vom Ende des zweiten Studienjahres bis ins vierte Diplomjahr arbeitete ich an diesem Film.

Frage: War die Schulleitung darüber informiert?

Skolimowski: Selbstverständlich war ich so vernünftig, niemandem etwas zu sagen, als ich die Arbeit begann, denn man hätte mich wahrscheinlich mit Interesse, aber auch mit einer gewissen Beunruhigung betrachtet. Ich sprach erst dann darüber, als reale Möglichkeiten mich hoffen liessen, dass mein Vorhaben gelingen würde. Auch dann noch stiess ich auf Zweifel, Achselzucken usw. Aber all diese Zweifel wurden nur von niederem Schulpersonal geäussert. Ich muss hier ganz klar betonen, dass die führenden Pädagogen, die Professoren Wohl und Bossak und Rektor Toeplitz, mir sehr, sehr geholfen haben, mich in meinen realisatorischen Absichten zu bestärken.

Frage: In jedem Ihrer drei Filme ist die Frauengestalt aktiver als der männliche Partner, in Ihren Filmen sind die Frauen selbständig _...

Skolimowski: Das stimmt, aber die Folgerung ergibt sich doch wohl für Kritiker, nicht für mich. Aber Sie haben doch bewusst die einzelnen Rollen entsprechend betont.

Ich muss zugeben, dass ich für mich keine theoretischen Forderungen aufstelle in Bezug auf das, was ich zeigen will, was ich erzählen werde. Ich kümmere mich nicht um eine präzise Thesenstellung, denn ich habe die Befürchtung, die These würde eine zu grosse Belastung für das, was ich tue, darstellen. Vielleicht ist das ein Fehler, vielleicht ist es wichtiger, eine These aufzustellen und sie dann im Kino zu illustrieren. Ich bringe so etwas nicht fertig.

Frage: Wichtig ist selbstverständlich nur das Resultat.

Skolimowski: Ich mache Filme aus dem, worüber ich nachdenke und nicht aus den Schlüssen, zu denen ich gekommen bin.

Frage: Soll das bedeuten, dass der Schaffensprozess in Ihrem Falle fliessend ist oder, anders gesagt, dass Sie sich erst während der Realisation des Films voll bewusst werden, was Sie zum Ausdruck bringen wollen?

Skolimowski: Das haben Sie wundervoll formuliert.

Frage: Aber es muss doch einen Ausgangspunkt geben, wenigstens, wenn es um Ihre - nennen wir es ganz allgemein - Überzeugungen geht, abgesehen in diesem Falle von der Filmform und der Story.

Skolimowski: Sie sagen Überzeugung - na gut, aber es sind ihrer so viele, dass man oft überhaupt nicht sagen kann, welche davon die wichtigste ist. Nehmen wir "Barrtere" als Beispiel: eine meiner Überzeugungen war, dass die junge Generation vergeblich nach einer Möglichkeit sucht, sich zu bestätigen, nicht wahr? Indem die Jungen ihr Schicksal mit dem Schicksal der Kombattanten vergleichen, überzeugen sie sich von der eigenen Unzulänglichkeit, Minderwertigkeit. Dieses Thema wollte ich ganz bewusst in meinem Film ausdrücken, aber es war nur eins von vielen. Ich bin jetzt nicht imstande zu sagen, welche Überzeugungen von Anfang an in der Idee des Films steckten und welche später hinzu kamen, sich änderten usw.

Frage: Wenn in Ihren Filmen Reminiszenzen aus der Vergangenheit auftauchen, sind sie immer irgendwie mit dem Krieg verknüpft. Es fehlen aber Anspielungen auf die Zeit des sogenannten Persönlichkeitskultes, was zum Beispiel im jungen tschechoslowakischen oder sowjetischen Film sehr starken Anklang findet.

Skolimowski: So ist es nicht. Wir werden gleich nachsuchen. In "Besondere Kennzeichen keine" ist die Gestalt des Mundek, der die fotografischen Porträts macht. Man macht ihm dort den schwerwiegenden Vorwurf: "Du warst doch Vorsitzender des stalinistischen Jugendbundes bei uns in der Schule". Die Charakteristik dieser Gestalt ist derart, dass man eine ganz klare Vorstellung bekommt, was er und ihm verwandte Menschen repräsentierten und was aus ihnen nachher geworden ist. Dann die Geschicke des Helden, die doch auch irgendwie verunstaltet wurden; er sagt, man habe ihn in jener Zeit aus der Technischen Hochschule hinausgeworfen. All das sind, vielleicht indirekte, Anspielungen. In "Walkover" taucht dasselbe Motiv in dem Gespräch mit dem Direktor des Kombinats auf, vor allem ist es jedoch in der Gestalt Teresas verkörpert. Teresa ist eine ehemalige Jugendfunktionärin, das ist der Schlüssel zu ihrer Gestalt. Bitte sehr, ein hübsches Mädchen, aber früher eine Funktionärin, und ihr Charakter ist irgendwie verkrümmt.

Frage: Nur in "Barriere" sind Sie davon abgegangen.

Skolimowski: Da erscheint wieder der Mundek aus "Besondere Kennzeichen".

Frage: Also auch in Ihren Filmen findet man Spuren dieser traurigen Epoche, man kann aber sagen, dass sie _...

Skolimowski: Das Thema ist mit Hilfe der Gestalt Teresas aus "Walkover" weitgehend erschöpft.

Frage: Ausserdem ist es bei Ihnen, im Vergleich mit Beispielen aus den tschechoslowakischen Filmen, viel feiner angedeutet.

Skolimowski: Eben. Sehen Sie, ich geniere mich meistens, jemandem etwas aufzubürden. Ich gehe ein Problem nicht gern direkt an, es ist besser, wenn es in Anspielungen, Dialogfetzen zum Ausdruck kommt. Wir haben doch in allen meinen Filmen mit Lebensläufen und Lebensbeschreibungen verschiedener Menschen zu tun, und deswegen muss auch diese Epoche ihres Lebens berücksichtigt werden. Es ist so, weil ich die Themen nicht ausklügele, nicht aussuche. Ich mache wirklich nur das, worüber ich gerade nachdenke, das, was mich in diesem Augenblick am meisten trifft. Und immer verwertet man auf diese Weise die eigenen Erfahrungen und Überlegungen.

Frage: Sie haben einmal erwähnt, Sie würden vielleicht den dritten fehlenden Abschnitt des Films über Andrzej Leszczyc machen. War "Barriere" anfänglich so konzipiert, dass Sie auch in diesem Film die Hauptrolle selbst verkörpern wollten?

Skolimowski: Ich hatte diese Absicht, leider musste ich nachher darauf verzichten. Ich sage ganz offen, vielleicht war es besser so. Es hat keinen Sinn, jetzt darüber nachzudenken, ob der Film besser wäre, wenn ich darin gespielt hätte. Bestimmt wäre er ganz anders, aber auch er hätte verschiedene Unzulänglichkeiten aufzuweisen.

Frage: Hätten Sie keine Lust, einen Film über die Militärzeit Leszcycs zu drehen?

Skolimowski: Nein - wissen Sie, das Thema müsste so drastisch behandelt werden -. Stellen Sie sich das vor: Leszcyc in den Getrieben der Militärdisziplin, das wären doch halsbrecherische Kombinationen. Ich weiss nicht, ob die Darstellung dieses Themas befürwortet würde -.

Frage: Das dürfte für Sie doch kein Hindernis sein, weil Sie ja praktisch der einzige Regisseur in Polen sind, der Filme entgegen allen bestehenden Produktionsregeln und -Systemen zu machen versteht.

Skolimowski: Aber in diesem Falle würden wir ein viel gefährlicheres Tätigkeitsfeld beschreiten, nämlich das Militärwesen, und hier könnte man schon verlieren. Die ganze Armee gegen sich haben, das ist doch ein grosses Risiko.

Frage: Im Zusammenhang damit - obwohl Ihre praktische Tätigkeit das ohnehin bestätigt - eine theoretische Frage: kann in Polen ein intelligenter Regisseur jedes Thema realisieren, müsste ihm das gelingen?

Skolimowski: Die Aufteilung der Regisseure in intelligente und andere ist sehr unbequem. Nach meiner Meinung kann jeder Regisseur, nicht nur ein ausgesprochen intelligenter, machen, was er will. Selbstverständlich muss er für die Durchführung seines Planes entsprechende Argumente finden und den Film wirklich machen wollen. Sie haben erwähnt, dass ich Erfolg habe bei der Realisierung meiner Filmpläne.

Frage: Jedenfalls beweisen es der erste und der dritte Film.

Skolimowski: Der zweite eigentlich auch.

Frage: Schon, aber das Drehbuch von "Walkover" wurde im "normalen" Verfahren akzeptiert.

Skolimowski: Nein, "Walkover" entstand als Ausläufer meines ersten Films, das war wieder etwas anderes.

Ich bin einfach in einer Zwangslage. Wenn ich ein Drehbuch vorlege, dann habe ich ausser diesem Projekt nichts mehr vorbereitet. Das ist alles, woran ich in diesem Augenblick denke, was mich beschäftigt. Deswegen muss ich um die Möglichkeit der Realisation kämpfen, mir bleibt nichts anderes übrig. Meine Kollegen hingegen - vielleicht handeln sie richtig - denken gleichzeitig an eine Komödie, einen Western und ein feines psychologisches Drama. Sie legen das feine psychologische Drama vor, aber in der anderen Hand halten sie die Komödie bereit. Wird das feine psychologische Drama nicht akzeptiert, strecken sie die andere Hand aus und sagen: "Bitte sehr, hier ist eine Komödie", und diese Komödie wird dann akzeptiert, und sie machen diese Komödie. Man kann 's auch so machen, weil ich aber in der anderen Hand keine Komödie habe, muss ich um das kämpfen, was ich besitze.

Frage: Sie sagten, bei uns hätte eigentlich jeder die Chance, sein Projekt durchzusetzen, wenn er nur wirklich will und auch weiss, wie man es machen muss. Soll das heissen - in Anbetracht der Lage des polnischen Films in den letzten zwei, drei Jahren -, dass niemand so richtig will?

Skolimowski: Es herrscht die - meiner Ansicht nach - unzutreffende Überzeugung von den Schwierigkeiten, die mit der Durchsetzung eines ambitionierten Themas verbunden seien. Mich versetzt das Fehlen jeglicher Besessenheit bei der Verwirklichung eigener Pläne manchmal in Erstaunen. Der einzige Fall, der mir bekannt ist, wo ein wertvolles und anspruchsvolles Drehbuch abgelehnt wurde, das war "Ein Mensch aus Marmor", das Wajda realisieren wollte. Das war das einzigemal. Ausserdem sprachen gegen dieses Projekt gewisse Argumente kulturpolitischer Natur, dass dieses Thema bereits überholt sei, dass man diesen Film einige Jahre früher hätte machen sollen. Davon abgesehen war das - literarisch, dramaturgisch - ein äusserst wertvoller Stoff, dabei hätte ein gutes Stück Kino herauskommen können. Das war der einzige Fall, den ich kenne. Vielleicht kam das mehrmals vor, ich kenne ja nicht jeden Text, der der Drehbuchkommission vorgelegt wird. Doch das allgemeine Wehklagen kann auf diesem einzigen Vorfall nicht basieren. Ich bestehe gar nicht darauf, meine Drehbücher selbst zu schreiben. Wenn ich auf einen Text stosse, der mich wirklich dazu zwingt, nur an ihn zu denken - das ist die Voraussetzung für mein Interesse -, dann bin ich bereit, um die Realisierung dieses Textes genauso hart zu kämpfen wie um meine eigenen.

Frage: Eine allgemeine Frage; ich hoffe, dass die Antwort sehr konkret sein wird: wie sehen Sie die Stellung eines Regisseurs in unserer gesellschaftspolitischen Ordnung, sagen wir, nicht die Stellung, aber seine Funktion, ich meine nicht den Ruhm, aber seine Aufgabe.

Skolimowski: Erwarten Sie etwa, dass ich sage: Ingenieur der Menschenseele? Wenn man pathetisch sein möchte, könnte man wirklich so sagen, aber das klingt doch dämlich. Ich weiss nicht, es ist die normale Position des Künstlers in der Gesellschaft. Weil gerade diese Kunst einen entsprechend breiteren Anklang findet, muss der Filmregisseur daraus die richtigen Folgerungen ziehen. Seine Verantwortung, nicht nur sich selbst, sondern auch denen, die er ansprechen will, gegenüber, ist einfach viel grösser. Aber auch diese Überlegungen würde ich in keine theoretischen Gebote zwängen, die dem Regisseur gebieten, dies oder jenes zu machen.

Frage: Dann also eine konkrete Frage: Ihr nächstes Projekt heisst immer noch "Hände hoch"?

Skolimowski: Ja.

Frage: Sie haben das Drehbuch der Drehbuchkommission vorgelegt?

Skolimowski: Ja, vorgestern.

Frage: Na und?

Skolimowski: Es wurde akzeptiert, obwohl es zu sehr verschiedenen Meinungsäusserungen kam.

Frage: Im Falle Ihrer Drehbücher ist das nichts Ungewöhnliches, nicht wahr?

Skolimowski: Nein, aber diesmal grenzte es ans Extreme. Es gab so entschiedene Nein-Stimmen, dass sie nur durch ebenso entschiedene Ja-Stimmen kompensiert werden konnten, sonst hätte ich Befürchtungen hegen müssen.

Frage: Diesen Film werden Sie als nächsten nach dem belgischen machen?

Skolimowski: Es ist so geplant. Wenn ich den belgischen bis zum Frühlingsanfang beendet habe, werde ich mich sofort in diesen stürzen, um ihn im Sommer abzudrehen.

Frage: Wir brauchen also nicht zu bangen, dass Sie uns verlorengehen?

Skolimowski: Haben Sie die Absicht, solche Fragen zu drucken, ja?

Frage: Das hört sich sehr gut an.

Skolimowski: Ich habe hier konkrete Pläne präsentiert, also kann jeder die Schlüsse selbst ziehen.

Frage: Ich dachte nämlich an Polanski, denn in jedem Interview, das er gibt - und ich habe letztens einige gelesen -, sagt er immer am Ende, dass er eigentlich nur davon träumt, in Polen Filme machen zu können.

Skolimowski: Ja, sein emotionelles Engagement ist die Grundlage solcher Aussagen. Letztenendes ist das ein Pole mit Leib und Seele, der polnisch spricht und denkt, denn das ist auch äusserst wichtig, in welcher Sprache man denkt. Polanski spricht mit seinem englischen Produzenten nur polnisch, weil auch er die Sprache kennt. Seine Sehnsucht ist ganz verständlich, er möchte unter den Seinen sein, er möchte nicht nur mit dem Produzenten, sondern auch mit dem Inspizienten und mit den Schauspielern polnisch sprechen, das ist doch das wichtigste. Ich glaube daran, dass Romek - früher oder später - hier Filme machen wird. Die "Vampire" sollten ja auch schon in einer polnischen Koproduktion gemacht werden, aber es entstanden Schwierigkeiten mit der Subventionierung. Ich begegnete einer ganzen Reihe völlig falscher Interpretationen des jetzigen Verhaltens von Polanski. Man behauptet, er versuche sich von der Heimat zu isolieren, er habe sich verkauft usw. Das ist doch lauter Unsinn. Nehmen wir doch "Wenn Katelbach kommt" - ich schätze den Film sehr, und es ist ein sehr guter Film, gleichzeitig repräsentiert er das Höchstmögliche dessen, was man an nichtkommerziellem Kino im Westen schaffen kann.

Frage: Das wäre also ein Beweis dafür, dass ein intelligenter Regisseur auch im Westen Film machen kann, wie er will?

Skolimowski: Selbstverständlich. Ich weiss nur nicht, ob die Schwierigkeiten, die er überwinden muss, dort doch nicht grösser sind als in Polen. Mit Romek hat es geklappt. Selbstverständlich muss auch er seinen Tribut zahlen. Es ist klar, dass die "Vampire" schon nicht mehr den Charakter eines rein künstlerischen Films haben. Abgesehen davon aber hat Polanski diesen Film in der vollen Überzeugung gemacht, dass so ein Film auch nötig ist, und dass er ihn machen will. Es hat ihm Spass gemacht, als neues schöpferisches Erlebnis, als Ansammlung neuer Erfahrungen im Bereich des Kostüm- und Abenteuerfilms. Ich habe den Film gesehen und finde ihn in seiner Gattung sehr gut. Ob man diese Gattung anerkennt oder nicht, ist etwas ganz anderes. Ich gehe gerne ins Kino, um mir solche Filme anzusehen, mir hat der Film sehr gefallen, und ich glaube, dass Polanski nach diesem Film wieder die Möglichkeit haben wird, einen rein künstlerischen Film zu machen. Ich glaube an seinen Ehrgeiz.

Frage: Das Plastische Ihrer Filme spielt eine wichtige Rolle. In "Barriere" zum Beispiel ist diese nächtliche Szene, wo der Held mit dem Säbel in der Hand ein Auto angreift. Als Hintergrund dieser Szene sieht man eine plakative Abkürzung, Synthese, ein Symbol des Tausendjährigen Polen. Wie kam das zustande? Ausserdem sagten Sie, dass Sie die Szenerie Ihrer Filme massgebend beeinflussen. Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen Ihnen, Ihrem Geschmack und den Funktionen, die Ihre Bühnenbildner zu verrichten haben?

