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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 37, November-Januar 1962/63

Inhalt
Editorial
Wie in einem Spiegel
Zur Topographie des Western
Gespräch über den Western
KRITIK I
Thomas Mann: Über den Film
America's own fool: Jerry Lewis
Alias
Vorläufig Ratlosigkeit
Portrait: Visconti
Luchino Visconti: Werkverzeichnis
Die Welt als Scherbenhaufen
Rückumschlag
Die mit der Liebe spielen (L' Avventura)
Der Schrei (II Grido)
Stunden voller Zärtlichkeit (Moderato cantabile)
Der Kongress tanzt
Letztes Jahr in Marienbad (L' année dernière à Marienbad)
Faustrecht der Prärie (My darling Clementine)
Weisses Gift (Notorious)
Das Fenster zum Hof (Rear Window)
Aus dem Reich der Toten (Vertigo)
Samstagnacht bis Sonntag morgen (Saturday Night and Sunday Morning)
Liebelei
Endstation Liebe
Sein oder Nichtsein (To be or not to be)
Die grosse Illusion (La grande illusion)
das brot der frühen jahre
Wir sind keine Engel
Rio Bravo (Rio Bravo)
Der blaue Engel
Der letzte Mann


Editorial

Jede Kritik hat den Film, den sie verdient; jeder Film die Kritik, die sich von ihm hinters Licht führen lässt. Die Chronisten des Films schreiben die Grabgesänge ihrer eigenen Bestattung: unbedarfter Grössenwahn, der sich zu Unrecht in die Pose des Kritikers wirft, der beschreibt, was der Betrachter sieht, der verheimlicht, was dieser sehen sollte, die Schale bewahrt und den Kern in den Kehricht wirft. Solchermassen wird das Bewusstsein des Publikums paralysiert: wirkliche Kritik ist spärlich und spärliche Kritik erreicht nicht das Gros des Publikums; die zweite Aufklärung hat auf dem Plan des Films nie eingesetzt, die kritische Information wird nicht gegeben. Da liegt die Misere, dort sind die Gründe einzusammeln, warum es nur wenige berührt, dass Verleiher, Kinotheaterinhaber, kirchliche und Selbstkontrolle an Filmen herumschneiden, ohne dass ihnen jemand die Scheren um die Löffel schlägt. Wir kennen die Stadien der Kastration von LA TERRA TREMA, von VIRIDIANA, jetzt von VIVRE SA VIE, und unzähligen anderen; Ungeheuerlichkeiten, gegen die kaum jemand die Sprache erhob, vor allem die nicht, die aufheulen, wenn Goethes Faust bearbeitet wird; oder Mozart, oder Shakespeare.

Es mangelt die Information, die zur Kritik befähigt und die Kritik, die informiert. Dies war der Grund für die Länge und die scheinbare Abseitigkeit mancher Beiträge dieses Heftes. Die Artikel über das Phänomen Western, die "horse opera", und über Jerry Lewis beabsichtigen zu erklären, was die gängige Filmpublizisitk zu erwähnen nicht für würdig hält - oder allenfalls umschreibt. Der Beitrag über Luchino Visconti versucht, über das 150 Druckzeilen-Klischee, das hierzulande üblich ist, hinauszugehen. Die Auseinandersetzung über die konventionelle Kritik ist die lange fällig gewordene Abrechnung, die die Linke vergass und die die Rechte in das Licht rückt, das dieser gebührt. Journal und die gegensätzlichen Auffassungen und Qualitäten des Artikels von Hans Magnus Enzensberger und des Exzerptes von Thomas Mann setzen weitere Akzente.

Wir glauben, dass dies alles, zusammengenommen, attraktiv genug ist, um die fast minuziöse Information mancher Beiträge zu kompensieren. Aber Besserung ist nur möglich, wenn die Information umfassend und allgemein ist; man dem, der wissen will, nicht mit dem Zapfenstreich des grossen Bla-Bla das Fell über die Ohren zieht.       WV
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Ingmar Bergman: Wie in einem Spiegel

1 Korinther 18:12
Nun sehen wir immerhin auf eine dunkle Weise, wie in einem Spiegel, aber dann sollen wir von Angesicht zu Angesicht sehen.

I.

In der Schule sprachen wir darüber, weshalb ein Schauspieler immer ein Schauspieler bleibt: wir vertiefen uns, wir verirren uns. Lehrer und Schüler bewegen sich in einem Feld, das kartographisch noch nicht erfasst ist, das viele weisse Flecken und riskante Abgründe hat. Selbstverständlich gibt es eine Theatertheorie, aber sie wird immer von Theoretikern geschrieben, die Ausnahme - sie bestätigt nur die Regel.

Das ist der Grund, weswegen junge Menschen nicht wissen, warum sie sich dem Theater widmen; fragt man sie, so erhält man die verschiedensten Antworten: subjektive, unsichere oder ausweichende. Die Älteren bedürfen Gott sei Dank keiner Frage; ihre Erfahrung und die Tatsache, dass sie das ganze Leben hindurch Blut mit dem Publikum austauschten, hat die Antwort in ihrem Sinn vorausgenommen: Sie schaffen aus dem Bedürfnis heraus, das die Menschen an sie herantragen, sie wollen die Zusammenhänge des Lebens gespiegelt sehen: verwandelt in neue Dimensionen und beleuchtet von einem Licht, das von aussen kommt.

II

Gleich dem Priester begeht der reproduzierende Künstler eine Kulthandlung, die Szene, das Studio oder das Podium sind ihm Kultplatz. Das ist eine banale, jedoch oft übersehene Wahrheit, die das ABC jedes jungen Menschen anführen sollte, der sich den verschiedenen Betätigunsgfeldern des Dramas nähert.

Ich weiss das aus eigener Erfahrung; hätte mir jemand in jener Zeit das auf klare und deutliche Weise gesagt, hätte er mir erklärt, warum meine Verantwortung in erster Linie dem Publikum gehört, dass alle Bedeutung meiner Arbeit fehlt, wenn ich diesen Punkt übersehe, dann hätte ich vermutlich viel von meinem Gedankenunsinn und der Berufssentimentalität, die mir jahrelang wesentlich erschienen, über Bord geworfen. Dies machte auch die Furcht und das Unbehagen bei mir aus, die Furcht, durchzuhalten mit meiner Arbeit, diese ständige und demütigende Pein, die mir folgte wie ein unausrottbarer Parasit.

III

Die Verantwortung, den Spiegel reinzuhalten. Die reflektierende Fläche kann mehr oder minder verschleiert sein; das Licht bricht sich, schön oder nicht schön: das steht ausserhalb meiner Kraft; der Spiegel hat seine Grenzen und seinen spezifischen Neigungswinkel, daran ist wenig zu ändern. Das Reinerhalten geschieht auf verschiedene Weisen - Stil und Technik als bemerkbarer Eigenwert sind Konsequenz meiner Art, schwere Verunreinigungen zu sehen. Berufsfreude und Hingabe an das Werk, das entsteht, sind wie Selbstbehauptung und natürliche Neigung ausserordentliche Triebkräfte der künstlerischen Arbeit; diese Qualitäten werden auf lange Sicht jedoch dann preisgegeben, wenn sie ohne Bewusstsein ihrer Selbst und ohne stabile Technik gehandhabt werden.

Ein Priester ohne geistliche Kenntnis ist ein primitiver Medizinmann, ohne Technik ist ein Künstler Amateur; beide sind gefährlich - besonders, wenn sie begabt sind; von beiden wimmelt es.

IV

Doch empfindet man das oben Gesagte nur als halbe Wahrheit, wenn ich nicht mehr als das äussere Bild einer unentwirrbaren Komplikation einfangen könnte, darüber hinaus wird sie aktualisiert, weil mein Film dem Publikum gezeigt werden soll: Das Mehr liegt in dem Augenblick, wo er von einer sekundenschnellen Vision zum Erlebnis verwandelt werden wird, vermittelt durch eine höchst komplizierte und unhandliche Apparatur.

Man denkt verschreckt und verwirrt: Wie soll das eigentlich weitergehen? Und ist jedesmal erneut bereit, das Spiegelglas zu zertrümmern.
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Zur Topographie des Western

Teil I (Fortsetzung Heft 38 ) (Zurück zu einer Verweisung in Heft 44)

I. Das Thema

Die ob ihrer schematischen Handlungsstruktur, ihrer mangelhaften psychologischen Anlage und ihrem offenen Bekenntnis zur sichtbaren, zuweilen brutalen Gewalt als Mittel moralischer Rechtsprechung in Deutschland leidlich missachtete Filmgattung des Western ist für die Franzosen und Engländer schon seit Jahren nicht nur gleichberechtigtes Genre, sondern "cinéma par exellence". Der Western ist seinem Sujet nach prädestiniert, das Spezifische des Mediums Film sichtbar zu machen. Anders formuliert: am Western dokumentiert sich am deutlichsten das kinematographische Talent eines Regisseurs, was natürlich nicht bedeutet, dass Bergman, Ophüls, Antonioni oder Buñuel weniger kinematographische Filme drehen, weil es keine Western sind, von Orson Welles, dem Naturtalent der kinematographischen Kunst, ganz zu schweigen. Aber dieses älteste und dauerhafteste Genre des Films weist eine solch grosse Zahl von qualitativ hochwertigen Filmen auf wie kein anderes. Und da, wo uns Duviviers und Carnés Filme der dreissiger Jahre bereits veraltet erscheinen, wirkt John Fords "Stagecoach" vergleichsweise modern. Die äusserlich starre Dramaturgie hat im Laufe der Jahre durch die Formgebung so unterschiedliche Regisseure wie John Ford, Henry King, Anthony Mann und Raoul Walsh den künstlerischen Werken das Attribut der Klassik eingebracht. Der klassische Film ist nicht etwa das "Kabinett des Dr. Caligari" oder "Fahrraddiebe", obwohl diese Filme letztlich besser sein mögen - der klassische Film -, das ist der Western. Seine Geschichte beginnt mit Edwin S. Porters "The Great Train Robbery" aus dem Jahre 1903 und findet seinen vorläufigen Höhepunkt mit John Fords Meisterwerk aus dem Jahre 1962, "Liberty Valance". Im Lauf der Jahre hat sich der Western innerhalb seiner natürlichen Grenzen entwickelt. Führte der Weg vom Superhelden à la Broncho Billy, Tom Mix oder Hopalong Cassidy über das spektakuläre Epos der dreissiger Jahre ("Cimarron", "Dodge City" und noch 1946 "Westward the Women") zur Relativierung des Superhelden (in "The Gunfighter" oder "High Noon"), die dann schliesslich zum psychologischen Western der fünfziger Jahre führte, zu Filmen wie "Tin Star", "Gunfight at the O.K. Corral" und "Warlock".

Der Themenkreis blieb der gleiche: die Eroberung des Westens, der Bau der Städte, Eisenbahn- und Telegraphenlinien, die Viehtracks und Weidekriege, der Sezessionskrieg und die Indianerkämpfe. Auch der innere Handlungsablauf blieb gleich: "good guy meets bad guy, bad guy turns worse, Showdown". Die Frau spielte eine für den dramatischen Ablauf des Geschehens unwichtige Rolle. Sie unterstreicht allenfalls das "good" oder "bad" und entlockt dem Westerner den Satz, der ihn berühmt gemacht hat und zugleich seinen Charakter, seinen Mythos erklärt. Er tut, was er tun muss (he does, what he has to do). Jede weitere Begründung ist überflüssig, der Westerner als Inkarnation eines kollektiven Heroismus bedarf keiner Motive. Er ist sein eigenes Motiv. Indem Gary Cooper den Kampf gegen die Übermacht in "High Noon" aufnimmt oder indem John Wayne in "Rio Bravo" einer ganzen Bande mit jener sprichwörtlichen Ruhe entgegentritt, verwirklichen sie sich selbst. Da, wo ein Motiv erörtert wird, etwa in William Wylers "Big Country"' (Weites Land), muss der Film nicht an Qualität verlieren. "Big Country" ist ein durchaus guter Film. Verloren geht vielmehr jene klassische Strenge, die in der Inszenierung der grossen Regisseure den verpönten Wildwestfilm als "cinéma par exellence" ausweist. Die Konzentration auf Bewegung, auf "action", die im Handlungsschema vorgegebene Rhythmisierung, die ungebrochene Verhaltensweise der Helden und der geographisch gegebene Dekor des amerikanischen Westens, all dies, kurz und überspitzt ausgedrückt, - eine einzige Verfolgungsjagd in offenem Territorium (z. B. die Indianerattacke in John Fords "Stagecoach") ist mehr Film, als alle noch so ambitionierten Unternehmungen der westdeutschen Filmproduktion nach dem zweiten Weltkrieg zusammengenommen.

Der Themenkreis und seine klassische Form von "Tom Mix" bis zu "Liberty Valance" erweisen sich durch die Stilisierung, durch die realitätsfremde Figurierung und durch aktionsgebundene Dramaturgie als überzeitlich. Der gegebene geographische und historische Raum verleiht durch die Aufhebung der Wirklichkeiten den sich darin bewegenden Gestalten auf der Leinwand wie auch in den Büchern und Bildern legendären Charakter, Der Western ist seinem Wesen nach unrealistisch. Dennoch bedarf er zur Wirksamwerdung einer echten Atmosphäre, die mit der überhöhten Wirklichkeit des Helden und seiner Taten im Einklang stehen muss. Unter den vielen Regisseuren dieses Genres hat niemand diese Aufgabe so meisterlich gelöst wie John Ford.

II. Der klassische Western

1. John Ford

Ford, von Hause aus Irländer, hat seit Beginn seiner Filmlaufbahn im Jahre 1913 mehr als 120 Filme gedreht. Er versuchte sich in den verschiedensten Sujets, im Grunde aber interessieren ihn nur zwei Themen: Irland und der amerikanische Westen. Fords Wildwestfilme haben dann auch seine Karriere und seinen Ruhm begründet. Sein erster grosser Film war "The Iron Horse" im Jahre 1924, ein Western. Nachdem er den mit "The Informer", 1935, erworbenen Kredit in den drei folgenden Filmen verspielte, schickte man ihn 1939 zum zweitrangigen Metier des Western zurück. In Zusammenarbeit mit seinem Drehbuchautor Dudley Nichols entstand "Stagecoach" (Höllenfahrt nach Santa Fé). "Stagecoach" ist für viele Filmhistoriker noch heute John Fords Meisterwerk. Ford erzählt das Abenteuer einer Postkutschenfahrt nach Lordsburg, mitten durch feindliches Indianergebiet. Ein trunksüchtiger Arzt, Thomas Mitchell, eine feine Lady und eine Prostituierte, gewöhnt, verachtet oder belästigt zu werden, dargestellt von Clair Trevor, ein zum Spieler gewordener ehemaliger Südstaatenoffizier, John Carradine, ein verschüchterter Whiskyreisender aus dem Osten, ein Bankier samt gestohlener Kasse, der Sheriff, der Kutscher, und last not least, der vom Gesetz gesuchte Westerner (John Wayne), der die Mörder seines Bruders verfolgt.

Eine Typensammlung ohne Beispiel, eine Anthologie der Westernfiguren, dabei voll menschlicher Wärme und nicht ganz ohne Individualität, wenn auch nur in sehr begrenztem Mass. Diese Gesellschaft oder Teile davon durchleben in diesen Tagen alle möglichen Situationen: persönliche Spannungen, Indianerangriff, Kavallerieattacken, Schussduell zwischen dem Westerner und seinen drei Gegnern. Die dramaturgische Struktur des Films ist für Ford charakteristisch. Der scheinbare Höhepunkt der Story wird kurz nach Halbzeit erreicht. Dann fällt die Spannungskurve, bis unvermutet ein neues, nicht ganz so packendes Ereignis eine zweite "climax" bildet. Die künstlerische Qualität von "Stagecoach" beruht in ästhetischer Hinsicht auf der vollkommenen bildlichen Harmonie von Umwelt und Aktion, Die Kulisse des Monument Valley, der Fordschen Landschaft, und die Reiterkolonne, die hindurchzieht, die Postkutsche im friedlichen Tal und der Kameraschwenk auf die Gruppe der wartenden Indianer, die Integration einer dramaturgisch fehlerfrei struktuierten Handlung und diese Bildfolgen verleihen "Stagecoach" jene evidente künstlerische Qualität, die man hierzulande dem Genre des Western grundsätzlich in Filmurteilen abspricht. "Stagecoach" brachte Ford nicht nur einen "Oskar" ein, damals noch Wertmesser guter Leistung, sondern auch infolge des grossen kommerziellen Erfolges zahlreiche Aufträge.

Aber es dauerte sieben Jahre bis Ford seinen nächsten Western inszenierte: "My Darling Clementine" (Faustrecht der Prärie), der die Legende vom grossen Schussduell am O. K. Corral von Tombstone erzählt, in dem Wyatt Earp, Henry Fonda und seine Brüder an der Seite von Doc Holliday, Victor Mature die Clantonbande zusammenschössen. Ford gibt eine atmosphärisch getragene, hochdramatische Story im Stil eines sentimentalen Volksliedes aus dem amerikanischen Westen wieder, ohne die Regeln des Western zu verletzen. Alle Figuren und alle Ereignisse sind typische Formen, wenn auch sehr sorgfältig und liebevoll gezeichnet. Einzige Ausnahme bildet die Person Hollidays, dessen zivilisierte Vergangenheit und gewaltbetonte Gegenwart für Augenblicke die Psyche bzw. die psychische Situation dieses Mannes transparent werden lassen. Für Ford gibt es zur Lösung des Hollidayschen Dilemmas nur den naiven, stark sentimentalischen Weg der Selbstverwirklichung. Entgegen dem historischen Ablauf wird Holliday bei Ford im Verlauf der Schiesserei getötet. Damit war der Westen wieder gereinigt. Es gibt "good guys" und "bad guys". Es ist das Ende der Nibelungenschlacht, jenes grandiose Gemetzel, an dessen Ende Dietrich von Bern und sein Waffenmeister Hildebrand müde das Schwert der Gerechtigkeit aus der Hand legen. Bis es zu diesem Höhepunkt kommt, lässt sich Ford viel Zeit. Er verwendet lange Strecken des Films zur Schilderung von Begebenheiten, die dem Fortgang der Handlung nicht so recht dienen, die jedoch zur Zeichnung der Atmosphäre und der Menschen der Grenze von eminenter Bedeutung sind. Darunter ist die vielleicht schönste Sequenz, die es je in einem Western zu sehen gab: an einem friedlichen Sonntagvormittag gehen Wyatt Earp und das Mädchen, das er verehrt, zu einem morgendlichen Tanz, dort, wo einmal die Kirche stehen soll. Die Poesie dieser etwa vier Minuten dauernden Bildfolge ist in keinem anderen Western je wieder erreicht worden. "My Darling Clementine" ist der formal vollkommenste Western und ist eigentlich bis heute nur von dem 1958 entstandenen "Rio Bravo" von Howard Hawks bezüglich der formalen Qualität erreicht worden.

