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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 36, August-September 1962

Inhalt
Editorial
Laterna Magika
National Board of Review Hays Office: Production Code
Der neue amerikanische Film
Im Spiegel der deutschen Filmpublizistik: Viridiana
Das Portrait: Anna Magnani
Die Welt als Scherbenhaufen. I
Rückumschlag
Diebe haben 's schwer (I Soliti Ignoti)
Die Maus, die brüllte (The Mouse that roared)
Rom - offene Stadt (Roma città aperta)
The Crowd
Ein Gesicht in der Menge
Das grausame Auge (The Savage Eye)
Man begräbt am Sonntag nicht (On n' enterre pas le dimanche)
Die tätowierte Rose (The Rose tatoo)
Wo bleibt denn die Moral mein Herr? (Le farceur)


Editorial

Der Teufelskreis schliesst sich, CIRCULUS VITIOSUS, in dem Papas Kinokritiker hinter Papas Kino herlaufen, während Papas Kino Papas Kinokritiker am Frackschoss zu greifen sucht. Ausbruch ist unmöglich. Wir wissen dies. In unserem Land hat man den Kritikern - die der münchner FILMKRITIK und einiger weniger Tageszeitungen ausgenommen - längst den Stachel gezogen. Die Information über Film, die die deutsche Filmpublizistik zu geben vermag, glitzert auf gleichem Talmi-Niveau wie Papas Kino. Pflegt man normalerweise nur über Dinge zu schreiben, die man kennt, die man im Griff hat, erfahren und reflektiert, so zeigt es sich, dass diese Maxime für den Bereich der Filmpublizistik nicht gilt und selten galt: hier herrscht Narrenfreiheit, hier drückt sich die Impotenz herum, sich selbst lobend, dem Eigenen applaudierend. Die Redaktion dieser Zeitschrift masst sich nicht die Fähigkeit an, den publizistischen Karren aus dem Dreck ziehen zu können, aber sie ist der Meinung, durch diese Zeitschrift zur Klärung beizutragen, zur Klärung der Position des Films hierzulande und zur Klärung seiner Kritik. In diesem Sinne möchte sie ihre Arbeit verstanden wissen.


Der Rahmen dieses Heftes spannt sich von den avantgardistischen Experimenten der jungen tschechoslowakischen Filmschule bis zu den Bestrebungen, die unter dem Signum NEUER AMERIKANISCHER FILM den Weg in ein aktives Engagement gefunden haben. Aspekte - Antipoden decouvrierend, den Bericht über die jungen Amerikaner ergänzend - auf den konventionellen amerikanischen Film zeigt der Beitrag über die filmischen Sprachregelungen des PRODUCTION CODE in den USA. Im JOURNAL, in dem von jetzt an polemisch glossierend auf aktuelle Filmereignisse eingegangen werden soll, untersucht Peter H. Schröder die Äusserungen der deutschen Filmpublizistik zu Buñuels VIRIDIANA. Das Porträt beschäftigt sich mit dem Phänomen ANNA MAGNANI. Abschluss und Schwerpunkt dieses Heftes ist die Analyse der deutschen Wochenschau von Hans Magnus Enzensberger DIE WELT ALS SCHERBENHAUFEN, die wir mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages Frankfurt am Main dem soeben dort erschienenen Essayband von Hans Magnus Enzensberger "EINZELHEITEN" entnahmen.       WV
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Laterna Magika

Die prager Filmexperimente Laterna Magika und Polyecran öffnen der Kunst der bewegten Bilder neue Ebenen. Besonnener Protest gegen beschreibende Illusionskunst und technischen Filmnaturalismus.

"In jeder Kunst existieren im Grunde zwei Möglichkeiten schöpferischer Arbeit. Integrative Schöpfung, welche sich um die äussere Nachahmung der Natur bemüht, die aber zur blossen Illustration führt oder die differentiative Schöpfung, welche der Natur die einzelnen Elemente entnimmt und zu einer neuen, höheren Anordnung stellt. Ich bin Vertreter des zweiten Weges. Sein Darsteller in der Filmkunst ist Eisenstein, in der Theaterkunst Meyerhold und Piscator, in der Malerei Picasso, von welchem ich, klinge es noch so paradox, die meisten Anregungen zu meiner schöpferischen Arbeit erhielt."       A. Radok

Die totale Unkenntnis der prager LATERNA MAGIKA Experimente hierzulande beweist die Provinzialität eines filmkünstlerischen Denkens, dessen Grenzen mit der Borniertheit des allgemeinen politischen Horizontes identisch sind. Was von "hinter dem eisernen Vorhang" kommt, ist billige Propagandamache: die Wahrheit dieses Slogans hat die Rezeption von Filmen aus der UdSSR, Polen, CSSR und DDR denunziert. Und noch offensichtlicher kennzeichnet sich solches Denken als rückschrittlich, wenn es mit dem filmtechnischen Fortschritt der prager Experimente konfrontiert wird.

In Prag hatte sich 1957 eine Gruppe von tschechoslowakischen Filmleuten zusammengeschlossen, um neue Wege einer modernen Filmkunst zu finden. Als "besonnenen Protest gegen die beschreibende Illusionskunst und den technischen Filmnaturalismus" gedacht, entwickelten sie neue filmtechnische Reproduktions- und Darstellungsweisen, die, unter dem Namen POLYECRAN und LATERNA MAGIKA, auf der Expo 1958 in Brüssel, der Weltöffentlichkeit vorgestellt wurden.

Nach ihrer Rückkehr konnten sie, mit Staatshilfe, ein eigenes Studio einrichten, das ihnen ermöglichte, ihre Experimente fortzusetzen. Verschiedene Gastspielreisen nach Moskau, Leningrad, London und Berlin fanden enthusiastische Kritiken und ein fasziniertes Publikum.

POLYECRAN ist eine mehrfache Filmprojektion auf mehrere Projektionsflächen zur gleichen Zeit. Die Projektionsflächen, jede für sich verschieden gestaltet (quadratisch, rechteckig, kreisförmig), können auf vielfache Weise zueinander geordnet sein; etwa exakt geometrisch, um einem, beispielsweise technischen, Inhalt zu entsprechen; oder lose ageometrisch, wodurch der Eindruck der Improvisation entsteht, wenn ein Tanz oder Konzert dargeboten wird. Da sie zudem nicht fixiert sind, kann man durch ihre vertikale und horizontale Bewegung mannigfaltige bildlich-räumliche Konstellationen herstellen; ergänzt werden sie noch in der Kombination verschiedener Ausdrucksmittel (schwarzweiss-Farbfilm, stehende-bewegte Bilder, Puppentrick-, Zeichentrick- und Spielfilm).

Die vielfache Bereicherung der technischen Reproduktionsmittel erweitert die filmischen Darstellungsmöglichkeiten. Vor allem ist die soziale Wirklichkeit mit ihren differenzierten Widersprüchen durch deren simultane Darstellung - im Gegensatz zur sukzessiven des herkömmlichen Films - erfassbar. Auch komplizierte technische Vorgänge und Erscheinungen des täglichen Lebens können, als Ganzes überschaubar und als Einzelnes detailliert, gleichzeitig von POLYECRAN wiedergegeben werden. Künstlerischen Phänomenen werden nicht nur völlig neuartige Perspektiven und Einsichten abgewonnen; die strukturelle Veränderung durch ihre polyecrane Reproduktion schlägt sich nieder in einer neuen ästhetischen Form.

Konnte der herkömmliche Film gleichzeitige Vorgänge, auf der einen Raumebene seiner Projektionsfläche nur sukzessiv wiedergegeben, so erlaubt POLYECRAN deren simultane, vielräumige Darstellung. In der Aufhebung der innerfilmischen Raum-Zeitkontinuität wird eine Dynamik freigesetzt, die nicht nur die Kategorie der Gegenwart, sondern auch die der Vergangenheit und Zukunft in ihrem immanenten Bewegungsprozess integriert. (Es könnte zum Beispiel eine Handlung in ihrer konkreten gegenwärtigen Gestalt gezeigt werden und zugleich deren vergangenen Bedingungen und möglichen zukünftigen Konsequenzen.) POLYECRAN wird zur Kunstform, in der die Bewegung der Dialektik in Erscheinung tritt. Sie dramatisiert den Film (durch auf verschiedenen Projektionsflächen einander entgegenlaufende Vorgänge) und, indem sie eine umfassendere, vielgestaltigere Wiedergabe der Wirklichkeit ermöglicht, bringt sie epische Elemente in ihn ein, die ihm bisher versagt waren.

Die kritischen Fähigkeiten des POLYECRAN erschöpfen sich nicht in der Darstellung getrennter Phänomene, die es zur Konfrontation bringt; ebenso ist eine verschieden-perspektivische, simultane Reproduktion des Gleichen möglich. Hier besonders zeigt sich Verwandtschaft dieser Kunstform zum Kubismus in der Malerei eines Picasso etwa, auf den sich A. Radok, einer der Schöpfer des POLYECRAN, ausdrücklich beruft. Indem die Filmkunst des POLYECRAN den Anspruch des Zuschauers auf Erkenntnis und erhöhte Wahrnehmbarkeit der Wirklichkeit befriedigt, kann es, um einen Ausspruch Brechts zu paraphrasieren, "die Filmkunst des wissenschaftlichen Zeitalters genannt werden.

Während POLYECRAN eine Evolution mit revolutionierenden Konsequenzen innerhalb des Films bedeutet, markiert das prager Experiment der LATERNA MAGIKA den Beginn einer revolutionierenden Evolution in der Beziehung von Theater und Film.

Noch während der Entwicklung des Films zu einem ästhetischen Phänomen sui generis wurden Versuche unternommen, filmspezifische Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne zu gewinnen. Die Verwendung des Films in den Inszenierungen eines Piscator, Meyerhold - und in der Tschechoslowakei - eines E. F. Burian war nur ein Mittel des Protestes gegen den herrschenden Akademismus konventioneller Theaterpraxis. Die Intentionen dieser Regisseure gingen auf ein neues Theater und nicht auf eine neue künstlerische Form jenseits des Theaters und des Films.

Hier knüpft die moderne LATERNA MAGIKA an, indem sie den Film aus seiner beengenden Funktion als Mittel der Bühne befreit und zugleich die dominierende Rolle der Bühne zurücknimmt. Im Experiment der La-TERNA MAGIKA durchdringen sich die beiden bisher entgegengesetzten ästhetischen Bereiche, um in einer neuen ästhetischen Wirklichkeit aufzugehen. (Siehe Georg Lukacs ) Sie wäre als ein szenische Form zu definieren, die auf einer Kombination von Theater (mit seiner gesprochenen, gesungenen und getanzten Handlung) und Film (klassisches oder Breitwandformat, Farbfilm und POLYECRAN) beruht.

Indem so Bühnen- und Filmwirklichkeit miteinander verbunden werden, lebende und fixierte Darstellung einander wechselseitig bedingen, entsteht eine neue poetisch-ästhetische Sphäre, in der die empirischen Begriffe von Raum und Zeit noch radikaler aufgehoben sind als auf den getrennten Bereichen des Films und der Bühne.

Ihre neue poetische Kraft liegt in ihrer Fähigkeit, die Realität unter verschiedenen Aspekten - unabhängig von Zeit und Raum - zu sehen. Dadurch gelingt es ihr, die Grenzen des Realismus zu überwinden und die inneren Zusammenhänge der Erscheinungen blosszulegen.

Noch befindet sich die LATERNA MAGIKA in einem, wenngleich fortgeschrittenem, Experimentalstadium. Die ganze Fülle ihrer Möglichkeiten ist noch nicht überschaubar. Man darf aber, ohne falsche Versprechungen zu suggerieren, von dem Fortgang der Prager Experimente Ergebnisse erwarten, die völlig neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten erschliessen, jenseits der bisher von Film und Theater erreichten.       Wolfram Schütte

National Board of Review Hays Office
National Legion of Decency Production
Code Administration

Eigentlich begann es mit dem berühmten Kuss der May Irwin und des John C. Rice. Die Kinetoscope brachte diesen Kuss 1896, zwei Jahre nach der ersten kommerziellen Filmvorführung in Amerika, in ausgedehnter Grossaufnahme. New York hatte damit seinen handfesten Skandal und der kraftstrotzende Säugling Film schon im zartesten Alter die Aufmerksamkeit seriöser Vereinigungen gefunden: Frauenvereine, Bürgerverbände, Religions- und Wohlfahrtsorganisationen sollten von nun an des Kleinkinds treueste und aufmerksamste Erzieher und Weggenossen werden. Allerdings vermochten sie in diesem Lebensalter, dem Unvernunft naturgemäss noch eigen ist, ein insubordinantes Strampeln nicht zu verhindern: auf Kuss und Protest folgte eine Invasion von lovers scenes und kiss series mit May Irwin und John C. Rice.

Im Laufe der Zeit sollte das anders werden. Die Proteststimmen mehrten sich. So schrieb 1907 ,The Chicago Tribüne' über den lasterhaften Einfluss der ,Five Cent Theatres', die sog. Nickelodeons: "Sie dürfen nicht verteidigt werden. Sie sind hoffnungslos schlecht." Und ein Richter mahnte in derselben Nummer: "Those nickelodeons indirectly or directly caused more juvenile crimes coming into this court than all other causes combined." Bei Griffith's ,Birth of a Nation' prangerte die ,National Association for the Advancement of Colored People' die Darstellung von Negern an. Die ,Society for the Prevention of Cruelty to Animals', Interessengruppen wie z. B. ,Women's Christian Temperance Union', politische Gruppen und Berufsverbände haben immer versucht, ihren Vorstellungen auch im Film Geltung zu verschaffen. So verursachte z. B. die Bemerkung eines Filmkomikers "dick wie Fliegen in einem griechischen Restaurant" den Aufmarsch von "sechzehn zylindergeschmückten Herren, die im Namen der ,American Society of Greek Restaurants' energisch dagegen protestierten".

Der Film war in seinen ersten Jahren sehr meinungsfreudig. Fragen des Fortschritts, des Tages, soziale Probleme wurden behandelt: Filme über Frauenrechtlerinnen (Why Mr. Nation wants a Divorce), über Gewerkschaftssekretäre und die Arbeiterbewegung sind Beispiele. Aktuelle Streitfragen wie die Mordaffäre Stanford White (Escape from Asylum) wurden nicht nur berichtet, sondern erörtert. Das Thema ,Gut - Böse' lieferte den Stoff für Hunderte von Filmen. Der Film nahm Stellung - er war daher kein Vorstadtjux mehr, er konnte gefährlich werden. Seine Gegner, die jeweils angegriffenen Interessengruppen, stellten sich ein.