Skolimowski: Ich muss zugeben, dass ich im Bereich des Plastischen besondere Ambitionen habe, und mit reinem Gewissen kann ich sagen, dass ich der Autor einer ganzen Reihe plastischer Effekte bin. Bleiben wir bei der von Ihnen erwähnten Szene, wieviel plastische Elemente treten dort auf? Erstens - der Kunststoff, mit welchem das Auto bedeckt ist, das war mein Einfall. Zweitens - dass diese Szene vor einem erleuchteten Schaufenster stattfinden soll, wo nackte Mannequins stehen, das war mein Einfall. Selbstverständlich klassifiziere ich jetzt nicht, was gut und was schlecht ist. Ich habe dort noch ein pikantes Detail eingeführt, dass nämlich zwischen den Schaufensterpuppen ein lebendiges Fräulein steht, das zweimal die Hand bewegt. Vor diesem Hintergrund sollte ein Schwenk das abfahrende Auto begleiten, und man musste noch etwas zeigen.' Ich machte den Vorschlag, dort noch ein zweites erleuchtetes Schaufenster sichtbar werden zu lassen, in dem man "Etwas" sieht. Hier bat ich die Szenaristen, mir dieses "Etwas" ausfindig zu machen. Man machte einige Vorschläge: Jagdzubehör, Flinten usw., oder eine graphische Komposition aus Ziffern, aber das war nicht das richtige, ich suchte nach einer metaphorischen Parabel. Dann kam der Vorschlag, das Symbol der Tausendjahrfeiern auszunutzen. Dieser Einfall gefiel mir sofort. Der Autor meinte, dass die blossen Ziffern und der Adler genügen müssten, und wir diskutierten nur noch, wie gross das alles sein sollte. Ich wollte möglichst schwerfällige Ziffern haben. Wir brachten den ganzen Kram zum Drehort und versuchten das im Schaufenster aufzustellen. Es gefiel mir nicht besonders, denn es war ein bisschen zu weit entfernt. Dann entschied ich, dass die Ziffern einfach draussen, sozusagen unordentlich, an die Wand gelehnt würden. Hier haben Sie die ganze Geschichte der plastischen Ausstattung dieser Szene.

Frage: In dieser Szene war noch ein plastisches Motiv. Das Auto stand am Anfang nämlich so, dass man dahinter das Wort "Polska" sah, als Teil des Geschäftsnamens "Moda Polska" - das war doch sicherlich das wichtigste Element?

Skolimowski: Ja, deswegen habe ich mich doch überhaupt für diesen Drehort entschieden. Ich habe mir sogar überlegt, ob man das Wort "Moda" in dieser Neonaufschrift nicht überhaupt auslöschen sollte. Aber nachher sagte ich mir, das wäre zu einfach, es ist immer vorteilhafter, wenn metaphorische Inhalte wie vom Zufall gestaltet erscheinen.

Frage: Zeichnen Sie das zukünftige Filmbild?

Skolimowski: Öfter. Manchmal ist so eine Zeichnung die einzige Spur eines Szeneneinfalls. Ich zeichne es so, wie ich es im Objektiv sehen möchte, versehen mit einem Kommentar, wie man zu den entsprechenden Resultaten kommen kann.

Frage: Mich würde noch die Vorgeschichte von "Barriere" interessieren, d. h. die Geschichte des abgebrochenen Films "Das öde Gelände". Es war ein Präzedenzfall in unserer Filmproduktion, dass ein Film halbfertig abgebrochen wurde. Die Ursache ist bekannt -, der Regisseur verzichtete auf die Beendigung des Films. Sie waren der Drehbuchautor des ersten Films, und nachher machten Sie aufgrund dieses Drehbuches einen ganz anderen Film. Wie kam es dazu?

Skolimowski: Die Produktionsgruppe "Kamera" machte mir den Vorschlag, für Kazimierz Karabasz ein Drehbuch zu schreiben. Der Vorschlag stammte allerdings von Karabasz persönlich, der eine ziemlich verschwommene - was er selbst zugibt - Filmidee hatte. Nachdem er meine beiden Filme besichtigt hatte, fragte er mich, ob ich Interesse hätte, für ihn nach seiner Idee ein Drehbuch zu schreiben. Er erzählte mir die sehr einfache Story: zwei unbekannte junge Menschen lernen sich kennen, gehen danach sofort auseinander und treffen sich nie mehr. Er fragte mich, ob ich dieses Thema entwickeln könnte. Zuerst sprach ich sehr lange mit ihm, wir suchten Einfälle für die Abwicklung verschiedener Szenen. Aus meinen früheren Notizen suchte ich Einfälle heraus, die man in dieses Thema einbauen konnte. Ich bemerkte, dass Karabasz eine Weltanschauung repräsentiert, die von meiner grundverschieden ist, auch dem Medium Film ganz anders gegenübersteht. Die Möglichkeit einer Konfrontation unserer völlig verschiedenen Haltungen reizte mich derart, dass ich seinen Vorschlag annahm. Mich interessierte ein rein technisches Experiment: inwieweit ich mich unterzuordnen bereit bin, denn der Regisseur ist ja massgebend für die Filmgestaltung. Ich befand mich in der Lage eines literarischen Handwerkers, der sich der Vision des Regisseurs untergeordnet hat, um für diesen das zu schreiben, was dieser machen möchte. Ich konstruierte also verschiedene Varianten des dramaturgischen Ablaufes und Karabasz wählte sich daraus die Lösungen, die ihm entsprachen. Bei dieser Arbeit habe ich sehr viel gelernt. Ich begriff, wie vielfältig man dieselben Angelegenheiten sehen kann, und ich war sehr neugierig, wie Karabasz diesen Film machen würde, denn ich würde es genau umgekehrt tun. Selbstverständlich verrichtete ich meine Arbeit nach meinem besten Wissen. Ich war an dem Vorhaben sehr interessiert, war oft bei den Aufnahmen dabei. Ich wollte wissen, wie dieser Film entsteht, besichtigte zusammen- mit dem Regisseur das bereits fertige Material, mir gefielen auch einige Sachen, aber als man plötzlich an mich herantrat mit dem Vorschlag, den Film zu beenden, war mein Erstaunen grenzenlos. Ich sagte, dass das völlig ausgeschlossen sei, dass der Film mir absolut fremd sei, in einem ganz anderen Stil, dass ich so einen Film nicht machen könnte. Diese Ablehnung hatte auch wiederum Erstaunen zur Folge, wie das denn möglich sei, da ich doch das Buch geschrieben habe und jetzt nicht imstande sei. Vielleicht kann diese Erklärung meine Einstellung zu dem Film begreiflich machen. Man wollte aber die Produktion unbedingt zu Ende führen, und man machte mir einen zweiten Vorschlag mit der Voraussetzung, jegliche Änderung vorzunehmen, die mir nötig schien. Das war schon ein vernünftiger Vorschlag, und ich konnte ihn annehmen, wobei ich mir damals noch gar nicht bewusst war, dass meine Änderungen so gründlich sein würden, dass von dem ursprünglichen Entwurf eigentlich nichts übrig blieb.

Frage: Es besteht also weiterhin die theoretische Möglichkeit, dass der Film "Das öde Gelände" beendet wird?

Skolimowski: Selbstverständlich, und dieser Film hätte nichts gemeinsam mit meinem, und der Zuschauer würde es bestimmt nicht bemerken, dass beide Filme denselben Ausgangspunkt hatten. Es wäre äusserst interessant, diesen Film fertig zu drehen. Ich glaube, man dachte sogar daran, unter Benutzung des abgedrehten Materials einen Fernsehfilm zu machen.

Frage: Haben die Kosten des ersten Films Ihre Herstellungskosten belastet?

Skolimowski: Ja, leider. "Barriere" wurde aus dem Restbudget des ersten Films realisiert.

Frage: Dann ist also "Barriere" der billigste Film, den man in letzter Zeit produziert hat?

Skolimowski: Ganz bestimmt. Wir hatten ein sehr niedriges Budget, und die angewendeten Mittel waren dann auch entsprechend vereinfacht.

Frage: Als Sie von Ihren plastischen Ambitionen sprachen, sagten Sie, dass Sie an der Akademie der Bildenden Künste studiert haben. Welchen praktischen Nutzen zogen Sie daraus? Welchen Einfluss haben - Ihres Er achtens - neue Kunstrichtungen auf die Arbeit eines Filmregisseurs?

Skolimowski: Meine Studien an der Akademie in Warschau waren ohne jegliche Bedeutung, denn das war in dem unerfreulichen Jahr 1954, Innenarchitektur. Nur mein eigenes Interesse hatte praktische Folgen, die sich nachher in der plastischen Gestaltung meiner Filme niederschlugen. Selbstverständlich beobachte ich genau, was in der modernen Plastik vorgeht. Gewisse Strömungen berühren mich, andere muss ich ablehnen, weil sie mir sinnlos erscheinen. Zum Beispiel Op-art. Ihre graphische Klarheit ist sehr vorteilhaft für den Film. Das hatte auch seine Konsequenzen in "Barriere", in der plastischen Klarheit des Filmbildes, das nicht in Details zerbröckelt war. Es mag sich komisch anhören: ich habe in der Plastik den Jugendstil sehr gerne, aber ich kann die Sezession im Film nicht ertragen, und deswegen spiele ich niemals mit Ornamenten, Kleinigkeiten. Aber ich bemühe mich, den Bildausschnitt rein zu halten, ich bevorzuge grosse, klare Flächen. Ich weiss, dass das unter dem Einfluss der gegenwärtigen Plastik geschieht, aber ich habe nichts dagegen, denn alles, was man aus anderen Künsten in den Film einfügen kann, ist bestimmt wertvoll, positiv.

Frage: Sie sagten, dass Sie in die Musik Ihrer Filme nicht hineinreden, weil Sie sich da nicht auskennen. Das ist doch wohl ein bisschen übertrieben ausgedrückt?

Skolimowski: So ist es nicht. Ich meinte, dass ich gerne die Musik zu meinen Filmen selbst schreiben würde, aber ich habe davon keine Ahnung, und deswegen bin ich auf die Hilfe anderer angewiesen. Selbstverständlich versuche ich dem Komponisten zu suggerieren, was ich in der jeweiligen Szene hören möchte. In "Barriere" stammte das Grundmotiv der Musik - das Hallelujah - von mir.

Frage: Das Glockengeläute.

Skolimowski: Die Glocken, selbstverständlich. Es fällt mir schwer, über meinen Anteil zu sprechen, ich könnte den einen oder anderen Einfall überschätzen.

Frage: In "Barriere" sagte an einer Stelle der Junge enttäuscht, man könne mit sieben Jahren zwar ein Held sein, denn da könne man schon mit einer Benzinflasche Panzer angreifen, aber mit vier Jahren sei das unmöglich, und ihm fehlten gerade diese vier Jahre. In einer anderen Szene sagt der angeblich Blinde: "Hier haben sie mich erschossen" und nach einer kurzen Weile, "aber es ist doch wohl besser, dass sie mich nicht erschossen haben, es ist besser, dass ich doch am Leben blieb". Zwischen diesen beiden Szenen sehe ich einen - bestimmt beabsichtigten - Widerspruch. Wenn der Junge alt genug gewesen wäre, um Panzer mit Flaschen zu bewerfen, dann hätte er es - darüber belehrt uns die Geschichte des Warschauer Aufstandes - höchstwahrscheinlich nicht überlebt, und jetzt könnte er darüber sowieso nicht mehr nachdenken.

Skolimowski: Na schön, aber wo liegt der Widerspruch?

Frage: Zwischen seiner Enttäuschung, dass er kein Held werden konnte, dass er keine objektiven Möglichkeiten dazu hatte und _... Skolimowski: Moment mal, hat der Junge recht?

Frage: Als Filmgestalt ja.

Skolimowski: Und der Blinde, hat der recht? Der hat auch recht! Beides sind objektive Wahrheiten. Das sind zwei Wahrheiten zweier Generationen, es existiert also keine allgemeine, gemeinsame Wahrheit für beide Generationen. Jede von ihnen beurteilt die vergangenen Ereignisse anders. Zwischen den Generationen wird ein Dialog geführt. Und dieser Widerspruch ist nicht dem Autor zuzuschreiben.

Frage: Aus Zeitmangel nur noch eine - leider - letzte Frage: wären Sie an einer Adaption der "Dreigroschenoper" - verpflanzt in unsere gesellschaftspolitischen Verhältnisse - interessiert?

Skolimowski: Das würde mich interessieren - und wie kommen Sie darauf?

Frage: Nach Besichtigung Ihrer Filme schien mir diese Frage gerechtfertigt.

(Das Gespräch wurde am 20. November 1966 in Warschau aufgenommen. Gesprächspartner von Jerzy Skolimowski waren Bohdan Ziolkowski und Andrzej Skoczylas.)
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Gespräch mit Edgar Morin

Frage: Wie kamen Sie als Soziologe zu der Annahme, man könne mit Hilfe des Films die Wahrheit festhalten?

Morin: Die Frage beruht auf einem Irrtum, denn die Wahrheit ist ein moralischer Begriff, der mit der Realität nichts zu tun hat. Die Bezeichnung ,cinéma-vérité' ist ein Etikett und bedeutet nicht, dass man es mit der Realität zu tun hat; es ist nicht wie eine religiöse Doktrin.

Frage: Haben Sie den Begriff geprägt?

Morin: Er ist von Dsiga Wertows ,kino-prawda' übernommen. Gegenüber Wertow hat man nie behauptet, er habe nicht die Wahrheit gesagt. Es ist ein Versuch, den man entweder so oder auch als ,cinéma direct' bezeichnet hat. Ich persönlich war gegen die Bezeichnung ,cinéma direct', weil ich finde, dass es auch ein cinéma indirect gibt. Die Bezeichnung ,cinéma-vérité' ist ein Etikett für den Film, der sich gewissermassen um die Erschliessung des menschlichen und sozialen Lebens bemüht. Dabei gibt es Fussangeln und Schwierigkeiten. Ist es uns gelungen, diese Schwierigkeiten zu besiegen? Nein. Aber damit ist es wie mit jeder Unternehmung: man setzt alles daran, um etwas Schönes, etwas Wahres zu schaffen. Die Frage nach dem ,cinéma-vérité stellen, heisst, eine dogmatische Frage stellen. Wir haben die Wahrheit gesucht. Die Wahrheit ist ein sehr vielgestaltiger Begriff. Was bedeutet Wahrheit in der Dichtung, in der Liebe, in der Politik? Können Sie mir das beantworten? Was ist die Wahrheit für Sie: Wenn Sie mich nach der Wahrheit fragen, habe ich das Recht, auch Sie nach der Wahrheit zu fragen. Das Problem des ,cinéma-vérité' ist ein Problem der Forschung, ist ein Film, der Untersuchungen und Befragungen anstellt.

Frage: Aber ist es nicht trotzdem aussergewöhnlich für einen Soziologen, zu sagen: jetzt bediene ich mich des Films?

Morin: Nein, so habe ich es nicht gesagt. Nach CHRONIQUE D' UN ETE hat niemand gesagt, das sei ein soziologischer Film. Ich habe niemals gesagt: ich bin Soziologe. Ich bin Soziologe heisst, ich studiere die soziale Realität. Für mich ist das ,cinéma-+ vérité' gleichermassen umfassender und begrenzter als die Soziologie; es ist gelebte Erfahrung, es ist eine ästhetische, menschliche und, wenn man will, auch soziologische Unternehmung. Aber die soziologische Seite war nicht die Hauptsache.

Frage: Hat Jean Rouch Sie gebeten _...

Morin: Nein, im Gegenteil, ich habe ihm gesagt, man müsse einen Film nicht in Afrika machen, sondern in Frankreich, einen Film über die Fragen: wie lebst du, wie leben die Leute? Eine Befragung darüber, was die Menschen bewegt, über das Verhältnis ihrer Wünsche zu ihrem Leben. Das war der Ausgangspunkt.

Frage: Dann war es eigentlich Ihre Idee, das Medium Film auf die Untersuchung der Lebensbedingungen in Europa anzuwenden?

Morin: Nein, Rouch hatte in Afrika Filme gemacht, die mich sehr interessiert hatten, MOI, UN NOIR und LES MAITRES FOUS. Rouch und ich hatten zusammen Filme von Rogosin und Karel Reisz gesehen, die uns sehr gefallen hatten, und deshalb fragte ich Rouch, warum nicht auch wir einen Film machten, wo wir die Leute fragten, was sie über das Leben dächten. Rouch hatte praktische Erfahrungen auf dem Gebiet des Films, während ich selbst Arbeiten über den Film gemacht hatte. Es war Neugier, Interesse, aber nie der systematische Versuch, mittels des Films soziologische Untersuchungen anzustellen.

Frage: Haben Sie sofort an Dsiga Wertow gedacht?

Morin: Anlässlich des Festivals in Florenz 1960 habe ich für den damaligen "Observateur" - heute "Nouvel Observateur" - einen Artikel geschrieben mit dem Titel "Für ein neues 'cinéma-vérité'", in dem ich meiner Begeisterung für neue Wege Ausdruck gab, durch die der Dokumentarfilm aus seinem Schweigen herausträte in Kontakt mit dem täglichen Leben. Als wir CHRONIQUE D' UN ETE machten, äusserte dann der Produzent gewissermassen als Slogan: "Voici le cinéma-vérité'", weil ich den Begriff von Dsiga Wertow in die Diskussion geworfen hatte.

Frage: Entsprachen die Resultate Ihren Erwartungen?