Der ein Jahr später gedrehte "Fort Apache" (Bis zum letzten Mann), eine wahre Fundgrube für Fordspezialisten, ein Film, der so gut wie alle Ford-Elemente enthält, ist eine glänzend gemachte Rekonstruktion der vernichtenden Niederlage des Unions-General Custer gegen den Sioux-Häuptling Sitting Bull am Little Big Horn. Zwar wurden Personen und Ort der Handlung umbenannt, aber die Ereignisse folgen optisch getreu den Berichten über "Custers last stand". Überdeutlich aber tritt in "Fort Apache" die Thematik zutage, die Ford als dramatisches Mittel benutzt, um seine Geschichte zu erzählen: die Rivalität zweier good guys während des gemeinsamen Kampfes gegen die Bösen: der eine intelligent, formvollendet und in seiner Denkweise zivilisiert: Henry Fonda; der andere ungehobelt, ohne "gallantry" und trotzig, selbstsicher seinen Weg gehend: John Wayne. Dieser Dualismus, der schon in "My Darling Clementine" begann und sich immer wieder findet (William Holden/John Wayne in "The Horse Soldiers", James Stewart / Richard Widmark in "Two Rode Together" und Stewart/Wayne in "Liberty Valance") spiegelt jenen für Ford typischen Zwiespalt wider. Den Respekt und die Bewunderung für Disziplin, formvollendetes, wenngleich wahnwitziges Heldentum einerseits (im Verlauf von "Fort Apache" wird Fonda zusehends sympathischer - oder man denke an die wahnsinnige Attacke der Südstaatler in "The Horse Soldiers"), andererseits die fast naiv-sentimentale Huldigung an den Durchschnittsmenschen, dessen Eigenart und Starrsinn, dessen langsames Sich-Durch-Wursteln letztlich Erfolg hat. Prototyp dieser Gattung ist für Ford ein Darsteller wie John Wayne.

Findet man in "Stagecoach", den klassischen Western mit Fordscher Dramaturgie, ist "My Darling Clementine" ein erster bedeutender Schritt zur Vertiefung der Charaktere mittels Schaffung einer dichten Atmosphäre, so ist "Fort Apache" schon eine Ford-Enzyklopädie, deren formale Struktur im Vergleich zu den erstgenannten Filmen teilweise Mängel aufweist, die den Film ein wenig heterogen wirken lassen. Diese Heterogenität zeigt sich leider auch in den nachfolgenden Western, von denen der 1955 gedrehte "The Searchers" der vielleicht interessanteste ist. Womit das letzte Standardthema Fords erwähnt sei: die Suche.

Die Helden Fords werden nicht in Ereignisse verwickelt, sie geraten nicht einmal in eine zugespitzte Situation, die Helden Fords suchen etwas und es ist diese Suche, die interessiert, die bedeutungsvoller wird als das schliessliche Erreichen des Ziels, mit dem für Ford nur die Suche unterbrochen, nicht beendet wird. Sieht man in "The Searchers" lange Bildfolgen, die keinen Bezug zum Geschehen aufweisen, wie etwa bei Anthony Mann, dann bricht sich mit einem Male die Naivität bahn, die Fords Filme auf eine zunächst so unbegreifliche Weise auszeichnet. Diese Suche konnte Ford in "The Horse Soldiers" zu einen um etliche Nuancen besseren Film verarbeiten, dem die lange Kette der Reiter, der Auszug der jungen Südstaatenkadetten, ihr Sturmangriff und vieles mehr, das lyrische Element des Western für jeden sichtbar anklingen lassen. "The Horse Soldiers" ist überdies ein homogenes Werk, in sich geschlossen, und zeichnet sich neben einer formalen Disziplin durch ein vorzügliches Drehbuch aus, was wiederum "Two Rode Together", 1961, ein besonders von der französischen Kritik unverständlicherweise überschätzter Film, nicht aufweisen kann. Da helfen weder die grossartigen Darsteller noch gelegentliche Bildpassagen - für Ford-Freunde ein wehmütiges Wiedersehen -, deren poetische Kraft eine mangelhafte Dramaturgie nicht mehr retten kann.

Das Western-Talent Fords schien erschöpft. Doch ein Jahr später kam "The Man Who Shot Liberty Valance", der grosse Film eines alten Mannes, einer der grössten Western, wenn nicht der grösste überhaupt. Man muss nicht Prophet sein, um diesem, von höchster formaler Meisterschaft wie unvermutet reicher Substanz getragenen Film schon heute einen Platz in der Geschichte des Films zuzuweisen. In "Liberty Valance" konnte Ford alle die Elemente integrieren, die ihm teuer sind, ohne die dramatische Form zu verletzen. Die Personenkonstellation samt der Rivalität der Guten, die Suche hier (nach der Vergangenheit), die Legende und ihr Bild sowie die Atmosphäre jener Jahre: fast reumütig, will es scheinen, kehrt Ford zum Schwarz-Weiss-Film zurück. Das politische Faktum wird überdeckt von der betonten Legenderisierung der achtziger Jahre, in denen der heutige Senator erstmals in das Städtchen Shinbone kam, das unter dem Terror der Banditen des Banditen Liberty Valance stand. Und die Legende wird zur Wirklichkeit, als der versoffene Redakteur der Ortszeitung, eine meisterliche schauspielerische Leistung Edmond O'Briens, zu seinem eigenen Schatten auf der getünchten Wand den Ausspruch Horace Greelys ruft, der die Sage des amerikanischen Westens in dem Masse belebt hat, wie Ford sie mittels seiner Bildrethorik erstehen liess: "Go west, young man, go west! And Grow Old with the Country!" Ford will, wie es scheint, den Beweis erbringen, dass die Legende stärker und darum wahrhaftiger ist als die Realität. Der Mann, der Liberty Valance erschoss, ist nicht der Mann, der Liberty Valance erschoss. Diese doch immerhin bemerkenswerte Enthüllung wird vom nachrichtenhungrigen Zeitungsmann mit dem Satz förmlich weggewischt: "When the legend becomes fact, print the legend" - "wenn die Legende Wirklichkeit wird, druckt die Legende". Expressis verbis haben wir hier Fords Credo und damit zugleich das des Western: Wirklichkeit und Legende stehen genau in dieser Beziehung zueinander.

2. Raoul Walsh

Nur wenige Regisseure haben den schmalen Grat zwischen Legende und Wirklichkeit passiert und qualitativ gleich diskutable Filme gedreht. Neben John Ford war es vor allem Raoul Walsh, in dessen Filmen, gleich welchen Genres, aus einer gültigen und verifizierbaren Wirklichkeit das Abenteuer entsteht, das über die Wirklichkeit hinausgreift. Das muss zu merkwürdigen, wenn nicht katastrophalen Ergebnissen dort führen, wo das Thema ein solches Konzept nicht zulässt; zum Beispiel in "Esther and the King" (Das Schwert von Persien), einem relativ gescheiten, aber doch stark simplifizierten Historienbilderbogen aus dem alten Persien. Beim Western geht jedoch vom Thema her das Konzept auf. War "Dark Command" (Schwarzes Kommando), die Geschichte des Nordstaaten-Renegaten Quantrill noch unbeholfen, so ist schon "Died with Their Boots On", (Sein letztes Kommando), eine diesmal unmittelbare Schilderung der Custer-Niederlage, ein handwerklich sauber gemachter Western. Schon die Wahl seines Hauptdarstellers Errol Flynn lässt eine von Ford unterschiedliche Intention erkennen.

Flynn ist nicht der ruhige, selbstsichere Westerner. Flynn ist eine fast romantisches Abenteueridol, auf Piratenschiffen und in Ritterburgen ebenso zu Hause wie im Wilden Westen. Der Custer Errol Flynns ist dann auch weniger eine tragische Gestalt wie etwa Fonda in Fords "Fort Apache", vielmehr ein bravouröser Offizier, den ein grausames Schicksal zum Helden werden lässt. Um diesen Flynn des Jahres 1941 weht die Luft einer romantischen Sage. Später, 1955, war es dann Clark Gable in "The Tall Men" (Drei Rivalen), einem Western in dem wunderschöne und packende Szenen neben allerschlechtesten stehen. Das Konzept Walshs erwies sich als nicht zeitbeständig. Wen nimmt es wunder, dass der einzige Film Walshs: der seine Modernität bewahrt hat, ein typischer Western Ist, gut inszeniert und gespielt: "Colorado Territory" aus dem Jahre 1949, mit Joel McCrea in der Hauptrolle. McCrea spielt den aus dem Gefängnis ausgebrochenen Revolvermann, den das Gesetz zu Unrecht verfolgt. Walshs Thema - das aus der grauen Realität über diese hinauswachsende Abenteuer -: hier in der Story des tragisch Verfolgten findet es seine kongeniale Form. Walsh erweist sich als ein grosser Regisseur, weniger ein Filmschöpfer, als ein Meister der Inszenierung. Die Western von Raoul Walsh sind einerseits sehr traditionell, andererseits wiederum sind es die besten Beispiele für den oft zitierten lyrischen Tenor des Wildwestfilms. Man denke an die Landschaftsszenen in "The Tall Men", oder die grossartige Tanzszene in "The King and Four Queens" (Heisser Süden).

3. Henry King

Eine besondere Stellung unter den Western-Regisseuren nimmt Henry King ein, den man wohl kaum einen Filmschöpfer nennen kann, der nicht einmal ein grosser Mann der Regie ist wie Raoul Walsh. King, der eine glänzende Position in der Regie-Hierarchie Hollywoods hatte, arbeitete als Vertragsregisseur bei der 20th Century Fox. Für die Fox drehte King mehrere Western und diese sind in der Tat bemerkenswerter als man annehmen sollte. Der berühmteste war "Jesse James" aus dem Jahre 1939. Die xte Version der berühmten Revolverlegende um die Brüder James, die infolge einer Ungerechtigkeit gegenüber ihren Eltern zu Desperados wurden. ,Jesse James' ist so etwas wie der Robin Hood der amerikanischen Prärie, er bestahl die Reichen, um den Armen zu geben. Die legendär verklärte Gestalt, im Film von Tyrone Power gespielt, wurde von King bar jeder Differenzierung gezeichnet. Jesse James ist der grosse Held, der im Grunde gut ist und am Ende schmählich von seinem Freund von rückwärts niedergeschossen wird. Im Stil des epischen Western, mit schematisierten Figuren, ist Kings "Jesse James" in der Konvention der dreissiger Jahre gemacht.

Der gleiche Regisseur leitete jedoch 1950 mit "The Gunfighter" (Der Scharfschütze) den bereits zitierten Prozess der Entmythologisierung ein. Gregory Peck spielt den alten Revolvermann Ringo, der, wie ein streunender Wolf, den Westen durchzieht und von seinem Ruhm zehrt der ihm lästig und gefährlich ist. Wegen seines Rufes kann er nicht einen ruhigen Lebensabend geniessen. In jeder Stadt findet sich ein Prahlhans, der ihn zum Duell fordert. Das Töten geht weiter. Ringo hat die Wahl, andere zu erschiessen oder selbst zu sterben. Im Film will er erstmals dem Kampf ausweichen und wird hinterrücks niedergeschossen. "The Gunfighter" relativierte den Helden und bedingt dadurch auch eine strukturelle Wandlung des Aktionsschemas. Kings Film ist für einen Western sehr elegisch, sehr subtil in der Zeichnung einer einzigen Gestalt. Es kommt keine rechte Spannung auf, da die Aktion weitgehend ausbleibt. Die handwerklich fehlerfreie Regie Kings erreicht es, dass die Qualität nicht leidet, das Durchbrechen des Schemas ist gelungen.       Gert Berghoff (Fortsetzung Heft 38 )
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Jean Mitry: Gespräch über den Western - Epischer, dramatischer, psychologischer Western (Zurück zu Heft 41

Gesprächspartner Jean Mitrys: Gerd Berghoff und Wolfgang Vogel. Das Interview wurde von Jürgen Wilcke aus dem Französischen ins Deutsche übertragen.

Frage: Sie haben zahlreiche Artikel und Kritiken über den Western geschrieben, ebenfalls ein Buch über John Ford, dessen Wildwestfilme von Ihnen ausführlich analysiert wurden. Könnten Sie uns eine "Definition" des Western geben?

Mitry: Der Western, das ist das Epos bzw. eines der Epen der amerikanischen Nation, die eine sehr junge Nation ist. Jede Zivilisation, die einen nationalen Charakter entwickelt, hat ein Epos. Das Epos ist die Dichtung dieser Entwicklung; wie die "Ilias" für die Griechen, das "Chanson de Geste" für die Franzosen, das "Nibelungenlied" für die Deutschen usw. Das Heldengedicht der Amerikaner ist, wenn Sie so wollen, der Western. Die epischen Ereignisse der amerikanischen Nation sind: der Unabhängigkeitskrieg, in dem die Vereinigten Staaten geboren wurden, und der Sezessionskrieg. Es gibt noch den Krieg in Kuba, den Krieg in Mexiko - aber das sind sekundäre Ereignisse. Das wirklich grosse Epos ist der Sezessionskrieg.

Frage: Nun gibt es ja mehrere Epochen in der Eroberung des Westens und man hat analog die Western in mehrere Gruppen eingeteilt. Welche Epochen unterscheiden Sie persönlich?

Mitry: Da ist einmal der "rush" nach Westen, aus dem die Filme des "far west" entstanden. Was machen diese Filme des "far west"? Sie glorifizieren, besingen diesen "rush" und die Vorfälle und Abenteuer, die sich dabei abspielten. Im wesentlichen der Kampf gegen die Rothäute, die sich gegen das Eindringen der Weissen in ihr Gebiet wehrten. Hier haben Sie den epischen Western, den man den "rush" nennen kann. Es ist ein grosses, kollektives Epos, das Epos vieler Eroberer des "far west", die ausgezogen sind, die grossen Ländereien mit dem Recht des Erstankommenden unentgeltlich in Besitz zu nehmen. Das Faszinierende daran ist, dass sie Planwagen besassen, mit denen sie riesige Ebenen durchquerten, dass sie gegen die Indianer kämpften, gegen die Naturgewalten usw.

Von dem Moment an, wo sie sich niedergelassen haben, beginnt eine zweite Epoche. Die Leute haben das Land in Besitz genommen und mussten jetzt diesen Besitz verteidigen. Sie kamen praktisch in der Wüste an und es war ihnen aufgegeben, Städte zu bauen, Städte aus Brettern und Leinwand. Die Stadt musste organisiert werden, mit Handwerkern, Friseuren, Schmieden, Senf- und Wursthändlern. Es entstand ein Gemeinwesen, welches eine Polizei aufstellte. Zunächst musste man gleichsam auf eine Stufe Null zurückgehen und Individuen aufnehmen, die ihrer früheren sozialen Qualität fast beraubt waren, die zu ungeschliffenen Wesen wurden, die sich gegen den anderen verteidigen mussten und die damit gewissermassen eine polizeiliche Funktion ausübten. Das waren die Probleme. Die in dieser zweiten Epoche spielenden Western nennt man dramatische Western.

Dann gibt es noch eine dritte Epoche unter den drei grossen Epochen des Western. Die dritte Epoche ist ein wenig psychologischer, d. h. natürlich die Filme, die sich mit ihr beschäftigen. Der Westen ist erobert, Städte sind gebaut. Und nun gab es Leute, die Rinder züchteten, andere züchteten Schafe; dann kamen die Farmer und schliesslich die Ölsucher. Es entstand die Rivalität zwischen denen, die kamen, und denen, die das Land besassen. Diese Rivalität, die - man kann wohl sagen - eine ökonomische Rivalität war: das ist die dritte Epoche.

Frage: Eines aber haben alle drei Epochen in den Filmen, die sich mit ihnen beschäftigen, gemeinsam: den grossen Helden.

Mitry: Zu jeder der drei Epochen gehört der "cowboy superbal", eine gewaltige Verherrlichung des Cowboytyps. Sei es nun der Führer der Karawane, der gegen die Indianer kämpft oder sei es der Sheriff, der die Banditen bekämpft, oder auch der einsame Westerner, der einen Mord rächt.

Das ist die heroische Seite, bei der man offensichtlich übertrieben und glorifiziert hat, bei der man wahrhaftig aus dem Helden eine Art Mythos gemacht hat. Aber der Cowboy ist nicht ein Mythos wie Roland oder Siegfried. Der anonyme Cowboy wurde zur Darstellung des Heroismus in einem partikulären Sinn. In Wirklichkeit ist es der kollektive Heroismus der Epoche, der Leute, der Arbeiter usw.

Frage: Die Figur dieses Cowboys hat im Laufe der Filmgeschichte doch eine Wandlung erfahren, sie wurde gleichsam psychologisiert.

Mitry: Sicher. Die Qualität der Filme hat sich mit der Entwicklung des kinematografischen Ausdrucks entfaltet. Zunächst nahm man die einfachste Seite: den Cowboy, sei es Broncho Billy, nach ihm Rio Jim oder Tom Mix. Das waren die individuellen Helden, mittels derer eine Mythologie geschaffen wurde. Diese Helden, Cowboys oder Polizisten, gebärdeten sich in der gegebenen Situation sehr heroisch, aber das war alles sehr schematisch, die Person war vorgeformt. Einzig der Dynamismus der Handlung, die "action" machte alles aus. Eine Postkutsche wird angegriffen, der Held kommt zu Hilfe, er verfolgt die Banditen, greift sie an und peng, peng, peng. Er findet seine Braut wieder, er hat den anderen besiegt - das ist alles. Die Person hat überhaupt keine Psychologie.

Dieselbe Geschichte mit dem einfachen Cowboy, der die Banditen verfolgt: daraus kann man einen psychologischen Film machen. Die Psychologie des Helden, der Banditen, die den Überfall gemacht haben. Warum haben sie das getan? Weil sie aus sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen zu Banditen wurden. Wenn man diese sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen vertieft, kann man daraus ein ausserordentlich tiefgehendes Werk machen. Das einfachste Schema kann vertieft werden. Trotzdem ist es noch immer schematisch.

Zurück zu Tom Mix. Danach kamen die grossen Filme über den Treck zum Westen. Das war eine spektakuläre Sache, die dynamische Seite, eine Art lyrischer Länge, die es gestattet, ein grosses Poem zu verfertigen und ein grosses Schauspiel. In der Zeit von 1935-40 entstanden die Meisterwerke des spektakulären Western. Eine Bewegung wird glorifiziert. Schon die Tatsache, dass es sich um ein lyrisches Gedicht handelt, bedingt, dass die Person nicht psychologisch analysiert wird. Mit der Zeit entwickelte man etwas mehr Psychologie, etwas mehr menschliche Wahrheit. Man nahm Helden, die nicht schon feige waren, aber doch bereits relativiert, die aus sozialen, menschlichen, moralischen Gründen handelten. Interessant ist, dass das Lyrische des Abenteuers im Vordergrund stand. Die Analyse war oberflächlich.