Das Jahr 1910 etablierte das Starsystem. Die Filmindustrie hatte zunächst gezögert, die Namen der Darsteller (aus Angst vor höheren Gagenforderungen) bekanntzugeben, startete dann aber, als ein Produzent dieses Tabu gebrochen hatte und die Zugkraft des Stars sich aus den Kassenrapporten folgern liess, regelrechte Aufklärungsfeldzüge. Es galt, die ewige Sehnsucht des Publikums nach Helden und Halbgöttern zu befriedigen. Verstärkt rüsteten nun auch die Kirchen zum Kampf. Das Hollywood-Babylon sollte fallen. Hollywood selbst mit seiner reisserischen Reklame und hemmungslosen Werbung, mit seinen Skandalen, schürte ahnungslos und selbstmörderisch das Feuer der allgemeinen Empörung.

Die hektischen "roaring twenties" taten ein übriges. Typisch sind die Produktionen Cecil B. De Milles aus jener Zeit, ,Badewannen- und Boudoirromanzen' (Patalas): ,Male and Female' (1919), ,Why Change Your Wife?' (1920), ,Forbidden Fruit' (1921), ,Fools Paradise' (1922) und ,Adam's Rib' (1923), angekündigt als "typische De Mille Produktionen - gewagt, glitzernd, spannend, überaus elegant und völlig ohne Herz". Und damit in krassem Widerspruch zu der damaligen Tendenz, dem ,sittlichen Verfall' durch Einschränkung der Freiheiten zu begegnen. Hatte man doch gerade erst die Verfassung zwecks Einführung der Prohibition geändert! Inglis schreibt dazu: "Die Übel des Films wurden mit den Übeln der Kneipe verglichen. Eine Welle des Protests überzog das Land. Religiöse und bürgerliche Vereine und Frauengruppen schlössen sich diesem Protest an, die Forderung nach einer Reform des Films wurde zu einer nationalen Bewegung."

Freilich, neu war das alles nicht. Nur Ausmass und Resonanz der ,Bewegung' hatten jetzt einen beträchtlicheren Umfang angenommen als zu früheren Zeiten. Die bestehenden Gesetze - Steuer- und Copyrightgesetze, Tariff-Act - wurden als unzureichend hingestellt. Bundeseinzelgesetze gab es nur im Hinblick auf Boxkämpfe und militärische Uniformen. Auch hatte man 1920 den § 245 des Penal Code revidiert: fortan durften keine Filme mehr transportiert werden, deren Inhalt obszönen, unzüchtigen oder schmutzigen Charakters oder sonstwie anstössig war. Daneben existierten Zensurgesetze der Einzelstaaten und Städtische Zensur(polizei)gesetze. Die Entscheidungen der einzelnen Zensoren wichen stark voneinander ab. Die Filmindustrie war aus wirtschaftlichen Gründen also schon früh daran interessiert, die Annahme staatlicher Zensurgesetze zu verhindern. Die Anträge beim Kongress, den Film unter staatliche Kontrolle zu stellen, häuften sich. Die Presse trat dem zwar entgegen, forderte aber eigene Massnahmen der Produzenten, die eine wirkungsvollere Kontrolle als die bisher vom ,National Board of Review' erzielte gewährleisten konnten.

Der ,National Board of Review' war aus einer ähnlichen Situation heraus entstanden. Er wurde 1909 als ,National Board of Censorship' vom "People's Institut of New York" unter dem Protektorat von Dr. Smith gegründet und dann 1916 in ,National Board of Review' umbenannt. Nach dem Verbot einiger Sensationsfilme durch den New Yorker Oberbürgermeister McClellan beauftragte ein Komitee der Filmindustrie den Board mit der Prüfung ihrer Filme. Die Filmindustrie versprach, sich an die Entscheidungen des Board zu halten. Die Arbeit des Board liess sich gut an, seine Entscheidungen wurden im allgemeinen respektiert und die staatlichen Behörden machten sie zu ihren Richtlinien. Trotzdem verstummten die Angriffe der Zensurverfechter nicht. Sie wiesen immer wieder darauf hin, dass es dem Board nicht gelungen sei, die Vorführung aller fragwürdigen Filme zu verhindern, dass der Board von der Filmindustrie finanziell abhängig sei und dass die Politik des Board niemals den Interessen der Industrie widersprochen habe. Die Hersteller mussten sich also, wollten sie drohenden gesetzlichen Massnahmen ausweichen, nach anderen Möglichkeiten umsehen. So verkündete dann die ,National Association of the Motion Picture Industry' am 7. März 1921 ihre ,Dreizehn Punkte', die eine Ausmerzung der Filme beabsichtigten, die bisher Anlass zu Kampagnen und Beanstandungen gegeben hatten. Der einflussreiche ,National Catholic Welfare Council' war bereit, diese ,Dreizehn Punkte' zu befürworten, - aber weder er noch die Verfasser, noch der Board, der die Aktion ebenfalls unterstützte, vermochten die Annahme eines drastischen Zensurgesetzes im Staate New York zu verhindern.

Das Ansehen dieser Selbstkontrollinstanzen war damit ramponiert. Die Hersteller halfen sich mit der Gründung (12. März 1922) eines neuen Verbandes, der ,Motion Picture Producers and Distributors of America'. Präsident wurde der mächtige und angesehene Will H. Hays, Postminister der Harding Regierung, Jurist und Kirchenältester der Presbyterian Church. Goldwyn, Zukor, Fox, Laemmle u. a. hatten Hays für dieses Amt gewonnen: "Die Vergütung, die wir bereit wären Ihnen zu zahlen, für den Fall, dass Sie unser Angebot annehmen sollten, beträgt einhunderttausend Dollar pro Jahr, zahlbar nach Wunsch _..." Hays blieb bis zum Jahre 1945 der ,Zar des Kinos', dann löste ihn Eric Johnston ab.

Hays taktierte von Anfang an geschickt. Er hatte noch keine weitreichenden Vollmachten und konnte nur Empfehlungen geben. So überredete er Hollywood zu Zurückhaltung bei Werbung und Starreklame. So versuchte er das eine Angriffsziel, die Skandale Hollywoods, durch die Empfehlung von bestimmten Vertragsklauseln aus dem Weg zu räumen. So führte er die Politik der offenen Tür ein, schrieb Tausende von Briefen und Artikel, in denen er das Publikum über die Arbeit der Filmateliere unterrichtete. Er gründete ein ,Comittee on Public Relations', in dem er alle relevanten religiösen und öffentlichen Organisationen mitarbeiten liess und so etwaiger Kritik sofort steuern konnte. Vom ,Council of Jewish Women' über ,Salvation Army' und ,Campfire Girls' bis zu den ,Daughters of the American Revolution' reichte die Liste.

Zu einer wirksamen Selbstkontrolle kam es jedoch erst später. Die ,Formula' (1924) und die ,Dont's and Be Carefuls' (1927) waren erste Versuche, die fallweise Empfehlungen des Hays-Office an die Hersteller durch allgemeine Kodifikation festzulegen. Erst 1930 wurden die ,Formula' und die ,Dont's and Be Carefuls' durch den ,Motion Picture Production Code' ersetzt. Der Jesuiten-Pater Daniel A. Lord, unterstützt von dem einflussreichen katholischen Verleger Quigley und Hays, hatte den PC verfasst. Die ,Dont's and Be Carefuls' standen Pate. Klar geht das aus dem Code und den ,Particular Applications' hervor. Die ,Reasons Supporting Preamble of Code' und ,Reasons Underlying the General Principles and Particular Applications' dagegen waren nur das Werk des Daniel Lord. Der Code ist ein Sittenkodex, der sich vor allem auf die Institutionen der Mittelklasse und die moralischen Wertschätzungen der bürgerlichen Gesellschaft stützt. Auf fünfzehn Druckseiten werden nicht nur allgemeine Grundsätze kundgetan, sondern der Code führt auch genau aus, was z. B. in Gebärde, Bewegung, Sprache und Kostüm unsittlich und deshalb unstatthaft ist.

Bei aller Perfektion sollte aber trotzdem dem Code auf Grund der noch fehlenden Zwangsmassnahmen vorerst die Wirksamkeit versagt bleiben. Als dann aber im Jahre 1933 im Gefolge der allgemeinen Wirtschaftskrise die mehr als zehn Millionen Arbeitslosen nicht mehr gewillt waren, ihre Misere beim Lichtspiel zu vergessen und von 19000 Filmtheatern 6000 geschlossen werden mussten und deshalb die Filmindustrie sich immer weniger an ihrem Code und viel mehr an der Überwindung des drohenden wirtschaftlichen Desasters durch Produktion entsprechender Filme interessiert zeigte, da erhoben sich erneut die katholischen Bischöfe des Landes und beschlossen eine ,National Legion of Decency'. Schon immer waren die katholischen Gruppen bereit gewesen, mit der Filmindustrie zusammenzuarbeiten und gegen eine staatliche Zensur zu kämpfen. Folgerichtig bejahten sie auch jetzt den Code, riefen aber zum Boykott all der Filme auf, die die Vor-Schriften des Code missachteten. Protestanten, Wohlfahrts- und Frauenorganisationen schlössen sich der ,Legion' an. Gelöbnisse wurden unterschrieben, Schulkinder trugen Plakate mit der Aufschrift "Eine Eintrittskarte für einen unanständigen Film ist eine Fahrkarte zur Hölle" durch die Lande. Die Aktion hatte Erfolg, die Filmindustrie wurde an ihrer empfindlichsten Stelle, der Theaterkasse, getroffen. Sie schloss dann auch bald ihren Frieden mit der ,Legion' und bestellte Joseph I. Breen, einen jungen, katholischen Zeitungsmann, zum Verwalter ihres Code. Er wurde Leiter der Production Code Administration. Alle Drehbücher und Filme der Mitgliedsgesellschaften passierten nun das PCA. Ein Verstoss gegen deren Entscheidung zog die 25000 Dollar-Strafe nach sich. Breen wurde einer der mächtigsten Männer und sein Office - das er geschickt, da es eine ,freiwillige' Kontrollinstanz war, zu einer Art Hilfsorganisation der Hersteller machte - eine Instanz, deren Ratschläge und Entscheidungen respektiert wurden. Die dann so aussahen: _... "Bitte, achten Sie darauf, dass jegliches Trinken alkoholischer Getränke auf ein Minimum reduziert werden muss _... Beachten Sie, dass der Code die Wiedergabe von Feuergefechten zwischen Polizeibeamten und Verbrechern nicht gestattet. Wir empfehlen Ihnen, eine Zeile einzufügen, aus der hervorgeht, dass N versucht, die Reifen des Polizeiwagens anzuschiessen _... Bitte, lassen Sie L etwas länger sprechen und hinzufügen, dass auch G verhaftet wurde und bestraft werden wird _... Diese Umarmungsszene zwischen K und R darf nicht in horizontaler Lage oder auf der Erde liegend dargestellt werden. _... Wir möchten weiterhin anregen, die Handlung unmissverständlich so zu ergänzen, dass B seine Schuld bekennt, sich selbst verurteilt und schliesslich vollständig bekehrt wird."

Vielleicht Extremfälle, die aber durchweg den Tenor der veröffentlichten Briefe Breens treffen. Ein weiterer, ausdrücklich aber als Extremfall veröffentlichter Brief enthält diese Passagen: "_... etwas mehr Zurückhaltung üben, wenn es sich darum handelt, den Kontrast zwischen den ärmeren Leuten in Mietshäusern und den reichen Leuten in Villenwohnungen herauszuarbeiten. Insbesondere möchten wir anregen, das Vorhandensein von Schmutz, übelriechendem Abfall oder Abfall, der den Fluss hinuntertreibt, während die Knaben darin schwimmen, überhaupt nicht zu zeigen oder wenigstens diese Tatsache nicht zu unterstreichen. Wenn wir diesen Wunsch aussprechen, dann beziehen wir uns dabei ganz allgemein auf die Forderungen des Guten und der sozialen Wohlfahrt und weil wir glauben, dass derartige Szenen wahrscheinlich Anstoss erregen werden."

Eine Instanz hatte sich etabliert, ihr Wunsch war schon früh der Wille der ,erfahrenen' Produzenten. Sie arbeitet noch heute. Der an sich vernünftig klingende Production Code lieferte ein System, mit dem man den sich manchmal noch wild gebärdenden Jüngling Film die Fittiche beschneiden konnte. Dazu erfand man die ,moralisch wertvollen Ausgleichshandlungen': gute Charaktere, die Stimme des menschlichen Gewissens, Besserung des Übeltäters, Leiden und Bestrafung (Breen). Genau hier wurden der üble Sadismus und die heroisierende Grausamkeit - immer fein säuberlich ,moralisch wertvoll' ausgeglichen - mancher späterer amerikanischer Filme vorbereitet. Alles wurde dann auch so herrlich einfach: die Fragen des Helden finden ihre Lösung im happy-end, die Problematik des Verbrechens endet mit der Verhaftung des Verbrechers, Krieg und die Vorbereitung zum Krieg sind heroische und glanzvolle Angelegenheiten voller Spannung, und ein gutes Leben ist ein Leben des Besitzes - so schon 1938 das ,Institute for Propaganda Analysis' in einer Untersuchung des amerikanischen Films.

Auch die Interessen der pressure groups, sind sie nur mächtig und einflussreich genug oder zur wirtschaftlichen Bedrohung geeignet und bereit, können berücksichtigt werden. Man ist eben hübsch neutral. Und endlich keine ,Verunglimpfungen' mehr bei der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität, endlich Menschen auf der Leinwand, die ,tolerant', religions-, berufs- und herkunftslos, politisch indifferent, höchstens noch Halbwahrheiten nachtrotten. Nur tüchtig müssen sie sein. Sicher gibt es und gab es Ausnahmen. Aber wie man die besten Ausnahmen kleinkriegte, ist ein anderes Kapitel, von dem noch zu berichten sein wird. So wurde der amerikanische Film nach erfolgversprechender Jünglingszeit zu einem geleckten, sterilen und standardisierten älteren Herrn, der gemeinhin bei Tiffany frühstückt, Erinnerungen am River Kwai auffrischt, ab und an in Nürnberg urteilt, regelmässig jedoch in einem schlecht sitzenden Zweier-Pyjama Psychoschocken geht. Sicher hat alles viele Gründe. Ob die Existenz des Production Code einer dieser Gründe ist, kann, soll aber nicht behauptet werden. Handhabung und Interpretation des Code sind jedoch zwei der Gründe.       F. W. Vöbel

Quellen:
Ruth A. Inglis: Der amerikanische Film, Nürnberg 1951.
Lewis Jacobs: The Rise of the American Film, New York, 1946 (1939).
Enno Patales: Hollywoods Antwort in F 58, Frankfurt (Main).
Georges Sadoul: Geschichte der Filmkunst, Wien, 1957.
u. a.

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Der neue amerikanische Film (s.a.: Heft 43 )

Es hat sich herumgesprochen: seit einigen Jahren bemühen sich die jungen Cinéasten in aller Welt, dem zum Popanz gewordenen Film das Fett von den Gliedern zu schleifen. Das geschah in Frankreich, in England, in der Sowjetunion und sogar in Deutschland (West) lässt sich ein frisches Lüftchen vernehmen. So war es dann auch in den USA höchste Zeit, einem steril und müde gewordenen Hollywood auf den Leib zu rücken.