Morin: Nein, denn die Resultate hingen nicht von uns ab. Wir haben zwanzig bis fünfundzwanzig Stunden Film aufgenommen.

Frage: Anfangs waren es doch wohl sogar fünfzig.

Morin: Ich scheide gleich das Unbrauchbare aus. Ungefähr sechzehn Stunden waren brauchbar. Und dann kommt es darauf an, was man unter Resultaten versteht. Bezeichnet man als Resultat die Erfahrung dessen, was man mit dem Film machen kann, dann finde ich persönlich, dass die Resultate ganz aussergewöhnlich waren; denn während des Drehens geschah etwas zwischen den Personen und mir: es kam eine Kommunikation zustande, ein Dialog. Oder meinen Sie die Resultate in filmischer Hinsicht? Die hängen von technischen Gegebenheiten ab. Manchmal waren Ton und Bild schlecht. Das sind technische Resultate. Und drittens mussten wir den Film auf anderthalb Stunden kürzen. Das ist kein Resultat, sondern im Gegenteil eine Notwendigkeit, denn einmal kommt der Augenblick, wo man dem Produzenten den Film vorlegen muss, und dann zeigt es sich vielleicht, dass man nicht mit genügend Überlegung vorgegangen ist. Kurzum: die Resultate waren bestimmt von äusseren Widrigkeiten und von der Schwierigkeit, das sehr umfangreiche Material auf anderthalb Stunden zu kondensieren. Zur Hälfte also bin ich mit diesem Film unzufrieden, zur anderen Hälfte aber zufrieden, weil er eine gelebte Erfahrung bedeutet.

Frage: Betraf diese Erfahrung nur Sie, oder betrifft sie auch das Publikum?

Morin: Ja, den Teil des Publikums, dem der Film gefallen hat; den anderen allerdings nicht.

Frage: In einem Artikel haben Sie geschrieben, die Ästhetik des ,cinéma-vérité sei eine ,Ästhetik der Objektivität'. Sie sprachen von einer neuen Ästhetik. Selbst die alltäglichen Dinge könnten ästhetisch sein.

Morin: Als Antwort möchte ich mich auf die Surrealisten berufen. Die Surrealisten haben eine Welt entworfen, wie sie sich schon bei Rimbaud und in der Poesie des 19. Jahrhunderts findet. Sie haben proklamiert, Poesie müsse nicht nur gelebt werden, sondern sie könne auch gelebt werden. Anders ausgedrückt: bei den Surrealisten gibt es keine Trennung zwischen dem, was wir einmal ,Welt der Poesie' nennen wollen, die durch das Werk vergegenwärtigt wird, und der rauhen, gegenwärtigen und ungeformten des Lebens. Wir müssen voraussetzen, dass wir auch im Leben Poesie finden können; ich glaube, dass das Leben reich an Poesie ist. Zweitens liegt der Ursprung der Ästhetik heute mehr denn je im Auge dessen, der etwas betrachtet. Nehmen Sie beispielsweise eine Kathedrale, die aus religiösen Absichten heraus gebaut wurde; das ästhetische Ziel war die Erwartung. Für uns, die wir nicht gläubig sind - jedenfalls gilt das für mich -, ist das ästhetische Ziel ausschlaggebend, das religöse dagegen zweitrangig. Wir können im ästhetischen Bereich eine ganze Reihe von Phänomenen nachempfinden, deren Erlebnis wir nicht selbst haben. Die Ästhetik ist eine der Möglichkeiten, an der Welt teilzuhaben. Wir haben also auf viele Arten an der Welt teil, nicht nur durch eine echte psychologische Kommunikation. Und ich komme noch einmal auf die Surrealisten zurück, denn ich finde es vollkommen berechtigt, dass sie dem Zufall so ungeheure Bedeutung einräumten. Der Zufall steht im Gegensatz zur traditionellen Ästhetik mit ihrer Betonung von Wille und Determination. Wer sich mit dem ,cinéma-vérité' beschäftigt, begegnet auch dem Zufall. Ein weiterer Einfluss von Bedeutung ist die Absicht, ein Kino der Provokation zu sein.

Frage: Sie stellen also gezielte Fragen?

Morin: Nein, alle möglichen, das kommt ganz darauf an. Ich bestimme nicht den Gegenstand der Unterhaltung, sondern ich lenke die Fragen auf das, was mich interessiert. Es ist jedenfalls keine totale Lenkung.

Frage: Wollen Sie etwas beweisen?

Morin: Ich? Warum? Wenn man einen Film über die Realität macht, muss man vor allem die Realität sprechen lassen. Um sie zum Sprechen zu bringen, muss man sie zwar befragen, aber man muss sie auch respektieren. Wenn ich schon vorher weiss, was die Realität mir sagen wird, brauche ich keine Enquete über die Realität zu machen. Ich habe in dem Masse Kontakt mit der Realität, wie sie mir ein Rätsel ist, wie sie sich mir widersetzt. Mit dieser Auffassung stelle ich mich in Gegensatz zur Philosophie, die schon die Antwort der Realität in sich trägt, die die Welt nicht braucht, weil sie über eine Pseudowelt verfügt wie beispielsweise der Idealismus oder der Marxismus. Für mich existiert die Realität, ich erwarte etwas von ihr.

Frage: Schneiden Sie die Antworten? Nach welchen Gesichtspunkten?

Morin: Das hängt von der Fragestellung und der Zeit ab, die ich zur Verfügung habe. Es ist eine schwierige Angelegenheit, bei der man versucht, seine Hypothesen und seine Bestätigungen zu verarbeiten.

Frage: Wenn man Ihre Filme sieht, hat man manchmal den Eindruck der Indiskretion, oft gerade dann, wenn etwas gelungen ist.

Morin: Gerade deshalb ist es ja gelungen.

Frage: Ist Ihnen diese Indiskretion nicht irgendwie peinlich?

Morin: Das ist eine Frage, die den Soziologen nicht betrifft. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Ansichten über das, was peinlich oder obszön ist. Wir leben in einer Gesellschaft, die bestimmte, das Bürgerliche betreffende Dinge für peinlich erklärt. In der klassischen angelsächsischen Welt z. B. gibt es die ,privacy', die Dinge, von denen man nicht spricht, über Gefühle spricht man dort auf gar keinen Fall. Nehmen Sie aber den Südländer, den Neapolitaner - er spricht darüber. Jeder hat seine Auffassung von Scham - auf der einen Seite Dostojewskij mit der öffentlichen Beichte, auf der anderen das Schweigen. Ich finde, man sollte über die Dinge sprechen, die zu unserem Leben gehören. Die Frage der Peinlichkeit oder der Scham hat für mich keine Bedeutung.

Frage: Was verstehen Sie unter einem Interview?

Morin: Es gibt ein Sprichwort, das lautet: "alles hat eine Bedeutung - aber welche?" Das heisst, der Zuschauer muss die Bedeutung herausfinden. Wenn Sie z. B. ein Interview sehen, in dem ein junger Arbeiter nach seiner Einstellung zu seiner monotonen mechanischen Arbeit gefragt wird, müssen Sie entscheiden, ob er stellvertretend für die Gesamtheit der jungen Arbeiter antwortet oder nicht. Der Zuschauer muss sich anstrengen.

Frage: Lenken Sie das Verständnis des Zuschauers durch die Montage?

Morin: Aber natürlich. Zwar hinterlassen alle Elemente, die ich dem Zuschauer zeige, ihren Eindruck auf ihn, aber ich arbeite mit intellektueller und moralischer Verantwortlichkeit; das kann der Zuschauer nicht.

Frage: Machen Sie Ihre Filme als Cineast oder als Soziologe?

Morin: Es gibt Leute, die zwischen zwei und drei Uhr Cineast sind und zwischen vier und fünf Soziologe und danach vielleicht Ästhet. Für mich ist der Film eine Erfahrung von globalem und vielgestaltigem Charakter, eines Films, der auf der einen Seite Film, auf der anderen aber auch Alltag ist; somit umfasst er also auch die Soziologie. Beim Filmen gibt es für mich sowohl soziologische als auch ästhetische und moralische Aspekte.

Frage: Befinden Sie sich nach Ihrer Meinung im Wettbewerb mit beispielsweise Godard?

Morin: Godard macht Spielfilme. Ich habe nur diese eine Art der Filmerfahrung gemacht. Ich bin kein Filmautor. Ich habe einen Film nur eben so gemacht, zum Zeitpunkt einer bestimmten Erfahrung. In Godards Filmen spielen Improvisation und Spontaneität eine grosse Rolle, aber er macht eben Spielfilme. Allerdings finde ich, dass Godard die besten Elemente der filmischen Enquete als Stilmittel in einer Weise verwendet, wie ich es manchmal selbst tun möchte.

Frage: In "Positif" gibt es einen Artikel _...

Morin: _... gegen Godard! In "Positif" sind alle Artikel gegen Godard!

Frage: _... in dem es heisst, Sie sässen zwischen zwei Stühlen. Sie seien weder Dokumentarist noch Soziologe noch Filmautor.

Morin: Sehen Sie, das Leben - das sind doch die falschen Stühle! Ich sitze niemals auf diesen Stühlen. Das sind doch absolut formalistische Unterscheidungen. Für mich ist die Soziologie keine abgeschlossene Domäne. Es geht doch alles ineinander über. So ein Film enthält viele Möglichkeiten.

Frage: Man hat gesagt, der Film sei nicht in sich abgeschlossen.

Morin: Das Leben ist nie in sich abgeschlossen. In diesem Bereich geht doch alles ineinander über. Es gibt Leute, die weder Soziologe noch Cineast sind. In einem Menschen können doch mehrere Interessen zusammentreffen. Für mich ist die Frage: muss man filmische Enqueten machen? Ich glaube ja, denn sie sind sinnvoll, vielseitig und interessant. Es gibt da sehr schlechte und sehr gute Filme. Das ,cinéma-+ vérité' ist ein Film der Augenblicke. Im ,cinéma-vérité' gibt es keinen guten Film, sondern immer nur aussergewöhnliche Augenblicke. Das gilt für den Film ebenso wie für das Fernsehen.

Frage: Sind Sie Künstler oder Wissenschaftler?

Morin: Warum die Alternative? Die Struktur Ihrer Frage entspricht nicht der Struktur meiner Auffassungen. Ich bin weder nur Künstler noch nur Wissenschaftler. Im Film kann ich ästhetische, wissenschaftliche, politische und ethische Interessen vereinen. Ich trenne hier nicht. Trotzdem kann ich die einzelnen Komponenten natürlich analysieren. An einer Unternehmung ist man zunächst mit seinem ganzen Wesen beteiligt, mit seinem Gefühl und seinem Verstand, und hinterher kann man dann analysieren. Ein Film ist so eine Unternehmung. Auch in dem Film eines strengen Soziologen findet sich etwas von dessen Eigenart, während man in einem Film, der gar nicht darauf angelegt ist, Soziologisches entdecken wird.

Frage: Viele Zuschauer behaupten, Ihre Filme seien langweilig.

Morin: Für diese Zuschauer bestimmt.

Frage: Heisst das, solche Zuschauer sind nicht reif für diese Filme?

Morin: Wenn man so will. Es gibt viele Leute, die das Leben langweilig finden. Das ,cinéma-vérité' stellt aber implizit auch derartige Fragen. Das Problem besteht darin, dass das ,cinéma-vérité' ein Kino der Aufklärung sein will. Die Wirkung des Films hängt nicht nur vom Autor, sondern auch vom Publikum ab. Man kann bewundernswerte Filme machen, und das Publikum versteht sie nicht. Wenn man z. B. Rassisten einen Film gegen den Rassismus zeigt, finden sie ihn unsinnig und falsch. Alle soziologischen Enqueten haben gezeigt, dass ein Publikum nur das assimilieren kann, worauf es schon vorbereitet ist. Wenn es unvorbereitet ist, wird der Film zum Bumerang; er bewirkt genau das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt, weil das Publikum vermutet, man wolle es täuschen. Wenn nicht ein Minimum an Interesse oder auch nur die Bereitschaft zur Selbsterkenntnis vorhanden ist, haben diese Filme nicht die geringste Wirkung. Um dem zu begegnen, halte ich es allerdings für völlig unsinnig, die Frage durch den Film zu beantworten. Man würde dem Publikum die Schlagwörter liefern und damit das schlimmste tun; das nämlich würde zum Propagandafilm führen. Man muss mit der absoluten Rationalität kommen. Das wichtigste bei jedem Film, der keine Unterhaltung sein will, besteht darin, dass er auf das Bewusstsein des Zuschauers angewiesen ist. Wir arbeiten an diesem Bewusstsein. Aber das ist ja ein ganz generelles Problem.

Frage: Das ,cinéma-vérité hat eigentlich keine Theorie. Würden Sie da zustimmen?

Morin: Sie sind schrecklich grundsätzlich. Sie sprechen von dem ,cinéma-vérité'. Es gibt nicht e i n ,cinéma-vérité'. ,cinéma-vérité1 ist Film mit synchroner Tonaufnahme. Jeder kann sich eine eigene Theorie schaffen. Meine persönliche Theorie: der Mechanismus von Projektion und Identifikation kann den Blick des Publikums umformen in einen auto-ethnologischen und ihn damit an Fremdes gewöhnen. Ich weiss aber nicht, ob diese Theorie überhaupt Resultate zeitigen wird.

Frage: Gibt es im ,cinéma-vérité' eine Entwicklung?

Morin: Es gibt eine technische Entwicklung, aber keinen ästhetischen Fortschritt. Man wird sich der vielen begangenen Irrtümer bewusst. Ich selbst sehe die Fehler, die ich bei der Montage von CHRONIQUE D' UN ETE gemacht habe und heute nicht mehr mache. Wir haben damals Sequenzen zusammengefasst, die nicht zusammengefasst werden durften. Wir wollten ein abwechslungsreiches Ganzes, und das war gar nicht nötig. Die Montage ist die Hauptschwierigkeit. Es gibt eine in gewissem Sinne allgemein anerkannte Montage, die so weit wie möglich die Authentizität des Dokuments respektiert. Sie zu erlernen, ist am schwersten. Es hat im ,cinéma-+ vérité' grosse Fortschritte hinsichtlich der Technik von Ton- und Bildaufnahme gegeben, in der Montage dagegen ist man nicht in demselben Masse weitergekommen. Die Montage hat teilweise sogar wieder das zerstört, was durch die verbesserte Aufnahmetechnik gewonnen wurde. Meines Erachtens muss die Montage den Regeln der Logik gehorchen, die im grossen und ganzen auch die des Essays sind. MASCULIN - FEMININ von Godard ist z. B. eines der ersten fotografischen Essays. Die Konstruktion entsteht, anders als beim literarischen Essay, aus Bildern und Sequenzen. Für mich ist das die Geburt des filmischen Essays.

Frage: Sehen Sie Beziehungen zwischen dem ,cinéma-vérité und dem nouveau roman?

Morin: Nein, aber wenn man will, bestehen natürlich überall Beziehungen.

Frage: Sehen Sie andere Parallelen zur Literatur?

Morin: Ja, beispielsweise in den dokumentarischen Büchern, wo Augenzeugenberichte zusammengestellt, ,montiert' sind.

Frage: Da gibt es dann aber keinen Autor, sondern nur einen Herausgeber.

Morin: Derjenige, der die Zusammenstellung besorgt, ist der Autor oder vielleicht der Autor und der Herausgeber in einem.

Frage: Könnte man nicht sagen, dass es auch beim ,cinéma-vérité' keinen Autor, sondern nur einen Herausgeber gibt?

Morin: Ja, vielleicht. Der einzelne Autor wird eigentlich in mehrere Autoren zerstückelt. Beim ,cinéma-vérité' muss man aus den Personen Objekte machen. Sie sind also Objekte des ,cinéma-vérité', gleichzeitig aber auch Subjekte, weil sie mit ihren Worten einen Beitrag liefern; in diesem Sinne sind sie Mit-Autoren des Films. Es besteht also gleichzeitig Zusammenarbeit und Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt, denn der Film ist ja auch ein Objekt.

Frage: Ein Übergewicht ergibt sich wahrscheinlich aber doch durch die Tatsache, dass Sie fragen.

Morin: In der Soziologie hat man die Wahl zwischen der Methode des Registrierens und der des Provozierens. Wichtig ist die Veränderung, die man bewirkt. Mich interessiert die filmische Intervention mit ihren Auswirkungen auf die Realität. Es gibt zweit Arten, die Realität zu erkennen: man kann sie verändern oder sich von ihr zurückziehen.