Seit dem Kriege finden wir dann den psychologischen Western, wobei die Psychologie im Charakter gründet. Man dringt immer mehr in die sozialen und ökonomischen Bedingungen ein, welche die einzelnen Phasen des Dramas begründeten. Filme wie "Shane" oder "Cheyenne" weisen schon eine tiefere Struktur auf. Es sind nicht länger Schemen. Dabei ist die äussere Situation die gleiche. Ein Western wie "Der Schatz der Sierra Madre" ist ein psychologischer Western. Sie haben fast eine philosophische Situation.

Und je weiter man im Film fortschreitet, um so mehr wird das kinematografische Engagement bereichert. Je geschulter das Publikum wird, um so weniger wird es sich mit schematisierten Personen zufriedengegeben. Das betrifft den Western, das betrifft auch alle anderen Genres.

Frage: Man hat die Frage untersucht, welche Wandlung der Held des Western im Lauf der letzten 20 Jahre erfahren hat. Hierbei kann eine Filmreihe aufgestellt werden, die vom traditionellen Western "Dodge City" (Herr des wilden Westens) von Michael Curtiz aus dem Jahre 1941 über John Fords "My Darling Clementine" (Faustrecht der Prärie) von 1946 zu Henry Kings "The Gunfighter" (Der Scharfschütze) aus dem Jahre 1950 geht. Mit "The Gunfighter" setzte die eigentliche Entmythologisierung ein, die dann in "The Tin Star" (Stern des Gesetzes) und "Warlock" (1959) weiterentwickelt wird. Mit der Wandlung des Helden ändert sich nicht die Story, wohl aber die Struktur des Films. Ein grosser Teil der sog. modernen Western hat an die Stelle des sich verwirklichenden Helden ein kompliziertes System von Psychologie, Politik und sozialem Verhalten gesetzt, aus dem die Verhaltensweise des Helden motiviert wird. Trotzdem gibt es auch heute noch den traditionellen Western. Glauben Sie, dass die bedeutenden Westernregisseure wie Anthony Mann, John Sturges, Delmer Daves, Raoul Walsh und Howard Hawks vom einfachen Schema zum komplizierten Film gelangen?

Mitry: Ja, selbstverständlich.

Frage: Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Entwicklung John Fords, des vielleicht bedeutendsten Regisseurs von Wildwestfilmen? Ihr Buch über John Ford endet ja 1953.

Mitry: Aber wissen Sie, ich denke, dass "My Darling Clementine" (Faustrecht der Prärie) Fords letzter sehr guter Film war. Dann setzte er seine traditionelle Linie fort. Ford ist heute 62 oder 63 Jahre alt. Er war ein grosser Mann, aber jetzt ist das vorbei. Im vorigen Jahr sah ich einen guten Ford-Film "Sergeant Rutledge" (Mit einem Fuss in der Hölle), der aber auch kein Meisterwerk ist. Für mich ist es der beste Ford-Film seit fünfzehn Jahren - ich kenne "Liberty Valance" noch nicht! -, aber dennoch bleibt "Clementine" der letzte wirklich grosse Film. Erwähnenswert ist "Fort Apache"; alle neueren Ford-Filme sind im Grunde gut, aber ohne Zeichen von Genialität. Können wir das aber überhaupt verlangen?

Ford hatte etwas Neues vor 20 Jahren. Er legte den Grundstein für den psychologischen Western, noch unvollkommen, aber bereits ein erster Schritt: 1939 in "Stagecoach" (Höllenfahrt nach Santa Fé) und 1946 in "My Darling Clementine". Die Personen sind schon realistischer. Denken Sie an "Stagecoach". Hier haben Sie den Arzt, den Schnapshändler, den Bankier etc. Diese Menschen haben Ziele, besitzen eine Realität. Es sind nicht länger Marionetten, sie haben eine psychologische Dichte. Sie leben, aber sie sind noch typisiert. Es sind keine Archetypen mehr, eher Stereotypen oder besser: stark typisierte Charaktere. Indem sie der Realität angehören, sind sie in einem gewissen Sinne bereits psychologisch. Die Story ist einfach: ein paar Leute nehmen eine Postkutsche, die von hier nach dort fährt. In den Tagen der Fahrt lernen sie sich kennen. Eine psychologische Charakterisierung findet allerdings nicht statt, weil ja auch kein Grund vorliegt. Dafür benötigt man eine Situation, die ein psychologisches Drama rechtfertigt. Doch der Zeitraum ist zu knapp. Man kann ein Individuum nicht in einem Drama von 48 Stunden analysieren. Das ist unmöglich. Es enthüllt zwar einen Aspekt von sich, aber nur einen stark akzentuierten, momentanen Aspekt.

Viel psychologischer ist es in "My Darling Clementine", wo die Zeit länger ist, wo Wyatt Earp in einem Zusammenspiel mehrerer Situationen handelt. Da ist Doc Holliday, der sich wandelt. Es besteht eine Vergänglichkeit, eine zeitliche Bestimmung, durch die eine weitergetriebene Psychologie gerechtfertigt wird.

Wir könnten genau so gut über die Psychologie der Personen im "Panzerkreuzer Potemkin" sprechen. Diese Personen sind wahr, sie existieren. Aber die Situation stellt nicht das Problem, sie (die Leute) zu analysieren. Man analysiert lediglich eine Situation: die Revolte der Seeleute auf dem Panzerschiff Potemkin. Die Offiziere handeln dabei wie imperialistische Offiziere, die Seeleute wie Revolutionäre. Das ist alles. Es gibt keine Psychologie, weil kein Grund vorhanden ist. Für eine psychologische Analyse ist eine Zeitdauer erforderlich. Der Western heute, oder ein Teil der Western - denn ich schliesse mich Ihrer Auffassung an - ist dem Gedicht vergleichbar. Es ist das lyrische Übertreiben, die lyrische Begeisterung an einer Bewegung. Es liegt kein Grund vor, mehr zu tun. Die lyrische Begeisterung ist immer gültig. Man kann die Schönheit der Landschaft des "far west", die heroische Geste der Pioniere immer wieder besingen und herrliche Poeme anfertigen. Das alles ist frei von jeder Notwendigkeit einer psychologischen Analyse. Man kümmert sich hier mit vollem Recht nicht darum.

Frage: Sie meinen also, dass Ford dem Western die psychologische Situation gab, während spätere Filme dem Western psychologische Charaktere gaben? "Stagecoach" zeigt Personen in einer psychologischen Situation. Ist das richtig?

Mitry: Nein, nicht genau so. In "Stagecoach" ist keine exakte psychologische Situation vorhanden. Es ist eine dramatische Situation; aber die Helden sind authentische Charaktere. Es ist eine reale Typisierung, ein Typ, der schon menschliche Qualitäten besitzt.

Frage: Sie sagen nun, dass Ford seit "My Darling Clementine" für sein Niveau keinen besonders guten Film mehr gemacht hat. Ich glaube, dass "The Horse Soldiers" (Der letzte Befehl) aus dem Jahre 1958 nicht nur ein guter Film ist, sondern auch ein sehr guter Ford-Film.

Mitry: Ja, ich glaube, es ist ein guter Film. Aber für Ford-Niveau? Ich weiss nicht recht. Sie haben einige typische Fordsequenzen, aber doch zu wenige. Nehmen Sie "The Quiet Man" (Der Sieger). Mir gefällt der Film, aber es ist der Stil, der mir zusagt, die starke Dichte in Zeit und Raum. Aber Ford hat absolut keinen Sinn für die Entwicklung der Zeit bewiesen, vielleicht mit Ausnahme von "Clementine". Doch auch hier ist die Zeit nicht sehr lang. Alle Filme Fords, die sich über eine längere Zeitspanne hinziehen, sind nicht gerade schlechte Filme; aber sie sind nicht besonders typisch und auch nicht besonders gut. Nehmen sie "The Searchers" (Der schwarze Falke). Herrliche Sequenzen, dazwischen wieder nichts als die Ebenen im Winter, viel Schnee, viel Blumen etc. Das ist Kino von vor 20 oder 40 Jahren. Ford hat kein Gefühl für die Zeit. Dasselbe in "How Green was my Valley" (So grün war mein Tal).

Ford ist ohne Zeit und ohne Raum gut. Ich glaube, dass ich das wiederholen kann, was ich in meinem Buch schrieb - und ich hoffe, ich habe recht damit -: in seinen besten Filmen war Raum ohne Raum. In "Stagecoach", "The Long Voyage Home" (Eine lange Reise) und "The Grapes of Wrath" (Früchte des Zorns) haben sie keinen ,Raum'. In "Stagecoach" ist es eine Kutsche, in "Long Voyage" ein Schiff, in "Grapes of Wrath" ein Lastwagen. Alles ein sehr kleiner Raum, der sich durch einen grossen Raum bewegt. Und dieser grosse Raum ist ein einziger schöner Dekor, während das Universum des Dramas jeweils der kleine Raum ist. Das ist für mich der sehr gute Ford-Film. Alle seine anderen Filme haben keine Dichte.

Frage: Was halten Sie von anderen Westernregisseuren? Ist dort jemand, der das Format von Ford haben könnte?

Mitry: Das ist für mich sehr schwer zu sagen. Ich sage automatisch Anthony Mann, Nicholas Ray und Budd Boetticher. Besonders nennen kann ich keinen. Sie haben alle sehr gute Filme gedreht.

Frage: Aber keinen Ford?

Mitry: Ich glaube kaum. Ich kann allerdings nicht voraussagen, was sie in den nächsten Jahren machen werden. Ich vermute, dass es einige gute Filme sein werden. Aber ich kann noch nicht ein Universum, eine Einheit in ihren Filmen sehen, wie ich das in den besten Ford-Filmen kann. Vielleicht haben sie es, aber ich kann es nicht sehen. Ich brauche 10 oder 20 Filme, um zu vergleichen. Mir gefällt Budd Boettichers "Seven Men from Now" (Der 7. ist dran!) sehr gut. Ein wundervoller Western.

Frage: Halten Sie einen Film wie "High Noon" für einen grossen Western?

Mitry: "High Noon"? Ich dachte das niemals. Ich war damals sehr überrascht. Jeder sprach über "High Noon". Herrlicher Film! Meisterwerk! Wieso? Wo ist ein Meisterwerk? Es ist ein guter Film, interessant, weil die zwei Stunden des Films die zwei Stunden der Vorführung sind. Das ist eine zu schätzende Qualität, aber keine Offenbarung, keine Entdeckung. Es gibt einige Filme, die das haben. Das ist gut. Drehbuch und Thema sind gut - aber das ist noch kein Meisterwerk!

Ein grosser Film für mich, ein Western, der mir sehr gefällt: das ist "Rio Bravo".

Alle neuen Kritiker behaupten nun, "High Noon" ist nichts, ist ,Mist'. Aber nein! Was ich in der Kritik sehr amüsant finde, das sind die Irrtümer. Ein Film ist für sie ein Meisterwerk, oder nichts. Denken Sie an "Brief Encounter" (Begegnung). Vor fünfzehn Jahren: ein Meisterwerk! Heute: nichts! Das stimmt nicht! Es ist ein guter Film wie auch "High Noon". Es wäre gut, wenn wir jeden Tag einen Film wie "High Noon" sehen könnten.

Frage: Welches sind für Sie, abschliessend, die grossen Western der letzten Jahre?

Mitry: Mir gefällt "Shane". Es ist kein Meisterwerk, aber ein guter Film. Viele junge Kritiker halten ihn für einen herrlichen Film. So wundervoll ist er wieder nicht. Aber er ist gut, wie auch "Giant" (Giganten) des gleichen Regisseurs. "Giant" ist vielleicht eine Sequenz zu lang.

Aber wissen Sie, das einzige Meisterwerk auf dem Gebiet des Western, das ich seit John Hustons "The Treasure of the Sierra Madre" (Schatz der Sierra Madre) sah, ist "Rio Bravo". "Shane" und "Giant" sind gute Filme. Vielleicht noch am ehesten ein Meisterwerk: Budd Boettichers "Seven Men from Now". Auf jeden Fall ein ausgezeichneter Film, dem nicht viel zum Meisterwerk fehlt. Aber ich kann nur wiederholen: "Rio Bravo" ist ein ganz grosser Film, der beste Western der letzten Jahre.
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KRITIK I
Zur Position der konventionellen Filmkritik

[Zur Position der linken Filmkritik Heft 38 ; siehe auch spezielle Erwähnung ]

_... Kamerad Kritiker: betrachte die Kunst heiter! Sei ein guter Übersetzer des Geschaffenen für die Betrachtenden! Lenke den Zuschauer vom Nichtgeglückten weg auf das, was gewollt war! So erziehst Du den Filmschaffenden und gibst den Nehmenden mehr, als vorhanden ist. Das Wollen ist oft gut, das handwerkliche Können auch; aber der Geist ist noch - jung. Doch die Zeit ist wach und hell und duldet weder Schwaches noch Schlechtes. Aber weise und gütige Helfer, die ein grosses Herz haben, einen tiefen Verstand und - Liebe zu den Menschen - sind selten. Sei Du einer von diesen!       Fritz Gentschow (Schauspieler und Regisseur; abgedruckt in: Licht-Bild-Bühne vom 23. März 1939, zit. nach: Kurt Wortig: "Der Film in der deutschen Tageszeitung" - Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt/Main 1940; S.94 (Künftig abgekürzt: ^KW)

I

Wo der Kritiker im Befehlston als Kamerad angesprochen wird, ist Kritik auf die Ebene der Kameraderie herabgesunken; der noch junge Geist, dem vieles nicht glücken will, der weder Schwaches noch Schlechtes duldet, denunziert seine imperativische Freundlichkeit als Brutalität; legt seine Helle, in einer so wachen Zeit, als finsterste Barbarei bloss; hier erscheinen Chaos und Vernichtung, Lidice [mittels HTML leider ohne Haschek] und Treblinka, Mord und Grausamkeit antizipiert; der weise und gütige Helfer Kritiker, mit seinem grossen Herzen, die Kritik, in Stiefeln, Uniform und im Gleichschritt, werden zu Handlanger des Todes und der Ausrottung.

II

Das Zitat spiegelt die zur Kunstbetrachtung verkommene Position der Kritik. "Früher eine Domäne jüdischer und marxistischer Intellektualität" ("Der Film", die illustrierte Wochenschrift, vereinigt mit "Reichsfilmblatt" 21. Jahrgang Nr. 48 vom 28. November 1936, S. 1.), wurde diese mit Erlass vom 27. November 1936 verboten; ("Wir haben kein Mittel unversucht gelassen, die Kunstkritik auf den einzig richtigen Weg der Kunstbetrachtung zurückzuführen und ihr damit die Möglichkeit einer weiteren Existenz in die Hand zu geben. Alle diese Versuche sind fehlgeschlagen. Man hat manchmal den Eindruck, dass die kritischen Komplexe schreibender Nörgler, die sich auf anderen Gebieten nicht mehr betätigen können, nun auf dem Gebiet der Kunst abreagiert werden sollen. Ihm muss rechtzeitig ein Riegel vorgeschoben werden. Ich habe mich deshalb veranlasst gesehen, in einem Erlass vom heutigen Tage die Kritik überhaupt zu verbieten und sie durch die Kunstbetrachtung oder Kunstbeschreibung ersetzen zu lassen." Goebbels in einer Rede zum "Kunstbetrachtererlass", am 27. November 1936 in der Philharmonie in Berlin.) mit ministerieller Legitimation liquidiert, wie wenig später ihre Vertreter.

Das herrschende Regime, das sich seiner Irrationalität öffentlich Beifall zollen liess, stolz war auf seine Inkohärenz und intellektuelle Nichtigkeit, fürchtete mit Recht die analytische Reflexion, deren Schrecken für die Staatslenkung mit Knüppel und Peitsche; Furcht und Schrecken und Gewalt lösten das Problem, machten den Weg frei für die beschaulichfreundliche Kunstbetrachtung, in der nicht verändernde Kritik, sondern affirmative Beschreibung zuhause war. In praxi standen für Betrachtung Hass, Beeinflussung, Hetze und der Totschlag mit Worten; die "Kunstbetrachtungen" zu "Jud Süss", "Die Rothschilds" und "Der ewige Jude" sind Beispiele dafür.

Das OFFENE JA zu den "kulturellen Fragen des Volkes und der Gemeinschaft" wurde angestrebt, Bestätigung und Anerkennung für den Film, der das Regime anerkannte und bestätigte. Das Vokabular decouvriert diese Intentionen: Kultur wurde kaserniert, "verwaltet", "eingesetzt" und "durchgeführt"; die "Kulturkammer verordnet Erlasse", deren "Betreff" die Subordination war; die Knute der Syntax regierte: "Ich ordne daher an"_... in Zukunft ist, _... hat zu _... muss ("Anordnung betreffs Kunstkritik" vom 27. November 1936; abgedruckt in: "Film-Handbuch der Reichsfilmkammer" unter der Nummer VA 16.); die Postulate der Zeit sind: "Respekt", "Achtung", "Takt", "anständige Gesinnung". ("Der künftige Kunstbericht setzt die Achtung vor dem künstlerischen Schaffen und der schöpferischen Leistung voraus. Er verlangt Bildung, Takt, anständige Gesinnung und Respekt vor dem künstlerischen Wollen." Abdruck: "Handbuch der Reichsfilmkammer")

Die Kritiker, die Betroffenen also, denen ihre Arbeit unmöglich gemacht wurde, retteten sich in den Kotau, sofern sie den Ariernachweis erbringen konnten und das vorgeschriebene Mindestalter von 30 Jahren erreicht hatten. ("Da Beschäftigung mit künstlerischen Leistungen eine gewisse Lebenserfahrung und Lebensreife bedingt, müssen Kunstschriftleiter mindestens dreissig Jahre alt sein." Abdruck: "Handbuch der Reichsfilmkammer")

Über die Bereitschaft, mit der die Mehrheit der Kritikerprominenz sich zur Kunstbetrachterprominenz mutieren liess können alle geheimen Reservationen nicht hinwegtäuschen, mit denen dieselben Herren heute ihre Geschicklichkeit lauthals als Apologie vorweisen; wer damals "zwischen den Zeilen zu schreiben verstand", kann es auch heute noch; mit dem Unterschied, dass er heute zwischen den Zeilen schreibt, was er damals i n ihnen proklamierte.

III

Die Kritik als Funktion im Staate war im gutfunktionierenden Nazistaat unerwünscht. Das generelle Unbehagen der Gesellschaft an der Kritik konnte, nach deren Liquidation, verdrängten Hass freisetzen, Ressentiment und Bereitwilligkeit zum Totschlagen gegenüber den Kritikern.

Kritik, undialektisch begriffen als Abstraktum, versehen mit den Epitheta "zersetzend" und "negativ", ist ohnehin wesen- und funktionslos; dem Bewusstsein der Gesellschaft waren diese Schlagworte so eingehämmert, dazu mit Beifall rezipiert worden, dass ein Verschwinden der Kritik kaum auffiel. Die Kunstbetrachter wurden mit der gleichen Interesselosigkeit akklamiert, mit der man die Kritiker diffamiert hatte.