"Der neue amerikanische Film kommt von verschiedenen Richtungen. Zuerst auf ganz einfache Art, über den sogenannten B-Film - jugendliche Melodramen, Thriller, Science Fiction - einige unabhängig produziert, andere mit Rückendeckung durch die grösseren Gesellschaften. Das sind die unschuldigen, unbewussten Rebellen; neue Schauspieler, neue Autoren, neue Regisseure erproben ihr Geschick mit diesen Filmen _... In jedem von ihnen finden sich Sequenzen, Einstellungen und Szenen, die ursprünglicher, zeitnäher in ihrer Auffassung und dynamischer sind als irgend etwas im "offiziellen" Film in der Machart von "Anatomy of a Murder" oder "Middle of the Night". Neue Gesichter, neue "locations" sind erprobt worden, neue Themen und Zusammenhänge. Die Filme sind häufig von zwingender, zeitgemässer, junger Qualität. Obgleich voll von Handlungs- und Typenklischees und roh in ihrer Technik, stellen sie doch die lebhaftesten Filme vor, die (direkt oder indirekt) von Hollywood kommen." (Jonas Mekas: Towards a Spontaneous Cinema, in Sight and Sound 28, Summer-Autumn 1959.) Zu diesen Filmen zählen u. a. "The savage Eye" und "Private Property". Die andere, weitaus wichtigere Gruppe, die den amerikanischen Film erneuern will, hat sich in New York versammelt. Ihr geistiges Zentrum ist die Zeitschrift FILM CULTURE, deren Herausgeber, Jonas Mekas, man als ihren Theoretiker und publizistischen Wegbereiter bezeichnen kann. Mekas, Ex-Litauer und Mainzer Philosophiestudent, gab 1959 mit seinem Artikel (Filmculture 19/1959) "A Call for a New Generation of Film Makers" den Anstoss für die Sammlung der jungen avantgardistischen Aussenseiter. Seine Zeitschrift stiftete gleichzeitig einen Preis für den besten unabhängig produzierten Film, den als erster Cassavetes mit "Shadows" gewann.

Das künstlerische Spektrum dieser Gruppe ist weit genug. Es umfasst vom einfachen Dokumentarfilm bis zum "magischen Realismus" der Shirley Clarke, von der "nonsense comedy" der Beatniks bis zur politischen Satire alles. Die Basis, auf der sich die verschiedenen Künstler finden, legten sie gemeinsam in einem Manifest am 28. September 1960 nieder.

Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung Hollywoods mit seiner aufgeblasenen Bürokratie, seinen eingespielten Mechanismen, den verlogenen Leitbildern und seinem totalen Machtanspruch. Hollywood dient hier nur als Vorwand. Es wird als Symptom einer Gesellschaft betrachtet, die es in seiner Mittelmässigkeit und Sattheit widerspiegelt. Das Bestreben der jungen Filmer richtet sich daher mit den angestrebten Veränderungen im Film auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Realität. Man rebelliert, man aktiviert den offenen Ungehorsam "sogar auf Kosten der offenen Anarchie und des Nihilismus". (Jonas Mekas: Notes on the New American Cinema, in Film Culture 24/1962. Weitere Hinweise auf dieses Werk werden mit *M gekennzeichnet.)

Rebellion als Ausfluss pubertärer Gefühle ist den Amerikanern lange bekannt. Und so ist man weit entfernt, die Gruppe und ihre intellektuelle Revolution als solche und als notwendig anzuerkennen. Die durch jahrzehntelange Hollywood-Berieselung und Eisenhower-Politik verlorene Fähigkeit zu differenzieren, lässt die "hipsters" eine Art Narrenfreiheit geniessen, in der stillen Hoffnung, dass diese früher oder später doch ihren Frieden im Arrangement suchen. So weigert man sich beharrlich, "beat" für mehr als nur eine Nuance der üblichen Lederjacken- und Bartträger zu halten.

Gerade die "beats" bilden unter den jungen amerikanischen Filmern eine starke Gruppe. Ihre Bemühungen gehen dahin, ohne langes Fragen nach den Wurzeln menschlicher Existenz, Möglichkeiten besseren, glücklicheren Lebens aufzuzeigen, den Menschen zu befreien. So drehten Robert Frank und Alfred Leslie ihren ersten "Beat"-Film "Pull My Daisy" (1959) nach einem Bühnenstück von Jack Kerouac, der auch den Kommentar zum Film frei improvisierte.

"Hier ist der erste richtige "beat"- Film, in dem Sinn, dass "beat" bei der jungen Generation Ausdruck unbewusster Ablehnung des Durchschnitts, der Krämerseele ist; ein Ausbruch von Spontaneität und Improvisation als unbewusste Opposition zur Mechanisierung." (Jonas Mekas: Towards a Spontaneous Cinema, in Sight and Sound 28, Summer-Autumn 1959.)

"Pull My Daisy" zeigt einfach die Zusammenkunft einer Gruppe von Beatniks, die bei einem der ihren die inzwischen auch bei uns bekannten Wege zur Selbstbefreiung schreiten: Lyrik, Gespräch, Jazz, Alkohol. Ohne eine straffe dramatische Story wird hier eine Fülle von Bildern improvisiert, die den Betrachter ins Geschehen selbst hineinversetzen.

Verzicht auf "plot", auf Handlung im üblichen Sinne, Improvisation, Gefühl des Dabeiseins: damit haben wir einen Katalog von Merkmalen, die den gesamten jungen amerikanischen Film kennzeichnen. Es geht nicht mehr darum, mit mehr oder weniger personell manifestierbaren Ideen eine abstrakte Dramatik zu schaffen, die sich als unwahr erweist, sondern eine möglichst getreue Schilderung von konkreten Zuständen zu erreichen, seien diese physischer oder psychologischer Natur. Daher auch der Verzicht auf bereits typisierte Schauspieler, ja auf Berufsschauspieler überhaupt. Auch auf die Authentizität des Milieus wird peinlich geachtet. Ein nicht geringer Teil der jungen Regisseure kommt aus der Schule der sogenannten "stream of life"-Filme, wodurch man am besten die unidyllischen Dokumentarfilme umreissen kann.

Antenne für jegliche Wirklichkeit ist der Künstler, der Regisseur, der Autor des Films. "Der neue Künstler ist nicht daran interessiert, den Zuschauer zu unterhalten: er trifft persönliche Feststellungen über die Welt von heute." (= Mekas) Der Filmschöpfer hat diese Feststellungen an Ort und Stelle mit der Filmkamera zu treffen, er hat nicht zu reflektieren, sondern aufzuzeichnen, zu registrieren und dem Beschauer unverfälscht vorzulegen. Dieser Haltung entspricht ganz die Improvisationsmethode. Das beste Beispiel hierfür ist ein Film von Dan Drasin "Sunday" (1961), der die Auseinandersetzung einer Gruppe von Strassensängern mit der New Yorker Polizei zum Thema hat. Drasin, der noch niemals einen Film gemacht hatte, "wurde grossartig unterstützt durch seine Unkenntnis gewisser professioneller Techniken, die seine Freiheit behindert hätten _... Er bewegte sich mit seiner Kamera frei, gegen alle Textbuchregeln, unerschrocken durch schwankende Bewegungen oder verzerrte Geräusche _... Er entsagte der Glätte, aber er erreichte die Wahrheit, im Ton wie im Bild." (= Mekas)

Drasin selbst hält diese Methode heute für nicht mehr günstig, wofür er sich den Verweis des Ideologen Mekas gefallen lassen muss, dass die Zurückstellung des tatsächlichen Geschehens und seine Darstellung hinter eine vorformulierte Idee literarisch und damit schlechter Film sei. Ähnlich wie Drasin erging es auch John Cassavetes mit der zweiten Fassung von "Shadows", die von Mekas als Bastard abgetakelt wurde. Vorgefasste Idee, das klingt dem Puristen Mekas nach dramatischem Widerstreit menschlicher Handlung, das ist der erste Schritt auf dem Wege nach Hollywood, den Cassavetes inzwischen auch gegangen ist. "Stories zu erzählen mag gut und recht sein für satte, friedliche und zufriedene Leute, aber ich bin weder satt, noch friedlich noch zufrieden. Warum? Haben Sie nicht die "Prawda" oder die "New York Times" gelesen? Wenn ja, dann begreifen Sie, dass die Poeten heute unruhig werden. Wenn die Poeten aus sich herausschreien, dann stehen die Dinge schief. Wir müssen die Leute aufschrecken aus ihrem Schlaf, aus ihrer Sattheit. Wir dürfen und können nicht mehr über Regen, Herbst und Liebe schreiben. Wichtigeres ist im Spiel." (Cinema 28, Schweiz, 1961-62.)

Betrachten wir also, was Mekas aus sich herausschreit: "Guns of the Trees" (1961). Auch dieser Film verzichtet auf die Story. "Mein Film registriert lediglich die Bereiche der Angst. Es gibt keine Lösungen, mein Film blinkt nur rote Lichter. "Guns of the Trees" ist recht eigentlich meine Meditation über Liebe und Tod in einer Stunde höchster Gefahr." (= Mekas) "Ich versuchte, die letzten Überreste überkommener Art, eine Geschichte zu erzählen, auszuschalten, indem ich einzelne, unverbundene Szenen als Teile eines sich verdichtenden, emotionalen Freskos verwandte - wie der "action painter" seine Farbflecken gebraucht." (= Mekas) "Der Film von Jonas Mekas offenbart sich als filmisches Gedicht, das in eine Vielfalt einzelner Szenen aufgelöst erscheint: Szenen, die alle doch wieder irgendwie zu einem Ganzen gefügt sind. Der Inhalt dieses Filmversuches schildert die Revolte sowohl eines weissen wie auch eines farbigen Paares. Die Eingeengtheit der vier Hauptfiguren im sozialen Gerüst der Grossstädte, ihr fanatisches aber letztlich hilfloses Ausbrechen aus einer festgefügten Gesellschaftsform, die wenig Raum lässt für die ursprünglichen Gefühle von Freude, Liebe, Wahrheit und Unbeschwertheit: dies alles möchte der Regisseur für den Betrachter erlebbar machen." (= Mekas)

Obwohl ihm die Schweizer Zeitschrift Kompromisslosigkeit bescheinigt und der Beschreibung bestimmter Phänomene (Schwierigkeiten bei der Vertiefung menschlicher Kontakte, Massenbeeinflussung durch Reklame), wirft sie Mekas andererseits politische Ahnungslosigkeit, unzulässige Simplifizierungen und eine "aus einer beängstigenden Irrationalität und einer neoromantischen Gesinnung heraus gewachsenen Weltschau" vor. In der Tat lassen der puritanische Fanatismus und der Hang zu Manifesten auf ein mindestens naiv-sentimentales Verhältnis zur Politik schliessen, jedoch nicht im Sinne von "Cinema", die hiermit einen "linken" Standpunkt disqualifizieren will.

Mekas steht mit seiner Haltung nicht allein in der Gruppe. Es lassen sich bei den meisten der jungen Filmschöpfer sozialistische oder radikal-demokratische Tendenzen feststellen. Und das filmische "Ban the Bomb" ist evident. "Wenn meine Filme soziale Ambition haben, ist diese zu helfen den sozialen Zündstoff eines Volkes, das in Angst lebt, zu entschärfen, die verräterische Dummheit beiderseitigen Selbstmords (durch Raketen) klarzumachen. (= Mekas)

Stanley Vanderbeck, den wir gerade zitierten, gehört zusammen mit Richard Preston zu den Satirikern des neuen Films, die der Gesellschaft ihr eigenes Zerrbild vor die Füsse werfen. Zu diesen Protestfilmern gehören neben Dan Drasin (s. o.) auch Hilary Harris mit dem antimilitaristischen Film "Polaris Action" und die Gebrüder Burton mit "Wasn't that a Time", ein Film über das Komitee zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe.

Als meist engagierter Mann der neuen amerikanischen Welle gebärdet sich Lionel Rogosin. "Der Künstler muss in seiner Zeit auf stärkste Weise engagiert sein." (= Mekas) Aus Rogosins Filmen "On the Bowery" (1956) und "Come Back, Africa" (1958) wird tatsächlich starkes soziales Bewusstsein ersichtlich. Er beschränkt sich nicht nur auf die Milieubeschreibung, oder auf personifizierte Ideen, sondern zeigt Aktionen lebendiger Menschen selbst in aller Differenziertheit. Hier liegt der Vergleich mit Jean Rouch und seinem "cinéma verité" nahe, mit dem er ja auch thematisch in "Come Back, Africa", eine Beschreibung der Lebensumstände der von Weissen bevormundeten Negermajorität in der Südafrikanischen Union, Berührungspunkte zu "Moi, un noir" hat. Warum Rogosin allerdings das Problem der Rassendiskriminierung nicht im eigenen Lande aufgenommen hat, ist schwer erklärlich. Man kann in diesem Zusammenhang aber auf die häufige Darstellung des amerikanischen Schwarz-Weiss-Komplexes durch andere Mitglieder der neuen Gruppe hinweisen. Rogosins anderer Film "On the Bowery" zeigt in ähnlicher Art die Verhältnisse in einem New Yorker Armen- und Säuferviertel. Bestimmt wird seine Art von Filmen, was zu bedauern ist, eine Reihe von Epigonen auf den Plan rufen, denen es nicht mehr um soziale Engagement sondern um die filmische Verherrlichung negativer Idylle geht.

Leidenschaftliches Engagement finden wir auch bei Ricky Leacock. Seine Filme "Cuba Si, Yankee No", "Primary" und "Eddie" (alle 1960) haben ausgesprochen sozialistische Tendenz. Wichtiger aber ist der Dokumentarist Leacock in aufnahmetechnischer Hinsicht für die New Yorker Gruppe. Er hat eine eigene Kameraschule in New York errichtet. "Seine neue Kamera- und Tontechnik ermöglichten ihm, die Situationen mit solcher Authentizität und Unmittelbarkeit einzufangen, dass man mit Spannung den neuen Möglichkeiten entgegensieht, die sich auch anderen Regisseuren eröffnen. Selbst Elia Kazan zeigte sich von "Primary" so beeindruckt, dass dessen Techniken sicherlich nicht ohne Einfluss auf seine kommenden Filme bleiben dürfte." (Filmkritik 6/61: Jonas Mekas: Rebellen gegen Hollywood.)