(Gesprächspartner waren Barbara Bernauer u. Jürgen Wilcke. Übersetzung: Barbara Bernauer)
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Josef von Sternberg

Josef von Sternberg ist in Deutschland ein bekannter Unbekannter. Von den zweiundzwanzig Filmen, die das Licht der Kinos erblickten, liefen bei uns nach dem Kriege nur vier, von denen wiederum drei (SHANGHAI EXPRESS, MACAO und JET PILOT) von der Kritik rasch als Unfug abgetan wurden. Sternbergs Renommee beruht allein auf dem Film DER BLAUE ENGEL, ein Renommee freilich, das nach der Wiederaufführung des Films 1965 dadurch in Mitleidenschaft gezogen wurde, dass die Ideologiejäger unter den Filmkritikern, denen sich die Komplexität unserer Welt nur in dem Antagonismus faschistisch - antifaschistisch erschliesst, nunmehr ein "Missverhältnis zwischen eigenwilliger filmischer Form und fragwürdigen oder reaktionären lnhalten" (So Ulrich Gregor in "Filmkritik" 1965, S. 214.) anzumerken hatten - was immer man unter den Begriffen "Form" und "Inhalt" einer gestrigen Ästhetik zu verstehen haben mag. In Unkenntnis der Sternbergschen Werke wie auch der Sternbergschen Persönlichkeit ging man flugs über den Schöpfer hinweg und stellte den Film allein in den Rahmen der deutschen Filmgeschichte. Durch Vergleiche mit anderen deutschen Filmen glaubte man zu erkennen, "dass DER BLAUE ENGEL ein typischer deutscher Film der Vor-Hitlerzeit ist". (Gregor, a.a.O., S. 215.) Man behandelte Sternberg damit, als sei er ein fügsames Rädchen im ideologisch suspekten deutschen Filmproduktionsbetrieb gewesen. Nun mag manches gegen Sternberg einzuwenden sein, doch in dieser Leichtfertigkeit über seine Person hinwegzugehen, schiesst erheblich übers Ziel hinaus. Die Fragwürdigkeit dieser wenig differenzierenden Methode, Filmkritik zu betreiben, liegt besonders bei diesem Fall auf der Hand. Das einzige, was man mit ihr erreicht hat, war, den Film genau dahin gebracht zu haben, wo man sowieso schon die gesamte Ufa-Produktion wusste.

Das Verdienst, etwas Licht auf den Regisseur Sternberg geworfen zu haben, gebührt den Veranstaltern der Retrospektive während der letzten Mannheimer Filmwoche, die zwölf Filme Sternbergs und eine ausgezeichnete schriftliche Dokumentation bot. (Es liefen: UNDERWORLD, THE LAST COMMAND, THE DOCKS OF NEW YORK, DER BLAUE ENGEL, MAROCCO, DISHONORED, AN AMERICAN TRAGEDY, THE SCARLET EMPRESS, THE DEVIL IS A WOMAN, CRIME AND PUNISHMENT, THE SHANGHAI GESTURE, THE SAGA OF ANATAHAN.

#Der vorliegende Artikel stützt sich nur auf diese in Mannheim gezeigten Filme. Weitere Filme Sternbergs sind mir nicht bekannt.)

I.

Josef von Sternbergs Lebensweg vermittelt den gleichen labyrinthischen Eindruck, den die Welt seiner Filme besitzt. Am 29. Mai 1894 als Jonas Sternberg in Wien geboren, kam er mit sieben Jahren nach Amerika, kehrte 1904 wieder nach Wien zurück, um schliesslich 1908 endgültig nach Amerika auszuwandern. Auf verschlungenen Wegen gelangte er zum Film, zunächst als Cutter, dann als Regieassistent. Er nannte sich anfangs Joe Stern, bis ein Produzent im Vorspann eines Films seinem Namen ein "von" zufügte. Sternberg nahm diese "Provokation" an und nannte sich Josef von Sternberg. Seine Bekannten nannten ihn Svengali Joe.

1925 drehte er mit wenig Geld und in eigener Produktion in drei Wochen ohne Studio seinen ersten Film, THE SALVATION HUNTERS, der ein grosser finanzieller Erfolg wurde. Sternberg bezeichnete ihn als seinen nach ANATAHAN wichtigsten Film. Kurz vorher war GREED von Erich von Stroheim herausgekommen, und man darf wohl annehmen, dass Stroheim, der grosse Zyniker Hollywoods, nicht ohne Einfluss auf Sternberg geblieben ist. THE SALVATION HUNTERS erzählt die Geschichte eines heruntergekommenen Arbeiterpaares im Elend und Schmutz des Hafens von Los Angeles. Sie nehmen ein augesetztes Kind zu sich und finden bei einem Zuhälter Unterschlupf, der die Frau für sich arbeiten lassen will. Als der Zuhälter das Kind misshandelt, befreit sich das Paar aus seiner unwürdigen Lage, indem sich der Mann gegen den Zuhälter auflehnt und ihn zusammenschlägt. Den Beschreibungen zufolge muss dieser Film bereits wesentliche Stilmerkmale der späteren Filme Sternbergs enthalten. Mit seinen nächsten Filmen hat Sternberg wenig Glück. ESCAPE gefällt dem Produzenten nicht und wird von Phil Rosen zuende gedreht. Er erscheint 1926 als THE EXQUISITE SINNER. Wegen Unstimmigkeiten mit dem Produzenten bricht Sternberg die Arbeiten an THE MASKED BRIDE (1925) nach zwei Wochen ab. Dann bietet ihm Chaplin die Regie zu SEA GULL an. Doch der fertige Film gefällt Chaplin nicht, es kommt zum Zerwürfnis; der Film wird nie aufgeführt. Sternberg muss schon zur damaligen Zeit eine schwierige Persönlichkeit gewesen sein. Eitel, arrogant, selbstbewusst, behandelte er seine Umwelt einigermassen verächtlich. Liebenswürdiger formuliert könnte man auch sagen: er war ein sehr stolzer Mann - und er ist es bis heute geblieben. Dazu war er geistreich, gebildet und besass Geschmack, mehr als die meisten seiner Produzenten und Kollegen. Das Schlimme war, dass Sternberg dies wusste und betonte. Als er zwei Wochen an THE MASKED BRIDE gedreht hatte und mit dem Produzenten B. P. Schulberg in Streit geraten war, richtete er die Kamera auf die Studiodecke und filmte nur noch die Dachbalken. Eisenstein, der ein scharfer Beobachter war, schrieb später über ihn: Natürlich leidet Sternberg wie kaum ein zweiter an Minderwertigkeitskomplexen. Er hat das Pech, früher Cutter gewesen zu sein. Und wie viele wohldurchdachte Beispiele von Dekadenz er auch an den Tag legt, um den Hollywoodern Sand in die Augen zu streuen (z. B. THE SCARLET EMPRESS), die Aristokratie Hollywoods hat ihn nie als einen der ihren betrachtet. Um wieviel Pose bemüht er sich doch _... Es hilft nichts. Sternberg wird in Hollywoods höchste Gesellschaft nicht aufgenommen! Er müht sich ab, Hollywood mit Europäismen zu demütigen. (Sergei Eisenstein: Erinnerungen; Zürich 1963, S. 147 f.)

Die Kompromisslosigkeit, mit der Sternberg die von ihm erkannten künstlerischen Ziele verfolgte, drohte ihm ein ähnliches Schicksal zu bereiten, wie es Erich von Stroheim beschieden war.

Ein Jahr nach dem Fiasko von THE SEA GULL bietet ihm Schulberg die Stelle eines Regieassistenten an. Sternberg in Mannheim: "Diese Beleidigung wusste ich nicht anders zu beantworten als damit, dass ich das Angebot annahm." Nach der Mitarbeit an zwei weiteren Filmen (IT von Clarence Badger und CHILDREN OF DIVORCE von Frank Lloyd) kann er endlich wieder einen eigenen Film machen: UNDERWORLD.

UNDERWORLD (1927) gilt heute als der erste Gangsterfilm, obwohl die Figur des Gangsters dem Film schon seit zehn Jahren bekannt war. UNDERWORLD beruht auf einem 18-Seiten-Exposé des damaligen Journalisten Ben Hecht, der durch einen authentischen Fall zu der Geschichte angeregt wurde, die durch Sternberg weniger zu einer Gangster- als zu einer Liebesgeschichte im Gangsterstil wurde. Der Film zeigt nicht, wie wir es heute von einem Gangsterfilm erwarten, detaillierte Gangstertechniken, seien es Mord, Einbruch, Gefängnisausbruch oder Organisation der Unterwelt. Dafür bietet er eine Dreiecksgeschichte: Ein Gangster hilft einem verkommenen Juristen, der sich in dessen Mädchen verliebt; als der Gangster aus dem Gefängnis, in das er wegen Mordes an einem Rivalen eingeliefert wurde, entflohen ist, glaubt er sich von den beiden betrogen, muss sich aber vom Gegenteil überzeugen lassen; er erkennt und achtet ihre Zuneigung und schickt sie aus dem von der Polizei umstellten Haus, mit der er alleine seinen Kampf zu Ende kämpft. UNDERWORLD wurde weniger ein künstlerischer als ein kommerzieller Erfolg, den Sternberg damals dringend benötigte, um als Regisseur überleben zu können. Der Film leitete die bis in die Gegenwart reichende Gangsterfilmserie ein.

Mit Emil Jannings dreht Sternberg 1928 THE LAST'COMMAND, der auf einem Einfall von Ernst Lubitsch basiert, der ihn für nicht gut genug hielt, um ihn selbst zu verfilmen. Jannings spielt einen ehemaligen weissrussischen General, der in Hollywood als kleiner Schauspieler tätig ist. In einem Film soll er einen russischen General spielen. Im Schminkraum erinnert er sich an die Revolutionskämpfe, in deren Verlauf er ein kommunistisches Agentenpaar festnehmen liess, sich jedoch in die Frau verliebte, die ihm später zur Flucht vor den Revolutionären verhalf. Bei den Dreharbeiten identifiziert er sich nun so sehr mit seiner Rolle, die seine eigene Vergangenheit ist, dass er darüber stirbt, während sich der Regisseur als der ehemalige, von ihm festgenommene Agent entpuppt, der ihn mit der Rolle zu demütigen beabsichtigte.

1930 beginnt Sternberg mit DER BLAUE ENGEL den Zyklus der Filme mit Marlene Dietrich, zu dem weiter gehören: MAROCCO (1930), DISHONORED (1931), SHANGHAI EXPRESS und BLONDE VENUS (1932), THE SCARLET EMPRESS (1934) THE DEVIL IS A WOMAN (1935). Sternberg engagiert die Dietrich als eine nahezu unbekannte Schauspielerin und entlässt sie als einen Mythos, von dem sie noch heute zehrt. Der Zyklus wird nur 1931 durch die Verfilmung von Dreisers AN AMERICAN TRAGEDY unterbrochen, einem Projekt, das man Eisenstein aus der Hand genommen hatte. (Diese Literaturverfilmungen und die von CRIME AND PUNISHMENT sind bei der Besprechung mit Bedacht übergangen worden, da sie zur Sternbergschen Welt nur mittelbar in Beziehung stehen. Es spricht für die Redlichkeit Sternbergs, dass er sie nicht in der Art seiner anderen Filme gedreht, sondern seinen Inszenierungsstil geändert hat.

AN AMERICAN TRAGEDY zeigt eine kalte, nur ihren eigenen Vorteil berechnende Welt, in der nicht ein sympathischer Mensch erscheint. Sternberg zeichnet die Charaktere härter und klarer als George Stevens in der Neuverfilmung und verzichtet im Gegensatz zu dieser ganz auf sentimentale Züge. Es erweist sich, dass Stevens einige Szenen geradezu plagiiert hat. Entgegen der Meinung Eisensteins ist dies ein guter Film, der jedoch nicht auf Eisensteins Drehbuch basiert.

Weniger gut dagegen ist CRIME AND PUNISHMENT. Der Film ist teilweise zu redselig (vgl. auch letzten Absatz) und hat einige schlecht inszenierte Stellen.)

1935 verlässt Sternberg die Paramount, für die er seit UNDERWORLD alle Filme gedreht hatte, und wechselt zur Columbia, bei der er "Schuld und Sühne" von Dostojewski mit Peter Lorre als Raskolnikow unter dem Titel CRIME AND PUNISHMENT verfilmt. 1936 folgt THE KING STEPS OUT, eine Sissi-Verfilmung mit Wilhelm Thiele als Co-Regisseur.

In England beginnt er für Alexander Korda den Film I CLAUDIUS (1937) mit Charles Laughton. Doch ein Unfall der Hauptdarstellerin führt zum Abbruch der Arbeiten Nur eine Rolle wird später montiert. Wieder in Amerika dreht Sternberg für die MGM SERGEANT MADDEN. Um dem ihm bekannten Arnold Pressburger den Start in Amerika zu erleichtern, verfilmt er für diesen 1942 ein Theaterstück von John Colton, THE SHANGHAI GESTURE, ein Film, der in der Nachfolge der Dietrich-Filme steht.

Nach dem Kriege dreht er für Howard Hughes, den Eigentümer der RKO, JET PILOT (1950). Doch Hughes, der ein alter Flugzeugfanatiker ist, sagt der Film nicht zu Er lässt ihn umändern. Erst 1957 kommt er auf den Markt. MACAO (1952) ein zweiter Film für die RKO, erleidet ein ähnliches Schicksal. 1953 schliesslich dreht Sternberg in Japan THE SAGA OF ANATAHAN - wie bei seinem ersten Film, THE SALVATION HUNTERS, als sein eigener Produzent.

II.

Sternberg strebte immer an, der absolute Beherrscher seiner Filme zu sein. Er bestimmte und dirigierte alles in seinen Filmen, die Dekors, die Ausleuchtung, die Kostüme, die Kamera, den Schnitt, die Musik, die Geräusche. Er verfasste viele Drehbücher selbst, auch wenn der Titelvorspann manchmal andere Namen nennt Doch selbst wenn das Drehbuch von anderen geschrieben war, hatte das keinen Einfluss auf die Gestaltung des Films. Über die Arbeiten zu DER BLAUE ENGEL schrieb Carl Zuckmayer: Es entstand ein ausführliches Exposé, was die Fachleute "Treatment" nennen, dann ein zweites Drehbuch, und dann machte der Regisseur, was er wollte. (Zitiert nach der vom Verband der deutschen Filmclubs anlässlich der Retrospektive in Mannheim 1966 herausgegebenen Dokumentation - Goetz/Banz/Kellner: Josef von Sternberg (Dok), S. 54.)

Ebenso rigoros verfuhr Sternberg mit seinen Schauspielern. Er war ein Despot und behandelte sie wie eine knetbare Materie. Bei ihm mussten sie vergessen, dass sie eigenständige Persönlichkeiten mit einem eigenen Willen waren; für ihn wurden sie zu einer Sache, einem Ding, beliebig in seinem Sinne manipulierbar wie die Beleuchtung oder die Kamera. Der Despotismus, mit dem Sternberg seine Schauspieler behandelte, führte nach seinen eigenen Angaben dazu, dass diejenigen, die einmal bei ihm gespielt hatten, sich vertraglich von den Produzenten versichern liessen, nicht noch einmal unter Sternbergs Regie arbeiten zu müssen.

Tatsächlich kann man an den Besetzungslisten der Filme nach DER BLAUE ENGEL feststellen, dass kein Hauptdarsteller - Marlene Dietrich ausgenommen - mehr als einmal unter ihm gespielt hat. Selbst in den Nebenrollen tauchen nur zweimal gleiche Namen auf: Gustav von Seyfferitz und Emile Chautard, wobei anzumerken ist, dass sich Sternberg Chautard von der Zeit her verpflichtet fühlte, in der er 1919 zum erstenmal als Regieassistent Chautards bei THE MYSTERY OF THE YELLOW ROOM tätig war. Chautard, so sagt Sternberg, sei der einzige Regisseur gewesen, von dem er etwas habe lernen können. Insofern unterscheidet sich die Situation radikal von der, wie wir sie bei John Ford antreffen, der einen festen Stamm von Schauspielern hat. In den zeitlich vor DER BLAUE ENGEL liegenden Filmen dagegen spielten George Bancroft und Fred Kohler in vier, Evelyn Brent in drei sowie William Powell und Gustav von Seyfferitz in zwei Filmen mit.

Weniger häufig wechselte Sternberg seine anderen Mitarbeiter: Jules Furthman arbeitete an neun Drehbüchern mit, Hans Dreier entwarf zu elf Filmen die Dekors und Travis Benton zu sieben die Kostüme, die Kameraleute Bert Glennon und Lee Garmes fotografierten je vier Filme, Harald Rossen drei und Lucien Ballard, der zuvor bei Sternberg Kameraassistent war, und Paul Ivano je zwei. Doch wie die Schauspieler, so hatten auch diese Leute nur das auszuführen, was Sternberg anordnete - und er ordnete jedes Detail an. Lange bevor ein Kino der Autoren proklamiert wurde, praktizierte Sternberg in Hollywood diese Methode rigoroser als mancher, der sich heute zu den Filmautoren rechnet. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass er der alleinige Autor seiner Filme war. Als in Mannheim der Titelvorspann von THE DOCKS OF NEW YORK mit den Namen der Schauspieler und Mitarbeiter abrollte, rief Sternberg: "All diese Leute, die da genannt werden, haben mit dem Film nichts zu tun!" Ähnliches wiederholte sich bei anderen Vorführungen.

So entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn bei uns Sternberg als typischer Vertreter von "Hollywoods Traumfabrik" bezeichnet wird. Denn Josef von Sternberg gehört zu den Regisseuren, die ihren Weg gegen die Produktionsmethoden Hollywoods zu machen versuchten. Das soll nicht heissen, dass Sternberg kein amerikanischer Regisseur sei - im Gegenteil, ohne Hollywood hätte er wohl schwerlich die Möglichkeit gehabt, das zu werden, was er ist.

III.