Kurt Wortig schreibt zur Definition des Kunstbetrachters: "Der Filmkunstbetrachter soll der Treuhänder des Kinopublikums und der Leserschaft der betreffenden Tageszeitung sein. In dieser Mission hat er den Film seiner jeweiligen Gattung nach zu prüfen, ob er seiner Kategorie gerecht wird oder nicht. Diese Aufgabe des Filmbetrachters muss kompromisslos geschehen, weil der Filmkritiker mit dem Glauben steht und fällt, den er beim Leser erweckt". (Schriftenreihe des Instituts für Zeitungswissenschaften an der Universität Berlin. ^KW. - Siehe dazu auch: Ewald Sattig: "Die deutsche Filmpresse" - Inaugural-Dissertation 1937. Druck von Brehmer & Minuth, Breslau 2. - Dr. Ilse Böttcher: "Film und Tageszeitung" Band 9 der Reihe: Wesen und Wirkung der Publizistik - Arbeiten über die Volksbeeinflussung und geistige Volksführung aller Zeiten und Völker. - Universitätsverlag von Robert Noske, Leipzig 1937. - Fritz Olimsky: "Tendenzen der Filmwirtschaft und deren Auswirkung auf die Filmpresse" Inaugural-Dissertation, Druck von: Berliner Börsen-Zeitung G.m.b.H., Berlin 1931.)

Deutlicher lässt sich das kontemplative Moment, das dem "Betrachten" innewohnt, nicht fassen. Die Position des Kunstbetrachters ist die des starren Gegenübers, der als Teil der Gesellschaft ein Produkt der Gesellschaft zu rubrizieren hat; Argumente, künstlerische oder ästhetische Massstäbe kritischer Art, sind unerwünscht. Schwächen sind zu übersehen, das "Wollen" ist entscheidend und der Stellenwert, der diesem in bezug auf die "Gemeinschaft" und das "grosse Ganze" zukommt. Ist der Film im Sinne des Nationalsozialismus erzieherisch wertvoll, so ist er gut. Darüberhinaus soll nicht gedeutelt werden.

Der verdinglichte Begriff von "Filmkunst", der geronnen ist zur Negierung von Kunst überhaupt, macht deutlich, warum während des Nationalsozialismus kein einziges Kunstwerk entstanden ist. ("Einbezogen in das umfassende Geschehnis und in den Strom der Zeit, setzt der deutsche Film seine Arbeit fort, wird er schaffen und wirken, unablässig und unbeirrbar, getreu seinem Ziel, an den kulturellen Aufgaben der Menschheit mitzuarbeiten und Kunde zu geben vom Geist der Deutschen _... Wo ist Kunst, die trächtiger über Tag und Scholle reichte, wo eine Kunst, die heute wie vor allen Jahrhunderten der Welt freudiger geöffnet war?" Abdruck: "Der Film" 21. Jahrgang Nr. 52, 24. Dezember 1936; Hauptschriftleiter Hans Walther Betz.)

IV

Die Provinzialität solchen Denkens, die verrottete Kleinbürgerlichkeit, der Muff abgestandener Mythen, besitzen die Evidenz des Beweises; hier ist "Kunst" ideologisierter Annex der Gesellschaft, begnügt sich mit ihrer "Aussage", ihrer "Sendung". ("Es kommt darauf an, dass man den Film wertet als das, was er wirklich ist und nicht nach dem, was er sein möchte, oder vorgibt, zu sein." ^KW S. 77.)

Die Konvention, das Überkommene, Rückschrittliche, werden angereichert mit unreflektiert Übernommenem und ergeben so, notwendigerweise, Konventionalität. Ein über sich selbst Hinausweisendes, ein projektives Moment, das jeder Kritik innewohnen muss, in der das Kritisierte mit der Kritik verschmilzt und sich so verändert, gibt es nicht; dafür stehen Reproduktion, ahistorisches, unzusammenhängendes Denken, betonend nur das, was der Beeinflussung und der Ausrichtung dient.

V

Der Weg von der Kritik zur Kunstbetrachtung konnte mit Terror und Gewalt erfolgreich gebahnt werden, wobei die Kritiker von Fall zu Fall den Staatsaktionen entgegenkamen; als der Nationalsozialismus zerstört worden war, gab es keine Kritik mehr. Die Korruption der Massstäbe hatte dazu geführt, Massstäbe der Korruption anzulegen; es bleibt zu untersuchen, ob und wieweit eine Änderung eingetreten ist, nachdem die Notwendigkeit, Kunst zu betrachten, der Möglichkeit, sie zu kritisieren, Platz gemacht hatte.

VI

Wenn das Vorhandensein von Kritik an dem Range gemessen werden kann, den sie im Bewusstsein der Gesellschaft besitzt, an dem Platz, den sie in Diskussionen einnimmt, so ist zweifellos ihre Existenz bei uns eher eine negative; Staat und Gesellschaft werden als Zustand akzeptiert, stehen jenseits der Reflexion und damit der Kritik. Die Anerkennung, deren Korrelat die vorausgegangene Kritik sein sollte, steht vor dieser und verhindert sie. Der Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse, der in einem realen Gegensatz zur approbierten Gesellschaft steht, wird aufgehoben durch die Bequemlichkeit, die als fait accompli nimmt, was zu vollenden und zu verändern ist. Der Staat, der durch seine sedimentierte Politik Zustimmung postuliert, lässt das "Ist-gut" als einzige Alternative erscheinen.

Die Filme, die eine Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse versuchen, werden mit Monotonie als übertrieben und falsch, ihre Regisseure als "links" und "subversiv" bezeichnet. Kritik ruft je und je bei uns die Hüter der hygienisch-staubfreien Ordnung auf den Plan, deren grösster Schrecken der Widerspruch ist; Widerspruch aber wird aus sich selbst heraus von der Gesellschaft vernichtet, obgleich sie selbst antithetisch zur Politik steht, die mit ihr betrieben wird.

VII

Das ist die Atmosphäre, in der Kritik existieren soll; das Ergebnis ist entsprechend. Während in Frankreich, England und den USA die Reflexionen über die Filmkritik seit einigen Jahren im Gange sind; während dort versucht wird, Massstäbe, Positionen und Möglichkeiten zu erarbeiten und sichtbar werden zu lassen, wird hierzulande mit Phrasen operiert, werden Gemeinplätze in die Diskussion eingebracht, die zum Teil sehr deutlich ihre Provenienz verraten. (Als Beispiele seien genannt: "Film Quarterly" (USA), Spring 1961, S. 19 ff: "Towards an objective Film Criticism" - "Sight and Sound" (England), Autumn 1958, S. 271 ff: "The critical Issue" - Autumn 1960, S. 160 ff: "The critical Question" - Spring 1962, S. 56 ff: "Is there a eure for Film Criticism?" - Cahiers du Cinéma 126, Dezember 1961 Sondernummer Filmkritik. In der BRD als einzige Ausnahme: "Filmkritik" 3/61, S. 131 ff: "Gibt es eine linke Kritik?") In einer Dissertation, die per definitionem kritisch sein sollte, befinden sich folgende Begriffsbestimmungen:

"Durch die Kritik soll ein gerechtes, vornehmes und sachliches Urteil abgegeben werden, ein Urteil, das den Mut nicht raubt, Ehrfurcht vor der Leistung zeigt, das nicht abschliesst, sondern anregt. Nachsicht soll geübt werden, wo sie den Umständen entspricht." (Hans Joachim Kliesch: "Die Film- und Theaterkritik im NS-Staat" Inaugural Dissertation 1957 - hektographiertes Handexemplar, S. 11.) Der Autor, der über den Zustand der Kritik in der nationalsozialistischen Zeit schreibt, verrät sich durch seinen Wortschatz, befindet sich auf einer Ebene mit dem "Erlass betreffs Kunstkritik". Argumente, mit denen Kritik vor sich selbst legitimiert wird, fehlen; die Definition gibt preis, was der Autor verheimlichen möchte: seine rancune gegenüber der Kritik. Die Kaschierung fällt, wenn er definiert, was unter Kunstbetrachtung zu verstehen sei: "Das Wort Kunstbetrachtung besagt, dass in der ruhigen Form des Betrachtens der Respekt vor dem Schöpferischen zum Ausdruck kommen soll, ein sich beschäftigen mit dem Werk und den Darstellungen. Lob und Widerspruch haben nur dann für das betreffende Werk und seine Mittler eine Bedeutung, wenn in beidem Mass gehalten wird. Dienen und überzeugen soll der reproduzierende Künstler. Dienen und überzeugen soll auch der Kunstbetrachter. Seine Mission ist Dienst am aufbauenden Geist, Dienst am Werk, Dienst am Individuellen. (Hans Joachim Kliesch: "Die Film- und Theaterkritik im NS-Staat" Inaugural Dissertation 1957 - hektographiertes Handexemplar)

Das Ideal also ist die Kunstbetrachtung, sie ist aufbauend; immerhin gibt diese Betrachtensweise wieder, wie in einer wissenschaftlichen Arbeit, kritisch also, über Kritik gedacht und geschrieben wird.

VIII

Dagegenzustellen ist die Definition, die im "Kleinen Filmlexikon" gegeben wird: "Beurteilung eines Films von künstlerischen, technischen, soziologischen, psychologischen, weltanschaulichen Gesichtspunkten aus. Filmkritik umfasst Form und Inhalt des Films _... Die Filmkritik muss _... aufzeigen und untersuchen, welches die wesentlichen, aus der Filmtechnik hervorgehenden Ausdrucks- und Gestaltungsmittel sind, wie diese in dem zu beurteilenden Film angewendet und welcher Inhalt damit ausgedrückt wurde". (Charles Reinert: Kleines Filmlexikon S. 197, Verlagsanstalt Benzinger & Co. A.G., Einsiedeln/Zürich, 2. Auflage 1946.) Das "Kleine Filmlexikon" ist ein Handbuch, das jeder Filmkritiker besitzen sollte; dennoch kommt es bei ihnen zu Bestimmungen wie dieser: "Der Filmkritiker bleibt auf seinen Geschmack, sein Gefühl, sein Wissen, kurzum auf das Echo angewiesen, das ein Film in seinem Inneren weckt". ("Stuttgarter Zeitung" vom 30. Mai 1958 "Müssen Filmkritiker so sein?") Erwin Goelz ist einer der führenden Filmkritiker der Bundesrepublik, und er hat diesen Satz geschrieben. Kein Einzelfall; ähnliches findet sich in fast allen Aufsätzen, die von "konventionellen" Kritikern über dieses Sujet geschrieben werden. (Der bereits genannte Kurt Wortig hat in einer Veröffentlichung von 1961: Ihre Hoheit Lieschen Müller - Hof und Hinterhofgespräche um Film und Fernsehen - Kreisselmeier Verlag München-Icking 1961 geschrieben: "Zu den Tugenden des Kritikers gehört der Mut sich auch gegen das Publikum wenden zu können, um zu dessen erfolgreichen Erzieher und Bildner seines Geschmacks zu werden." Auch hierin kommt die völlige Inkomensurabilität zum Ausdruck, aus der Kritiker tatsächlich Methode und Massstäbe beziehen.)

Diese Betrachtensweise, die wir als "konventionell" bezeichnen, ist die hier vorherrschende; sie gibt Impressionen, Notizen und apodiktische Urteile über einen Film, ohne Beweise, die über die blossen "Geschmacksurteile" hinausgehen. Sie leugnet die Entwicklung mit ihrer Widersprüchlichkeit, hängt tradionalistischen Kategorien der Beurteilung an, entbindet den Film jeglicher sozialpolitischen Funktion, die über die blosser Unterhaltung oder "Erziehung" in ihr Recht einzusetzen wäre. Inhalt und Form stehen in keiner Wechselbeziehung, sondern nur nebeneinander. (Die schon angeführte Zeitschrift "Filmkritik" - die einzige beachtenswerte Filmzeitschrift mit weiterer Verbreitung - gibt in dem Artikel 3/61, S. 131 einen Katalog, der synoptisch eine Gegenüberstellung dessen bietet, was unter "konventioneller" und "linker" Filmkritik zu verstehen sei; obgleich diese katalogische Aufstellung notwendig eine Simplifikation miteinschliesst, bietet sie diskutierbare Charakteristika.

In extremen Fällen führt diese Auffassung zu der im höchsten Masse unkritischen Position, dass ein formal brillanter Film nur der Form wegen gepriesen wird, wogegen auf den Inhalt nicht reflektiert werden kann, da er sich diesem ästhetisierenden Zugriff entzieht; der so eingenommene Standpunkt siedelt in den Sphären totaler Beziehungslosigkeit zur Realität, wird zur Irrationalität per se; alle latenten Strömungen innerhalb des Films bleiben verborgen, denn das, was der Regisseur ausgedrückt hat, wird gleichgesetzt mit dem, was er möglicherweise ausdrücken wollte. Ein missratener Film ist für diese Filmbetrachter nur der ästhetisch missratene, die versteckten Ideologien bleiben versteckt, da der Schlüssel zu ihnen ausserhalb der applizierten Massstäbe liegt. Den Beleg für die hier getroffene Feststellung liefert eine Untersuchung, die in ihrer statistischen Unbestechlichkeit Material äusserster Klarheit aufschliesst.

IX

Die Analyse der westdeutschen Tagespresse eines bestimmten Tages reproduziert folgende Situation:
Filmbesprechungen 73,9 %
Filmkurzbesprechungen 24,3 %
Filmkritiken 1,8 %

("Untersuchung der gesamten westdeutschen Tagespresse des 4. Dezembers 1954 am Institut für Publizistik der Universität Münster". Das Erscheinungsbild ist nach acht Jahren unverändert; zumindest ist keine Verbesserung zu notieren.
Nur 1,8 Prozent der vorgefundenen Texte, die sich mit dem Film beschäftigen, können als Kritik angesehen werden; enthalten analytischargumentierende Momente, untersuchen Strukturen und zeigen die Strömungen auf, die den Film beherrschen. Die Majorität des zur Verfügung stehenden Materials referiert lediglich den Inhalt, benennt die Akteure und füllt den Rest der Zeilen mit allgemeinem Geschwätz, das in den Kreisen der Filmbesprecher Zeichen des Sachverstands und der tiefen Kenntnis der Materie ist: die etablierte Phrase beherrscht den Raum, der mit kritischer Analyse ausgefüllt werden sollte. Appelliert wird an den Leser, der als Zuschauer im Kino konsumiert, der schluckt, was ihm aufstossen sollte, der "es nicht anders will, als es ist", aber nur, weil es ihm nie anders vorgeführt wurde: so wie es auch sein könnte. ("Die Filmkritiker sollten, wenn sie Gefühl für Umwelt und Echtheit haben, mehr Filme in den Vorstädten anschauen. Sie würden toleranter, milder und verlören viel von ihrer Nervosität: Wo bleibt die Filmkunst? Her mit der Filmkunst! Die in den Vorstädten freuen sich ja noch erst darüber, dass sie etwas sehen, was ausserhalb ihres Tages liegt. Und - ehrlich und deutlich gesagt - das WAS ist doch noch immer ziemlich wurscht!" Jürgen von Hollander, zit. nach: "Ihre Hoheit Lieschen Müller" S. 99.

Die scheinbare Lückenlosigkeit im Wunschpanorama des Zuschauers ist ein minuziöses Detail unserer Gesellschaft: die Problematik ihres Wesens wird durch die Akzente, die der Filmrezensent in seine Zeilen einbringt, zur problemlosen Verdinglichung ihrer Produkte; es triumphieren Konsum und dezente Fälschung, zu deren Vollkommenheit der Konkurs künstlerischer Produkte herhalten muss; ohne Umschweife ist der Zustand des deutschen Films in seiner provinziellen Unerheblichkeit dafür Beweis.

Weitere Schlüsse der zitierten Untersuchung zieht Manfred Rohde, der die implizite Wertung, das vorfabrizierte Urteil aufdeckt, das diesen "Filmbesprechungen" eigen ist. ("Die Untersuchung der Beurteilung der Filme ergab an positiv beurteilten Filmen 93,5 Prozent, während nur 6,5 Prozent der Filme negativ beurteilt wurden. Hierzu muss gesagt werden, dass auch Filme, deren Inhalt wiedergegeben war, als positiv beurteilt galten, weil der Leser diesen Schilderungen nichts Negatives entnehmen kann, also der Eindruck entstehen muss, dass den Filmen Mängel nicht nachzusagen sind, dass diese Zahlen ein falsches Bild von der Güte der in der Bundesrepublik gezeigten Filme zeichnen, dass hier also eine offensichtliche Verkehrung des Werturteils, ja man kann sagen, eine bewusste Fälschung der Realitäten vorliegen muss, leuchtet ein." Manfred Rohde: "Echte Filmkritik eine Seltenheit" in: "Presse und Film über Film und Presse" - Der "Neue Film", Verlagsgesellschaft Feldt & Co., Wiesbaden-Biebrich 1956.)

Das gleiche Phänomen erarbeitet Enzensberger für einen anderen Sektor der Presse - für den der Politik -, wo er von "Journalismus als Eiertanz" spricht. (Enzensberger weist an Hand der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach, das Fälschung und Lüge in der Information nicht durch erweisliche Lügen erreicht werden, sondern durch geschickte Manipulationen der Wahrheit und der Tatsachen; die Provinzialität - und damit die Rückschrittlichkeit und Konventinalität - der Presse zeigen sich vielmehr in der gekonnten Auslassung, der Verschleierung des tatsächlichen Details, als in der bewussten und prononziert vorgetragenen Verzerrung der Wahrheit. - Ein Ergebnis, dass sowohl die Beschränktheit, als auch die Rückständigkeit unserer Presse artikuliert. Woraus folgt, dass es in der BRD tatsächlich keine Zeitung von WELTGELTUNG gibt - und somit notwendig auch keine Filmkritik der Tagespresse von international diskutierbarem Format. Das Fazit ist: lokal-nationalbeschränktes Eiertanzen mit Schielen nach Geltung und Rang. - Hans Magnus Enzensberger: EINZELHEITEN, S. 16 ff. - Suhrkamp 1962 Frankfurt/Main.)
Das Ergebnis ist für unsere Darstellung gleichermassen anwendbar: der beste Filmzuschauer ist der subordinante, dessen Denken aufhört, wo die handfesten Interessen der Obrigkeit und des Kommerzes anfangen; der in der Weit der schönen Träume und der Lüge lebt, in die er hineinerzogen wird; der nicht daraus aufwachen soll, damit er nicht erkennt, was ihm erfolgreich vorenthalten wird: die hässliche Realität, in der er Objekt des Betruges und Konsument der Betrügereien ist. Weil die Gesellschaft die Kritik nicht überstünde, wird diese aus dem Vokabular gestrichen, das nur noch für das allgemeingültige Gerede taugt; die Folgen sind evident: Sterilität, Stagnation und Rückschrittlichkeit. Der deutsche Film legt Zeugnis dafür ab, als Teilaspekt dieses Zustands mit besonderer Deutlichkeit. So ist die Differenz zwischen dem, was war und dem, was ist - zwischen "Filmbetrachtung" und "Filmbesprechung" - gar nicht relevant; der Grundgestus beider Typen ist der kontemplativer Zustimmung oder Ablehnung; beide Prägungen werden deckungsgleich, wenn man bedenkt, dass JA oder NEIN völlig gleichgültig geworden sind, wo die intellektuelle Dichte und Klarheit null und nichtig sind: in Wahrheit liegt ein Typ vor, der sich in seiner Tendenz und Originalität aus sich selbst einer Differenzierung widersetzt. Die Identität des Standpunktes lässt eine Fixierung auf Nuancen nicht zu, wo auf Nuancen kein Wert gelegt wird; wo jeder Film mit gleichen Mitteln angesprungen wird, kann es nicht zu Abweichungen kommen, die auf die Qualität des Films schliessen lassen. Was allenfalls erreicht wird, ist Skepsis, unfruchtbares peut-être, dem der Stachel fehlt, weil die skeptische Haltung konsequenzlos ist: sie kommt nicht zum Tragen, da sie nur die Möglichkeit des "vielleicht auch so" einbekennt - nichts mehr. Wo der "gemeinsame Nenner" als Arbeitsmethode regiert, gibt es kein Teilen nach Qualität mehr. Das Gleichmachen nimmt die Ausrichtung vorweg, deren Prinzipien gemäss der Zuschauer auch und gerade in seiner Freizeit manipuliert werden soll.