"Was geschieht, die Aktion, ist unbegrenzt, ebenso die Bedeutung des Geschehens _... Das Problem des Filmschöpfers ist _... das Gefühl des Daseins zu vermitteln." (= Mekas) Reacock, der Kameramann Flaherty's in "Louisiana Legende" war, entwickelt eigentlich nur eine Technik weiter, die Morris Engel in seinen Filmen "The Little Fugitive" (1953), "Lovers and Lollipops" (1955) und "Weddings and Babies" (1958) anwendet. Er meint dazu: "Morris Engels' Kamera war fast vollkommen unbehindert durch die gewöhnlichen Komplikationen beim Positionswechsel. Sie war imstande überall mit einem Minimum an Vorbereitung und Verzögerung zu gehen. Ich hatte das Gefühl, als ob die Kamera Feinheiten der Darstellung hätte einfangen können, die gewöhnlich unter normalen Aufnahmebedingungen verlorengehen." (= Mekas)

Morris Engels ist in einem weiteren Punkt für den jungen amerikanischen Film wichtig. Ihm war es mit "The Little Fugitive" zuerst gelungen den Mythos von den hohen Produktionskosten der Hollywoodfilme zu zerstören. Er stellte seinen Film für nur $ 50 000 her. Mekas und seine Anhänger haben inzwischen in ihrem Manifest das niedrige Budget zum Kriterium des neuen amerikanischen Films erhoben. In der Tat sind die Produktionssummen der neuen Filme erstaunlich klein. Warum ein Film mit erheblicherem Aufwand allerdings nicht genausogut sein könnte, ist mir nicht ersichtlich. Jedoch Mekas: "Der billige Film ist nicht nur eine rein finanzielle Frage. Der billige Film entspricht auch unseren ethischen und ästhetischen Grundsätzen, die wiederum direkt von der Substanz unserer Aussage und von der Form dieser Aussage her geprägt sind." (Manifest in Film Culture 22-23, 1961, deutsch in Cinema 28.)

Hier schlägt sich noch einmal alles nieder: Verzicht auf Stars, auf grosszügige Planung, auf Planung überhaupt, Verwendung billigen, harten Filmmaterials, das möglichst selbst bearbeitet und entwickelt wird, der Gebrauch unkomplizierter und dabei wahrheitsgetreuer Aufnahmetechniken gehört ebenso dazu wie der Verzicht auf kommerzielle Werbung. Das verlangt das Zurückstellen technischer Raffinesse hinter einfache Handhabung der Kamera.

Der Mann, der die "einfachen Möglichkeiten" der Kamera wiederentdeckt hat, ist Stanley Brakhage. Er kehrt mit seiner Technik in die Zeit von Méliès zurück, erprobt wie dieser naiv und unvorbelastet die Möglichkeiten seines Instruments. Er erzielt impressionistische Wirkungen, indem er die Linse befeuchtet oder die Brennweite verstellt, findet wieder zur Zeitlupe zurück. Er benutzt keine technischen Filter, sondern verwendet die Gegebenheiten seiner Umwelt als solche: Nebel, solarisiertes Licht, Neon. Brakhage erhielt für seine Filme "The Dead" und "Prelude" den "Fourth Independent Film Award". In der Begründung von FILM CULTURE heisst es: "Während die Masse der unabhängigen Filmschöpfer in Amerika und woanders der Tradition des Dokumentar- und des dramatischen Films folgt, hat Brakhage für seinen künstlerischen Selbstausdruck die Poesie gewählt. Er hat sein Auge nach innen gerichtet, ins Unterbewusstsein des Menschen, wovon er Stückchen der Schönheit, des Wesens von Mensch und Welt malt. Er hat sich vom Offenkundigen, Erklärbaren, Banalen abgewandt, um dem Film eine Intelligenz und Feinheit zu geben, die man gewöhnlich nur in den älteren Künsten findet. Und er hat dies mit fanatischer Beständigkeit getan, indem er die absolute Unabhängigkeit des Filmkünstlers vertrat und damit ein Beispiel für andere gab." (= Mekas) Lassen wir zum Schluss noch einmal Jonas Mekas resümieren: "es müsste nun klar geworden sein, dass die neue amerikanische Kunst und damit auch der Neue Amerikanische Film nicht eine ästhetische sondern eine ethische Bewegung sind. Ehe man eine Ästhetik schaffen kann, müssen andere, wichtigere Dinge da sein: der neue Mensch selbst. Und ich würde jeden einen Narren nennen, der von dieser Generation Kunstwerke verlangt, die klare und sichere Philosophien und Ästhetiken enthalten. Davon wird es nichts geben! Diese Generation ist dafür zu jung, steht zu sehr im Leben. Dieses Jahrzehnt wird seinen Stempel erhalten durch eine verstärkte Suche und durch weitere Befreiung der Sensibilität, um, im verzweifelten Versuch, den Klischees von Kunst und Ebene zu entkommen, immer weiter noch unverseuchte Tiefen der menschlichen Seele auszuloten." (Filmkritik 6/61: Jonas Mekas: Rebellen gegen Hollywood.)       Hanns Fischer
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Im Spiegel der deutschen Filmpublizistik: Viridiana

No more: - where ignorance is bliss, 'Tis folly to be wise.
T. Gray

I.

Kritik sei ein undankbares Geschäft, wie die Politik: also machen die Kritiker ein gutes daraus, wie die Politiker; sie sei auf mancherlei Art möglich, so und auch so: also suchen sie sich jeder eine eigene Masche; es gäbe ästhetische Massstäbe, für die Form, und "gesellschaftliche", für den Inhalt: sie nehmen sogenannte ästhetische, wenn ihnen der Inhalt nicht in das Konzept passt; mit ihren Vorstellungen vom Wahren-Schönen-Guten können sie eine Dimension nur verzerrt einfangen, die gerade diese Vorstellungen als Ideologie denunziert hat.

Die Monotonie solcher Argumente, aus dem leeren Raum heraus geholt und darüber sich tummelnd, ist bezeichnend für das Niveau der deutschen Filmpublizistik - zumindest für deren grösseren Teil: einfallslos und überholt entwirft sie eine Perspektive, aus der Licht fällt auch auf die Politik und das gesellschaftliche Bewusstsein; aus der sich entlarvt, was sich damit verschleiern will.

Zuerst geht es diesen Kritikern um die Beeinflussung der Urteilsfähigkeit des Publikums. Sie politisieren die Kritik, um die Politik nicht kritisieren zu müssen. Undialektisch reflektieren sie vom Film auf die Gesellschaft, sparen dabei den Faktor aus, der solche Reflexionen erst legitimierte: die Kritik, die an und mit dem Film die Gesellschaft kritisiert. Was sie bestenfalls zu Papier bringen, sind Vorstellungen von dem, was es so nicht mehr gibt, Meinungen, die ohne Beweis tendenziös sind und in ihrer Antiquiertheit den Gegenstand korrumpieren, dem sie vorgeblich dienen sollen, Urteile, in nichts begründet ausser durch die Borniertheit des Lieferanten, die als Vorurteile nicht einmal mehr wissenschaftliches Interesse erwecken können.

II.

Eines fehlt den meisten Kritikern besonders: eine kritische Konzeption, die darstellbar ist und zur Darstellung ihres Inhalts werden kann. Die Ausnahmen, die es in Deutschland gibt, ändern wenig, wenn man sie an ihrer Wirkung misst; die Autoren der FILMKRITIK, die tatsächlich weit über das übliche Zwei-Spalten-Geschwätz hinausgehen, sind auf der einen Seite "verdächtig" - sie bezeichnen sich selbst als ,linke' Kritiker - auf der anderen teilen sie das Schicksal aller Intellektuellen, die aus ihrem Unmut keinen Hehl machen, sie werden nicht ernst genommen und diffamiert. Sie haben aber eine Richtung in der Filmpublizistik eingeschlagen, die in den Ansätzen richtig ist: der Film kommt als Komplexes in die Betrachtung hinein, wird nicht mehr geteilt in Aussage-Form-Inhalt; seine Relevanz wird nicht kassiert, sondern klar formuliert. Dass auch in diesen Reihen die Brillanz der Machart so manchesmal über die Dürftigkeit und die Klischees hinwegtäuschen hilft, die sich in einem Film verstecken, wäre noch genauer aufzuzeigen.

Der Rest der Kritiker ist nur der eigenen Laxheit verpflichtet, die nicht verwundert, da der Film nur ,siebte Kunst' ist und somit Spaltprodukt der Gesellschaft, die ihn hervorbringt; sie wollen den Film im Grunde so, wie er ist: dümmlich und wirklichkeitsfremd, das ohnehin leider Existierende nur bestätigend, anstatt es zu kritisieren. Gewöhnt, von der guten darstellerischen Leistung und dem schlechten Inhalt, der glänzenden Form und der kargen Aussage zu reden, sind sie ohne kritische Massstäbe und brechen den Film immer in Teile, die zueinander nur in der Relation stehen, die das Vorurteil des Kritikers hervorbringt.

Massstäbe müssen ihrem Wesen nach aus der Sache selbst gewonnen werden. Die Kritik, die sich durch das Benutzen von Argumenten auszeichnet, fehlt weitestgehend. Eine Filmkritik zu schreiben heisst, den Film zu untersuchen, was aber untersucht wird, muss gründlich dargestellt werden, eine Darstellung ohne Gründe ist grundlos. So müssen die Begründungen für Urteile geliefert werden, sonst richten diese nicht den Film, sondern in ihrer Irrelevanz den Kritiker.

Am Beispiel VIRIDIANA wird sich zeigen, wie nutzlos summarische Urteile sind, die nur Lob und Tadel verteilen und nicht anmerken, worin das Lobens- und Tadelnswerte besteht. Lob und Tadel bedürfen der Präzisierung. Dazu ist die exakte Wiedergabe des Sachverhalts nötig, es müssen prägnante Beispiele angegeben werden. Das ist unmöglich ohne richtiges Sehen, ohne optisches Erfassen des Sachverhalts.

Das richtige Sehen. Es lässt sich sehr gut zeigen, wie nachlässig die Augen benutzt werden, wo das Interesse fehlt, das über jenes am blossen Geschäft hinausgeht.

In der zweiten Sequenz des Films VIRIDIANA springt ein kleines Mädchen, wie man später erfährt, die Tochter der Haushälterin Ramóna, mit einem Seil, das sie von Don Jaime geschenkt bekommen hat und dem grosse Bedeutung innerhalb der Symbolik des Films zukommt. Steinbichler spricht in der FRANKFURTER NEUEN PRESSE von einem ,ängstlichen Bub' - einige Zeilen später wiederholt er diesen Unsinn, er lässt den ,Jungen wieder trotzen'. Dem gleichen Rezensenten verdanken wir eine prachtvolle Erkenntnis, die dessen Verständnis für den Film in toto widerspiegelt: ,Am Ende entlässt der Regisseur die erschöpfte und enttäuschte Viridiana in die Obhut ihres stilltätigen Vetters Jorge. Sie treffen sich zu gemütlichem und unverbindlichem Tun: Sie spielen Karten.' Hieran ist alles falsch, nichts stimmt mehr; dem falschen Sehen gesellt sich dezidiertes Missverständnis bei; Jorge sagt nämlich: ,Dacht ich mir doch gleich, als ich mein Cousinchen zum erstenmal sah: mit der wirst du noch mal - Karten spielen.' Die Pause ist unmissverständlich, Kartenspielen verrät sich als vorläufige Ersatzlösung, passt besser zur Schlagermusik, die der Plattenspieler produziert.

Ein anderes Missverständnis, auch hier wird falsch gesehen. Jorge kauft einem vorbeifahrenden Kutscher einen Hund ab, den dieser unter der Ladefläche seines Karrens zwischen den Rädern mithecheln lässt. Kaum ist der Handel perfekt, kommt ein anderer Karren entgegen: gleiches Bild. Individuelles Handeln ist nutzlos, ändert nichts. Bittermann im RHEINISCHEN MERKUR macht aus dem einen entgegenkommenden Karren mehrere, generalisiert: ,unter allen Bauernwagen trotten arme Hunde', putzt so die Sequenz allgemeinhündisch auf; oder Roos in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG: ,Doch kaum hat Jorge dieses Tier befreit, kommen andere Karren vorbeigefahren, unter denen gleichfalls Hunde traben.'

Beide Rezensenten kommen jedoch, trotz des Augenfehlers, zur richtigen, sinngemässen Interpretation. Pleyer im SEMESTERSPIEGEL hingegen interpretiert die Sequenz völlig falsch, hat neben blinden Augen den trüben Kopf: der Hund sei keiner Heuchelei fähig, er wolle zu seinem Herren zurück; das, weil das Tier bellt, als Jorge es mit sich fortnimmt!

IV.

Wer so Filme sieht, macht sich verdächtig. Genauigkeit gegenüber dem Sachverhalt ist notwendig, sonst überführt sich der Kritiker der Schlamperei, die mehr als nur Nachlässigkeit evident macht. Steinbichler und Bittermann schielen nicht von ungefähr auf die Leinwand: ihnen geht es um den sachlich nicht gerechtfertigten Verriss des Films; Symbolik ist ihnen unverständlich und aufgesetzt, die Machart billig, weil sie ganz den Inhalt treffen wollen.

Der schäumende Steinbichler und der mitleidende Bittermann setzen ihre Ignoranz in klerikalen Hass um, der ,mit kräftigem Meissel nur Oberflächen ankratzt' (Steinbichler).

Überhaupt tun viele Rezensenten dem Inhalt Gewalt an. Die Gründe sind leicht auszumachen: ,der Film Buñuels ist antiklerikal, sucht an einem einfachen Fall die Falschheit klösterlicher Tugend und engelhafter Caritas zu beweisen' (Ungureit in FRANKFURTER RUNDSCHAU), geht aber über die blosse Kritik am Christentum zu dessen Liquidierung vor. Man sollte der Profanierung des Abendmahles nicht zu wenig Bedeutung beimessen; was die Bettler in dieser Sequenz vornehmen ist die Zertrümmerung einer Heilserwartung, deren Stagnation ihren scheinbaren Protest als Apologie denunziert. Ein schärferer Angriff auf das Christentum lässt sich nicht denken, die Heuchelei der Satten vor Gott wird von den Hungrigen negativ reproduziert: es entlädt sich eine hemmungslose Zerstörung. Pehl in DER SONNTAG formuliert: ,Kein Zweifel, der Regisseur will mit dieser Geschichte einen massiven Angriff gegen das christliche Ideal der Jungfräulichkeit, gegen die christliche Caritas, gegen Christentum und Kirche überhaupt starten'. Oder KFD: ,Am Weg einer spanischen Novizin, die sich nach dem Selbstmord des Onkels entschliesst, in der Welt zu bleiben und karitativ zu wirken, bei ihren Bemühungen aber vollständig scheitert, soll sich der Bankerott der christlichen Botschaft erweisen.' Beides sind Katholiken, die das schreiben, es interessieren die Folgerungen; Pehl kann man den zweifellos geschicktesten Schachzug attestieren, die Richtung des Filmes zu verschleiern. ,Warum dieses Aufsehen, dieses laute Getöse', fragt er und fügt hinzu, Buñuel spreche, ,rein künstlerisch gesehen, grossartig', aber sonst ist nichts besonderes ,dran'. Um der Diskussion einer "Bankerotterklärung der christlichen Botschaft" ausweichen zu können, gibt er zu, dass Viridiana ,ihre Berufung verfehlt habe', fragt was von Seiten Viridianas an caritativem Wirken geschieht, ist das christliche Liebestätigkeit?" und kommt zu dem Schluss, "dass sie nicht zur Ordensfrau, sondern zur Gattin und Mutter berufen" sei. Womit der Sachverhalt, dessen Umsetzung in ästhetische Qualitäten und die Fabel massakriert sind, der Angriff auf das Christentum keiner mehr ist und der Film harmlos danebengegangen ist. Damit seine Leser ihm nicht auf die krummen Schliche kommen, erklärt er eine Diskussion über den Film für "nutzlos", mahnt, den Schurken Buñuel zu meiden.