Das Verhältnis von Sternberg zu seinen Schauspielern kristallisiert sich besonders scharf in einer Beziehung, in der zu Emil Jannings. Jannings war, insbesondere durch die Filme von Murnau - DER LETZTE MANN, TARTÜFF und FAUST - zu internationalem Ansehen gelangt, so dass er - wie auch Murnau - 1926 den Sprung nach Hollywood wagen konnte. Jannings stand ganz in der deutschen Schauspielertradition, nach der der Schauspieler vor der Kamera ähnlich wie auf der Bühne eine Rolle mit grossem Ausdruck zu spielen hat. Durch sein exzessives Spiel hatte sich Jannings bereits in den deutschen Stummfilmen so in den Vordergrund gespielt, dass man von "Jannings-Filmen" zu sprechen begann. Es ist klar, dass diese Spielauffassung der von Sternberg konträr entgegenstand. Sternberg wollte aus THE LAST COMMAND keinen Jannings-Film werden lassen. Der Zusammenprall beider muss sehr heftig gewesen sein. Dem Film ist der Widerstreit deutlich anzumerken: In der Rahmenhandlung tappt Jannings als alter russischer Emigrant durch die Studiohallen, als handele es sich um den Film "Der letzte Statist". Vergeblich hat Sternberg versucht, diesen verheerenden Eindruck zu mildern, indem er sarkastische Szenen über den Filmbetrieb in Hollywood zwischenschneidet. In der Rückblende, die den grössten Teil des Films ausmacht, erreicht allerdings Jannings als weissrussischer General ein gelöstes und natürliches Spiel. Doch bleibt ein Zwiespalt

Nach diesem Film gelobten sich beide Künstler, nie wieder zusammenzuarbeiten. Dass dieser Vorsatz nicht eingehalten wurde, kam laut Sternberg so: Jannings habe ihn gebeten, mit ihm Heinrich Manns "Professor Unrat" zu verfilmen; über diese Bitte sei er, Sternberg, nach den heftigen Auseinandersetzungen bei THE LAST COMMAND so gerührt gewesen, dass er akzeptiert habe.

Wie auch immer es gewesen sein mag, Tatsache ist, dass sich Sternberg mit dieser Verfilmung auf das Grausamste an Jannings rächte. Denn die Gestalt des Professor Rath ist im Film nicht nur eine negative Figur, für die der Regisseur keine Sympathien hegt - das gibt es auch in anderen Filmen Sternbergs -, erschreckend vielmehr ist, mit welchem Genuss Sternberg diese Figur bis aufs Tiefste demütigt - mit einem Hass, der fast schon krankhaft ist. Und diesmal stört das schauspielerische Gehabe von Jannings nicht, denn in all diesem Gehabe ist Jannings Professor Rath und Professor Rath Jannings, und sie werden zu Jannings-Unrat. Ferner fliessen in diese Gestalt noch Erinnerungen Sternbergs an seine wiener Schuljahre, über die er in seiner Autobiografie "Fun in a Chinese Laundry" schreibt: Meine Klasse war die Höhle eines widerlichen Scheusals mit Bart und durchdringenden Augen, der uns beibrachte, ihn mehr zu fürchten als Jehova. (Zitiert nach Dok, S. 42.) Zugleich ist Professor Rath Repräsentant eines deutschen Bürgertums und einer deutschen Tradition, an die Sternberg furchtbare Kindheitserinnerungen hat: Ich bin mit Schlägen traktiert worden, bis ich wie ein tollwütiger Hund zu brüllen begann. Nach jeder Bestrafung musste man die Hand küssen, von der man gezüchtigt worden war, das war damals so üblich. (Zitiert nach Dok, S. 42.) Genährt von solchen Erinnerungen, geschürt durch die Gegenwart von Jannings, mag der Hass Sternbergs verständlich werden, mit dem er Professor Rath durch den Film begleitet. Bereits zu Beginn des Films lässt eine Szene aufmerken: Rath spricht beim Ankleiden zu seinem Vogel, merkt dann aber, dass dieser tot ist. Fassungslos vor Schmerz hält er den Vogel in der Hand. Als die Zimmerwirtin eintritt, nimmt sie ihm kurzentschlossen den Vogel ab und wirft ihn in den Zimmerofen. Zynischer hätte auch Erich von Stroheim die Szene nicht gestalten können.

Die Schulstube ist, getreu den Erinnerungen Sternbergs, eine Höhle mit einem widerlichen Scheusal mit Bart, in der der von Rath ausgehende Terror von den Schülern entweder mit kriecherischer Unterwürfigkeit - so der Primus (!) - oder mit Gegenterror erwidert wird. Das einzige, was man hier als Schüler intensiv lernen kann, sind Grausamkeit, Unterdrückung, Terror und Heuchelei - alles hinter der Fassade einer humanistischen Bildung. Und während Rath seinen Schülern Moral predigt, bläst er insgeheim der Lola auf der Werbekarte lüstern untern Rock.

Rath, in Frauensachen unerfahren, möchte seine Schüler vor dem "Dämon Weib" bewahren. Doch die Zusammenkunft mit der Lola endet für ihn tödlich. Rath wird ein Opfer seiner Unerfahrenheit, seiner Weltfremdheit. Ein bisschen Liebenswürdigkeit und gespielte Ehrkränkung lässt ihn gleich von der Ehrbarkeit Lolas überzeugt sein, und er geht in bürgerliche Männchenstellung: er spielt sich zum Beschützer Lolas auf und heiratet sie, obwohl in dieser chaotischen Nachtwelt eigentlich er derjenige ist, der beschützt werden müsste. Aber Rath ist unfähig, seine Situation rational zu erfassen; so kann das Drama zwischen dem Bürger und der emanzipierten Frau, zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert seinen Lauf nehmen, das schliesslich in jenem Bühnenauftritt in seiner heimatlichen Stadt kulminiert, in dem seine Männchenstellung (Kikeriki!) aufs Gründlichste zerstört und pervertiert wird - eine Jahrmarktsattraktion, ein Fossil aus versunkenen Zeiten. Die Szene ist faszinierend in ihrer brutalen Hässlichkeit, die durch nichts gemildert oder beschönigt wird. Selten hat ein Film die Erniedrigung eines Menschen so schonungslos und zugleich so lustvoll geschildert. "Eine Verherrlichung von Schmutz und Niedertracht, zweifellos das Dokument eines klinischen Falles", schreibt Henri Agel über DER BLAUE ENGEL (zitiert nach Dok, S. 138.) - zumindest für diese Szene trifft es zu. Weder vorher noch nachher ist Sternberg einer seiner Figuren mit solcher Verbitterung begegnet.

Entgegen vielen Behauptungen ist die Lola-Lola des Films nicht der Typ des männermordenden Vamps. Zwar singt sie ihr Lied "Männer umschwirr'n mich, wie Motten das Licht _...", aber von diesem Text auf ihr Leben schliessen zu wollen, wäre verfehlt. Es gehört zur Tradition der Kneipensängerinnen, dass sie sich in ihren Liedern verruchter geben, als sie in Wirklichkeit sind. Wenn dennoch der Text im Fall des Professor Rath - allerdings auf einer anderen Ebene - zutrifft, so gehört dies zu den hintergründigsten Ironien, mit denen Sternberg seine Filme baut. Lola ist vielmehr der Typ einer emanzipierten Frau, die der Film bezeichnenderweise nicht in der bürgerlichen Welt, die nur die Alternative Mutter oder Prostituierte kennt, ansiedelt, sondern in einer ausserbürgerlichen. Dass die Begegnung zwischen Rath und Lola zur Katastrophe führt, ist, kulturgeschichtlich und psychologisch gesehen, nur folgerichtig. Denn die Gesellschaft, aus der Rath stammt, krankt an dem Verhältnis zur Frau, krankt an einem Männlichkeitswahn, der sich bis heute erhalten hat - einem Männlichkeitswahn, in dem die Verlogenheit der wilhelminischen Gesellschaft wurzelt. Die Konfrontation mit einer ausserhalb dieser Gesellschaft stehenden Frau kann für den Repräsentanten dieser kranken Gesellschaft entweder Heilung bedeuten - dann müsste Rath seine Situation aber rational erfassen können, er müsste einsichtig sein; das aber ist er nicht, denn er behält seine Männchenstellung bei, bis sie zu einer grausamen Farce geworden ist - oder den Tod bringen. Es ist also nicht eine schillernde Weibsgestalt, eine lockende Sirene, die Rath in ihre Netze wickelt, sondern es ist Rath selbst, sein beschränktes Weltverständnis, das ihn umnetzt und in die Tiefe zerrt. Nicht der Lola, sondern sich selbst ist er verfallen - eine für die Sternbergschen Figuren nicht untypische Situation. Lola ist weit mehr eine natürliche, vorurteilslose Frau, die sich sogar in gutmütiger Weise um Rath sorgt und ihm jahrelang die Treue hält, obwohl er alles andere als anziehend ist.

Die Beziehungen Lola-Rath erhellen sich auch im Vergleich zu THE DOCKS OF NEW YORK. Auch dort eine Heirat in einer Hafenkneipe, zudem unter ungünstigeren äusseren Bedingungen. Doch wie unterschiedlich sind die Verhaltensweisen jener Gestalten zu denen in DER BLAUE ENGEL, wie unterschiedlich ist die psychische Situation, die es dort nicht zu einer Katastrophe kommen lässt, da beide mündige Menschen sind, die ausserhalb der Gesellschaft stehen. Dort konnte Sternberg eine humane Lösung schaffen, in DER BLAUE ENGEL musste sie inhuman werden, soweit es die Gestalt von Rath betrifft. Nachdem Rath in der Kikeriki-Szene bereits geistig gestorben, ein Toter ist, gilt es nur noch, diesen Kadaver fortzuwerfen. Sternberg lässt ihn in seine alte Schule zurücktappen und dort krepieren.

Was bei diesem Schluss die Vorstellung von Fatalität erwecken könnte, erweist sich in Wahrheit als eine psychologisch zwangsläufige Entwicklung.

IV.

Das Verweilen bei einigen Aspekten des Films DER BLAUE ENGEL war notwendig. Obwohl dieser Film sicherlich nicht Sternbergs bester ist, ist er doch ein guter Film, einer seiner interessantesten und bewegendsten, auf dem sich bei uns so viele Missverständnisse der Sternbergschen Persönlichkeit durch eine einseitige, von rechts oder links kommende Beurteilung dieses Werkes aufbauen. Auch scheint mir DER BLAUE ENGEL ein neuralgischer Punkt im Schaffen Sternbergs zu sein, eine Art Wendemarke, so dass man, wie bereits oben geschehen, in gewisser Weise das Sternbergsche Werk in Filme vor und nach DER BLAUE ENGEL einteilen kann. Dazu dürfte weniger Marlene Dietrich als Jannings den Anlass gegeben haben, genauer, die Art, in der Sternberg sich von ihm - und das ist zugleich von der von ihm verkörperten Gestalt - befreit hat, eine Befreiung, die ihm Erfahrungen brachte, nach denen er in seinen folgenden Filmen "hemmungsloser" werden konnte, ohne bitter zu werden, das heisst, er konnte ironisch bleiben, ohne zum Zyniker zu werden.

V.

Ein durchgreifender Zug in den Filmen Sternbergs ist der Exotismus, der bereits in den Filmen vor DER BLAUE ENGEL angelegt ist, aber erst in den folgenden voll zur Entfaltung kommt.

Das beherrschende Motiv in seinen früheren Filmen, die zumeist in Amerika spielen, ist die Nacht. Die Gangster, Matrosen und Prostituierten aus UNDERWORLD und THE DOCKS OF NEW YORK, die Lola aus DER BLAUE ENGEL sind Geschöpfe der Nacht, ausserhalb der Gesellschaft Lebende, von ihr Ausgestossene. Auch seine späteren Filme spielen zum grossen Teil in der Nacht, und selbst wenn es Tag ist, filtert Sternberg das Licht durch die Dekorationen zu einem Gewirr von Hell und Dunkel (MAROCCO, THE DEVIL IS A WOMAN) oder schafft im Studio eine dunstige Dschungelatmosphäre, die dem Licht die Strahlkraft nimmt (THE SAGA OF ANATAHAN). Aus den Zimmern wird das Tageslicht verbannt. Künstliches Licht - und auch dies vielfältig gebrochen - verhilft den Filmen zu ihrer lasziven Atmosphäre. Sternberg ist ein Poet der Nacht; aber die Nacht ist bei ihm nicht ein Feind des Menschen, nicht ein Ort des Grauens, sondern sie bietet die Eröffnung aller Möglichkeiten. Sie ist voll hemmungsloser Triebe wie auch voll mütterlicher Wärme. Beides liegt dicht nebeneinander (THE DOCKS OF NEW YORK, der in einer einzigen Nacht spielt.). Man taucht in sie ein wie in eine vor der Kindheit liegende Dunkelheit, wie in das Unbewusste (THE SAGA OF ANATAHAN). MAROCCO ist ein seltenes Beispiel dafür, dass Sternberg seine Helden zum Schluss in die Helligkeit des Tages entlässt.

Zunehmend bevölkert sich diese Nacht mit Gegenständen, Boten einer anderen Welt, die ein eigenes Leben zu leben scheinen, gleichwertig den Personen. Da gibt es die Hafenkneipen mit den Steuerrädern, den Fischnetzen, den Galeonsfiguren und den Schiffsglocken (THE DOCKS OF NEW YORK, DER BLAUE ENGEL); da gibt es die Ballsäle, in denen der Schritt durch einen dicken Teppich aus Konfetti verlangsamt wird (UNDERWORLD) und in denen man mit quäkenden, aufblasbaren Instrumenten obszöne Gesten vollführt (DISHONORED); da gibt es die Maskenfeste, bei denen geheime Beziehungen angeknüpft werden (DISHONORED, THE DEVIL IS A WOMAN) oder die Gefahren ankündigen (THE SHANGHAI GESTURE); da gibt es die Boudoirs und die Schlafräume voller Vorhänge und Gardinen (DISHONORED, THE SCARLET EMPRESS); da gibt es eine arenaartig gebaute Spielhölle, in deren Laster die Kamera eintaucht (THE SHANGHAI GESTURE); da gibt es den Dschungel, der die Menschen festhält (THE SAGA OF ANATAHAN); da gibt es einen Zarenhof, dessen Wände, mit riesigen Bildern im Ikonenstil bemalt, auf die Menschen zu stürzen scheint, dessen Türen, grösser als die in Hitlers Reichskanzlei, kaum zu bewegen sind und der so mit Plastiken vollgestopft ist, dass man nur schwer zwischen ihnen die Menschen erkennen kann (THE SCARLET EMPRESS); und da gibt es die von Trevis Banton geschaffenen, verschwenderischen Kleider mit Spitzen, Rüschen, Federn, Affenhaar.

Exotisch sind die Schauplätze der Handlungen, Marokko mit der französischen Fremdenlegion (MAROCCO), die Spionagewelt des ersten Weltkrieges (DISHONORED), der Zarenhof des 18. Jahrhunderts (THE SCARLET EMPRESS), das Spanien der Jahrhundertwende (THE DEVIL IS A WOMAN), China (THE SHANGHAI GESTURE) und schliesslich eine japanische Insel (THE SAGA OF ANATAHAN).

Die Menschen, die in diesen zeitlich und räumlich entfernt liegenden Orten in und mit diesen Dekorationen, in diesem Gewirr von Licht und Schatten leben, haben seit DER BLAUE ENGEL einen verhängnisvollen Zug zum Zerstörerischen. Männer, deren Verlangen nach einer Frau ihr Leben ruiniert (DER BLAUE ENGEL); Frauen, die ihrer Liebe wegen alles opfern; Frauen, die Männer ruinieren (THE DEVIL IS A WOMAN); Männer, die Frauen ruinieren (THE SHANGHAI GESTURE); und Männer, die sich einer Frau wegen gegenseitig umbringen (THE SAGA OF ANATAHAN).

Dies ist die Welt Josef von Sternbergs. Eine Welt aus Licht, Schatten, Tüll und Spiegeln, aus Begierde, Hass, Brutalität und Eifersucht, aus Sehnsucht, Einsamkeit, Liebe und Tod. Eine Welt, synthetisch im Studio zusammengesetzt, und doch eine Welt voller Leben und dichter Atmosphäre, die - so paradox das klingen mag - einen durchaus realen Charakter hat. Als man Sternberg fragte, warum er den Film THE SAGA OF ANATAHAN ganz im Studio gedreht habe, antwortete er: "Weil ich ein Poet bin." Dies ist eine Konzeption, Filme zu machen; die heutige ist eine andere. Doch hiesse es nicht, die Möglichkeiten des Films unzulässig einengen, wollte man sagen, die eine oder die andere Art sei die allein richtige?

Man hat sich darüber gewundert, dass Sternberg sich ausgerechnet dem Einfluss der "Naturalisten" Flaubert und Zola verpflichtet gefühlt habe, und das als wenig glaubhaft empfunden. (Vgl. Dok, S. 146.) Aber Flaubert schreibt in "Tentation de Saint-Antoine": Inmitten des Säulenganges war in praller Sonne eine nackte Frau an eine Säule gebunden; zwei Soldaten peitschten sie mit Riemen aus; bei jedem Schlag wand sich ihr ganzer Körper _..., wie schön sie ist _... wunderbar schön?. (zitiert nach Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel - Die schwarze Romantik; München 1963, S. 124.) Und Mario Praz findet, "Flauberts ideales Reich" sei ein barbarisch wilder Orient, zwar auch aus Gold, Marmor und Purpur, doch ebenso voll von Blut und Eiter, Verwesung und giftigen Dünsten. (a.a.O., S. 127.) Zola urteilt in "De la Moralité dans la littérature": Eine vollendet geschriebene Seite hat in sich selbst ihre Moral, die in ihrer Schönheit, ihrer intensiven Lebendigkeit und ihrer Ausdruckskraft besteht. Es wäre schlechthin unsinnig, sie den Bedingungen des Tages, etwa einem im Schwange befindlichen Tugendbegriff zuliebe umzumodeln. Für mich gibt es obszöne Bücher nur in dem Sinne, dass sie schlecht durchdacht und schlecht geschrieben sind. (Zitiert nach Marc Bernand: Emile Zola; Hamburg 1959, S. 39.) Und in "Mes Haines" bekennt er: Mein Geschmack ist, wenn man so will, entartet; ich liebe die stark gewürzten literarischen Gerichte, die Bücher der "Decadence", in denen eine krankhafte Reizbarkeit die allzu gesunde Normalität klassischer Epochen abgelöst hat. (Zitiert nach Bernard, a.a.O., S. 149.) Diese Zitate mögen erhellen, dass sich das Wesen eines Künstlers nicht einseitig festlegen lässt. Die "Naturalisten" Flaubert und Zola sind sicher in dem Masse Exotiker gewesen, wie der Exotiker Sternberg Realist ist.