XI

Einer der besten Filme der letzten Jahre, dem die internationale Filmkritik seinen Rang in argumentierenden Kritiken zugemessen hat, ist in der deutschen Tagespresse durchgefallen. Betrachtet man die Besprechungen dieses Films genau, so lässt sich ein Charakteristikum der "Filmbetrachtung" wiederfinden, das dieser Betrachtensweise als Methode das Urteil spricht: sie ist auf Inhalt und Handlung im konventionellen Sinne angewiesen, ohne die sie nicht auskommt. Fehlen Handlung und Geschehen, die sich deskriptiv wiedergeben lassen, so versagen die Mittel, die zur Verfügung stehen, vollkommen. Daher insistieren die Betrachter dieses Films nachdrücklich auf der Tatsache, dass dieser Film keine Handlung habe, versuchen dann aber, da sie etwas produzieren müssen, noch das Fehlen der für ihre Schreibereien essentiellen Bedingungen kontemplativ in den Griff zu bekommen; so wird der Film "HIROSHIMA - MON AMOUR" zum Prüfstein, an dem die betrachtende Filmbesprechung scheitern muss. Eingeschliffen auf die provinziellen Produkte der einheimischen Filmwirtschaft, versagt sich diesen "Rezensenten" der Film, der sui generis eine Kritik verlangt.

XII

Gewöhnt, Handlung wiederzugeben, Impressionen zu vermitteln, sehen sich die Rezensenten der Tagespresse nach Verlassen von HIROSHIMA - MON AMOUR düpiert; wo anfangen, womit, an welchem Punkt des Films? "Hiroshima aber - das ist aufgesetzt, nicht verwirklicht, in der guten Absicht steckengeblieben. Der Schluss entlarvt denn auch die gewaltsame Konstruktion: nun, da es vor dem Abschied zu einer Handlung kommen müsste, fehlt die Dynamik; der hochgestochene, poetisch gemeinte Dialog, wird dünn, unerträglich." (Paul Schallück in: "aufwärts", Köln 2. 5. 1960 - Das "MÜSSTE" ist von mir hervorgehoben, um deutlich zu machen, wie hypertrophiert die Sucht geworden ist, eine Handlung um jeden Preis, zumindest um den des Filmes, wahrzunehmen. Da diese fehlt, ist das Urteil über den Film präformiert, liegt seine Begründung vor der Rezension.)

Klar geworden zu sein scheinen zwei Elemente: die Bombe, die über Hiroshima abgeworfen worden war, und die Liebe, mit der die Französin und der Japaner die depressive Vergangenheit zu filtern versuchen; die Liebe zueinander ist amoralisch, da beide verheiratet sind. Mit diesen Erkenntnissen beginnen die Filmbesprecher zu schreiben; der Anspruch, mit dem sie ihre "Aussagen" in die Zeitungsspalten einrücken lassen, rettet die Lächerlichkeiten wenigstens für die Komik. "Dieser ist Frankreichs Beitrag zum Geophysikalischen Jahr. Richtig verstanden. Ein wahres Unglück für alle, die an der Kernkraft vorbeipreschen möchten". (Helmuth de Haas in: "Jahrbuch der Filmkritik II" S. 43) So wird Hiroshima interpretiert, in den Dienst internationaler Forschung gestellt, wozu es allenfalls noch herzuhalten scheint; oder die Liebe, eher deren Unmöglichkeit: "Kriegsrecht unterdrückt die Sprache des Herzens, aber der Wind der Liebe weht, wohin er will" - das tut der Wind der Liebe in einer seriösen Zeitung, die sich für die bedeutendste Deutschlands hält in einer Rezension, die sachgerecht sein soll (Martin Ruppert in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, zitiert nach: "Jahrbuch der Filmkritik II" S. 178-179; - Diese meteorologische Beobachtung steht nicht allein; der "Wind der Liebe" wird mit seinem leeren Pathos vielen Filmen aufoktroyiert.) Kaum anders stellt sich das in einer zweiten grossen Zeitung dar: "Dies alles ist Aufschrei, Beschwörung, Flehen um Frieden, wilder Protest gegen jegliche moralische oder politische Intoleranz, ein mutiger Kreuzzug, aber kein gelungener, kein gerundeter Film". (Ingeborg Brandt in: DIE WELT, Essen, 2.6.1959) Hier ist Wertung angeschlossen, ohne vorher begründet worden zu sein; sie ist Appendix, durch nichts legitimiert, wenn man solches nicht als Legitimation ansehen will:" _... neben vollkommenen, von einem schönen Gesicht unterstützten Augenblicken serviert sie (Emmanuele Riva) lange Passagen, in denen sie effekthörig wie in einen Spiegel spricht und hie und da sogar in eine bierkippende Bardamenmimik abrutscht". (Ingeborg Brandt in: DIE WELT, Essen, 2.6.1959) Alles erscheint den Rezensenten unmotiviert, da sie nicht in der Lage sind, Details zu bestimmen, ihnen eine filmische Bedeutung zuzumessen. Die Adjektive, deren emotionaler, superlativischer Gestus, verraten die Unfähigkeit, die sich mit Gemeinplätzen über Kameratechnik und Schnitt tarnt: "Sie (die Regie) hat in den faszinierenden Bilder-Grossaufnahmen voll praller Körperlichkeit, Panoramen des Grauens, Idylle der Liebe _... neue Bewusstseinsschichten der "Überlebenden" deutlich gemacht _... (Martin Ruppert in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, zitiert nach: "Jahrbuch der Filmkritik II") Die Jagd nach Inhaltspartikeln macht die Jäger blind für das Bild, das auf die Leinwand projiziert wird: pralle Körperlichkeit - wegen zweier Körper? Idylle - in der Flussniederung von Nevers, während überall faschistischer Terror herrscht? Substantiell werden diese Einzelheiten nur im Zusammenspiel, aus dem die isolierte Aufzählung sie herausbricht. Die Reihungstechnik, der Inhaltsangabe eng verwandt, ist Indiz der impressionistischen Pointierung ohne Pointen; an der und der Stelle erscheint es dem Rezensenten so und so; Kontinuität gibt es nur in der progressiven Verfälschung des Inhalts, der auf die Bilderebene heruntergekommen ist; an Stelle der kritischen Würdigung steht die Beschreibung bewegter Bilder. Was die professionellen Filmbeschreiber transparent werden lassen, ist ihre Rezeption des Films, nicht dessen Projektion; dadurch erwecken die Rezensionen den Eindruck, als habe der Schreiber zu Papier bringen wollen: Was-ich-mir-dachte-als-ich-Hiroshima-mon-amour-sah.

XIII

So kristallisiert sich eine charakteristische Attitüde heraus, die jene Filmbetrachtungen scharf von einer Filmkritik abschneidet: das Hineinnehmen persönlicher Ansichten, individueller Verhaltensweisen. Moralische, theologische und ethnologische Anmerkungen, die suggerieren, dass durch sie und mit ihnen über den Film hinausgegangen werde, zeigen die Unmöglichkeit, auf seiner Höhe zu bleiben. In Wirklichkeit bleiben alle diese Rezensenten weit hinter dem Film zurück; seine Entwicklung hat dessen Beschreiber hinter sich gelassen, indem sich die Filme der Beschreibung widersetzen. HIROSHIMA - MON AMOUR, der die Konvention verlassen hat, kann durch Konventionalität der Methode nicht in den Griff bekommen werden: daher denunzieren die folgenden Zitate das Unbehagen ihrer Urheber, deren Hilflosigkeit, gerade durch den Schwulst bombastischer Anmerkungen. Die Gelehrtheit ist hierbei nur der Schein kaum verhüllter Unfähigkeit.

"Marguerite Duras ist eine Mischung aus Marlitt, Faulkner und Hemingway, eine Autorin, der wohl Konflikte einfallen und packende Szenen gelingen, die aber der Synthese, des zwingenden Handlungsverlaufes, des richtigen Romanschlusses nicht fähig ist. (_...) Was von Marguerite Duras stammt, ist Edelkitsch. (_...) Die zum Solipsismus gesteigerte Menschenverachtung ist trostlos und ohne Ausweg, unfähig scheint die Heldin des Zuhörens, des Mitgefühls oder gar der Liebe, der Agape". (Franz Simeth in: "Deutsche Tagespost", Würzburg, 6. 5. 1960 -" Nevers und Hiroshima, die liberationsbesessenen Nationalisten und ehedem Preussen des Ostens, die Werfer und die Opfer der Bombe, können nimmermehr durch Aphrodite erlöst werden, wie es der Streifen mit seiner eklektischen und verwaschenen Ideologie predigen möchte, sondern nur durch die aus der Transzendenz genährte AGAPE.) Kein Wort in diesem Abschnitt über den Film: statt dessen angelesene Bildung, vermischt mit den Ansichten eines Agape-Sektierers; das Heil der Welt wird in Transzendenz gesucht: um diese Mitteilung zu machen, bedient sich der Verfasser eines Filmes, über den er dann, in concreto, kaum etwas zu sagen weiss. (Franz Simeth in: "Deutsche Tagespost", Würzburg, 6. 5. 1960)

Die contre-bande ausgelaugter und hybrider Ideologien befrachtet viele der Artikel, die über HIROSHIMA - MON AMOUR geschrieben worden sind; sogar unterschwellige Rassismen finden sich darin, kopuliert mit dem Phänomen der Liebe. (Geno Hartlaub in: "Sonntagsblatt", Hamburg, 8.5.1960 - "Auch fragt man nicht mehr, ob es psychologisch wahrscheinlich ist, dass sich ein Japaner aus Hiroshima so und nicht anders verhält (noch gibt es trotz der one-world-Theorie beachtliche Unterschiede zwischen Völkern und Rassen!)". - Hier sei auch auf eine andere Besprechung hingewiesen, die die moralischen Bedenken des Autors klar umrissen wiedergibt; die Einfallslosigkeit und der verkrampfte Witz sind Symptom allgemeiner Verworrenheit. "Morgens Haut, mittags Haut, abends Haut. Der ganze Film ist eigentlich Haut. (_...) Die Bildkomposition und die Bildstimmung sind hinreissend schön, aber auch das ist nur die Haut eines Filmes." Herrman Freudenberger in: "Nordsee Zeitung", Bremerhaven, 14.9.1960 - Deutlich wird hier auch - wovon schon oben die Rede war - wie Hinweise auf die Technik und Ordnung des Filmes nur Versatzstücke des Ressentiments und der Banalität sind.)

XIV

Die These hat sich bestätigt: dass FILMBETRACHTUNG von einst und FILMBESPRECHUNG von heute der Methode nach identisch sind; dass die konventionelle Form der Rezension untauglich ist, einen Film wie HIROSHIMA - MON AMOUR zu erfassen; dass diese "Methode" dem impressionistischen Habitus verhaftet bleibt und keine zusammenhängende, aus dem Film heraus reflektierte Analyse zu leisten im stände ist. Die Isolation, in der der Film steht, indem er als partielles Randprodukt betrachtet wird, isoliert die Urheber der Misere, die Filmbesprecher und -betrachter, von der Kritik und der Analyse. Die Zwangslage, die sie für sich apologetisch zu Wort kommen lassen, ist selbstverschuldet, ihr Geschrei nach besseren Filmen verlogen, solange sie keine Kritiken schreiben, die den schlechten Film als schlecht und den guten als gut erkennen lassen. Jede schlechte "Filmbesprechung", die den grossen Unsinn auf der Leinwand als kleines Übel dem Zuschauer vor Augen stellen will, akzeptiert für sich das grosse Übel der schlechten Filme.       Peter H. Schröder
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Thomas Mann: Über den Film

Aus: Schünemanns Monatshefte, August 1928 (gekürzt). Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer-Verlags, Frankfurt Main.

Eine genauere Äusserung _..., muss ich mir für ungebundenere Tage vorbehalten. Heute nur soviel, dass mein Interesse für diese moderne Lebenserscheinung in den letzten Jahren bis zur wirklichen Angelegentlichkeit gewachsen ist, ja den Charakter einer heiteren Passion gewonnen hat. Ich besuche sehr häufig Filmhäuser und werde des musikalisch gewürzten Schauvergnügens stundenlang nicht müde _...

Ich sprach von einer "Lebenserscheinung", - denn mit Kunst hat, glaube ich, verzeihen Sie mir, der Film nicht viel zu schaffen, und ich halte es für verfehlt, mit der Sphäre der Kunst entnommenen Kriterien an ihn heranzutreten. Dies ist die Art humanistisch-konservativ gestimmter Gemüter, welche sich dann, verachtungsvoll und trauernd, als von einer niedrig und wild demokratischen Massenunterhaltung von ihm abwenden. Was mich betrifft, so verachte ich ihn auch, aber ich liebe ihn. Er ist nicht Kunst, er ist Leben und Wirklichkeit, und seine Wirkungen sind, in ihrer bewegten Stummheit, krud sensationell im Vergleich mit den geistigen Wirkungen der Kunst: es sind die Wirkungen, die Leben und Wirklichkeit auf den unbeteiligten Zuschauer üben, - besänftigt durch die Bequemlichkeit der Umstände und das Bewusstsein des gestellten Schauspiels, verstärkt und aufgehöht durch Musik. Sagen Sie mir doch, warum man im Cinema jeden Augenblick weint, oder vielmehr heult wie ein Dienstmädchen! Wir waren neulich alle bei der Erstaufführung der "Grossen Parade", auch Olaf Gulbransson _... "Ich habe mich noch nicht abgetrocknet", sagte er entschuldigend, und wir standen noch lange mit feuchten Augen in einfältiger Gelöstheit beieinander. Ist das die Verfassung, in der man von einem Kunstwerk scheidet, einer Malerei den Rücken wendet, ein Buch aus der Hand legt, ein Theater verlässt? Es ist wahr, alte Herren weinen, wenn in Alt Heidelberg "O alte Burschenherrlichkeit" gesungen wird, aber bei Shakespeare, bei Kleist, bei Hauptmann tun auch sie es nicht. Die Kunst ist kalte Sphäre, man sage, was man wolle; sie ist eine Welt der Vergeistigung und hohen Übertragung, eine Welt des Stils, der Handschrift, der persönlichsten Formgebung, objektive Welt, Verstandeswelt ("denn sie kommt aus dem Verstande", sagt Goethe) - bedeutend, vornehm, keusch und heiter, ihre Erschütterungen sind von strenger Mittelbarkeit, man ist bei Hofe, man nimmt sich zusammen. Dagegen ein Liebespaar der Leinwand, die _... auf ewig" voneinander Abschied nehmen, zu einer Musik-Begleitung, die aus dem Schmeichelhaftesten kompiliert ist, was aufzutreiben war: wer wollte da widerstehen, wer liesse nicht wonnig rinnen, was quillt? Das ist Stoff, das ist durch nichts hindurchgegangen, das lebt aus erster, warmer, herzlicher Hand, das wirkt wie Zwiebel und Niesswurz, die Träne kitzelt im Dunkeln, in würdiger Heimlichkeit verreibe ich sie mit dem Zeigefinger auf dem Backenknochen. Besonders übrigens hat der Film nichts mit dem Drama zu tun. Er erzählt in Bildern _...

Der Film kennt eine Erinnerungstechnik, er kennt psychologische Suggestionen, kennt eine Genauigkeit des menschlichen und dinglichen Details, dass kein Dramatiker, aber sehr oft der Erzähler davon lernen kann. Die Überlegenheit der Russen, die niemals grosse Dramatiker waren, auf diesem Gebiet beruht, für mich ist da kein Zweifel, auf ihrer erzählerischen Kultur.
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America's own fool: Jerry Lewis (s.a. Heft 43 und Heft 44)

Ein Bild "Visitenkarte"

"Als der Mensch vor Urzeiten in die Welt gesetzt wurde, schaute er sich erst einmal furchtsam um, denn gar zu feindlich trat ihm die fremde, unbekannte Umwelt entgegen. Bald aber entdeckte er, dass nicht die Umwelt ihn, sondern er die Umwelt beherrschen müsse. Wozu, schliesslich, war ihm der Verstand mitgegeben worden! Fortan setzte er sich zur Wehr und rang mit den Dingen seines Alltags. Meistens trug er den Sieg davon" (Aus Pressemitteilungen der PARAMOUNT).

Den Sieg über eine ihm feindliche Umwelt will auch ein hochaufgeschossener, kurzgeschorener Junge mit leicht abwesenden Augen davontragen, der seit 15 Jahren über die Kinoleinwände aller Kontinente flimmert: Jerry Lewis. Mit peinlicher Pünktlichkeit überrascht er uns zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst; daran hat man sich genauso gewöhnt wie an die vollen Kinosäle. In der Tat ist Lewis augenblicklich der einzige Blödel von Weltformat, der auch an die geschäftlichen Erfolge der Komiker Sennett, Lloyd, Chaplin und Keaton anknüpfen kann. Von amerikanischen Filmen sind wir gewohnt, dass ihre Helden agieren, und dass ihnen dazu ein bestimmter sozialer Spielraum zur Verfügung steht. Es handelt der Westerner, der Gangster, der Koreakrieger, der Fabrikant wie der Politiker, dieser Spielraum wird nur in wenigen Filmen beschränkt, bei Lewis-Filmen ist es die Regel. Die Welt der Filmperson Lewis gibt weder eigenem Handeln noch Denken eine Chance. Wenn wir also am Filmende Positionsveränderungen feststellen, sind diese nur vorgegeben.