Der KFD gibt sich progressistisch: ,Buñuel hat seiner Rebellion gegen eine dekadente Gesellschaft (!) und ein in gewissen konkreten Ausprägungen lebensfremd und sogar lebensfeindlich gewordenes Christentum die Berechtigung genommen. In der hartnäckigen Weigerung, auch andere Lebensäusserungen und damit andere Dimensionen des Christlichen zu sehen, ist er zu einem blinden Fechter geworden.' Die Konsequenz daraus ist, Buñuel totzubeten: ,Er verdient unser Mitleid'. So enden also Filmkritiken; denn der KFD steht nicht allein: Bittermann biedert auch Mitleid an, um seine Caritas zu dokumentieren. Liberaler, wenngleich nicht weniger verschlagen, wenn es darum geht, den Stoff zu verfälschen, ist der EFB: ,Viridiana scheitert nicht etwa deswegen, weil das Evangelium angeblich kraftlos, unzeitgemäss oder gar unwahr wäre. Sie scheitert am eigenen Missverständnis dieses Evangeliums'. Es fehlt jeglicher Hinweis auf die ausgeprägt antiklerikalen Szenen, alles wird aufs Individualpsychologische reduziert, wodurch die antiklerikale Prägnanz abgewürgt wird.

Korn eskamotiert überhaupt jegliche Kritik an der Kirche und am Christentum aus dem Film hinaus (in FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG): "Es steht also nicht ein Klosterproblem zur Debatte, sondern das Urthema der Virginität." Er macht aus einem bestimmt und klar deutlich gemachten Nebenthema die Hauptsache und kommt so um deren Diskussion. Er kümmert sich wenig um den politisch-sozialen Untergrund, schreibt dazu lang über die filmische Sprache, ohne Zweifel ein wesentlicher Faktor des Films, die, abgezogen von der Bedeutung, die sie nur in Verbindung mit der Fabel und dem Ziel hat, auf das der Film gerichtet ist, aber nicht betrachtet werden kann, wenn man nicht in esoterische Quisquilien verfallen will.

All die Kritiken, auf die bisher eingegangen wurde, sind, streng betrachtet, gar keine; was, durch Obereinkunft, sich Filmpublizistik nennt, ist von erschütternd niederem Niveau. Meinungen, Einfälle, Teilperspektiven und Fragmente stehen für zusammenhängende Analysen, in denen Inhaltliches und ästhetische Gestalt durcheinander vermittelt werden. Gregor hat in der FILMKRITIK den Film VIRIDIANA als Komplexes betrachtet, die Personen untersucht und die Realisierung inhaltlicher Stränge nachgewiesen. Diese Kritik und die Ungureits in der FRANKFURTER RUNDSCHAU, obgleich weniger streng und geschlossen - was erklärlich wird, bedenkt man, dass sie in einer Tageszeitung publiziert wurde - sind die einzigen, die wert sind, als Kritiken bezeichnet zu werden. Es ist wohl schwerlich ein vernichtenderes Urteil über die deutsche Filmpublizistik denkbar als jenes, das sie selbst über sich fällt: nämlich die Feststellung, dass es sie, abgesehen von den angeführten und vielleicht einigen anderen Ausnahmen, überhaupt nicht gibt. Wo Diskussion sein sollte, da ist Geschwätz, an Stelle der Betrachtung steht die Rederei, statt einer Kritik ein Nichts.       Peter H. Schröder

Es liegen folgende Besprechungen zugrunde:
Bittermann in RHEINISCHER MERKUR vom 25. 5. 1962,
EVANGELISCHER FILMBEOBACHTER vom 12. 5. 1962,
Gregor in FILMKRITIK 5/62,
KATHOLISCHER FILMDIENST vom 25. 4. 1962,
Korn in FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 4. 5. 1962,
Pehl in DER SONNTAG, Kirchenzeitung für das Bistum Limburg vom 21.5.1962,
Pleyer in SEMESTERSPIEGEL (Münster), Mai 1962 IX/58,
Roos in SODDEUTSCHE ZEITUNG vom 9. 5. 1962,
Steinbichler in FRANKFURTER NEUE PRESSE vom 4. 5. 1962,
Ungureit in FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 4. 5. 1962.
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Das Portrait: Anna Magnani Realität oder Mythos

Anna Magnani wurde am 7. März 1908 im römischen Stadtteil Trastevere auf der "falschen" (d. h. namenlosen) Seite des Tiber geboren. (Nach anderen Angaben am 11. April 1905 in Rom oder am 11. April 1909 oder 1910 in Alexandria.) Ihre Mutter war eine italienische Schneiderin, ihr Vater Ägypter. Sie besuchte zeitweise ein von französischen Nonnen geführtes Internat. Mit 15 Jahren bekam sie ein Stipendium an der Cäcilien-Akademie in Rom. Sie debütierte auf Wanderbühnen und arbeitete als Barsängerin. 1935 heiratete sie den Regisseur Geoffredo Alessandrini, von dem sie sich bald trennte. Sie lebte dann mit dem Schauspieler Massimo Serato zusammen. Damals wurde ihr Sohn Luca geboren, der mit 18 Monaten an Kinderlähmung erkrankte. Mit ihrem Mann Roberto Rossellini drehte sie einige ihrer bekanntesten Filme. Für ihre Hauptrolle in dem Hollywood-Film "Die tätowierte Rose" wurde sie 1955 mit dem Oscar ausgezeichnet. "Ich stamme aus Trastevere. Und ich bin nicht dadurch gross geworden, dass ich Salondamen spiele, sondern Frauen, wie sie in Trastevere zu Hause sind. Ich bin ein Marktweib, ein künstlerisches Marktweib _... Bin ich schön, dass ich glänzen und die gemeinen Posen vermeiden müsste? Diejenigen, die daherkommen, wo ich geboren bin, werden selten in meinen Jahren schöner. Das Abrackern von Jahrhunderten hat ihnen die Kraft zur Schönheit gestohlen. Ich habe gearbeitet, wahrscheinlich zehnmal mehr als andere, weil ich hässlich und lächerlich bin. Ich habe gearbeitet für die Kunst. Aber glaubt ihr, ich sei kein Mensch und habe nur Herz für eure Kunst und sei nur dazu da, eure Neugier und Genusssucht zu befriedigen und euch etwas vorzuspielen, damit ihr euch nicht langweilt oder vielleicht einmal begreift, was Menschenherzen sind und was es noch gibt ausserhalb eurer Paläste? Ich habe auch ein Herz. Zeit meines Lebens habe ich kämpfen müssen und gebe nichts ohne Kampf verloren, weil ich gewöhnt bin zu leiden, mich treten zu lassen, aber auch zu treten _... Nur Leid kann den Menschen als Künstler erheben. Als Preis für all meinen Schmerz habe ich etwas gewonnen: Tiefe und Ausdrucksvermögen."

Das sagt Anna Magnani über sich selbst - angeblich, muss man hinzufügen, denn vieles ist Legende - jene Frau, deren blosse Erwähnung die heftigsten Diskussionen auszulösen vermag. Wahrscheinlich gibt es keine Persönlichkeit des Films, die eine ebenso grosse Anzahl verehrender Anhänger wie erbitterter Gegner hat. Die einen sprechen mit einer Bewunderung von ihr, die Enthusiasmus verrät; die anderen sind abgestossen und empört, weil auch sie gegen ihren Willen überwältigt waren, weil ihnen irgend etwas am Äusseren dieser Schauspielerin missfällt, oder weil sie sich über angebliche Skandalgeschichten glauben entrüsten zu müssen.

Eine bekannte Karikatur veranschaulicht die Vorstellung, die man sich im allgemeinen von Anna Magnani macht. Überschäumend von Leben in einem ungepflegten, etwas sparsamen Kleid steht sie da. Beziehungsvoll hält sie einen Kamm in der Hand, dem die wilde Flut ihrer Haare, aus denen Flöhe und Mäuse springen, offensichtlich unüberwindlichen Widerstand geboten hat. Ihr Lachen scheint dem ruinierten Kamm zu gelten. Es gilt ebenso den Spiessbürgern wie jenen, die meinen, ihre Extravaganzen gälten der Publicity.

Sie wird apostrophiert als die ordinäre Diva, als Tiger vom Tiber, als unfrisierteste Frau der Welt, als römische Wölfin. Es stimmt, dass sie teure Abendkleider an einem einzigen Abend zugrunde richtet, dass sie in ihren Wutanfällen und Eifersuchtsausbrüchen masslos ist. Sie ist abergläubisch wie eine Zigeunerin, sie lacht, wenn ihr Hund Besucher beisst. Sie hat eine ganze Liste von Skandalen aufzuweisen. In Hollywood drohte ihr der Boykott, weil sie den Amerikanern auf die Nerven ging. Sie hat nicht die übliche Figur der Stars. Sie ist wild, impulsiv, sentimental. Aber was besagt das? Ein Argument, das alle Einwände besiegt, ist ihr Gesicht. Man halte es einmal neben die Karikatur und betrachte es genau, dieses auf seine Weise faszinierende, unglaublich schöne Gesicht. Da ist nichts mehr hässlich oder ordinär. Das ist die beklemmende Blossstellung eines Menschen voller Angst, Liebe, Gier, Hass, Glück und Verzweiflung. Varianten eines Gesichts, die nicht mehr Spiel sind. Sie sagt von sich selbst, sie sei vor der Wirklichkeit des Lebens auf die Bühne geflohen: ihre Kunst lebt aus dem eruptiven Gefühl, aus der aufwühlenden Leidenschaft. Der Zuschauer glaubt Augenzeuge eines Naturereignisses zu sein. Das Kennzeichnende ihres Spiels ist das Impulsive. Sie verabscheut und fürchtet Proben, Wiederholungen. Das heisst nicht, dass ihre Leistungen vom Himmel fielen. Sie studiert die Drehbücher lange und intensiv. Vor wichtigen Szenen schläft sie vor Anspannung nicht. Aber wenn sie dann einmal spielt, ist die erste Interpretation die beste, die unmittelbare Natürlichkeit kennzeichnet sie. Folgerichtig machte der italienische Neorealismus sie bekannt. Grob widersetzt sie sich dem Versuch, ihre Ausdrucksmittel kosmetisch zu verfälschen. Wenn sie schmutzig sein muss, nimmt sie echten Schlamm, wenn in Szenen geprügelt werden muss, tut sie es selbst.

Diesen Realismus könnte man ihr vielleicht zum Vorwurf machen. Für Augenblicke scheint es, sie sei zu pathetisch, aber der Zuschauer findet: es ist richtig, wie sie spielt. Jemand sagte: "Sie hat die unberechenbare Leidenschaftlichkeit und die eruptiven Kräfte eines Vulkans, die fesselnden Ausdrucksmittel der grossen Stummfilmtragödin Asta Nielsen und den barocken Gefühlsluxus einer italienischen Opernsängerin." Man nannte sie nicht nur oberflächlich eine Schlampe, man sah tiefer und bezeichnete sie als die römische Düse, als die grösste Schauspielerin der Welt.

Wir kennen diese Darstellerin aus "Rom, offene Stadt", dem Film, den sie mit Rossellini drehte. Wir sahen sie als Mutter in "Bellissima", der Rolle übrigens, die sie am meisten geliebt hat. Wir kennen sie aus den beiden Studien, die zu "Amore" zusammengefasst sind. Im ersten Teil "Die menschliche Stimme" nimmt sie am Telefon Abschied von ihrem Geliebten und durchlebt alle Qualen des Verlassenwerdens. Im zweiten Teil "Das Wunder" muss sie den Hohn einer ganzen Stadt tragen; aber er gleitet an ihr ab, denn ihr Kinderglaube bewahrt sie davor, die Wirklichkeit zu erkennen, und lässt sie fast wie eine Heilige erscheinen. Diese beiden Studien sind neben der Serafina in "Die tätowierte Rose" das ergreifendste Dokument ihrer Grösse.

Wir kennen Anna Magnani noch aus einer Anzahl anderer Filme. Kennen wir sie jedoch wirklich? Nicht ohne Grund existiert nur wenig Literatur über sie. Sie ist undurchdringlich in ihrer Vielschichtigkeit. Bei ihren Extravaganzen bleibt immer der Zweifel, ob sie nicht das Natürlichste seien. Wer weiss schon, dass sie am besten nachts arbeiten kann und Ausgehen für Zeitverschwendung hält? Wer macht sich klar, dass sie einen kranken Sohn hat, für dessen Heilung sie fast alle Gagen ausgab? Wer denkt daran, dass sie eine Villa besitzt, wie andere Stars, und einen teuren Wagen fährt? Wer weiss schon, dass ihr Ideal die Garbo ist und ihr grösster Wunsch, Regie in einem Film zu führen, in dem sie nicht spielt?

Bekannt sind nur Karikatur und bewegte Details. Gegen ihre Versimpelung tauschen sie das Erlebnis einer grossen Darstellerin. Mit ihrer Oberflächlichkeit übersehen sie eine aussergewöhnliche Persönlichkeit.       Barbara N. Reischel

Anna Magnani Filmographie

1934 La cieca di Sorrento 1936 Cavalleria 1936 Trenta secondi d' amore 1938 La principessa Tarakanova
1939 Una lampada alla finestra 1941 La fuggitiva 1941 Teresa Venerdi 1941 Finalmente soli
1942 La fortuna viene dal cielo 1943 L' ultima carrozzella 1943 Campo de Fiori 1943 L' avventura di Anabella
1943 La vite è bella 1943 II fiore sotti gli occhi 1945 Roma, città aperta (1961 in Deutschland) 1945 Abbasso la miseria
1945 Quartetto pazzo 1946 Un uomo ritorna 1946 II bandito 1946 Avanti a lui tremava tutta Rom
1946 Abbasso la ricchezza 1946 Lo sconosciuto di San Marino 1947 L' onorevole Angelina 1947 Assunta Spina
1948 Molti sogni per le strade 1948 Amore (1962 in Deutschland) 1949 Vulcano 1951 Bellissima
1951 Camicie rose 1952 La carrozza d' oro 1953 Siamo donne 1955 La rosa tatuata (Oscar)
1956 Suor Letizia 1957 Obsession 1959 Nella città I' inferno 1959 The Fugitive Kind
1960 Risate di gioia

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Hans Magnus Enzensberger: Die Welt als Scherbenhaufen Anatomie einer Wochenschau

Teil I (Fortsetzung Teil II)

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Die Wochenschau gehört zu den mächtigsten Instrumenten aktueller Publizistik. 215 Millionen Zuschauer liefern sich allwöchentlich auf den Plüschsesseln der rund hunderttausend Kinos des Planeten diesem Instrument aus. Aber diese Zuschauer sitzen im Dunkeln. Was da mit der Geschwindigkeit und der Gewalt einer Lokomotive auf sie zukommt, wissen sie nicht. Bilder auf fünf Kontinenten spiegeln sich auf ihrer Netzhaut in rasender Folge. Unsichtbare, anonyme Sprecher plaudern und schreien in ihr Ohr. Kreischende, winselnde, peitschende, stampfende Musik drückt die psychischen Schotten ein. Der nächste huschende Lichtfleck überholt die Reflexion und zerfetzt sie. "Der Zuschauer", so heisst es in einer Unesco-Untersuchung über die Wochenschauen in aller Welt, "muss seine Aufmerksamkeit derart auf den raschen Bildablauf konzentrieren, dass jede Reaktion, die über das blosse Hinnehmen hinausgeht, ins Unbewusste abgedrängt wird. Selbst wenn er kritisch veranlagt ist, hat er keine Möglichkeit, die Informationen, die ihm angeboten werden, nachzuprüfen oder zu vergleichen. Überdies fehlt dem Zuschauer jede Gelegenheit, dem Hersteller der Wochenschau seine Meinung zu sagen. Der Filmbericht ist anonym; selbst der Texter ist nur in den allerwenigsten Fällen bekannt. Wenn ein Zeitungsleser einen Artikel zu diskutieren wünscht, hebt er ihn auf und studiert ihn sorgfältig. Er ist dann in der Lage, ihn zu widerlegen. Der Kinobesucher hat dagegen kein Exemplar der Wochenschau zur Hand. Will er sich überhaupt zu ihr äussern, so muss er sich auf sein Gedächtnis verlassen. Eine Zeitung mag eine Erwiderung abdrucken: kaum jemals ist ein Filmbericht zu widerlegen oder zu korrigieren."