Welche Funktion hat der Exotismus bei Sternberg? Ist er eine stilistische Arabeske? Ein Ausdruck seines Snobismus, der sich in erlesener Dekadenz niedergeschlagen hat? Brie bemerkt in "Exotismus der Sinne - eine Studie zur Psychologie der Romantik" über den Exotiker: Er wiegt sich in unbeschreiblichen orientalischen Träumereien, die von goldenem Widerschein erfüllt, von fremdartigen Düften geschwängert sind und von fröhlichem Lärm widerhallen. Dabei erlebt er Gefühle von Anmut, Stolz und Sinnlichkeit; statt sich aber zu sagen, dass solche Zustände auf Grund ihrer Natur inneres Erleben bleiben müssen, glaubt er, sie an einem anderen Ort auf Erden verwirklicht zu sehen. (Zitiert nach Praz, a.a.O., S. 141.)

Viele der Filme Sternbergs weisen eine melodramatische Grundstruktur auf, bringen aus der Literatur bekannte und bereits zum Klischee gewordene Charaktere und Konstellationen. Sternberg erinnert an einen Akrobaten, der vierundzwanzig Stunden am Tag auf dem Drahtseil balanciert in der Möglichkeit, jede Minute abzustürzen - in die Trivialität. Doch er verliert nicht sein Gleichgewicht. Er spielt mit der Trivialität, kokettiert mit ihr auf eine sehr ironische, sehr geistreiche Art, aber er fällt nicht auf sie herein. Sternberg versteht es vorzüglich, Szenen so zu gestalten, dass sie immer unausweichlicher einem trivialen Ende entgegenzusteuern scheinen; doch genau in dem Augenblick, in dem der Zuschauer die Szene verloren glaubt, fängt er sie gleichsam in einem eleganten Schwung wieder auf. Er treibt ein faszinierendes Spiel, das ihm gelingt, indem er die trivialen Momente - auch und gerade in den Details - so häuft, dass eine feine Ironie spürbar wird, die es dem Zuschauer ermöglicht, die in jeder Trivialität liegende Wahrheit umso schärfer zu erleben. Man denke dabei an die Ausklänge von MAROCCO, DISHONORED und THE DEVIL IS A WOMAN oder den Walkürenritt, der THE SCARLET EMPRESS umklammert. (In der in Mannheim vorgeführten Fernsehkopie fehlte der Walkürenritt zu Beginn von THE SCARLET EMPRESS.) Dies ist eine Möglichkeit, die Filme Sternbergs zu sehen. Doch sind die Filme zu komplex und vielschichtig, als dass sie die einzige wäre. Sternberg ist ein viel zu bewusster Künstler, um nicht selber das zu erkennen, was Brie über den Exotiker anmerkt. So eröffnet sich hinter der irisierenden Oberfläche seiner Filme eine weitere Ebene umfassenderer Bedeutungen.

Man hat oft die Simplizität der Sternbergschen Charaktere bemängelt, die nur psychologischen Grundmechanismen gehorchen. Doch der Fehler dieser Betrachtungsweise scheint mir, dass man die Charaktere aus dem Gesamtzusammenhang reisst und damit über sie hinausweisende Realitäten zerstört. Denn mit dem Spiel von Licht und Schatten, mit den Dekorationen, mit den Kostümen, mit den Geräuschen sind sie eingewoben in eine Ganzheit, deren Gepräge sie mitkonstituieren und von der her sie ihr Wesen mitempfangen. Man kann nicht jeweils die Beleuchtung, die Dekorationen, die Kostüme oder die Charaktere herausgreifen und für sich untersuchen, ohne diese Elemente in Relation zueinander zu setzen. Will man das Wesen einer Sternbergschen Figur beschreiben, benötigt man dazu gleichzeitig die Beschreibung der übrigen Mittel des Films; denn diese wiederum dienen dazu, jenes Wesen zu bestimmen. Seelische Situationen werden weniger durch das Spiel der Darsteller als durch die Konstellationen der Darsteller zu den Objekten und durch die Veränderungen dieser Konstellationen beschrieben. Aus dem Zusammenspiel all dieser filmischen Elemente, den Veränderungen zwischen ihnen mittels Bewegung (dazu gehört auch die Montage), ergibt sich in den besten Filmen Sternbergs, in THE DOCKS OF NEW YORK, THE SCARLET EMPRESS und THE DEVIL IS A WOMAN eine bisweilen vollendet rhythmisierte Harmonie, die besonders in THE SAGA OF ANATAHAN so einzigartig und bezwingend ist.

Aus dieser Sicht wird Sternbergs Konzept des Schauspielers verständlich, sein Despotismus, mit dem er ihn zu beherrschen suchte. Jede falsche, jede nicht kalkulierte Bewegung drohte, die Gesamtkonzeption durcheinander zu bringen. Ein Mann wie Jannings musste zwangsläufig zu einer Gefahr für Sternbergs Ästhetik werden.

Der Dekor hat für Sternberg keine symbolische Funktion, das heisst, die Gegenstände sind keine Zeichen, die ihre Bedeutungen in sich tragen, sondern sie vermitteln in Relation zu den anderen im Bild befindlichen Personen und Gegenständen dieser Gesamtheit Bedeutungen. In THE SCARLET EMPRESS etwa spielt Marlene Dietrich die an den Zarenhof verheiratete deutsche Prinzessin Sophie. In einer Szene liegt sie im Bett, das durch eine Gardine verhüllt ist. Die Kamera nähert sich ihrem Gesicht, bis schliesslich die Gardine als ein weitmaschiges Netz über ihrem Gesicht liegt, so dass die Aufnahme wie eine moderne Rasterfotografie wirkt. Das Gesicht ist zu einem Gegenstand geworden, der mit den Maschen der Gardine zu einer Einheit verschmolzen ist. Das ist eine charakteristische Methode, mit der Sternberg eine psychische Realität darstellt, wie hier die Einsamkeit und Verlorenheit des jungen Mädchens in einer fremden und kalten Umwelt.

Sternberg hat in seiner Autobiografie geschrieben, für ihn sei der Schauspieler wie "eine Tube Farbe, die man auf eine Leinwand aufträgt". (Zitiert nach Dok, S. 140; vgl. auch Dok, S. 78.)

Zu demselben Film liess Sternberg von dem Bildhauer Peter Ballbusch nach seiner Konzeption etwa zweihundert Skulpturen herstellen, die er im Zarenpalast aufstellte. Ihre Fülle droht die Personen zu erdrücken. So sind z. B. die Stühle in die Skulpturen hineingearbeitet, so dass die Sitzenden von ihnen überragt und eingeschlossen werden oder sich in sie verkriechen. Wieder ergeben sich aus der Konstellation der in einer Einstellung sichtbaren Skulpturen zu den handelnden Personen vielfältige Bedeutungen.

In THE SHANGHAI GESTURE greift Sternberg am Rande dieses Mittel noch einmal auf: Es ist zu einer Neujahrsfeier geladen, und die Gastgeberin hat die Tafel mit kleinen Figuren geschmückt, in der sich die Gäste wiedererkennen sollen, um ihren Platz an der Tafel zu finden. Einer Figur hat sie zuvor den Kopf abgebrochen!

VI.

Zu Sternbergs Exotismus zählt auch die Gestalt der Frau, die Marlene Dietrich in seinen Filmen verkörpert und die man gemeinhin als "femme fatale" zu charakterisieren pflegt. Aber ist sie wirklich der Vamp, die "belle dame sans merci"?

1935 verfilmte Sternberg den Roman "La Femme et le Pantin" von Pierre Louys unter dem Titel THE DEVIL IS A WOMAN. Im Roman wird die Heldin, die die grausame Kunst versteht, die Männer zu reizen, ohne sich ihnen hinzugeben, so beschrieben (Der Film übernimmt die Stelle wörtlich.): Wenn Sie die Tollheit, welche die Frau in einem menschlichen Herzen zu entfachen und zu schüren vermag, noch nicht bis zum letzten ausgekostet haben, so kommen Sie ihr nicht nahe, meiden Sie sie wie den Tod. (Zitiert nach Praz, a. a. O., S. 369.) An anderer Stelle heisst es: Sie tat das Böse nicht aus Lust an der Übertretung, sondern weil es ihr Vergnügen bereitete, anderen Leid zuzufügen. Ihre Rolle im Leben beschränkte sich darauf, Leiden zu schaffen und zu beobachten, wie sie um sich griffen. (Wie voriges Zitat.) Hier, im Roman wie auch im Film, haben wir es wirklich mit einer "femme fatale" zu tun. Doch von der Tingeltangelsängerin Lola, die zwar verruchte Lieder singt, im übrigen aber kein lasterhaftes Leben führt, ist es ein weiter Weg zu der Tänzerin Concha, die eine perverse und sadistische Lust hat, die Männer zur Raserei und zum Wahnsinn zu treiben; sie umschwirr'n in der Tat Männer wie Motten das Licht und verbrennen in der Flamme.

MAROCCO erzählt die Geschichte einer Nachtlokalsängerin, die sich in einen Soldaten der Fremdenlegion (Gary Cooper) verliebt, der sie jedoch verlässt. Sie wendet sich einem reichen Geschäftsmann zu (Adolphe Menjou). Am Abend ihrer Verlobung mit ihm erfährt sie, dass der Soldat in der Stadt ist, sie läuft zu ihm und zieht am nächsten Morgen mit den anderen Soldatenmädchen hinter der in die Wüste ausrückenden Truppe her. Ihrer Liebe wegen nimmt sie ein schweres und unwürdiges Leben auf sich.

In DISHONORED spielt die Dietrich die österreichische Geheimagentin X 27, die sich in den russischen Geheimagenten (Victor McLaglen) verliebt. Doch diese Liebe bringt sie in Konflikt mit ihrer Vaterlandspflicht. Zwar gelingt es ihr, einigemale einer letzten Entscheidung zu entgehen. Als sie aber den Spion am Ende aus der österreichischen Gefangenschaft entweichen lässt, tut sie dies, obwohl sie weiss, dass sie dadurch ihr Leben verwirkt hat und dass der Spion an der Aufrichtigkeit ihrer Gefühle zu ihm zweifelt. Für sie ist allein ihre Liebe entscheidend. Sowohl in MAROCCO wie auch in DISHONORED ist die Dietrich das genaue Gegenteil eines Vamps, nämlich eine Frau, die ohne Rücksicht auf sich selbst ihrer Liebe treu bleibt.

Der Umschlag erfolgt in THE SCARLET EMPRESS. Als naives, grossäugiges Mädchen wird Sophie nach Moskau dem Grossfürsten Peter verheiratet. Doch sie liebt den Fürsten Alexei, der sie auf der Reise nach Moskau begleitet hat. Als sie erkennen muss, dass ihr Mann ein schwachsinniger Psychopath ist und Fürst Alexei ein Verhältnis mit der Zarin Elisabeth hat, verhärtet sie sich. In der Einsamkeit und Kälte des Zarenpalastes wandelt sie sich allmählich zur Machtpolitikerin, die ihre Liebe verleugnet und den Männern nach strategischen Gesichtspunkten ihre Gunst gewährt. Sie wird zu einer würdigen Nachfolgerin der Zarin, nach deren Tod sie ihren Mann ermorden lässt, um zur Zarin Katharina II. zu werden. Von hier ist dann der Weg nicht mehr weit zur Concha in THE DEVIL IS A WOMAN, die nur noch an der Hörigkeit der Männer interessiert ist, um ihnen Geld abzulocken.

Dass dieser Film das Ende der Zusammenarbeit zwischen Sternberg und der Dietrich markiert, erscheint folgerichtig. Wir sind so weit gegangen, wie es uns möglich war. Eine weitere Zusammenarbeit wäre weder für Miss Dietrich noch für mich von Nutzen. Wenn wir weitermachten, würden wir in eine Schablone geraten, die für uns beide schädlich wäre, sagte Sternberg. (zitiert nach Dok, S. 64.) Tatsächlich hatte er von der sich in Liebe verzehrenden Frau bis zu der, nach der sich die Männer verzehren, das Panorama seiner Möglichkeiten durchschritten. Es beweist seine intellektuelle Souveränität, dass er das Ende mit diesem ironisch distanzierten Film setzte. Sollte es stimmen, dass Sternberg der Dietrich hoffnungslos verfallen gewesen ist, wie Eisenstein vermutet, so hat sich das in seinen Filmen nicht niedergeschlagen. (Zitiert nach Dok, S. 149.)

Sieben Jahre später liess Sternberg in THE SHANGHAI GESTURE nochmals eine ähnlich lasterhafte Welt entstehen. Die Verderben bringende Figur ist hier ein Mann, "Doktor" Omar (Victor Mature), der jedoch sehr weiblich gezeichnet ist - wie andererseits die Rollen der Dietrich einen männlichen Akzent hatten. (Folgende Bemerkung von Orson Welles trifft auch auf Josef von Sternberg zu: "Alle grossen Künstler sind feminin. Ich glaube nicht, dass es einen Künstler gibt, dessen dominierende Persönlichkeit maskulin ist. Das hat nichts mit Homosexualität zu tun, aber intellektuell muss ein Künstler feminine Fähigkeiten haben. Für eine Frau ist es noch schwieriger, weil sie maskuline und feminine Fähigkeiten haben muss." In Theodor Kotulla: Der Film, Band 2, München 1964, S. 311.) Diesem Omar verfällt in der chinesischen Spielhölle der Mother Gin Sling, eine Frau (Gene Tierney), die, von ihm fallengelassen, zu einer hemmungslosen Trinkerin und Spielerin wird und schliesslich völlig verkommt.

Ganz anders die Situation in THE SAGA OF ANATAHAN. Ein Trupp Schiffbrüchiger eines japanischen Kriegsschiffes gelangt 1944 auf eine einsame japanische Insel, auf der nur ein Ehepaar lebt. Sieben Jahre verbringen sie auf der Insel, denn sie wissen nicht, dass 1945 der Krieg zu Ende ist. Als man es ihnen mitteilt, glauben sie an eine amerikanische Propagandalüge, um sie zu überlisten. So halten sie sich kampfbereit gegen einen Gegner, den es schon seit Jahren nicht mehr gibt, immer auf einen Angriff vorbereitet, und wissen nicht, dass der wahre Gegner in ihnen selbst sitzt. Ihr Begehren zu der Frau lässt sie aufeinander misstrauisch und eifersüchtig werden. Gewalttätigkeiten flackern auf. Als sie eines Tages in einem abgestürzten Flugzeug zwei Pistolen finden, tritt zu der Begierde die Macht der Waffenbesitzer, diese gewaltsam durchzusetzen. Der Ehemann wird ermordet, die Soldaten dezimieren sich. Nach einer blutigen Auseinandersetzung beschliessen die Überlebenden demokratisch, die Waffen zu vernichten und um die Frau zu spielen. Doch da gelingt es der Frau, unbemerkt von der Insel zu fliehen. Als die Soldaten nach weiteren Jahren sich endlich davon überzeugen lassen, dass der Krieg beendet ist, begeht ihr Anführer, der sich an dem Kampf um die Frau nicht beteiligt, sondern immer auf den militärischen Feind gelauert hat, Harakiri. Die übrigen kehren nach Japan zurück. In diesem Film verkörpert die Frau keine der Extremformen wie Marlene Dietrich, sondern sie ist eine vollkommen normale Frau, deren blosse Gegenwart in dieser Ausnahmesituation verhängnisvoll wird. Sie dient gleichsam als Katalysator, um das Geschehen in Gang zu bringen und zu halten, so dass Sternberg - ähnlich wie Buñuel - diese Ausnahmesituation dazu benutzen kann, Grundmuster menschlichen Verhaltens exemplarisch darzustellen.