Diese Tatsache ist von historischsoziologischer Relevanz. Die Zeit des Westerners ist liebe Erinnerung geworden, die grossen Gangster wurden von organisierten Teams verdrängt, und die phänomenale Karriere eines Henry Ford ist heute nicht mehr möglich. Emanzipation geschieht nur noch im Grossverband. Seit der New Deal den Trend zum Wohlfahrtsstaat und die allgemeine soziale Anhebung der amerikanischen Parias, der Arbeiter und coloured people, durchsetzte, gehört der "rugged individualism" der Vergangenheit an. Wenn sich seine filmische Propagierung dennoch so grossen Zuspruchs freut, kann man darin allenfalls romantisches Geschichtsbewusstsein und Zerknirschung über die jetzige eigene Position sehen.

Dieses aufkommende Bewusstsein der eigenen Lage kann durch Betrachtung einer scheinbar noch unterlegenen sozialen oder psychologischen Situation kompensiert werden. Wen wundert es, dass man hier zu seiner eigenen Karikatur greift, eben zu Jerry Lewis.

Aber auch diese Karikatur enthält noch die gleichen Züge individueller Fortkommensmöglichkeiten. Freilich sind hier nicht mehr die Verhältnisse und die Tüchtigkeit, mit der sie gemeistert werden, für die Karriere massgeblich sondern allein das Glück. Dem Typ, den Lewis kreiert hat, gelingt es nicht, "seine Umwelt zu unterwerfen". Er wartet auf ihre eigene, irrationale Veränderung. Dabei ist es für Lewis überflüssig, sich über die Ursachen oder den Vorgang selbst Gedanken zu machen. Er stellt das Ergebnis lediglich fest. Solcher Wunderpositivismus hat den unbedingten Glauben an die irrationale Ordnungskraft und deren Unausbleiblichkeit im Gefolge.

Dazu zwei kleine Beispiele: durch Abheben einer Glasplatte fallen die darunter ausgestellten Schmetterlinge zu Boden, ordnen sich jedoch kurz vor Entdeckung des Frevels von selbst wieder ein ("The Ladies' Man"). In "Cinderfella" nimmt dieser überirdische Ordnungsfaktor sogar Gestalt an und personifiziert sich in einer männlichen Fee mit roter Schnapsnase (Symbol für Warmherzigkeit), die fortan die Geschicke des von seiner ihm zustehenden sozialen Position ferngehaltenen Fella-Lewis mit dem Zauberstab lenkt. Fella, das geknechtete Hausfaktotum, mausert sich allso zum Prinzgemahl.

Dieses ins Bereich des Wunders und der Magie gehobene Wirken zur Veränderung sozialer Missstände und der dem Betrachter übertragene Glaube an seine Unfehlbarkeit, muss von den tatsächlichen Möglichkeiten und ihrer Verwirklichung ablenken. Wer solches Geschehen nicht als Magie und Lüge entlarvt, ist den Einflüssen der Wirklichkeit schonungslos ausgeliefert; lässt sich blind manipulieren, denn die Unkenntnis der Ursachen bedingt die Unkenntnis des Zwecks. Gerade der Katalog Lewis'scher Filmlebensweisheiten reguliert sich an den gleichen Wertvorstellungen, die dem Durchschnittsamerikaner tagtäglich durch Werbung und Massenmedien suggeriert werden.

Jerry Lewis ist der Letzte, dem das nicht bewusst ist; "Cinderfella" ist sein Film, reproduziert seine Weltschau. Weitere Äusserungen aus seinem Munde, die diese zweifelhafte Glücksmoral predigen, liegen vor. Lewis hat die Möglichkeit, seine Ideologie beliebig zu propagieren. Seitdem er sich in wenigen Jahren zum todsicheren Kassenschlager entwickelte, vertraute man ihm auch die Gestaltung seiner Filme selbst an. Da er soziale Wertmassstäbe mit seiner Arbeit realisieren will und diese auf psychologische und politische Veränderung des Menschen hinzielen, liegt der Vergleich mit Chaplin nahe. Auch Chaplin hatte eine soziale Konzeption, mit der er seine unabhängig produzierten Filme gestaltete. Allerdings war diese nicht auf Bestätigung der damals unmöglichen sozialen Zustände gerichtet, sondern auf deren Beseitigung durch kämpferischen Humanismus. Die Tatsache, dass Chaplin mit dieser Konzeption scheiterte, während Lewis allerorten Unterstützung erfährt, wirkt in diesem Licht bezeichnend für die ideologischen Interessen Hollywoods.

Kino machen heisst für Lewis zuerst bestätigen, dann erfinden. So haben der Bahnhofsvorsteher des kleinen Dorfes im Hinterland und die Ereignislosigkeit seines Daseins, die Sehnsucht nach der grossen Stadt New York bei der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung, durchaus ihre Entsprechung. Erst durch den Ausnahmecharakter der Handlung und ihre groteske Aufbereitung wird der Betrachter von der wirklichen Bedeutung des Stadt-Land-Gegensatzes abgelenkt ("Stick it Up"). In der Tat verwendet Lewis in seinen Filmen fast alle Situationen des kleinen, bevormundeten Mannes: den Handwerker, den Angestellten im Kaufhaus, den Rekruten, den Balljungen auf dem Golfplatz, den in seinem Beruf Drittrangigen: Er hat sie alle ins Filmglück geführt.

Dass hierbei spezifische Verhaltensweisen des Amerikaners auffällig werden, ist von grosser Bedeutung für seine Filme (der Besuch dieser Filme ist selbst schon eine!). Zu diesen praktizierten Verhaltensweisen gehören insbesondere die sexuellen. Andre S. Labarthe hat kürzlich in einem Aufsatz über J. Lewis (Cahiers du Cinéma 132) auf die Stellung der Frau in Lewis-Filmen hingewiesen. Wir wollen uns hier darauf beschränken, seine wesentlichen Ergebnisse zusammenzufassen:

Labarthe unterscheidet grundsätzlich drei Typen der Frau. Es sind diese:

1. Die natürliche Frau: hier subsumiert er die traditionell unaktive, etwas dümmlich-reizlose Frau, die ihren biologischen Gegebenheiten unterworfen ist. Beispiele hierfür sind das unbeholfene Mädchen in "The Ladies' Man" oder die dicke Dame in "The Bellboy", die ein Opfer Ihrer Leidenschaft für Sahnekuchen ist.

2. Die Kommandeuse. Diesen Typ finden wir in "The Sad Sack"; die Mutter in "Cinderfella" ist so, oder Mrs. Welonmelon in "The Ladies' Man". Ausserdem rangiert da noch

3. die Vampirfrau, die reissende, verschlingende, der sich der Mann allenfalls als Sexualobjekt unterwerfen kann.

So richtig diese Einteilung grundsätzlich ist, so versäumt Labarthe doch, auf die zahlreichen Mischformen und die soziologischen Bezüge hinzuweisen. Wo solche Bezugsmöglichkeiten gegeben sind - und sie sind es - ist es unzureichend, sich in der Kritik allein mit der Konstatierung der Phänomene zu begnügen.

Die Filmperson Lewis steht der Frau generell ablehnend gegenüber, ganz besonders den Typen 2 und 3, den Schreckbildern der Frau in der modernen Gesellschaft.

In der "Kommandeuse" muss man die Karikatur der beruflich emanzipierten Frau sehen. War die "Kommandogewalt" der Frau früher allein auf die häusliche Sphäre beschränkt, findet sie sich heute fast in allen Berufssparten. Dieser Konkurrenzkampf der Geschlechter bereitet dem Mann allgemein Unbehagen, da sich diese geschlechtslosen Wesen durch ihre berufliche Tüchtigkeit aller passiven oder aktiven Liebesmöglichkeiten entziehen. Die Verteufelung dieses Frauentyps in den Lewisfilmen ist beredter Ausdruck dafür.

Einen weit schlimmeren Alptraum stellt der weibliche Vampir dar. Die sexuelle Emanzipation hat der Frau die geschlechtlichen Konsummöglichkeiten und -gewohnheiten des Mannes zugewiesen. Dass sie hiervon ausführlichen Gebrauch macht, trifft nicht allein auf amerikanische Collegeverhältnisse zu, sondern ist allen Gruppen der Gesellschaft gleichermassen spezifisch. Die sich hieraus entwickelnde sexuelle Bevormundung des Mannes hat in der Tat zu einer Art nationalen Minderwertigkeitskomplexes geführt. Das linkische Geschlechtsgebaren der Filmperson Lewis findet hier seine Entsprechung im ähnlichen Verhalten eines James Dean. (Patalas hat in einer Lewiskritik kurz daraufhingewiesen.)

Als jungfräulicher Don Juan erweist sich Lewis allenfalls dem erstgenannten Typ der natürlichen Frau gegenüber. Auch dieses findet seine Entsprechung in der modernen amerikanischen Gesellschaft: "Diesem Unbehagen (an der Emanzipation der Frau, d. V.) unter den soeben Befreiten entspringen zum Teil die modernen Bestrebungen, die Frauen wieder stärker auf den privaten Lebensbereich zu beschränken, indem man ihnen erneut irgendeine bequeme, häusliche und traditionelle Rolle zuweist" (Riesman: Die einsame Masse, rde 72/73, S. 293).

Es liessen sich eine Reihe weiterer soziologischer oder psychologischer Argumente bei der Betrachtung der Lewis-Filme finden, etwas für das unwiderstehliche Verlangen nach den alpinen Ekbergbrüsten in "Alles um Anita". Auch lassen sich die Grenzen nicht gar so hart ziehen. So wird eine gewisse Emanzipation der Frau als notwendig und legitim in Kauf genommen. Der Held übernimmt die daraus resultierenden Konsequenzen bisweilen recht freudig, so die Kindererziehung in "Fünf auf einen Streich", oder die Küchenarbeit in "Aschenblödel".

Fast immer steht ein Integrationsprozess im Mittelpunkt, Integration in die Gesellschaft oder in eine ihrer Gruppen. Für die Verdeutlichung dieses Prozesses bietet sich die Form des Märchens besonders an ("Cinderfella"), auf deren erzieherische Funktion in der amerikanischen Gesellschaft ebenfalls Riesman (op. cit.) hingewiesen hat.

Aus dem durch seine Umgebung benachteiligten Sonderling wird das vollberechtigte Gruppenmitglied. Lewis wird im Laufe der Handlung zum Erwachsenen, ohne allerdings seine kindliche Mentalität aufzugeben. Die Stufe der Pubertät wird hierbei ausgelassen. Seine Kinderstimme, sein naives Verhalten unterstützen das, wie die auffällige Press-Button-Manie, die in der amerikanischen Erwachsenenwelt ebenso grassiert. In der Tat ist dieses kindliche Verlangen, alles in Bewegung zu setzen, wesentliches Stimulans für den Integrationsprozess. Man beachte hier auch das amerikanische Bastlervergnügen.

Übrigens ist die Figur Jerry's im Film grundsätzlich apolitisch. Anspielungen auf diesen Teil der Kultur fehlen fast völlig. Allenfalls kann man eine ordentliche Parodie auf die Fernsehwahlreden ("Fünf auf einen Streich") oder die Verdeutlichung der Interesselosigkeit des normalen Soldaten am Koreakrieg in "Geisha Boy" nachweisen.

Der am 16. März 1926 geborene Lewis entstammt einer Komödiantenfamilie und gab sein Bühnendebüt bereits mit fünf Jahren. Gemeinsam mit Dean Martin wurde er 1946 für den Film entdeckt. Das Gespann machte Furore und stand nach einigen Jahren an der Spitze amerikanischer Beliebtheit.

"Die Komik der Dean Martin und Jerry Lewis ist gemütvoller und naiver, freilich auch billiger als die intellektuellen Blitze der Hope-Crosby und andrerseits natürlicher und realer als die absurden Gags der Abbott Costello" (KFD in der Beurteilung von "Sailor Beware")

Lewis ist Artist. Seine sportliche Durchtrainiertheit erlaubt ihm, seinen Körper gestisch in die Filmhandlung zu integrieren. Die Selbstdeformation, die die scheinbare Preisgabe seiner physischen Existenz intendiert, hat ihre reale Entsprechung; so finden wir die Deformation in den Gesichtern der Testpiloten auf dem Prüfstand. Ebenfalls ist die Deformation zum gängigen Stilmittel der Comics und Zeichentrickfilme geworden, Mittel zur Forcierung sadistischer Effekte. Vom Uppercut getroffen wird der Kopf des Boxers ein hässlicher Klumpen und unter Bug Bunny's Hammerschlag nimmt ein Löwenschädel Briefmarkenform an.

Hier wird der Sadismus auf sein wirksamstes Moment reduziert. Dieser Drang, das maltraitierte Objekt auch in physiologischer Veränderung zu sehen, wird durch Jerry Lewis kultiviert. Seine Gesichtsmuskulatur scheint aus Gummi zu sein, wenn sie sich auch bisweilen zum Keaton-Ausdruck beruhigt. Tatsächlich vereint Jerry Lewis die gesamte Geschichte der amerikanischen Filmkomik in sich: die haarsträubende Artistik eines Harold Lloyd fehlt ebensowenig wie die Burleske à la Sennett oder Groucho Marx. Die häufigen Chaplin-Zitate sind nicht zu übersehen. Überhaupt ist das Zitat gängiges Mittel der Lewis-Filme. So zitiert er "Scarface" in "The Ladies Man", "The Caine Mutiny" in "Don't Give Up the Ship" und gar sich selbst in "The Bellboy". Gerade der zuletzt genannte Streifen, obwohl als Film disqualifiziert, gibt einen fast umfassenden Katalog seiner Gags.

Jerry Lewis, dieser traumwandlerische Clown, der in seiner unkontrollierbaren Ungeschicklichkeit Mitgefühl hervorruft, die Tränen aber immer durch Gags rechtzeitig zu stoppen weiss, steht augenblicklich allein in dieser Filmsparte, obwohl seine Karriere wenige grosse Höhepunkte aufweist. Allein Frank Tashlin, dem Regisseur von "Alles um Anita" gelang es, das überschäumende Talent Lewis in filmgemässe Formen zu weisen, was ihm bei den späteren Lewis-Eigenproduktionen kaum noch gelang. Hinzuweisen ist noch auf die Milieuwahl seiner Filme. Fast immer gibt es Anspielungen auf Film, Fernsehen und Comics (Tashlin war selbst Cartoonist) oder diese sind sogar zentral. Das Milieu wird jedoch lediglich als Vorwurf für die Gags und den Ablauf benutzt. Die Möglichkeiten einer Entlarvung werden nicht ausgeschöpft (wiederum nur bei Tashlin, doch auch nur ansatzweise). Dass Entlarvung den Intentionen des Stars gar nicht entspricht, wurde ersichtlich.

Lewis ist nach der Trennung von Dean Martin, die sich für beide Teile als günstig erwiesen hat, sein eigener Produzent, Autor und Regisseur geworden. In dieser letzten Funktion zeigt der private Schmalfilmer sich nicht gerade ungeschickt. So dürfte allein das Dekor von "The Ladies' Man" selbst für Hollywood ungewöhnlich sein. Nebenher beschäftigt sich Lewis mit der Nachwuchsausbildung: er hat eine eigene Komikerschule eröffnet.

Paramount weiss einen solch zugkräftigen Star zu schätzen und lässt sich die Anspielungen in seinem letzten Film gern gefallen. In diesem Film "Der Bürotrottel" nennt Lewis sich übrigens Tashman, eine Hommage an den Gestalter seiner grössten Erfolge, mit dem er auch seinen nächsten Film machen wird.

Lewis ist auch in Deutschland zu einem festen Begriff geworden, gleichermassen für Publikum, Kritiker und Theaterbesitzer. Sein Erfolg dürfte nicht wesentlich andere Gründe als die für Amerika erwähnten haben. Auffällig ist, dass besonders dem KFD seine Komik und das damit verbundene Menschenbild nicht gefällt. Nach anfänglicher wohlwollender Beurteilung tauchen jetzt Bezeichnungen wie "geistig minderbemittelter Kretin" oder "geschmacklos" auf. Während bei "Aschenblödel" die "Verballhornung geliebter Motive" beklagt wird, kann sich von den neueren Lewis-Filmen allein "Der Regimentstrottel" im Lichte christ-katholischer Empfehlung sonnen: er behandelt die Entwicklung eines Idioten zum vorbildlichen Soldaten.       Hanns Fischer
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De Sicas kritische Äusserungen über die politische Situation der Bundesrepublik fanden die hierzulande übliche Resonanz: in Protesten, Schmäh- und Boykottrufen. Das ist nicht verwunderlich. Wo sich der Staat unter der opportunistischen Akklamation seiner Presse selbst zum Tabu setzt, kann das Gefühl, auf die Zehe getreten worden zu sein, sich nicht anders Recht verschaffen, als mit geballter Faust dreinzuschlagen. Aus der Unzahl von Groschenblättern, die für den Preis ihres Erwerbs ein Abendland verteidigen, das schon auf Grund ihrer Existenz unterzugehen verdiente, hebt sich ein Artikel in der "Stuttgarter Zeitung" hervor, der wegen seiner spezifischen Infamie besondere Beachtung verdient. (Stuttgarter Zeitung vom 13.7.1962. Die folgenden Zitate entstammen diesem Artikel.)

Die Überschrift "Italienische Meckereien" liesse auf den Gebrauch des Gutturallautes bei piemonteser Ziegen schliessen, wenn nicht der Untertitel den Leser zu den "Anwürfen de Sicas gegen die Bundesrepublik" hinführte.

"Künstler sind gewöhnlich wie Kinder, wenn sie sich zu politischen Fragen äussern. Vollends, wenn sie einem kindlichen Volk angehören. Man darf sie dann gewiss nicht allzu ernst nehmen." Dafür aber um so ernster das, was der mit G-z zeichnende Autor uns zu sagen hat. Nämlich das WIR "mehr Erkenntlichkeit von den Italienern" erwarten "für das, was die ,reichlich dummen' Deutschen als Feriengäste wie als Arbeitgeber zur Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines (de Sicas) Landes beitragen, der Armut und Arbeitslosigkeit im Süden vor allem, für die die offenbar als gescheit empfundenen Italiener weder im Königreich noch im Faschismus noch bisher in der democratia cristiana eine Lösung gefunden haben." Offenbar sollte man das doch UNS überlassen, die WIR schon für vieles eine Endlösung gefunden haben, im Kaiserreich, im Faschismus, unter den christlichen Demokraten; und im übrigen: Ziegen, die WIR füttern, haben nichts mehr zu meckern.