Gerade der Umstand, dass die Wochenschauen, ihrer gegenwärtigen Natur nach, sich dem Widerspruch entziehen, macht ihre eingehende Analyse notwendig. Es wäre verhängnisvoll, sässe die ganze Öffentlichkeit wie der Zuschauer im Dunkeln und müsste ungeprüft das Weltbild hinnehmen, das da alle acht Tage auf die Leinwand projiziert wird.

Für eine Anatomie der Wochenschauen bietet sich ein einfaches Ordnungsschema an, nach dem die meisten Wochenschauen gebaut sind: es ist die Einteilung des Stoffes nach Sparten, wie sie von den Tageszeitungen geübt wird. Eine Seite Politik, eine Seite Technik und Wirtschaft, Unterhaltungsbeilage, Feuilleton, Modeseite, Sportteil: auf diese Weise scheint sich auch die Wochenschau zwanglos von selbst zu zerlegen. Auch die einschlägige Statistik geht nach diesem Schema vor. Normalerweise läuft ein rundes Viertel der gezeigten Filmmeter unter dem Titel Sport. Ein zweites Viertel wird als Unterhaltung deklariert. Bleiben 15 Prozent für Technik und Wirtschaft, 15 Prozent für Politik und die restlichen 20 Prozent für die etwas vage Spalte "Sonstiges Weltgeschehen".

Auf den ersten Blick scheinen sie der Kritik bereits genügend Ansatzpunkte zu verschaffen. Von einem Weltbild, dessen grössere Hälfte Sport und Unterhaltung bestreiten, wird man sagen dürfen, dass es zumindest stark getrübt sei. Dass die Entscheidungen der Woche normalerweise im Boxring oder auf dem Laufsteg fielen, wird auch der hartgesottenste Illustriertenredakteur nicht behaupten.

Dennoch trifft jede Kritik, die sich auf simple Prozentsätze wie die genannten verlässt, von vornherein zu kurz. Die Ziffern sind richtig, aber ihre Deutung ist falsch. Eine Vertauschung der Sujets ohne strukturelle Änderungen könnte den Aktualitätenfilm nicht bessern. 50 Prozent Kultur statt 50 Prozent Sechstagerennen und Riesendamen: das wäre ein kurzsichtiges Rezept.

2

Es gibt in Paris ein Kino, in das die Wochenschau mit einer Verspätung von 51 Wochen kommt. Was vor dem Hauptfilm läuft, ist also ein Streifen, der ein ganzes Jahr alt ist. Der Kinobesitzer hatte sich diesen Effekt mit Rücksicht auf seinen Geldbeutel und auf das snobistische Vergnügen seiner Zuschauer ausgedacht. Bei der Mehrzahl der Besucher kam der Spass jedoch nicht an: die wenigsten bemerkten die Verspätung.

Diese Erfahrung beweist zunächst einmal, wie gering der Aktualitätswert der existierenden Wochenschauen ist. Nicht alles, was viele Menschen interessiert, ist ja deswegen schon aktuell. Aktuell ist ein Ereignis, das ein geschichtliches "Vorher" und ein geschichtliches "Nachher" hat. Eine Fürstenhochzeit etwa ist nur in einer Monarchie aktuell; sind dagegen keine regierenden Familien daran beteiligt, so verändert der Vorgang wohl ein Privatleben, aber nicht die Welt. Aus dem gleichen Grund kommt der Entdeckung eines physikalischen Elementarteilchens eine echtere Aktualität zu als einem Fussballspiel oder einer Briefmarkenauktion. Das Hobby ist ahistorisch, undatierbar; die physikalische Entdeckung macht Epoche im ursprünglichen Sinn des Wortes: eine Kerbe ins Holz der Zeit.

Das Experiment des Pariser Kinobesitzers ist deshalb exakt angelegt, sein Ergebnis vernichtend. Nicht nur, dass die Wochenschau nicht aktuell ist, tut es dar, sondern darüber hinaus auch noch, dass sie verblüffend monoton ist. So weit geht diese Monotonie, dass die Streifen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. In Paris bemerkten die gefoppten Kinogäste gar nicht, dass sie längst kennen, was ihnen gezeigt wird. Umgekehrt beschleicht den kritischen Zuschauer angesichts der neuesten Folge, die ihm normalerweise präsentiert wird, das Gefühl, er habe all das schon einmal, schon zu unzähligen Malen, ja bis zum Überdruss gesehen.

Die "Leute vom Bau" nennen die Elemente, aus denen die Wochenschau besteht, Stories. Dieser Ausdruck ist anfechtbar, aber wir wollen ihn zunächst unbesehen verwenden. Diese Stories also ähneln einander - wie der französische Publikumstest beweist - auf frappante Weise. Offenbar lassen sie sich auf ganz wenige Archetypen zurückführen. Die Analyse, die wir hier an einer Wochenschau vornehmen wollen, wird deshalb einer Spektroanalyse ähneln. Zunächst führen wir anhand von Einzelbeispielen gewissermassen die Grundfarben vor.

Typus eins: die rosige Jolanthe oder "Kraft durch Freude". "Ein junger Feldhase fand unverhofften Familienanschluss bei einem Hamburger Geschwisterpaar. Von seinen Eltern verlassen, wird der einsame Langohr nunmehr mit Milch und Haferflocken hochgepäppelt. Und das ist Minka aus Neumünster. Ihr Pflegekind ist ein äusserst lebhaftes Ferkel, das als Vollwaise auf die Liebe der Katzenmutter angewiesen ist. Freundschaftsbeteuerungen der rosigen Jolanthe werden von Minka zärtlich erwidert. Oberster Erziehungsgrundsatz jedoch: ohne Katzenwäsche soll auch das grösste Ferkel nicht schlafen gehen."

Dressierte Affen, die Pfeife rauchen und Klavier spielen; der zweijährige John legt Männer auf die Ringmatte; erstes Hotel für Hunde in Berlin; weiblicher Stierkämpfer wird auf die Hörner genommen; auch Elefanten müssen zum Finanzamt: Dies alles zählt also zu den wichtigsten, interessantesten und aktuellsten Ereignissen aus allen Ländern der Erde. Es erübrigt sich jede Kritik an diesem Typus. Die Stories, die ihm angehören, sind beliebig vertauschbar, ihr Informationswert ist Null, sie sind, wie alle Äusserungen wohlfeilen Schwachsinns, zeit- und ortlos. Die einzige "positive" Funktion solcher Geschichten ist ihr Vermögen, den Blick des Zuschauers von dem abzulenken, was ihn eigentlich anginge. Daher die Vorliebe, mit der Tiere für solche Stories missbraucht werden: solange man sich an Hundehotels ergötzt, ist von der Wohnungsnot nicht die Rede. In diesem Zusammenhang von Tierliebe zu reden, wäre pure Heuchelei. Wer einem Dackel seinen Tirolerhut aufsetzt, um ihn zu filmen, sollte dazu verurteilt werden, in Zukunft Hundekuchen zu fressen.

Typus zwei: Schick sein ist alles oder Das Paradies der Zaungäste. "45 Globetrotter aus Amerika machten auf ihrer Europareise Station in Hamburg. Sie kamen in Kolonne und mit dollarschwerem Anhang. Chromglänzende Luxus-Exemplare einer höchst komfortablen Camping-Villa. Nach dem langen Trip wird zunächst die Politur wieder aufgefrischt. Die Grossstadtjugend steht staunend vor dem lebenden Inbegriff eines Weltenbummlers. Das Interesse der Zaungäste gilt natürlich den fahrbaren Eigenheimen, wo der Eisschrank ebensowenig fehlt wie der eingebaute Gasherd."

Begegnungen mit Stars beim Münchener Filmball; Dorado für Autogrammjäger; Wellenreiten in Florida; Unterwasser-Modenschau in Kalifornien; Kaiserin Soraya beim Wintersport; Filmfestival in Venedig; eine rauschende Ballnacht; internationales Tanzturnier um den grossen Preis von Europa: Von Aktualität kann selbstverständlich auch in diesem Typus nicht die Rede sein, auch er währt, wie die Auflageziffern der Illustrierten beweisen, ewiglich. Spuren von Information sind darin immerhin zu erkennen. Während indessen die echte Nachricht für den, der sie empfängt, etwas bedeutet, beruht der Reiz der Stories von diesem Typus umgekehrt darauf, dass sie folgenlos bleiben, dass sie von Vorgängen handeln, von denen der Zuschauer absolut ausgeschlossen ist. Zwar identifiziert er sich träumerisch mit den gezeigten Personen, doch rüttelt er nicht an ihren Privilegien. Dass er nur Zaungast sein darf, bestärkt ihn gerade in seinem Glauben, hinter dem Zaun läge das Paradies; so wie dessen Einwohner, meint er, müsste man leben. Ist er um dieses Paradies betrogen, so bleibt ihm doch das Astloch, an dem er sich schadlos hält. Dass die Gezeigten selbst Betrogene sind, der Prominente sein eigener Komparse, die Kaiserin ihr eigenes Mannequin - die makabre Ironie dieses parasitären Blitzlichtbetriebs durchschaut der Zuschauer nicht.

Immer noch verharrt der Zuschauer in der Passivität; immerhin erlaubt ihm der zweite Typus doch schon ein Minimum an Anteilnahme. Der leere Blick auf die Idiotie ist gewichen. Für ihn eingetauscht wird der Platz am Astloch des vermeintlichen Paradieses.

Typus drei: Grosser Bahnhof oder Hut ab vor der Obrigkeit. "Eröffnungsflug der Mittelostlinie der deutschen Lufthansa. Oberbürgermeister Wimmer grüsste bei der Zwischenlandung in München Bundesminister Seebohm, der mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages an diesem ersten Flug teilnahm. Teheran, die Hauptstadt von Iran, ist das Ziel der Reise. Irans Verkehrsminister, General Bali an Sari, begrüsste die Gäste aus Deutschland."

Staatsbesuch des griechischen Königspaars in Hannover; Professor Heuss gratuliert dem Bundeskanzler zum Geburtstag; Staatsbegräbnis für den Chef des Hauses Wittelsbach; Fahnenübergabe an Englands ältestes Artillerieregiment; Sowjetminister trifft in Stockholm ein; acht Nationen unterzeichnen den Südostasienpakt; Papst Pius erteilt 5000 Motorrollerfans den Segen _...: Mit dem dritten Typus tritt die Wochenschau überhaupt erst in das Magnetfeld der Geschichte ein. Jolanthe und das Mannequin lagen im ahistorischen Bereich des Tratsches. Nun wird die Sache ernst. Die dröhnende Marschmusik, die die Szenen begleitet, macht das evident. Die politische Ikonographie bestimmt das Bild. Zwar bleibt es, oberflächlich betrachtet, unverändert: Herren im Homburg schreiten Ehrenkompanien ab, Generale entsteigen dem Flugzeug, Fahnen werden geschwenkt. Nur die Namen wechseln, und, wenn man genau zusieht, die Physiognomien. Das Zeremoniell spielt eine wesentliche Rolle. Der unsichtbare Regisseur des Geschehens ist der Protokollchef. Ein Schuss Weihwasser kann nicht fehlen, und die Reste ehrwürdiger Traditionen werden gern der Publicity dienstbar gemacht. Dome und Fugen müssen herhalten, wo der Silberglanz der Superconstellation nicht hinreicht, dem Zuschauer den obligaten Schauer der Ehrfurcht über den Rücken zu jagen. Alle Klischees der Staatsaktion werden aufgeboten, um den "historischen Augenblick" zu suggerieren, deren Augenzeuge er sein darf.

Noch verbirgt sich die Macht, der der Zeitgenosse den Tribut seiner Bewunderung zollt, hinter magischen Larven. Das Stadium des Zaungastes hat er verlassen: hier wird ihm Zustimmung abverlangt, in der nächsten Phase wird er aktiviert.

Typus vier: Sprung - auf - marsch - marsch oder Der Fortschritt. "Olympische Ausscheidungskämpfe für Melbourne in den Vereinigten Staaten. In Los Angeles sehen mehr als 40 000 Zuschauer die Rekorde der Leichtathleten purzeln. 100-Meter-Sieger Bobby Morrow, Sensation im Memorial Coliseum; 400 Meter Hürden: Glenn Davis aus Ohio läuft 49,5 Sekunden. Der Texaner Eddi Sanson 49,7. Damit wurde der Weltrekord in einem Lauf zweimal gebrochen. Und nun sehen Sie das Phantastische: 2 Meter 14,6 springt Charles Djunnes, neuer Weltrekord." Hinter schweren Motoren: Querfeldeinmeisterschaft in Saarbrücken; Schlachtbank der Pferdestärken; neues deutsches Superschnellboot; das schnellste Rennen der Welt: Höllenfahrt auf der Avus; Düsenjäger durchrast Schallmauer; halsbrecherische Gipfelfahrt: Motorendonner im Schlamm; 8000 Schuss in der Minute: neue Schnellfeuerwaffe der US-Armee _... : Hier endlich tut sich etwas. Die Ehrenkompagnie gerät in Bewegung. Sie jagt vorbei. Die Konturen verwischen sich. Die Zukunft hat schon begonnen. Ob mit oder ohne Rakete: der Fortschritt bricht alle Rekorde. Der Zuschauer japst wie der schweissüberströmte Held auf der Aschenbahn. Sein Gesicht verzerrt sich wie das des Piloten, der senkrecht in die Stratosphäre geschossen wird. "Und nun sehen Sie das Phantastische": 8000 Schuss in der Minute - hier endlich deutet sich die Dynamik der Geschichte an. Nicht den Anschluss verpassen! Sich nicht überrunden lassen!