Der Film vermittelt eine Atmosphäre, die von dem realen Geschehen auf der japanischen Insel entrückt, ihn aus Raum und Zeit reisst und zu einem Abbild des Unbewussten werden lässt, in dem die Personen zu Materialisationen seelischer Mechanismen werden. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Schauspieler, ausnahmslos Japaner, japanisch reden, während Sternberg selbst einen Kommentar zu dem Film spricht. (Es liegt Sternberg in seinen Filmen weniger daran, eine Geschichte zu erzählen, als Situationen zu beschreiben. Er vermeidet es sorgfältig, Handlungsabläufe durch den Dialog zu vermitteln. Wenn er es wie in CRIME AND PUNISHMENT und THE SHANGHAI GESTURE dennoch tut, ist das Ergebnis wenig überzeugend. Sternberg behilft sich im übrigen damit, dass er über die wichtigen Handlungsabläufe durch Zwischentitel (auch in seinen Tonfilmen) berichtet. In THE DEVIL IS A WOMAN werden Teile der Handlung von einer Person (in Rückblenden) erzählt, während Sternberg in THE SAGA OF ANATAHAN den Kommentar einbaut. Man meint, dem Experiment eines Naturwissenschaftlers beizuwohnen, der Lebewesen in eine bestimmte Nährlösung gesetzt hat und nun ihre Reaktionen beobachtet und aufzeichnet. Damit gelingt es dem Film, zugleich Anklage zu erheben gegen eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern beibringt (DER BLAUE ENGEL), Aggressionen auszutoben und Zerstörungen durchzuführen, nicht aber zu lieben, das heisst, miteinander zu leben. Wenn am Schluss des Films die Überlebenden in Japan aus dem Flugzeug steigen und von der Bevölkerung begeistert als Helden empfangen werden, montiert Sternberg hierzu die Erinnerungen an die Opfer, indem er sie einzeln vor der Frau defilieren lässt. Während Japan seinen Helden zujubelt, hält Sternberg den Toten eine optische Gedenkrede als den Opfern eines Krieges, den der Mensch mit sich selbst kämpfen muss, will er nicht das Schicksal dieser Leute teilen, den zu kämpfen man ihn aber im Gegensatz zu jenem anderen Krieg nicht gelehrt hat. THE SAGA OF ANATAHAN ist ein Film, der in die Zukunft weist.       Hans-Peter Kochenrath
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Filmliteratur

WHOLLY COMMUNION - the film by Peter Whitehead; published by Lorrimer Films Ltd, 18 Carlisle St, London W 1; Alleinvertrieb für Deutschland: Verlag Gielow, München, Theatinerstrasse. DM 6,80

Der schmale Band enthält - in englischer Originalsprache - die Texte der bei der Poetik-Lesung in den londoner Albert Hall am 11. Juni 65 von den Autoren vorgetragenen Gedichte; Allen Ginsbergs kalkulierte Ausbrüche, Ernst Jandls dadaistische Nachklänge, Adrian Mitchells "To Whom It May Concern" mit seinem Refrain "Tell me lies about Vietnam" am Schluss jeder Strophe. Zehn Autoren, ein repräsentativer Ausschnitt der amerikanischen Dichtung der Gegenwart. Das ist schon eine Menge. Aber das Buch bleibt weit entfernt von dem Ziel, das ihm sein und des Films Auto Peter Whitehead gesetzt hat. Es ist weder eine Aufzeichnung der wohl denkwürdigen Veranstaltung und noch viel weniger eine Aufzeichnung des in Mannheim mit beträchtlichem Erfolg gelaufenen Films. In seiner Einleitung bemüht sich Alexis Lykiard vergeblich um die Wiedergabe der Atmosphäre jenes Abends, die dem Film gelang. Die Fotos der einzelnen Autoren bieten da keine Entschädigung. Weiterhin kann man angesichts der exakten Protokolle, die hier in der Cinemathekreihe erschienen sind, nur rätseln, was sich Whitehead eigentlich bei seinem Vorwort gedacht hat. Gerade, dass man erfährt, der Film sei - die Schwierigkeiten werden allerdings detailliert geschildert - zunächst in 16 mm aufgenommen und erst später auf 35 mm übertragen worden. Somit ist das Buch ein Zwitter, der sich offensichtlich über seinen Zweck selbst nicht im klaren ist. Und schliesslich versetzt Whitehead dem von seinem Film angetanen Leser noch einen Tiefschlag, indem er die mangelnde Objektivität seines Werkes beklagt.       BNB

ALPHAVILLE published by Lorrimer Films Ltd, 18 Carlisle St., London W 1; zu beziehen über Verlag W. Gielow, München, Theatinerstrasse. DM 6,80

Für Freunde Godards - er hat bekanntlich zur Zeit grossen Zulauf -, die seine Filme nicht nur sehen, sondern auch besitzen wollen - und wär 's auch nur schwarz auf weiss gedruckt -, empfiehlt sich dieses Buch von selbst, Englischkenntnisse vorausgesetzt.

Wer Godard und dem, was er an Schwärmerei besonders auch zu diesem Film mobilisiert hat, kritischer gegenübersteht, könnte auch einige Einsichten daraus gewinnen. Nach einer subjektiven hymnischen Einleitung von Richard Roud folgt eine Dialogliste mit kurzen action-Beschreibungen des Films, die ihm ohne die Sorgfalt, die man jetzt an einigen der in der Cinemathekreihe publizierten Protokolle rühmen darf, abgenommen ist. Auch sind die Bilder nicht, wie in der deutschen Edition von Filmen als Buch, an den entsprechenden Textstellen eingefügt; Bildseiten werden in den Text eingeschoben; es bleibt der Erinnerung oder Phantasie überlassen, sie mit dem Text zu verbinden und einige andere dabei als hübsche, doch nur für Enthusiasten interessante Standphotos, auf denen der Meister im Bild erscheint, auszuscheiden. Das Treatment Godards und eine Bibliografie seiner Filme sind noch beigegeben.       W. Sch.
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Rückumschlag

Die Vorstellung der Feuilletonisten ist also unzulänglich: man kann den Publikumsgeschmack des Publi- kums nicht durch bessere Filme, sondern nur durch eine Änderung seiner Verhältnisse ändern.       Bert Brecht


Sandra [Nachtrag siehe Heft 53>

VAGHE STELLE DELL' ORSA, Italien 1965. Produktion: Vides. Regie: Luchino Visconti; Buch: Suso Cecchi d' Amico, Luchino Visconti, Enrico Medioli; Kamera: Armando Nannuzzi; Musik: Cesar Franck; Darsteller: Claudia Cardinale, Jean Sorel, Michael Craig, Marie Bell, Renzo Ricci; Verleih: Columbia-Bavaria.

1943, ein Jahr nach seinem Debutfilm OSSESSIONE, schrieb Luchino Visconti: "Ich bin vor allem auf den Film gestossen durch das Bedürfnis, Geschichten lebendiger Menschen zu erzählen, von Menschen, die in den Dingen leben, und nicht von den Dingen selbst." Zweiundzwanzig Jahre später sagte derselbe Visconti in einem Interview mit französischen und italienischen Kritikern anlässlich der venezianischen Premiere seines achten langen Films VAGHE STELLE DELL' ORSA: "Ich habe meine Personen bei ihrem Handeln wie scheussliche Insekten betrachtet, die man mit Interesse beschaut, denen man sich aber nicht nähert." (Cahiers du Cinéma Nr. 171, S. 46) Diese Äusserungen dokumentieren den Niedergang des Cinéasten Visconti, die allmähliche Metamorphose des grossen Realisten zum flinken Kuriositätensammler, dessen artifizielle Schnörkel ihre Rechtfertigung nurmehr in sich selbst erfahren. Allen Filmen Viscontis, auch denen, die gemeinhin für den Neorealismus reklamiert werden, ist opernhaftes Pathos und eine bis in die Details ausgeklügelte Mise en scène gemeinsam. Selbst in LA TERRA TREMA sind die armen Fischer nicht mit Lumpen bekleidet, sondern "drapiert wie die Prinzen der Tragödie". (Gregor/Patalas, Geschichte des Films, S. 247) Die Tendenz zum rein Dekorativen bedeutet für Viscontis Filme solange nur eine kleine Gefahr, wie er sich mit konkreten gesellschaftlichen Zuständen auseinandersetzte. Wo er jedoch im Bereich des nur Literarischen verweilte, erlag er den Verlockungen einer reizvollen, aber bedeutungslosen Formspielerei, die LE NOTTI BIANCHE und IL LAVORO verdarb. Besonders IL LAVORO, Viscontis Beitrag zu dem Episodenfilm BOCCACCIO'70, zeigt die Schwächen des Meisters, die mit zunehmendem Alter immer evidenter werden: Eine gänzlich irrelevante Geschichte (junger Adliger verursacht Callgirl-Skandal, seine Frau will daraufhin unabhängig werden und kommt - grandiose Idee - ihren ehelichen Pflichten nur noch gegen Bargeld nach) dient Visconti hier als Anlass, prunkvolle Interieurs mit raffinierten Einstellungen vorzuführen: ein perfektes Nichts. Bezeichnend, dass der Meister selbst IL LAVORO zu seinen wichtigen Arbeiten zählt. Auch die qualvoll lange Ballszene in IL GATTOPARDO deutet auf diese Tendenz zur sorgsam ausgeklügelten Inszenierung hin, die Formen über Inhalte stellt. Sein achter Film weist Visconti nun vollends als einen Regisseur aus, der "Dinge" zeigt, nicht "lebendige Menschen".
Die Vorlage zu VAGHE STELLE DELL' ORSA fand Visconti in der griechischen Mythologie. Die Orestie, von jeher ein dankbarer Stoff für Dramatisierungen, als 'abendländisches Bildungsgut' kritischer Betrachtung scheinbar längst entrückt, war ihm gerade gut genug. Die 'moderne' Version des antiken Themas sieht bei Visconti so aus: Das Mädchen Sandra, aus altem italienischem Adel natürlich, kehrt für einige Tage in ihren Heimatort Volterra zurück, um einige Besitzangelegenheiten zu regeln. Mit ihr kommt Andrew, ein Amerikaner, den sie geheiratet hat. Im Palazzo in Volterra wartet schon ihr Bruder Gianni, der ein Leben als Provinzplayboy führt und einen Teil des elterlichen Besitzes bereits zur Finanzierung seines Dolce Vita verwendet hat. Sofort wird klar, dass noch von früher her ein spannungsgeladenes Verhältnis zwischen den Geschwistern besteht. Die brünstige Umarmung beim ersten Wiedersehen im nächtlichen Garten lässt kommende Inzestkonflikte ahnen. Und in der Tat, Gianni, der für seine Schwester mehr als nur familiäre Gefühle hegt, versucht, Sandra zu verführen, die aber an ihrem Mann genug hat. Gianni droht, ein Manuskript mit der skandalträchtigen Cronaca Familiäre zu veröffentlichen, wenn Sandra sich seinen Wünschen nicht fügt. Die Familiengeschichte hat es denn auch in sich: Der Vater, ein jüdischer Wissenschaftler, wurde im Kriege von seiner Frau und deren Liebhaber, dem Rechtsanwalt Guardini, bei der Gestapo denunziert und kam in Auschwitz ums Leben. Heute lebt die Frau, die ihren Komplizen von damals mittlerweile geheiratet hat, in geistiger Umnachtung, überdies gibt auch das frühere Verhältnis zwischen den Geschwistern zu einigen Spekulationen Anlass. Andrew, der sich nur schwer in den undurchsichtigen Verhältnissen zurechtfindet, reist vorzeitig ab, nicht ohne vorher den Schwager und unerwarteten Nebenbuhler im Gangsterfilmstil ausgeknockt zu haben. Gianni, dessen Bemühungen um Sandra ohne Erfolg geblieben sind, bringt sich mit einer Überdosis Schlaftabletten um.
Die Transponierung antiker Stoffe in die Gegenwart ist nicht eben sensationell, und es bedarf einiger Anstrengung, um dem oft Gesehenen noch neue Aspekte abzugewinnen. Die Änderungen, die Visconti an der Geschichte von den 'letzten Tandaliden' vorgenommen hat, erweisen sich als unzureichend. Zwar lässt er seine Personen nicht mehr hemmungslos morden wie ihre griechischen Vorbilder, doch die heutzutage wenig aktuelle Thematik von unentrinnbarem Schicksal und dunkler Schuldverstrickung bleibt unangetastet. Die Dinge entwickeln sich mit einer Zwangsläufigkeit, die nicht verheimlicht, dass Aegisth, Klytaemnestra, Elektra und Orest nur äusserlich mit den Attributen des zwanzigsten Jahrhunderts versehen sind. Die unheilschwangere Atmosphäre, die von Anfang an mit allen Mitteln erzeugt wird, lässt Mykene in Volterra auferstehen. Der halbherzige Inzest schliesslich, von dem in der griechischen Mythologie mit keinem Wort die Rede ist, dienst als modisches Versatzstück zur angeblichen Aktualisierung.
Ärgerlich wird Viscontis fade Orestie durch die bedenkenlose Vermengung mit dem Grauen von Auschwitz; Agamemnon stirbt in der Gaskammer, und die Drehbuchautoren konstruieren so eine Analogie von göttergelenktem Griechenschicksal und faschistischer Barbarei, als ob Auschwitz das Produkt eines rätselhaft unerkennbaren Tragödienwillens sei. Allerdings muss Visconti die Fragwürdigkeit dieser Idee wohl erkannt haben, denn er behandelt diesen Teil der Geschichte mit spürbarer Unlust. Und wirklich ist es leicht möglich, dass unaufmerksame Zuschauer die spärlichen Hinweise auf den Tod in der Gaskammer, von dem nicht im Dialog gesprochen wird, sondern der nur durch eine recht flüchtig gezeigte Inschrift erkennbar wird, übersehen. Visconti konzentriert sich auf den Inzestkonflikt und verlegt sich im übrigen auf eine spektakuläre Inszenierung, die auch die gröbsten Effekte nicht scheut.
Das beginnt mit den Darstellern: der Amerikaner Andrew wird als Karikatur des "typischen amerikanischen Touristen" (Visconti) gezeigt, der stets mit einem Photoapparat herumläuft. Die nervenkranke Mutter (Klytaemnestra) agiert wie eine Mischung von Bette Davis und Joan Crawford, an deren dämonischer Bösartigkeit Robert Aldrich seine helle Freude hätte. Und Gianni, der dekadente Bruder, stirbt, Schaum vor dem Mund, unter Konvulsionen, die wie die arrangierten Windungen eines Ballett-Tänzers anmuten. Auch die meisten übrigen Darsteller spielen mit einem merklichen Hang zum antikisch-expressiven Tragödienstil, der den Figuren alle menschlichen Züge nimmt. Die Ausnahme ist Claudia Cardinale, die Visconti treffend mit einem Pferd vergleicht und deren Darstellungskünste sich darauf beschränken, einen einzigen Ausdruck von gequälter Sorge herzuzeigen. Die Outriertheit der Darstellung findet ihre Entsprechung in der Präsentation der Exterieurs. Während der Autofahrt nach Volterra zu Beginn des Films erscheinen die alltäglichen Gegenstände der Strasse als Chiffren bevorstehenden Unheils. Janet Leights Fahrt zum Mörder-Motel in Hitchcocks PSYCHO könnte das Vorbild dieser Sequenz gewesen sein. Auch in den übrigen Aussenszenen wird krampfhaft eine Katastrophenstimmung erzeugt: als Gianni seinen amerikanischen Schwager nächtens durch Volterra führt, geraten sie an einen gefährlichen Abhang. Gianni warnt: "Vorsicht, hier stürzt alles zusammen". Dazu heult aufdringlich der Wind, dessen Brausen dieser Sequenz wohl die 'Walpurgisnacht'-Stimmung verleihen soll, von der Visconti1 in dem schon erwähnten Interview spricht.
Die platte Zusammenbruchssymbolik ist nicht die einzige formale Entgleisung, die sich Visconti leistet. Später, als Gianni sich Sandra nähert, schwenkt die Kamera bedeutungsvoll auf eine Porzellanfigur - Amor und Psyche - die ausgerechnet auf dem Schränkchen steht, aus dem Gianni später die Selbstmordpillen holt. Diese Einstellung gefällt allerdings nicht einmal Visconti selbst. In dem Stammsitz der Familie stehen aber soviel prachtvolle Dinge herum, dass Visconti Mühe hat, sie alle einmal ins Bild zu bekommen. Er schwelgt in den Dekorationen, als gelte es eine Ausstellung antiker Möbel zu filmen. Perfekt, sorgfältig und langweilig wird alles gezeigt, was hübsch aussieht; immerhin kennt sich der Graf Visconti in diesem Milieu aus, und er lässt keinen Zweifel, dass das Inventar ihm wichtiger ist als die Personen.
Man sollte Visconti allerdings nicht zu voreilig in die Reihe der ausgebrannten Altmeister schieben. Viel Schlechtes und Missratenes in VAGHE STELLE DELL' ORSA mag auf das unglückliche Drehbuch zurückzuführen sein, das den Film von vornherein zum künstlerischen Scheitern verurteilt. Visconti hat seinen Film ohne viel Lust gedreht, das hat sich ausgewirkt. Warten wir also auf seinen nächsten Film, L' ETRANGER nach Albert Camus.       Hans C. Blumenberg

Elf Uhr nachts

PIERROT LE FOU (Elf Uhr nachts), Frankreich 1965; B und R: Jean-Luc Godard; K: Raoul Coutard; M: Georges Duhamel; D: Jean-Paul Belmondo, Anna Karina, Dirk Sanders u. a.; V.: Pallas.