Um so schlimmer ist es, wenn "die Hetze gegen die Deutschen im italienischen Film zu einer lieben Gewohnheit geworden" ist. "Wahrscheinlich spielen bei den italienischen Filmleuten auch allgemeine nationale Ressentiments oder Schuldgefühle gegenüber den Deutschen mit, unlustige und deshalb verdrängte Erinnerungen an eine lange, erst in der Not lästige Bundesgenossenschaft", sinniert Herr G-z. Wobei mit den unlustigen und deshalb verdrängten Erinnerungen offensichtlich die Massenmorde und Deportationen gemeint sind, die dem deutschen Faschismus nicht nur in Italien zu einer lieben Gewohnheit geworden waren. "Die eigene Vergangenheit bewältigen die italienischen Filmschöpfer weniger gern." Manchmal sehe man in italienischen Filmen Faschistentruppen "durchweg von so prächtigen, wenn auch leider irregeleiteten Reckengestalten formiert, dass man schon wieder Hochachtung vor dem Faschismus bekommt." Insbesondere dann, wenn man sie nie verloren hat. Denn auch der Filmkritiker Erwin Goelz, jener G-z, "entgeht _... selbst bei gewissenhaftester Bemühung _... nie ganz den Bedingungen seiner Subjektivität, den Gegebenheiten seiner gesellschaftlichen und geistigen Herkunft, seiner Weltanschauung, seiner psychologischen Konstitution, auch der Erlebnisse, die er hinter sich hat". ("Stuttgarter Zeitung" vom 30.5.1958, Erwin Goelz: Müssen Filmkritiker so sein?)

Er hat sie hinter sich, aber er soll ihnen nicht entgehen, so gewissenhaft seine Bemühung auch sein mag, sie zu vertuschen; seine Weltanschauung verrät ihn; sein hämischfrecher Blick auf ein ganzes Volk von Kleinkindern, die das Maul zu halten haben, wenn 's ihnen der DEUTSCHE stopft, stammt aus jener Erlebnissphäre, deren euphorische Stunden darin kulminierten, erst von "den plattfüssigen jüdischen Komikern mit ihren dummdreisten Visagen" zu sprechen und sie dann zu vergasen. (Aus: "Bildnis des deutschen Soldaten im Film" von Frank Maraun in "Der Film als geistige Waffe im Krieg". Heft 11/12, Der Deutsche Film, 1940.)
Sein bürgerlicher Name Erwin Goelz dient ihm heute als Alibi, eine faschistische Vergangenheit auszulöschen, die ihn unter dem Pseudonym Frank Maraun zu einem der renommiertsten Filmpublizisten des Dritten Reiches machte. "Hunderttausende von Gefangenen fast jede Woche, Millionen von Flüchtlingen, ganze Landstriche entvölkert, eine überalterte Lebensordnung zusammengebrochen, eine neue das Gesicht Europas verwandelnd, im glorreichen Aufstieg, ungeheuerliche Beispiele kalten Egoismus und bedenkenlosen Verrats, hinreissende Bezeugungen des Opfermutes und der todesverachtenden Tapferkeit, gleich grossartig im unaufhaltsamen Schwung des Angriffs wie im Ertragen fast unvorstellbarer Strapazen - in diesem Räume, in dem die Schicksale von Völkern entschieden werden - und in dem sich ein Erdteil neu gebiert _... (Der Deutsche Film 1/40) war Frank Maraun zuhause; auf diesen Gipfelhöhen faschistischer Barbarei, "wo dieselbe Luft einer heroischen Wirklichkeit weht _... und derselbe Typus des sachlich gehärteten, weltanschaulich geprägten, ideel durchgezüchteten deutschen Menschen von heute Gestalt gewinnt wie in der Wirklichkeit (Frank Maraun, "Kamera an der Front", Nationalsozialistische Monatshefte, Heft 147/1942, Herausgeber: A. Rosenberg.), _... wo todbereite Entschlos- senheit _... den Schicksalsatem um die Dinge wehen lässt (Aus: "Bildnis des deutschen Soldaten im Film" von Frank Maraun in "Der Film als geistige Waffe im Krieg". Heft 11/12, Der Deutsche Film, 1940.) , die mythische Sphäre "so organisiert" wird, dass sie für "gesteigertes Seelentum" (Aus: Maraun, Bildnis ...) Raum gibt; hier, wo "kalte Entschlossenheit _..., sieggewohnte Überlegenheit zu sinnbildhaften Zeichen der ideellen Haltung und rassischen Substanz werden" (Aus: Maraun, Bildnis ...) , da ist die Heimat des Erwin Goelz, Filmstarkritiker des Süddeutschen Rundfunks, der Stuttgarter Zeitung, des Vielredners auf Akademien und Tagungen, hier haben wir seine Erlebnisse vor uns, die er glaubt, hinter sich zu haben. Neben diesen hymnischen Elogen auf ein imperialistisches Massenmorden, für das Seelentum und Kindermord eins waren und die mythische Sphäre dazu herhalten musste, als brandiger Schicksalsatem um die Krematorien zu wehen, widmete sich Goelz, Leiter der Nachwuchsabteilung der UFA (Abteilung des Reichspropagandaministeriums) auch jener "subalternen Rasse", die sich damals wohl nur noch "von dem Ressentiment gegen die ihr unerreichbare Sphäre einer selbstüberwindenden heroischen Haltung" hätte "nähren" (Aus: Maraun, Bildnis ...) können, wenn sie nicht schon in den KZs vergast worden war. "Als die Kameramänner unserer Wochenschauen während des Feldzuges der achtzehn Tage die siegreichen deutschen und die vernichtend geschlagenen polnischen Truppen filmten, da kam ihnen noch ein anders dankbares Motiv vor die Linse: sie begegneten in Polen den konzentriertesten Sammelbecken der jüdischen Rasse in Europa. Ein paar Spiegelungen dieses Motivs haben wir schon in den Wochenschauen gesehen _..." beginnt seine Kunstbetrachtung des abscheulichsten antisemitischen Hetzfilms "Der ewige Jude". (Frank Maraun "Symphonie des Ekels", Der Deutsche Film, Heft 8/1940) Im biederen Parlando des Amateurfotografen, der nach dankbaren Motiven Ausschau hält, wird die Massenvernichtung vorbereitet. Die paar Spiegelungen des Motivs mögen das letzte gewesen sein, das von ihm übrig blieb. Was da vor die Linse kam, fand sich in den Gaskammern wieder. "Die Kamera war überall". Wo sie war, wächst kein Gras mehr.

Und "wieder _... hat Fritz Hippler den Trickfilm mit starker Wirkung eingesetzt. Er verwendet ihn am Anfang zur Veranschaulichung einer verblüffenden geografischen Parallele. Er zeigt die Wanderwege der Ratten bei ihrer Ausbreitung von Innerasien über die Mittelmeerrandgebiete zur westlichen Welt: es sind nahezu dieselben Wege, die die nicht weniger parasitäre Horde der Juden vom Zweistromland über Ägypten und Palästina nach Europa genommen hat _... Die solide sachliche Mitteilung, die Vermittlung von konkretem Wissen, ist neben der folgerichtigen gedanklichen Entwicklung und der nach grossen Komplexen geordneten, übersichtlichen Gliederung überhaupt einer der wesentlichsten Vorzüge des Films _... Die Wirklichkeit der kulturellen Betätigung der Juden _... heisst Zersetzung, Unmoral, Perversion, Unterjochung durch die Materie in jeder Form, Unfähigkeit zur Ehrfurcht, aber Verherrlichung der Frechheit und Dummdreistheit, Hass dem Gesetz, Mitleid dem Verbrecher _... Er (der Film) ist im höchsten Masse dazu geeignet, in jedem nichtjüdischen Menschen ein Gefühl abgrundtiefer und unüberbrückbarer Fremdheit zur jüdischen Rasse zu wecken. (Frank Maraun "Symphonie des Ekels", Der Deutsche Film, Heft 8/1940)
Aber inmitten des infernalischen Hassgesangs auf den Menschen wird der Idylle deutscher Tierliebe gedacht: "Diese Schächtszenen sind für den tierliebenden Zuschauer, Frau wie Mann, eine harte Nervenprobe. Sie sind es besonders für den tierliebenden germanischen Menschen. Aber es ist notwendig diese Orgie der Tierquälerei zu zeigen, weil sie typisch für die Artung der jüdischen Rasseseele ist." (Frank Maraun "Symphonie des Ekels", Der Deutsche Film, Heft 8/1940)
Wie es typisch für die Struktur faschistischen Denkens ist, gegen Tierquälerei zu protestieren und Menschenquälerei zu praktizieren; von Ratten zu sprechen, wenn Menschen gemeint sind, und von Menschlichkeit, wenn bestialische Brutalität dahinter steht.

Erwin Goelz ist in Wahrheit das Pseudonym für Frank Maraun, das demokratische Feigenblatt vorm faschistischen Kainsmal. Wie er seine Namen auch noch wechseln mag, er bleibt derselbe. Seine Vergangenheit ist nicht zu bewältigen, selbst bei gewissenhaftester Bemühung sie zu vertuschen. Sie kann solange nicht mit Schweigen übergangen werden, solange er selbst nicht schweigt. Auf seine Frage: "Müssen Filmkritiker so sein?" ist ihm zu antworten: Solche Filmkritiker dürfen nicht sein.       Wolfram Schütte
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Vorläufig Ratlosigkeit

Der "Caligarismus" im deutschen Film der Zwanziger Jahre entsprach der geistigen Haltung der jungen Weimarer Republik. Die "Fridericus"- Serien verkündeten ihren Übergang zu einer neuen nationalistisch-autoritären Epoche. Die Heimat- und Kriegsfilme der Fünfziger Jahre waren der Ausdruck der "Ohne-mich" und "Politik-der-Stärke"-Gesinnungen. Die künstlerische Bedeutungslosigkeit des deutschen Films der Gegenwart spiegelt die allgemeine Lethargie eines Volkes wieder, das alles will, nur keine Experimente. Bis hierhin ist die Bilanz negativ, aber zeichnen sich nicht für die Zukunft günstigere Aspekte ab?

Der gegenwärtige Zusammenhang lässt sich am besten mit den Schlagworten "Papas Kino ist tot" und "Ende der Aera Adenauer" bezeichnen. Beide entsprechen der im Kern gleichen Sehnsucht nach Veränderung der bisherigen, als anachronistisch empfundenen Zustände. Beide formulieren diesen Wunsch als bereits mehr oder weniger vollzogene Tatsache, als solle die trotzige Behauptung die Entwicklung beschleunigen, für die man Anzeichen zu erkennen glaubt. Wie weit aber entspricht das Wunschdenken der beweisbaren Wirklichkeit?

Zunächst: das Schlagwort vom Ende der "Aera Adenauer" ist schlecht gewählt. Es ist im Grunde eine Huldigung für den amtierenden bundesrepublikanischen Regierungschef, die nur aus sich selbst gerechtfertigt wird. Seine Persönlichkeit wird für so überwältigend erklärt, dass die gesamte Entwicklung der Bundesrepublik kurzerhand seinem Konto überschrieben wird und Änderungen infolgedessen nur von seinem (politischen oder physischen) Ende zu erwarten sind; mit umgekehrten Vorzeichen ist das der gleiche Personenkult, den auch die Kanzleranhänger betreiben. Tatsächlich unterstellt eine solche Auffassung, dass Adenauer nicht nur die Aussenpolitik sondern auch die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Bundesrepublik mit ihren gegenwärtigen Krisen bestimmt habe; jene, indem er sie verwirklichte, weil er sie verhinderte. Für diese Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik hat man viele klingende Namen gefunden, Theo Pirker sprach von der "staatlich protegierten Unterwirtschaft". Innerhalb der "Bewusstseinsindustrie" (Enzensberger) trägt nächst der Presse der Film am deutlichsten ihre Züge, während beim Fernsehen der Staat selber der Unternehmer ist, den er protegiert. Im Film hat die Unternehmerindustrie noch einmal ihren reinsten, d. h. unverhülltesten Ausdruck gefunden. Wie in keinem anderen Wirtschaftszweig findet man hier extreme Repräsentanten, um nicht zu sagen: Karikaturen des Unternehmer-Typs, die freilich in dem Augenblick, da der Mechanismus der staatlich geförderten Unternehmerwirtschaft ins Stocken gerät, meist zu ihren ersten Opfern zählen. Arno Hauke ist Beispiel dafür. Längst ist der Zusammenbruch nicht mehr auf den Film beschränkt. Strumpf-, Auto- und Reedereikönige teilen Haukes Schicksal. Werden daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen? Nichts weniger als dies. Mit Schutzzöllen, Kartellzusammenschlüssen und Preiserhöhungen wird die Flucht in die Inflation immer deutlicher angetreten. Die Filmindustrie hat längst auf diese Fluchtroute eingeschwenkt. Sie hat lange Zeit "Selbsthilfepläne" entworfen, die nicht praktikabel waren. Dann hoffte sie, unter die Fittiche der Subvention kriechen zu können; nachdem auch diese Hoffnung im gewünschten Ausmass nicht verwirklicht worden ist, empfiehlt der Produzentenverband in seinem letzten Geschäftsbericht jetzt ungeniert alle klassischen Mittel der Unternehmerindustrie: Zwangskartelle, Schutzzölle und Preiserhöhungen.

Das Alibi der Schlagwortführer war oder ist "das Neue": der angeblich neue politische Stil in Bonn, die jungen Rebellen von Oberhausen, die neuen Männer (von Gerhard Schröder bis Eckelkamp) die den "alten" (von Adenauer bis Käutner) die Schau gestohlen haben. Aber was ist denn von diesem "Neuen" geblieben? Der sachliche Stil der Parlamentsarbeit hat sich längst wieder verflüchtigt, die alten Freund-Feind-Theorien ("Haust du meinen Strauss, hau ich deinen Frenzell") beherrschen wiederum die Szene. Um die geplante Filmakademie hat längst ein undurchsichtiges politisches Spiel begonnen und diejenigen, die die Filmakademie einmal gefordert haben, beginnen längst zu resignieren. Und die jungen Regisseure? Bisher ist nur Vesely unter ihnen hervorgetreten. Sein "brot der frühen jahre" erhielt in Berlin kürzlich den Bundesfilmpreis, während Käutners "Rote" dort ausgepfiffen wurde. Das war ungerecht - gegen beide. Zwar ist Veselys Film nicht so fehlbesetzt wie der Käutners, auch weniger sentimental, im Kern aber bezeugen beide die gleiche Einstellung: die achselzuckende Ratlosigkeit.

In beiden Filmen wissen die Helden nicht, was sie tun sollen, und das stempelt ihre vorgeblichen Revolten gegen ihre Umwelt zum Selbstbetrug. Sie verlassen ihre gewohnte Umwelt, aber sie tauschen sie nur gegen eine ein, die der verlassenen zum Verwechseln ähnlich sieht. Die beiden Frauen im "brot der frühen jahre" sind rein äusserlich derselbe Typ, und die fliehende Dolmetscherin Franziska (Leuwerik) - eben die "Rote" - schläft auch in Venedig so bereitwillig mit den Männern, wie sie es in Dortmund getan hat. Ihr Schlusssatz, mit dem sie eine Fahrkarte nach "irgendwohin" kaufen möchte, könnte prinzipiell auch am Schluss des Vesely-Filmes stehen.

Auffälligkeit ist, dass beide Filme die Rat- und Orientierungslosigkeit ihrer Helden mit Änderungen der literarischen Vorlagen erkaufen. Sowohl die Hungerjahre (bei Böll) wie die sozialromantische Lösung (bei Andersch) wurden für die Verfilmung verworfen, weil man das que faire für die dem heutigen Lebensgefühl adäquate Lösung hielt, ähnlich wie Ottmar Domick es in "Ohne Datum" getan hat.

Ich fürchte, sie entspricht der Wirklichkeit. Wir haben das Feldgeschrei, das den Anbruch neuer Zeiten, das neue Verhältnisse verkündet. Aber schaut man genauer hin, sind es einstweilen noch die alten.       Walter Schmieding
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Portrait: Visconti

Neorealismo. Mit diesem Wort überschrieb der Filmkritiker Umberto Barbaro einen Artikel, der am 5. Juni 1943 in der 23. Nummer der Zeitschrift lL FILM erschien. Barbaro, einer der einflussreichsten italienischen Kritiker, Lehrer am berühmten Centro Sperimentale di Cinematografia in Rom und früher Übersetzer der filmtheoretischen Schriften Pudowkins und Béla Balázs, prangerte damals, ohne jedoch den Ausdruck Neorealismus in seinen Ausführungen noch einmal zu verwenden, das hohle Pathos und die wirklichkeitsfremden Dialoge des italienischen Films seiner Zeit an. Er forderte unter Hinweis auf französische Filme, besonders Marcel Carnés QUAI DES BRUMES, den realistischen Film. Der Begriff Neorealismus, einmal gefunden, war fortan in aller Munde. Wer ihn eigentlich geprägt hatte, geriet bald in Vergessenheit, und die Priorität der Namensfindung war lange Zeit beliebtes Streitobjekt zwischen Vertretern der Literatur und des Films. Denn Barbaro hatte hier nicht nur einer Stilrichtung einen Namen gegeben, sondern vor allem einer ganz bestimmten Geisteshaltung in Literatur und Film, einer Geisteshaltung, deren Verwirklichung in ihren besten Beispielen jene Überzeugungskraft ausstrahlte, die uns heute vom Neorealismus als einer kulturgeschichtlichen Epoche sprechen lässt. Diese übereinstimmende Geisteshaltung, die Gleichartigkeit der ethischen und künstlerischen Konzeption in beiden Kunstgattungen - selten in der Kulturgeschichte eines Landes, grob vergleichbar vielleicht den Bestrebungen im Deutschland zwischen den beiden Kriegen - verbietet geradezu eine isolierte Betrachtungsweise von Literatur und Film, will man dem Neorealismus gerecht werden. Und Luchino Visconti, einen der Grossen des neorealistischen Films, nicht in diesen Zusammenhang zu stellen, nicht in wechselseitiger Abhängigkeit zu sehen, muss zwangsläufig zu der Beurteilung führen, die mit schöner Regelmässigkeit in der Konstatierung eines "Phänomens Visconti" gipfelt.

Sicher war die Übereinstimmung gewisser Richtungen in Literatur und Film nicht neu, wurde nicht über Nacht geboren, und gewiss gab es zu jeder Zeit Gegenströmungen. Dass auch in Italien, nachdem Promio im Jahre 1896 bei einer Gondelfahrt durch Venedig die ersten Fahrtaufnahmen gemacht hatte, neben den Dokumentarstreifen, Reportagen und obligatorischen Schwänken bald Theaterverfilmungen und Kostümfilme auftauchten, mag noch aus der Eigengesetzlichkeit des neuen Mediums hergeleitet werden. Die Vorbereitung des d' Annunzianismus, der dann für einige Zeit den italienisehen Film beherrschen sollte, ist aber unverkennbar. Der politisch engagierte und als Nationalheld gefeierte Schriftsteller Gabriele d' Annunzio (1863-1938) verkaufte 1911 - aus Geldnot übrigens - die Verfilmungsrechte seiner Werke an Ambrosio und die nun beginnende, wenn auch in Wirklichkeit nur lockere Zusammenarbeit, sollte den Film nicht nur aus dem Fluidum der Anrüchigkeit führen, sondern auch einer Epoche des italienischen Films ihren Namen geben.