Hier endlich wird zur aktiven Teilnahme aufgerufen. Hier gilt es, den schweren Wagen, am Rande des Kippens auf zwei Rädern durch die Kurve pfeifen zu lassen. Und wer das kann, der braucht vor keinem Ernstfall zu bangen. Er wird sich am Steuerknüppel nicht lumpen lassen. Aber noch ist der Zuschauer mit den Bildern allein.

Typus fünf: der Hexenkessel der Hunderttausend oder die faszinierte Masse. "Alle Jahre wieder: die grosse Polizeischau im Olympiastadion, so, wie sie nur der Berliner kennt und so, wie sie den Berliner immer wieder begeistert. Hunderttausend drängten sich auf den Tribünen, als das Aufgebot der Fahnenschwinger das Festprogramm eröffnete. Dann zeigten die beliebten Berliner Bepos, was alles dazu gehört, um als Polizist ganz auf dem Posten zu sein. Am Abend zogen 1500 Fackelträger durch das Marathontor ins Stadion ein. Und als Abschluss das Streichholzfeuerwerk der Hunderttausend." Millionenfest in Wolfsburg; Eröffnung der Weltjugendfestspiele; eucharistischer Kongress: eindrucksvolle Massenkundgebung in Rio; Sprungmanöver von 4000 Fallschirmjägern in USA; Atommanöver der NATO-Luftmacht über Deutschland; Tokio: Vorbeimarsch der 100 000; 85 000 sehen ein atemberaubendes Endspiel im Dortmund Stadion: Der Hexenkessel der Hunderttausend ist das ideale Laboratorium zur Erzeugung von Rauschzuständen. Drückte der vierte Typus den Fortschritt, die blinde Verschiebung rein numerischer Rekordmarken, noch im Bilde des lorbeerumkränzten Testpiloten aus, behielt sie den Ruhm des Draufgängers noch dem Einzelnen, dem Helden vor, so erblickt sich hier in der Arena der Durchschnittsmensch selbst. Hier endlich ist er wirklich dabei. Sein Gebrüll mischt sich mit dem der hunderttausend anderen Mitläufer.

Die Kamera fährt dicht an ihn heran, holt ihn hervor aus der Masse seinesgleichen und überliefert seinen anonymen Schrei. Mit aufgerissenem Mund porträtiert sie Jedermann - Jedermann, der dabei ist, der Geschichte macht, der nur auf den Pfiff des Rattenfängers wartet, um selbst in die Arena zu stürzen und aufzuräumen, Zunder zu geben, Kleinholz zu machen, dass die Fetzen fliegen _... Typus sechs: Knüppel aus dem Sack oder Die Lust am Scherbenhaufen. "Die englische Luftwaffe hat ihre Atombomber vom Typ Vickers Volcane mit Raketenstart ausgerüstet. Die schwerfällige Maschine wird dadurch überall einsatzfähig. Der sonst so schwierige Start gelingt jetzt sogar auf verkürzter Rollbahn."

Der sechste Typus ist der Einsatz, der Ernstfall, die Katastrophe. Sein Thema, die Zerstörung, ist das zentrale Thema der Wochenschau. Es zieht sich durch alle Sparten hindurch: Zweimaliger Speedway-Sieger auf der Todesbahn zerschellt; Hochwasserkatastrophe in Indonesien; furchtbares Erdbeben auf den Phillipinen; marokkanische Partisanengruppe vernichtet; Hurrikan über Amerika; schwere Zerstörungen in Havanna; Kanonendonner an der chinesischen Küste; grösster Atombombenversuch: A-Bombe auf die Geisterstadt in der Wüste.

Die Katastrophe erscheint in solchen Bildern als das einzige Movens der Geschichte. Erst vor dem Anblick zerwalzter Leichen, zertrümmerter Städte, explodierender Schiffe erklärt sich der Hunger nach authentischer Wirklichkeit für befriedigt. Das Scherbenhafte, das sich formal schon im atomistischen Bau der Wochenschau anmeldet, wird hier zuguterletzt thematisch.

Merkwürdig genug: selbst hier, in ihrer sadistischen Konvulsion, wird Geschichte ungeschichtlich erfahren. Die politische und militärische Katastrophe, an der sich der Zuschauer ergötzt, wird als Naturereignis geschildert: niemand ist schuld an ihr. Niemand kann sie verhindern oder beeinflussen. Ein Krieg bricht aus, wie ein Vulkan ausbricht; Partisanen werden ausgeräuchert wie Heuschrecken. Eine solche Weise, die Katastrophe zu betrachten, nährt sich aus einem selbstmörderischen Bewusstsein. Das geheime Ideal, von dem jede mögliche Katastrophe nur ein matter Abglanz ist, dieses Ideal ist die Bombe. Die Atombombe ist historisch und elementar zugleich. Sie ist das eigentliche Telos, die Apotheose des Scherbenhaufens, grösste Aktualität und zugleich deren Ende. Mit der Vision eines explodierenden Planeten endet die Schau, die mit der rosigen Jolanthe so harmlos begann.

3

Von der idiotischen Idylle zum planetarischen Amoklauf: ein wahnwitziges Weltbild, das da entworfen wird. Entspricht es nicht allzusehr gewissen Klischees der Kulturkritik? Übertreibt nicht unsere Anatomie, wird der erfahrene Bildberichter, der versierte Aktualitätenredakteur sich nicht lustig darüber machen?

Die Typologie bedarf der Nachprüfung. Sie führte nur die reinen Formmodelle vor, eine Palette aus Spektralfarbe sozusagen. In den meisten Fällen bestehen die Stories der Wochenschau aus gemischten Farben. Wie die Typen sich durchdringen, das gerade ist interessant. Die Analyse einer Wochenschau-Ausgabe soll unsere Typologie bestätigen. Hier die Originaltexte der "Neuen Deutschen Wochenschau", Nummer 344/56: "Mit klingendem Spiel zog die Schutz- und Bereitschaftspolizei in das Berliner Olympiastadion ein. Vor mehr als 100 000 Zuschauern rollte das Mammut-Programm der grossen Polizeischau ab. Schläuche, die beim Wettlauf der Alarmstaffeln passiert werden müssen, gleichen gefrässigen Riesenschlangen, die zahlreiche Opfer verschlingen. Wie die fast unwahrscheinliche Vielseitigkeitsprüfung beweist, ist ein ganzer Polizist ein halber Artist. Dann kamen die Fahnenschwinger an die Reihe, einer der unbestrittenen Höhepunkte dieses gelungenen Festes der Polizei." - Das ist Typus fünf, der Hexenkessel der Hunderttausend, und zwar in reinster Form.

"Regenfälle wie vor der Sintflut führten in Tirol zu einer schweren Hochwasserkatastrophe. Aus der freundlichen Ziller wurde ein grimmig reissender Strom. Das berühmte idyllische Tal veränderte sich in einen See. Als Strassen galten allenfalls noch die Dämme der Eisenbahn. Im ganzen Gebiet wurde die Ernte völlig vernichtet." - Katastrophenstory: Typus sechs, die Lust am Scherbenhaufen.

"Höchste Alarmstufe in der südfranzösischen Rosenstadt Grasses. Durch einen Sturm angefacht, wurde aus einem Feuer in den Feldern ein Riesenbrand, der die Stadt aufs Äusserste bedrohte. Stunden um Stunden kämpfte die Feuerwehr verzweifelt in dem Inferno der Flammen. Der Schaden für die berühmte Parfümmetropole ist noch nicht abzuschätzen." - Wiederum Typus sechs: das Vergnügen an der rohen Gewalt.

"Am Laacher See in der Eifel wurde das 800jährige Bestehen der weltberühmten romanischen Kirche der Benediktinerabtei Maria Laach gefeiert. Nach einem Pontifikalamt verliessen die zahlreichen geistlichen Würdenträger in feierlicher Prozession die altehrwürdige Basilika. Unter den Gästen war auch Bundespräsident Heuss. Es war ein grosser Tag für das Kloster, das im 11. Jahrhundert entstand als eine bleibende Insel des Friedens." - Typus drei: Grosser Bahnhof. Zeremoniell, Ehrengäste, Brandenburgisches Konzert als akustische Kulisse.

"Das war der erste Eindruck von Sao Paulo, als Bundesverkehrsminister Seebohm auf seiner Südamerikareise, von Rio de Janeiro kommend, die modernste Industriestadt Brasiliens besuchte. Eine besonders interessante Besichtigung führte den deutschen Gast in das Schlangeninstitut Budanta, das grösste Giftschlangeninstitut der Welt. So wird das tödliche Gift gewonnen, das unter den Händen der Menschen sich verwandelt in helfende und heilende Medizin." - Variante von Typus drei, grosser Bahnhof, versetzt mit Elementen vom Typus rosige Jolanthe; Tiere mit Sambamusik.

"Jubelnd begrüsst wurde Präsident Eisenhower in San Franzisko. Hier tagte der Parteikonvent der Republikaner zur Nominierung ihres Präsidentschaftskandidaten. Die Wogen der Begeisterung schlugen hoch, als der Beschluss bekannt wurde, Eisenhower und seinen Vertreter Nixon als Anwärter auf die höchsten Posten der USA in den Wahlkampf zu schicken." - Mischung aus Typus fünf und drei. Grosser Bahnhof plus Faszination der Masse. Die karnevalistischen Züge der Veranstaltung gehören dem Kraft-durch-Freude-Typus an.

"Der britische Luftmarschall Chamberlain überreichte das RAF-Abzeichen als seltene Ehrung drei deutschen Fliegeroffizieren. Oberst Mehmel, Major Barkorn und Major Kopinsky, erfahrene Kriegsflieger mit insgesamt 500 Luftsiegen, hatten in Feldwell eine Ausbildung auf modernen Düsenmaschinen erhalten. In Flugzeugen vom Typ Hunter zeigen sie, dass sie ihr Handwerk gründlich beherrschen. Sie werden jetzt in Deutschland die neuen Piloten ausbilden." - Ordensverleihung nach Stereotyp drei: grosser Bahnhof. Die fachmännische Erschiessung von Hunderten von Menschen wird als Handwerk mit goldenem Boden erwähnt. Diese Stelle des Kommentars und die zackige Musik, die der Story unterlegt ist, verweisen auf den Typus Knüppel-aus-dem-Sack.

"Dieses kleine Floss war für 87 Tage Wohnung und Fahrzeug von drei Kanuten. Im Stil der Kontiki-Fahrt hatten sie den Atlantik in Ost-West-Richtung überquert. Fünf Meter lang und vier Meter breit ist das zerbrechliche Gefährt, mit dem sie die 2300 Seemeilen zurücklegten. Immerhin waren die drei Männer nicht ganz allein auf dem weiten Ozean. Sie wurden begleitet von zwei Katzen, die jetzt aber sicher wie ihre Herren sagen werden: einmal und nie wieder." - Typus vier: Fortschritt als Rekord in romantischer Umkehrung: neben die schnellste Atlantiküberquerung tritt die langsamste und primitivste. Die Musik - Schifferklavier - und die Aufnahmen von der Bordkatze spielen zum idyllischen Typus eins der rosigen Jolanthe hinüber.

"Tschingbum und Trara und grosse Galauniform, und die Armbrustschützen ermittelten in lange währendem Wettkampf ihren König. Seht ihr den Vogel dort auf der Stange? Er ist das weithin lockende Ziel. Gut gespannt ist halb getroffen. Schon sausen die Bolzen, dass die Fetzen fliegen. Aus dem stolzen Adler wird ein gerupftes Huhn. Die Entscheidung ist nahe. Mit der Ruhe eines Wilhelm Teil wird der neunzehnjährige Theo Hermann Bundesschützenkönig." - Hier verbindet sich das Kraft-durch-Freude-Klischee mit dem destruktiven Typ sechs, wie der humoristisch verzerrte Marsch und der Text beweisen. "Dass die Fetzen fliegen _..." Die Krönung des Schützenkönigs parodiert den Typus grosser Bahnhof.

"Schwarz von Menschen war die Piazza del Campo in Siena. Tausende erwarteten voller Spannung das berühmte Pferderennen in historischem Gewand. Diesmal hiessen die Favoriten Stachelschwein und Wurm. Dreimal wird der Platz umritten und unwiderstehlich eilt Stachelschwein auf den Flügeln des Sieges von dannen. Aber die betretenen Wurmanhänger wurmt es heftig, dass ein Stachelschwein sie aussticht. Und so wird im Handumdrehen aus dem schönen Fest eine handfeste Prügelei." - Auch hier eine Mischung von idyllischem und destruktivem Typ. Diese Verbindung ist sehr häufig. Dass die Veranstaltung in eine Schlägerei einmündet, beweist die innere Verwandtschaft beider Typen. Sie tritt in der folgenden Story noch deutlicher hervor:

"Ein lustiges Leben führen sie, die wildgewordenen Schrotthändler. Diesmal ist das Motorstadion von Montreux die grosse Schlachtbank der Pferdestärken. Da bleibt kein Kolben heil und keine Kerze trocken. Das Rennen geht, bis die Räder garantiert schlauchlos sind und der Motor aus den Nähten platzt. Sieht man dann die Trümmer rauchen, ist auch der Rest nicht zu gebrauchen." - Sinnlose Raserei (Typus vier) verbindet sich mit scherbenlüsterner Tollwut (Typus sechs). Das Ganze wird als Erheiterung empfunden und auf den ersten Typus Kraft-durch-Freude hin klischiert.

"Musik im Blut haben die 28 Söhne der Pussta, die zu einer Deutschland- und Europatournee in Hamburg eintrafen. Es ist das berühmte Budapester Zigeuner-Orchester. Nach Noten spielt keiner, denn, meinen sie: ,Spillen nach Notten ist Spillen ohne Seile'." - Diese Nummer führt auf den reinen Unterhaltungstypus zurück. Sie versetzt ihn mit Geschwindigkeitsrausch (Sprung-auf-marschmarsch) und Untertönen vom zweiten Typus, der dem Zuschauer die Rolle eines Zaungastes der grossen Welt zuweist.

Der anatomische Befund hat sich als stichhaltig erwiesen. Aktualität und Informationswert der Schau sind minimal. Die verwendeten Elemente gleichen Markenartikeln, die standardisiert wiederkehren. Die Kürze der Stories führt zu einem emotionalen Wechselbad zwischen Idylle und Detonation. Das Stilideal der Wochenschau ist ballistisch: sie will einschlagen. Tempo geht ihr über alles. Das Geheul, das sie als Musik ausgibt, ist das der Bombe kurz vor dem Aufschlag. Aber obwohl die Wochenschau, die man uns anbietet, publizistisch von sehr geringem Wert ist, entwirft sie ein ganz bestimmtes Weltbild und hämmert es ihren Zuschauern ein.