Ferdinand Griffon, gut verheiratet mit einer reichen Italienerin, hat seine Stellung beim Fernsehen verloren. Seine Frau überredet ihn, an einer Party teilzunehmen, auf der sie ihn mit einflussreichen Leuten zusammenbringen will. Ein Freund verschafft ihnen für diesen Abend ein Kindermädchen, Marianne Renoir, mit der Ferdinand vor fünf Jahren ein Verhältnis hatte. Ferdinand verlässt die Party vorzeitig und kehrt nach Hause zurück zu Marianne, mit der er die Nacht in ihrer Wohnung verbringt. Es stellt sich heraus, dass Marianne in irgendwelche undurchsichtigen Waffengeschäfte verwickelt ist; sie möchte fliehen und Ferdinand, seiner Ehe überdrüssig, geht mit ihr. Um ihre Spur zu verwischen, täuschen sie einen Autounfall vor und setzen ihre Flucht durch Frankreich zu Fuss fort. Nach einer Zeit der Ruhe an der Küste des Mittelmeeres tauchen die Gangster auf, mit denen Marianne in Verbindung steht; sie verlässt Ferdinand. In Toulon treffen sie sich scheinbar zufällig wieder. Marianne bringt Ferdinand dazu, an einem Verbrechen teilzunehmen, das ihr angeblicher Bruder Fred organisiert. Ferdinand muss erkennen, dass Marianne ihn getäuscht hat und in Wahrheit Freds Geliebte ist. Er erschiesst die beiden und tötet sich selbst durch eine Ladung Dynamit.
Diese kurze Inhaltsangabe lässt vermuten, Godard sei nach den beiden analytitisch-deskriptiven Filmen "Die Verachtung" und "Eine verheiratete Frau" zurückgekehrt zu dem Actionfilm amerikanischer Provenienz, mit dem seine Karriere Anfang der sechziger Jahre begann. Diese Vermutung ist sowohl falsch wie auch zu grossen Teilen richtig. Falsch deshalb, weil Welten die formale Gestaltung von "Ausser Atem" und PIERROT LE FOU trennen, und weil in PIERROT LE FOU niemals action Selbstzweck wird, sie dient Godard lediglich als Folie für sein Bild der Welt. Richtig ist die Vermutung dadurch, dass PIERROT LE FOU sich derselben Handlungselemente bedient wie "Ausser Atem", sie umkehrt, neu interpretiert und neue Akzente setzt. Zur Erinnerung: In "Ausser Atem" tötet Michel Poiccard mehr aus Zufall einen Polizisten. Er trifft bald darauf Patricia, seine amerikanische Freundin von früher, umwirbt sie aufs Neue mit Erfolg und möchte sie überreden, mit ihm in den Süden zu reisen. Patricia lehnt das ab, wird von der Polizei unter Druck gesetzt und verrät Michel, der von der Polizei erschossen wird. Die Parallelen, oder besser, die verwandelten Topoi sind evident: sowohl in "Ausser Atem" wie auch in PIERROT LE FOU kommt dem Motiv der Reise zentrale Bedeutung zu: in "Ausser Atem" scheitert Michel daran, dass diese Reise niemals zustande kommt, in PIERROT LE FOU wird die Reise oder besser die Flucht zum Anfang von Ferdinands Untergang. In "Ausser Atem" ist Michel der Gangster, der das Mädchen ,das ihn liebt, dazu bringt, herkömmliche Anschauungen über Gut, Böse und Verbrechen ausser acht zu lassen, in PIERROT LE FOU gelingt Marianne das gleiche mit Ferdinand. Und in beiden Filmen verrät die Frau schliesslich den Mann, der sie liebt. Aber trotz dieser Gemeinsamkeiten verhält sich "Ausser Atem" zu PIERROT LE FOU wie ein roher Entwurf, wie eine Skizze, die in dem endgültigen Ergebnis nur noch rudimentär oder verwandelt enthalten ist. Daran ändern auch die ständigen Verweisungen in PIERROT LE FOU auf "Ausser Atem" nichts: auf ihrer Flucht begegnen Marianne und Ferdinand in einer Kneipe einem Studenten, der sich vorstellt mit den Worten: Mein Name ist Laszlo Kovacs, geboren in Ungarn, Student an der Sorbonne. In "Ausser Atem" war Laszlo Kovacs der Deckname für Michel, der sein Studium abgebrochen hatte, um Autos zu stehlen. Oder Ferdinand sieht in einem kleinen Vorstadtkino, dem Mac Mahon aus "Ausser Atem" ähnlich, auf der Leinwand Jean Seberg, die Darstellerin der Patricia, der Frau also, die Michel verraten hatte. Oder die beiden Bilder, Picassos Liebespaar aus der frühen Epoche und Renoirs Bildnis eines jungen Mädchens, die in Patricias Zimmer hingen, sind auch in Mariannes Zimmer zu sehen usw. Godard greift mit Pierrot zurück auf "Ausser Atem", der ja im Grunde gleichfalls ein Film über das Zerbrechen einer Liebe war, wie "Die Verachtung" und wie es auch PIERROT LE FOU ist.
Ferdinand fragt Marianne, ob sie ihn immer lieben werde, und sie singt als Antwort ein Chanson, in dem sie ihm ihre Liebe versichert, aber Ferdinand blickt sie nur skeptisch und mit scheinbar grundloser Traurigkeit an. Später fragt er Marianne, ob sie ihn je verlassen wird, und sie antwortet ,nein, nie' und sieht dabei in die Kamera und nicht auf Ferdinand, sie wiederholt ,nein, niemals' und muss dabei doch die Augen vor der Kamera niederschlagen; sie wird ihn verlassen. Und Ferdinand, ,der Mann vom Mond, der herabgestiegen ist, um Marianne zu lieben', besteht darauf, Ferdinand zu sein und nicht Pierrot, wie Marianne ihn nennt und wie sie ihn auch schon vor fünf Jahren nannte. Ferdinand schreibt in sein Tagebuch, das für ihn zum Spiegel seiner Gefühle und Erfahrungen wird: Ich möchte dich so sehen, wie du bist, möchte dich zeigen wie du an mich denkst, und im selben Augenblick möchte ich mich sehen, wie ich durch deine Gedanken lebe. Er bemerkt aber nicht, dass er als Pierrot für Marianne lebt, als der Pierrot Picassos, in sich versunken und von grundloser Traurigkeit erfüllt, wie ihn die Bilder zeigen, die, eingeschnitten in den Film, ein Teil Ferdinands sind. Er will Ferdinand sein, wie er sich sieht, und nicht Pierrot, wie er in der Liebe Mariannes lebt. Ferdinand versteht es nicht, den Gegensatz in ihren Gefühlen zu überbrücken. Er beschränkt sich auf die Analyse dieses Gegensatzes, der sich schon in ihrem ersten Gespräch manifestiert, in dem sie über das Leben diskutieren und in dem Marianne sagt: Ich wünsche mir das Leben wie einen Roman, übersichtlich und logisch. Aber das ist es niemals. Ferdinand antwortet ihr: Doch. Das ist es viel mehr, als man im allgemeinen annimmt.
Für Ferdinand war das Leben übersichtlich und logisch wie ein Roman bis zu seiner Begegnung mit Marianne. Er fühlt sich frei, zu tun und zu lassen, was er wollte. Diese Freiheit will er Marianne beweisen, wenn er ihr vormacht, wie er durch geringfügige Handbewegungen ihren Wagen nach rechts oder links dirigieren kann. Aber Marianne zerstört ihm diese Illusion; sie beweist Ferdinand, dass er doch immer auf einer geraden, ihm vorgezeichneten Linie fährt. Aus der Geschichte einer Liebe wird PIERROT LE FOU zur Darstellung des Gegensatzes von Verstand und Gefühl. Ferdinand lebt in der Reflexion, das geschriebene Wort mit seiner Nachprüfbarkeit rangiert für ihn vor der Musik, die Gefühl ist und Klang. Beim Versuch, ihr Verhältnis zu analysieren, fragt Ferdinand Marianne, was sie liebe, und sie antwortet ihm: die Tiere, die Blumen, den blauen Himmel und die Musik. Er dagegen liebt den Ehrgeiz, die Hoffnung, die Bewegung, das Veränderliche, den Zufall. Marianne, die ihn zu dieser Zeit noch liebt, erkennt, dass er nur Worte für sie hat, leere, abstrakte Begriffe, während sie fühlt, wenn sie ihn ansieht. Und sie geht nach diesem Gespräch lethargisch aus dem BMd wie sie gekommen war, rufend: Was soll ich nur tun? Ich weiss nicht was ich tun soll! Ihre Worte, vordergründig ein Ausdruck ihrer Langeweile, sind gewiss in dieser Doppeldeutigkeit zu verstehen.
Godards Film ist der Versuch, die Haltung Ferdinand zu erschüttern, ihm zu beweisen, dass das Leben eben nicht wie ein Roman ist, übersichtlich und logisch, sondern verworren und aus durcheinander geratenen Kapiteln bestehend: da gibt es ein erstes Kapitel, dann ein nächstes mit demselben Namen, dann ein achtes Kapitel, und schliesslich ist es egal, welche Zahl den Kapiteln voransteht, ihr Name bleibt derselbe: Verzweiflung und Angst. Das Leben besteht nur aus Abbildern, aus Romanen, die zusammengenommen keinen Sinn mehr ergeben. Marianne hat diesen Collagencharakter des Lebens schon längst erkannt, sie kommentiert einmal das Geschehen: Und weiter geht es wie im Fortsetzungskrimi, mit Autos, Revolvern und Nachtlokalen. Später muss Ferdinand es selbst erkennen, nach einer Zeit des Lebens mit Marianne. Er bemerkt, dass der Hafen aussieht wie ein Hafen bei Conrad, das Segelschiff wie aus den Romanen Stevensons, das Bordell wie ein Bordell bei Faulkner; ein Steward ist Millionär geworden wie in einem Roman von Jack London, und Ferdinand selbst wird von zwei Gangstern fertiggemacht wie in einer Story von Raymond Chandler. Diese Zitate und Verweisungen dienen Godard nicht zur Demonstration seiner Belesenheit, sind keine intellektuelle Selbstbefriedigung eines nihilistischen Cinéasten. Godard zeigt damit den Ersatzcharakter, den unser Leben immer mehr anzunehmen droht. Film, Malerei, Literatur, Reflexion allgemein sind nicht länger Spiegelungen oder Abbild des Lebens, sie treten zusehends an die Stelle des Lebens. Und es ist nicht nur eine Hommage Godards an Samuel Füller, den Regisseur von SHOCK CORRIDOR, der zur harten amerikanischen Schule zählt, wenn er diesen seine Ansicht über Film erklären lässt: Cinema is like a battleground. Love. Hate. Action. Violence. Death. In one word, emotions. Auch dieses Zitat Fullers verdeutlicht den jeder Kunst immanenten Surrogatcharakter. Ferdinand sieht sich in einer Welt, in der alles nur noch Bildcharakter hat. Alles ist schon dagewesen, alles ist nur noch Kopie: Es hat die griechische Zivilisation gegeben, die römische Zivilisation, jetzt haben wir die Zivilisation des Pos.
Auch der Mensch hat sich verändert: auch er ist doppelt vorhanden, einmal als er selbst und einmal als sein Bild, sein Traum, den er von sich träumt; es wird für Ferdinand schwierig zu entscheiden, was Realität ist. Er erzählt Marianne die Geschichte von Nicolas de Stael, der seinen Doppelgänger umbringen wollte und zu spät bemerkte, dass er sich selber umgebracht hatte. So wird auch Ferdinand am Ende des Films zu spät den Unterschied zwischen Pose und Wahrheit, Spiel und Realität erkennen, umsonst wird er versuchen, die brennende Lunte zu löschen, die zu der Maske mit Dynamit führt, mit der er sich - symbolisch gesehen - abschirmen will gegen die Welt. Godard hat hier im Film genial die Epoche der doppelten Menschen gestaltet, die in der modernen Literatur vor ihm Wilde in seinem "Dorian Gray" und Frisch in seinem "Stiller" beschrieben hatten. Alles ist in Godards Film abgestellt auf dieses Schisma zwischen der Realität des Lebens und seinem Abbild: schon während der Titel hört man die Stimme Ferdinands aus dem Buch Elie Faures über Velasquez zitieren, über die Rolle des Malers, der am spanischen Hof lebt und der diese Welt mit ihren verrückten Prinzen, infantilen Königen und missgestalteten Zwergen zu verstehen versucht, indem er sie abbildet. So versucht Ferdinand, diese Welt zu verstehen, und auch Godard versucht die Chaotik dieser Welt zu ordnen, indem er sie darstellt, wie sie sich darbietet. Er zeigt den Tod in seiner Vielfalt, nie freilich den friedlichen, Ruhe bringenden Tod, immer ist er sinnlos, unverständlich und gewalttätig, gleich, ob er auftritt in Form der zitierten Kämpfe um Vietnam, ob es der Tote auf Mariannes Bett zu Anfang des Films ist, für den es nie eine Erklärung gibt, gleich, ob es der Tod des kleinen Gangsters ist, den Marianne mit einer Schere tötet, oder ob es in einer letzten Kulmination Ferdinands eigener Tod ist, grandios in seiner Verrücktheit und Sinnlosigkeit. Aber auch der Tod offenbart sich in "Pierrot" letztlich nur als ein Zitat, als ein bewusst gestelltes historisches Tableau in der Art des Delacroix, wie Louis Aragon in seiner Hymne auf Godards Film erkannte. Der Tod hat seinen Schrecken verloren gerade durch seine Gewalttätigkeit, die jederzeit mögliche Vollziehbarkeit, die dem Menschen mit der Erfindung der modernen Waffen gegeben ist.
Diese Waffen liegen fast in allen Szenen des Films als normale Gebrauchsgegenstände herum, durch sie ist der Tod nicht mehr das Ende aller Dinge, er ist jederzeit herstellbar. Marianne und Ferdinand wollen sich mit dem Tod als zwangsläufige Begleiterscheinung des Lebens, mit dem ständigen Töten und Getötetwerden und der Anonymität des Todes nicht abfinden. Sie ziehen sich zurück auf ihrer Flucht und versuchen an der Küste des Mittelmeeres die Robinsonade als Existenzform zu realisieren, mit einer Welt ohne Gewalt in Einklang zu leben, eins zu sein mit dem Himmel, dem Meer und den Tieren, den Dingen, die Marianne liebt. Aber Marianne muss erkennen, dass man niemals wirklich eins sein kann mit den Dingen, die man liebt: ihr Verhältnis zu Ferdinand wird, reduziert auf sich selbst ohne jede Ablenkung von aussen, immer gespannter, und sie kehren zurück in die Welt, an der Marianne die absolute Anonymität der Toten hasst und in der Ferdinand ständig das Blut sehen muss, das er verabscheut, das überall vergossen wird und dessen grelles Karmin neben einem kalten Blau die dominante Farbe des Films ist. Trotzdem tötet Ferdinand Marianne und den Gangster Fred, dessen Geliebte sie ist; sein letzter Versuch, Ferdinand zu bleiben, sich seine Liebe zu bewahren oder wenigstens zu zerstören, was längst zerbrochen ist. Dann ruft er seine Frau an, erkundigt sich nach seinen Kindern und legt auf. Mit blauer Farbe, dem kalten, gefühllosen Blau, das durch den ganzen Film geht, bemalt er sich das Gesicht, umwickelt sich den Kopf mit Dynamitgürteln und sprengt sich in die Luft, nachdem er vergeblich versucht hat, die Lunte zu löschen. Die Kamera schwenkt aus der distanzierenden Totalen, in der man den Tod Ferdinands sah, langsam über die Felsen der Insel in die endlose Weite des Mittelmeers, bis die Leinwand leer ist, ausser dem wolkenlosen Horizont nichts mehr zu sehen ist und man die körperlosen Stimmen Ferdinands und Mariannes hört: Wir haben sie wiedergefunden, die Ewigkeit; jene Ewigkeit, die für die beiden nur möglich war nach ihrem Tod.
Formal ist PIERROT LE FOU der schönste Film Godards, einmal durch die grossartige und schöne Farbfotografie Raoul Coutards und durch die völlig neuartige Verwendung der Farbe, die - in wieder anderer Form als bei Antonioni - nicht mehr abbildet, sondern vielmehr die Gefühlslage der handelnden Personen kongruent in optische Reize übersetzt und die Wirklichkeit neu erschafft. Zum zweiten hat die Collagetechnik Godards nie vorher die Geschlossenheit und einheitliche Schönheit erreicht wie in PIERROT LE FOU. Die Zitate stehen nicht für sich, sondern dienen immer der Erklärung der Geschichte Ferdinands und Mariannes. Die Geschichten, die Ferdinand und Marianne erzählen, illustrieren die Geschehen, stellen Hypothesen auf oder stehen kontrapunktisch zur tatsächlichen Handlung. Da gibt es die Geschichten, die Ferdinand erzählt, die Geschichte von Ganymed, die niemand interessiert, den Film "La Chienne", in dem Michel Simon einem Mädchen hörig ist; die Geschichte von Nicolas de Stael und seinem Doppelgänger, die Ferdinands eigenen Tod vorwegnimmt. Und da sind Mariannes Geschichten von dem jungen Mann, der vor dem Tod aus Paris flieht, zurückkehrt in die Stadt und stirbt; die Geschichte des Neffen Wilhelms von Oranien, der von 30 000 Sarazenen getötet wird; ihre eigene Geschichte, die sie Ferdinand immer erzählen will, es aber nie tut; und die grossartige Szene, in der sie Ferdinand von dem Glück ihrer Eltern erzählt, die sich ihr Leben lang nicht trennten, und dabei weiss, dass sie einige Minuten später Ferdinand verlassen wird; und da ist die letzte Geschichte, die nicht erzählt wird, von der Ewigkeit und der Ruhe, die Marianne und Ferdinand nach ihrem Tod gefunden haben.       Helmut Schmerber
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