Dass dieses Weltbild wahrhaft trostlos ist, wäre noch kein Einwand; entscheidend ist die Frage: trifft es zu? Die meisten Kulturkritiker würden diese Frage mit einem entschiedenen Ja beantworten. Ohne es zu wollen, geriet unsere Zerlegung, indem sie versuchte, die Archetypen der Wochenschau zu beschreiben, in die Nähe jener, die behaupten, unsere technische Zivilisation liefe eben, ganz gleich, wie wir es anstellten, auf die Explosion der Bombe hinaus. Der Untergang sei nichts weiter als die logische Konsequenz unserer gottlosen Konsumwelt. Was wird von dieser reaktionären Kulturkritik nicht alles in einen Topf geworfen und zu einem trüben Süpplein verkocht! Die Hybris so hören wir da, habe uns so weit gebracht, unnatürlich sei es, zu fliegen, zu fahren und zu telefonieren, der Massenmensch sei an allem schuld, der an nichts mehr glaube, der Nihilismus und der Jazz. Eine solche Welt müsse untergehen, es geschehe ihr ganz recht damit, und deshalb sei die Wochenschau, wie sie ist, nichts anderes als ein treuer Reflex des Weltzustandes. Zu einer solchen Zustimmung können wir uns freilich nicht entschliessen. Kassandra verliert ihren Kredit, wenn sie ihre Untergangsprophetie zynisch geniesst. Liegen die Gründe für die Misere der Wochenschau aber nicht vor der Kamera, das heisst im objektiven Zustand der Welt, die sie abzubilden vorgibt, so müssen sie dahinter liegen.

Allerdings, einem Missverständnis gilt es gleich hier zuvorzukommen. Dass die Kameraleute und Redakteure mit Absicht und wider besseres Wissen Streifen von der Art hervorbrächten, wie wir sie hier vorführten, wäre ein sehr voreiliges Urteil. Zu ihren Gunsten wollen wir annehmen, dass die Absurdität des Weltbilds, das sie entwerfen, unfreiwillig ist, dass sie nicht wissen, was sie tun, sowenig wie die Zuschauer wissen, was ihnen angetan wird. Dass sich jene, die Produzenten, allerdings auf diese, ihre Konsumenten, berufen, geschieht zu Unrecht. Der Zuschauer, auf dessen Beschränktheit sie die Unzulänglichkeit der Wochenschau gerne schöben, wird ja seinerseits erst durch sie produziert. Das "Lieschen Müller", jene Königin der Kulturindustrie, wäre ja deren Abnehmer nicht, sie wäre gar nicht vorhanden, hätte die Industrie sie nicht als ihren Kunden erst herangezüchtet. (Fortsetzung Teil II)
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Rückumschlag

In Deutschland lag über den heitersten Filmen der Demokratie schon die Kirchhofsruhe der Diktatur _... Die von der Existenz unter dem Systemzwang demoralisierten Massen, die Zivilisation nur in krampfhaft eingeschliffenen Verhaltensweisen zeigen, durch die allenthalben Wut und Widerspenstigkeit durchscheint, sollen durch den Anblick des unerbittlichen Lebens und des vorbildlichen Benehmens der Betroffenen zur Ordnung verhalten werden. Zur Bändigung der revolutionären wie der barbarischen Instinkte hat Kultur seit je beigetragen. Die industrialisierte tut ein übriges. Die Bedingung, unter der man das unerbittliche Leben überhaupt fristen darf, wird von ihr eingeübt. Das Individuum soll seinen allgemeinen Überdruss als Triebkraft verwerten, sich an die kollektive Macht aufzugeben, deren es überdrüssig ist.       Theodor W. Adorno; Max Horkheimer 1947
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Verehrter Leser, die folgenden Filmbesprechungen sind als Filminformationen gedacht, nicht als Kritik. Sie sollen Ihnen unser Ferienprogramm vorstellen. Ausführliche Hinweise werden vor den jeweiligen Veranstaltungen gegeben. Programmänderungen vorbehalten. Vorstellungen mittwochs + donnerstags 18.30 + 21 Uhr im Festsaal des Studentenhauses.

Diebe haben 's schwer (I Soliti Ignoti)
Italien 1958
Regie: Mario Monicelli
Buch: Age, Scarpelli, Suso Cecchi d' Amico, Mario Monicelli
Kamera: Gianni di Venanzo
Musik: Piero Umiliani
Darsteller: Vittorio Gassmann, Renato Salvatori, Toto, Marcello Mastroianni
Noch zum perfekten Einbruch gehören die Annehmlichkeiten der höheren Gesellschaftsschicht - die akribischen Vorbesprechungen des grossen Coups beweisen es. Die teilweise singuläre Komik des Films wird da am deutlichsten, wo sie nicht durch Übertreibungen erzeugt wird, sondern durch Raffung der unglückseligen Nebensächlichkeiten, die schliesslich zum Scheitern des Kolossal-Unternehmens führen. Und es ist gut so; scheiterte der Einbruch nicht, so zeigte er nur die clichierten Unmöglichkeiten, die das deutsche Lustspielkino in hypertrophierter Klamaukseligkeit hervorbringt.

Zwangsläufig endet der Film resignativ, mit der bitteren Einsicht, dass der kleine Gauner immer dem grossen unterlegen sein muss, weil seine Position aussichtslos ist. Hinzuweisen ist mit Entschiedenheit auf die Szene, in der ,Film-in-Film' geboten wird: die Strauchdiebe versuchen, den Geldschrank, den sie knacken wollen, mit einer Filmkamera ,heranzuholen' - die Verknüpfung aller Hindernisse lässt nur völlig unauswertbares Material zustande kommen.       PHS
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Die Maus, die brüllte (The Mouse that roared)
Grossbritannien 1959
Regie: Jack Arnold
Buch: Roger McDougall und Stanley Mann nach dem Roman von Leonard Wibberley
Darsteller: Peter Seilers, JeanSeberg
Aber sie brüllt schlecht; sie überdreht ihre Stimme, lässt sie überschnappen und sollte dafür in einer Mausefalle Kreide fressen.
Grand Fenwick, souveräner Alpenstaat, ersehnt USA-Kredit, da wirtschaftlich zu Grunde gerichtet, zettelt (Mäuslein, Mäuslein!) einen Krieg mit 20 - in Worten: zwanzig - Fenwickern an, nimmt New York, Q-Bombe, Professor und dessen Tochter im Handstreich, spielt Friedensengel zwischen den Grossmächten, und existiert, wenn es nicht an der Einfallslosigkeit des Regisseurs gestorben ist, heute noch; vielleicht produziert es mittlerweile selbst Q-, H- und A-Bomben.       PHS
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Rom - offene Stadt (Roma città aperta)
Italien 1945
Regie: Roberto Rossellini
Buch: Sergio Amidei und Federico Fellini
Kamera: Ubaido Arata
Musik: Renzo Rossellini
Darsteller: Aldo Fabrizi, Anna Magnani, Marcello Pagliero u. a.
Fünfzehn Jahre lang wurde uns dieser erste Nachkriegsfilm Rossellinis in Deutschland vorenthalten, nachdem er fast in jedem Land der Erde gezeigt worden war. Man glaubte im Zuge der allgemeinen Verbrüderung, diesen Film nicht zeigen zu können, weil doch alles längst vorbei sei. Ohne technische und geistige Laxheiten drehte Rossellini einen Film, der den ,Neorealismus' zu einem Begriff machte, der mehr als nur das war: eine neue Art, Wirklichkeit darzustellen und Wirkung entfalten zu lassen. Der Priester Don Pietro und der Kommunist Manfredi sind solidarische Antifaschisten, leisten den versprengten Nazi-Truppen gemeinsam Widerstand, ohne jedoch die gleichen Ziele zu verfolgen, was die Zeit nach der Liquidierung des faschistischen Terrors angeht. Was der Film als These reproduziert, ist nie Wirklichkeit geworden; die Verhältnisse änderten sich so, dass in der synchronisierten Fassung aus dem ,Kommunisten' ein ,Sozialist' gemacht werden musste.       PHS
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The Crowd
USA 1927
Regie: KingVidor
Buch: King Vidor, Harry Behn, A. V. Weaver
Kamera: Henry Shap
Darsteller: EleanorBoardman, James Murray, Bert Roach
"To Be Someone Big", Wunschvorstellung, unverwischbar in das Hirn eines jeden Amerikaners gegraben, "Auch du trägst den Marschallstab kommerziellen Erfolges in der Aktentasche": Damoklesschwert, Trauma, unsichtbar pendelnd über der ,Skyline' von Manhattan, Chikago, Washington. Dies ist der Vorwurf zu THE CROWD: Ein Durchschnittsamerikaner, mittelmässig begabt, mit mittelmässigen Aussichten unternimmt den Sprung über den eigenen Schatten, angefeuert von jenem unheilen Spruch BE SOMEONE BIG. Er stolpert. Wird nichts. Fällt, umgeben von Frau und Kindern, Erinnerungen, Sehnsüchten, Niagarafall, American Way of Life.
Vidor treibt in THE CROWD eminente Kritik, stellt eine Gesellschaft bloss, deren kapitalistisches Elitedenken den Minderbegabten, den Durchschnittlichen zum Scheitern treibt, ihn auf ein Ziel hinhetzt, dass er nicht erreichen kann, ihn korrumpiert. Dies alles ist mit optischer Brisanz vorgetragen, bestechend, entlarvend.       WV
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Ein Gesicht in der Menge (A face in the crowd)
USA 1957
Regie: Elia Kazan
Buch: Budd Schulberg
Musik: Tom Glazer
Darsteller: Andy Griffith, Patricia Neal, Anthony Franciosa
Ein Landstreicher wird für eine Fernsehshow entdeckt und über Nacht zum Liebling der Massen. Psychisch dem plötzlichen Aufstieg nicht gewachsen, wird er grössenwahnsinnig. Jenen, die die Geister riefen und sie nun nicht wieder loswerden, bleibt nur die Möglichkeit, das Medium, welches seinen Ruhm begründete, jetzt gegen ihn zu gebrauchen. So wird das Idol über Nacht wieder das, was es war: ein Gesicht in der Menge. Der Film zeigt das Janusköpfige der Massenmedien. Allerdings betont er vorwiegend die Charaktermängel des Helden, statt die Fehler in einem gesellschaftlichen System zu suchen, in dem Menschen nur Funktionäre sind. So werden die wirklichen Missstände nur teilweise transparent.       BNR
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Das grausame Auge (The Savage Eye)
USA 1959
Buch und Regie: Sidney Meyers, Ben Maddow, Joseph Stick
Kamera: Jack Cooffer, Helen Levitt, Haskel Wexler
Musik: Leonard Roseman
Darsteller: Barbara Baxley, Herschel Bernardi, Jean Hidey, Elisabeth Zemach
Ursprünglich von Maddow und Stick als Dokumentarfilm begonnen, bekam der Film später, zu seinem Nachteil, Spielfilmcharakter. Er erzählt nun die Geschichte einer geschiedenen Frau, deren Hoffnung auf Versöhnung mit ihrem Mann sich nicht erfüllt. Tenderness suchend, gerät sie in die brutality des abgründigen american way of life. Ihr psychometaphysischer innerer Monolog, als Kommentar gedacht, reproduziert in seiner verqueren Banalität das Pandämonium menschlicher Perversität, das das grausame Auge der Kamera fixiert. Da der Film sich auf die Suche nach "dem Menschen begibt, findet er nur dessen Visage, nicht die Physiognomie einer Gesellschaft, die jene erst ermöglicht.       WS
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Man begräbt am Sonntag nicht (On n' enterre pas le dimanche)
Frankreich 1959
Regie: Michel Drach
Buch: Michel Drach nach dem Roman Fred Kassac
Kamera: Jean Tournier
Musik: Eric Dixon, Kenny Clarke
Darsteller: Philippe Mory, Christina Bendz, Hella Petri, Albert Gilou
Aus dem Kompromiss, den der Kommerz erzwingt, versucht Michel Drach, Kunst zu retten. Es gelingt nur teilweise. Eine pure Kriminalstory dient als Aufhänger, die seelische Einsamkeit des Protagonisten zu schildern. Dieser, ein in Paris lebender farbiger Schriftsteller, verliebt sich in eine schwedische Abiturientin und vermittelt ihr eine Stelle als Kindermädchen in einem Haushalt. Die Dame des Hauses verführt ihn, der Ehemann will ihn umbringen, wird aber von ihm in Notwehr erschlagen. In Rückblenden wird die Geschichte in Szene gesetzt und der Unschuldige juristisch überführt. Maniriert ,schöne' Bilder, Kenny Clarkes Jazz täuschen nicht über die Isoliertheit der einzelnen Szenen hinweg.       3§WS
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Die tätowierte Rose (The Rose tatoo)
USA 1955
Regie: Daniel Mann
Buch: Tenessee Williams
Darsteller: Anna Magnani Burt Lancaster
Die Szenerie: Italienervorstadt einer ländlichen Kleinstadt in den USA, Hitze, Kinder, Geschrei. Eine Frau verliert ihren Mann, ihren Abgott, den einzig geliebten, der eine Rose getragen hatte, gross, rotbrennend in die Brust tätowiert. Die Erinnerung überhöht sein Bild. Sie schmückt es, setzt es auf einen imaginären Hausaltar, reinigt es zur Devotionalie. In dies fast pathologische Tun bricht die Realität in der Gestalt der Maitresse des Toten, im tolpatschigen Gestus eines neuen Freiers.

Die Glorie des Toten beginnt zu bröckeln, langsam, unaufhaltsam. Der Betrachter liest es im Gesicht der Magnani, an deren mimischen und gestischen Metaphern, die menschliches dem billigen Gemeinplatz des Allgemeingültigen entfremden, es in eine Purgatio führen ,die gültig, aber niemals allgemein. Denn im allgemeinen dominieren Erinnerungen, verzuckert, geronnen zur Tradition.       WV
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Wo bleibt denn die Moral mein Herr? (Le farceur)
Frankreich 1960
Regie: Philipe de Broca
Buch: Daniel Boulanger
Musik: Georges Delerue
Kamera: Jean Penzer
Darsteller: Anouk Aimée, Jean Pierre Cassel, Geneviève Cluny, Palau
Edouard, ein wenig irreal, charmant und durchtrieben, lebt einzig seinen Liebeleien. Vor der Eroberung ist er jeweilig Erkorenen verfallen; hinterher jedoch erlischt sein Interesse sofort. Es lauert die Leere und die Langeweile. Aber ehe beide zum Durchbruch kommen, stürzt sich Edouard fröhlich in die nächste Amour. Diese Methode passt wohl für gleichgesinnte Partnerinnen, nicht aber für Helene. Sie ist schwer zu verführen und gibt schliesslich nur nach, weil sie Entscheidendes von dieser Beziehung erwartet.
Das entzückende Drum und Dran der Verführungen gibt dem Film das Aussehen einer Komödie. Wir meinen aber, der melancholische Schluss sei viel entscheidender. Hier ist die Öde des fast zwangshaften Erobererdaseins blossgestellt. Eventuell könnte man in Helene auch eine Schwester der Protagonistinnen aus "La Notte" und "Hiroshima, mon amour" sehen.       BNR
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