LA CADUTA DI TROIA (Der Fall von Troja, 1910), DUO VADIS (1912) und CABIRIA (1914) sind die bekanntesten und vielgerühmten Beispiele des D' ANNUNZIANISMUS - Marksteine der Filmgeschichte: historische Kostümfilme, prunkvoll inszeniert, trotz faszinierender, unbestreitbar revolutionierender Sequenzen pathetische und schwülstige Monumentalschinken. In diese Epoche fallen auch die sog. Romanfilme, die, wie Caserinis MA L' AMOR MIO NON MUORE (Aber meine Liebe stirbt nicht, 1913), den Einfluss D' Annunzios nicht verleugnen konnten. Ihr Erfolg, gemessen an CABIRIA, war bescheiden, ihre ekstatische Gefühlsduselei unerträglich.

Wenig Erfolg hatte damals aber auch Nino Martoglios SPERDUTI NEL BUIO (Verloren in der Dunkelheit, 1916). Nach dem gleichnamigen Drama des Neapolitaners Roberto Braccos war hier ein Film entstanden, dessen Verismus auffällig im Widerspruch zu dem herrschenden D' ANNUNZIANISMUS stand, Protest und Manifestation eines Realismus, der auch 1915 in Gustavo Serenos ASSUNTA SPINA (nach einem Roman Salvatore Di Giacomos) zum Ausdruck gekommen war. Beide Regisseure hatten auf Vorlagen zurückgegriffen, deren Schöpfer sich zum literarischen Realismus (Verismus) bekannten und dessen bedeutendster Vertreter Giovanni Verga gewesen ist. Derselbe Giovanni Verga, nach dessen Roman I MALAVOGLIA Luchino Visconti später eines der Meisterwerke des Neorealismus, nämlich LA TERRA TREMA, schuf.

Diese frühe realistische Schule verachtete Kulissen und bombastische Filmdiven, drehte in Elendsvierteln mit Laiendarstellern und verwandte als Handlung die alten grausamen Volkssitten, nicht immer frei von störender Melodramatik. Die Maxime des Schriftstellers Giovanni Papini, "das Leben der Menschen zu spiegeln, ohne die Wirklichkeit zu verfälschen", die er bereits 1907 in seinem berühmten Aufsatz "Die Philosophie des Films" in der turiner Zeitung LA STAMPA publiziert hatte, war damit zum erstenmal verwirklicht worden. Die frühen Beispiele eines Realismus, im Schatten des D' ANNUNZIANISMUS entstanden, markieren den Anfang einer Stilrichtung, die im Neorealismus ihren gültigsten Niederschlag fand. Der Realismus dieser Tage war auch nicht vergessen. Im faschistischen Reich des Duce verhalfen Mario Camerini mit ROTAIE (Schienen, 1929) und Blasetti mit SOLE (Sonne, 1929) dem italienischen Film allmählich wieder zu künstlerischer Bedeutung. Und abseits der offiziellen Produktionen mit ihrem pomadisierten Pathos, Heldenkult und propagandistischer Rethorik, abseits der "weissen Telefone" und Hahnreigeschichten entstanden Filme - meist Komödien -, die durch ihren zurückhaltenden Realismus bewiesen, dass der Wunsch Mussolinis nach Heldenepen und widerlicher Glorifizierung nicht allen Befehl war. Die Versuche des faschistischen Regimes, auf den Film Einfluss zu nehmen, waren von Jahr zu Jahr gestiegen. Das LUCE, bis dahin nur halbamtliches Zentrum für Dokumentation, wurde 1929 der Regierung unterstellt. Mussolini verbot bald den lästigen Realismus der neapolitanischen Schule, da er "dem italienischen Ansehen im Ausland schadet", an den Universitäten richteten faschistische Studentenorganisationen (GUF) Filmclubs ein, Filmkritiken durften frühestens einen Monat nach der Premiere erscheinen _... die Massnahmen des Regimes sind hiermit nicht erschöpfend aufgezählt. Andere Initiativen, wie die Gründung des Centro Sperimentale di Cinematografia, entpuppten sich bald als ins eigene Netz gelegte Kuckuckseier: so wurde diese Filmakademie, an der u. a. Chiarini und Barbaro lehrten und z. B. Rossellini, Antonioni und de Santis Schüler waren, zu einer Enklave des politischen und künstlerischen Widerstandes. Die Opposition gegen die Aera des "telefoni bianchi" wuchs, kündigte sich versteckt in vielen Publikationen an: BIANCO E NERO veröffentlichte Szenarien ausländischer, realistischer Filme, in CINEMA - Visconti war einer der Mitarbeiter - erschienen Artikel über "Montage", "Einstellung" usw. Auf der Suche nach literarischen Äusserungen, die ihren Vorstellungen entsprachen, kamen die Arbeiten Giovanni Vergas, Luigi Capuanos und Salvatore Di Giacomos wieder zu Ehren, wurden Maxwell Anderson, Erskine Caldwell, William Faulkner und Ernest Hemingway entdeckt, und der an Hemingway orientierte Roman "The Postman Always Rings Twice" von James Cain war Vorbild zu Viscontis erstem grossen Film OSSESSIONE, dem bahnbrechenden Werk des Neorealismus.

Giani Puccini, Mitarbeiter Viscontis am Drehbuch zu OSSESSIONE, lange inhaftiert als Teilnehmer der Resistance, erklärte damals, dass der Film nicht länger aufgefasst werden könne "als eine geschlossene Domäne, eine in den Wolken gebaute Stadt, in der Art, mehr oder weniger, von Swifts Laputa. Das wäre, nach unserer Meinung, ein schwerer Irrtum: ein Irrtum, den allerdings jene alle begehen, die fortfahren, vom Film, von der Malerei und von der Literatur als etwas Isoliertem zu sprechen, auf eine aristokratische oder, was noch schlimmer ist, desinteressierte Weise." Das war die Antwort auf den Kalligraphismus einer Reihe von Filmen, dem Castellani, selbst Chiarini und Camerini, zuneigten. Gemeint waren damit jene "kultivierten" Filme, in denen das verfilmte "literarische Werk nur ein Vorwand für die formalen Experimente des Regisseurs" war. "Der wesentliche Unterschied, der die Kalligraphen von den späteren Neorealisten trennte, war nicht ihre Haltung gegenüber dem herrschenden Regime, dem beide nicht dienen wollten, sondern ihre ebenso betonte Weigerung, die Realität des Alltags als adäquaten oder gar optimalen Ausdruck der menschlichen Wirklichkeit zu betrachten _... zogen die Kalligraphen Dramen der Vergangenheit vor _... bedienten sich der ausdrucksvollen Schönheit des bewegten Bildes mit der Suggestivität von Dekor und Landschaft" (Ferenz Debreczeni).

Von den drei Filmen, die die Tradition des frühen italienischen Realismus fortführten und den Neorealismus einleiteten, Blasettis QUATTRO PASSI TRA LE NUVOLE (Vier Schritte in die Wolken), de Sicas I BAMBINI Cl GUARDANO (Kinder sehen uns an) und Viscontis OSSESSIONE, alle 1942 entstanden, zeigen die beiden ersten dem heutigen Betrachter immer deutlicher ihre Schwächen, während Viscontis OSSESSIONE nichts von seiner Faszination und Überzeugungskraft eingebüsst hat.

Luchino Visconti, geboren am 2. November 1906 in Mailand, Nachfahre derer von Madrone, den Uneingeweihten höchstens als Pferdezüchter und Bühnenbildner bekannt, ging auf Gabriel Pascals Vorschlag zunächst nach London, um nach Flauberts "November" einen Film zu drehen; nach einer Unterredung mit Alexander Korda zerschlug sich dieser Plan. In Paris traf er dann mit Jean Renoir zusammen und wurde neben Jacques Becker und Henri Cartier-Bresson dessen dritter Regieassistent. Renoir arbeitete gerade an seinen Filmen LES BAS FONDS (Nachtasyl) und UNE PARTIE DE CAMPAGNE (Eine Landpartie). Das war in den Jahren 1936/37. Später, 1940, assistierte Visconti zusammen mit Karl Koch und auf Wunsch Renoirs bei LA TOSCA. Renoir drehte in Italien; als der Krieg ausbrach, musste er nach Frankreich zurück. Visconti heute: "Ich drehte den Film mit dem ersten Assistenten Koch zu Ende - ein schrecklicher Film. Aber man konnte nichts anderes machen". Er veröffentlichte Kritiken und Aufsätze in der berühmten Zeitschrift CINEMA, deren Herausgeber paradoxerweise der Sohn Mussolinis war, gehörte der Widerstandsbewegung an und wurde von der Gestapo inhaftiert.

Die ästhetischen Vorstellungen der Neuerer fussten auf dem Film des frühen italienischen und des französischen Realismus; von ihren literarischen Vorlieben wurde schon gesprochen. Visconti begann nun eigene Filmskripts zu schreiben, vor allem erarbeitete er mit de Santis ein Drehbuch nach Vergas Er-Zählung LA MENTE DI GRAMINIA. Das Drehbuch musste dem faschistischen Kulturminister Paolini vorgelegt werden; Gianni Puccini, ein Freund Viscontis, von dem oben schon einmal die Rede war, sah zufällig das Manuskript im Ministerium Paolinis. Auf der ersten Seite stand, mit Rotstift, "Keine Briganten mehr!". Der Film konnte nicht gedreht werden. Visconti schrieb nun mit de Santis, Alicorti und Puccini das Drehbuch zu OSSESSIONE. James Cains THE POSTMAN ALWAYS RINGS TWICE hatte er als maschinengeschriebenes Manuskript von Jean Renoir erhalten. Diesmal erhob die Zensur keine Einwände. Aber, erzählte Visconti später, als die Dreharbeiten begonnen hatten, intervenierten die Faschisten auf jede nur denkbare Weise; sie wollten die ersten "rushes" sehen, verschiedene Szenen sollten geschnitten werden. Er störte sich nicht daran. "Ich stellte den Film so, wie ich es wollte, fertig und sorgte für eine Aufführung in Rom. Es war, als explodiere eine Bombe im Kino: Die Menschen sahen einen Film, den sie nicht für möglich gehalten hatten." Mussolinis Regierung nahm den Film mit in den Norden, schnitt ihn um und vernichtete die Negative. Dass trotzdem heute noch eine Originalfassung existiert, verdanken wir einer Schwarzkopie, die Visconti gleich mithergestellt hatte.

Die Fabel dieses historisch bedeutsamen Films ist einfach: Gino (Girotti), ein Landstreicher, kommt zu Braganna (de Landa), einem Tankstellenwärter und Gastwirt. Gino und Bragannas junge Frau, Giovanna (Calamai), verlieben sich und beschliessen, Braganna zu töten. Nach dem Mord freundet sich Gino mit einer Tänzerin an, weil er sich von der Kaltblütigkeit Giovannas abgestossen fühlt; erst das Kind, das Giovanna von Gino erwartet, führt sie wieder zusammen. Sie fliehen, verunglücken, Giovanna stirbt, Gino wird an der Unglücksstätte von der Polizei verhaftet.

Visconti hatte freilich nur die Grundzüge der Cainschen Fassung übernommen. Seine Gestalten lebten in Oberitalien. Es waren nicht mehr die sonnigen Postkartenansichten, die strahlenden Hereonen des offiziellen Films: trostlose Landschaften, ölverschmierte Strassen, als Menschen verkleidete Sklaven. "Das Wunder von OSSESSIONE", erklärte der Kritiker Antonio Pietrangeli, "erlaubt uns, der Geburt eines Stils beizuwohnen, eines Stils, der eine neue Haltung und eine neue Empfindsamkeit offenbart, ebenso in einer besonderen Gabe, die Dinge wahrzunehmen, wie in der Kunst, sie neu zu schaffen und wiederzugeben." Und Enno Patalas schrieb 1959 zu OSSESSIONE, der nach 17 Jahren unter dem Titel "Von Liebe besessen" in Deutschland zu sehen war: "Die melodramatischen Grundzüge verdeckt Visconti - richtiger: hebt er auf - durch eine episch ausführliche und genaue Erzählweise. Es sind weniger die Handlungen der Personen, in denen sich die entscheidenden Ereignisse vorbereiten, als hundert Details in ihren Lebensumständen und den Begleiterscheinungen ihrer Beziehungen. In jeder Einstellung ist ein solcher Reichtum an authentischen Details zusammengerafft, dass die Leinwand förmlich den Geruch der Wirklichkeit selbst auszustrahlen scheint _... Viscontis Stil hat mit dem Rossellinis nur das freilich unbedingte Bemühen um die Echtheit des Bildinhalts und den fotografischen Verismus gemeinsam, seine Methode der künstlerischen Wiedergabe ist der des rosselinischen genau entgegengesetzt. Fügt Rossellini seine kurzen Einstellungen in schlichtem Schnitt hintereinander und verleiht seinen Filmen damit das Skizzenhafte einer Reportage, so bindet Visconti die Details in brillant ausgedachten, oft überaus komplizierten Kameraschwenks und -fahrten. Er vermittelt der Erzählung damit eine Kontinuität, die Rossellini geradezu vermeidet."

An dieser Stelle muss von Rossellini, der italienischen Dokumentarfilmschule und deren Bedeutung für den Neorealismus gesprochen werden. Die Kriegsdokumentarfilme, vom Staat in Auftrag gegeben, waren natürlich für die Zwecke der Propaganda gedacht. Unter dem Einfluss des Marinekommandanten Francesco de Robertis, der mit UOMINI SUL FONDO, LA NAVE BIANCA und ALFA TAU hervortrat, wurden sie zu klaren und präzisen Berichten, in denen jede Agitation fehlte. Einer seiner Schüler war Roberto Rossellini, der als erste Arbeiten die Militärfilme UN PILOTA RITORNA und UOMA DELLA CROCE vorlegte. Der sachliche Umgang mit der Wirklichkeit und der Dokumentarstil der frühen Arbeiten schlugen sich dann auch in seinen beiden grossen Filmen ROMA CITTA APERTA und PAISA (1946) nieder, die dem Neorealismus endgültig zum Durchbruch verhelfen sollten. "Rom, offene Stadt", 1945 gedreht, - im Norden des Landes tobten noch die letzten Partisanenkämpfe - war das Epos des römischen Widerstandes gegen ein Gewaltregime, PAISA summierte die Erfahrungen der Kriegs- und Partisanenzeit. Beide Filme waren mehr als eine Chronik, sie dokumentierten politisches Bewusstsein, moralische Haltung und vor allem gesellschaftliches Engagement - eben jene Geisteshaltung, von der eingangs die Rede war. Darin unterschied sich auch der "neue" Realismus von dem frühen Realismus, der einst dem D' ANNUNZIANISMUS entgegengetreten war. Blieb auch der realistische Stil (im weitesten Sinne) adäquates Ausdrucksmittel, die Erfahrungen der Resistance jedoch waren das entscheidende Erlebnis der Neorealisten.

In der Literatur kennzeichneten nach Hans Hinterhäuser drei Charakterzüge den Neorealismus, deren dialektische Funktion er betont: "die absolute Verneinung des Vergangenen, der Literatur des faschistischen ,ventennio nero', die man als .kunstgewerbliche Kalligraphie' in Bausch und Bogen verwarf. Dem ,Platonismus' der Vorgänger gegenüber entdeckte und proklamierte man jetzt die ,soziale Funktion der Schriftsteller', die pessimistischen Betrachtungen über die Rolle der Intellektuellen in der modernen Gesellschaft, welche gegen Ende der zwanziger Jahre Benda, Ortega, Croce und Gramsci angestellt hatten - durch das Erlebnis der Resistance schienen sie Lügen gestraft. In Erkenntnis ihrer politischen Verantwortung hatten sich die jungen ,clercs' an die Spitze der italienischen Erneuerungsbewegung gesetzt _... Das Zweite war ein relativ homogener Themenkreis. Der Partisanenkrieg, die sittliche Unordnung der Nachkriegszeit, die Welt des Proletariats und des Bauern vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Bewegung: das waren die Gegenstände der neuen Erzählkunst _... Verbindend wirkte endlich die Suche nach einem adäquaten Gewand für die neuentdeckte Welt - das, was ein grimmiger Gegner aus der älteren Generation die ,Poetik des Schlechtschreibens' genannt hat. Auch die alten Veristen hatten die in der Manzonischule entartete Sprache aus dem Born der Dialekte erneuern wollen, aber sie hatten doch im wesentlichen deren Struktur unangetastet gelassen. Die Neorealisten dagegen gebärdeten sich als rechte Bilderstürmer _... Als ihre Väter und Meister bezeichnen die Jungen selbst Pavese und Vittorini. Ihre Schriften wurden, zusammen mit denen Vergas und der amerikanischen Romanciers, zum Kanon des Neorealismus." Die Parallele liegt auf der Hand: war es Rossellini gewesen, der mit ROMA CITTA APERTA und PAISA die Themen der Kriegs- und Partisanenzeit künstlerisch geformt hatte, und war es das Gespann de Sica-Zavattini gewesen, das nach "Kinder sehen uns an" mit SCIUSCIA (1946) die Geschichte der Schuhputzjungen in einer korrupten Nachkriegswelt erzählte, so war es schliesslich Luchino Visconti, dem es in LA TERRA TREMA (Die Erde bebt, 1948) gelang, der allgemeinen Daseinserfahrung des Proletariats Gestalt zu geben. Selbst De Sicas-Zavattinis LADRI DI BICICLETTE (Fahrraddiebe, 1948), zwar bewundernswert in ihrer Durchdringung der sozialen Wirklichkeit, vermochten trotz aller ihrer Vorzüge nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sie im Grunde die individuellen Erfahrungen und Leiden des Protagonisten schilderten. In LA TERRA TREMA protestiert der junge Fischer 'Ntoni gegen die Händler, die seit Jahrhunderten die harte Arbeit der Fischer ausbeuten. Sein Aufstand gegen die etablierte Ordnung scheitert, stürzt ihn und seine Familie ins Unglück.

Visconti zeigte hier nicht nur den Kampf sizilianischer Fischer um ihr tägliches Brot, das Leben der Familien, in einer krypto-feudalistischen Gesellschaftsordnung, ihre stille Resignation, die 'Ntoni glaubte wieder aktivieren zu können, sondern er zeigte vor allem das, was Sadoul die "soziale Bewusstseinswerdung" genannt hat; die Einsicht, dass die Revolte des einzelnen vergeblich ist, dass nur die Solidarität der Unterdrückten die Niederlage des einzelnen verhindern kann. Die Vorlage zu LA TERRA TREMA lieferte der Roman I MALAVOGLIA von Giovanni Verga. Wie der Roman, so war auch der Film Viscontis als Trilogie konzipiert. Vollendet wurde nur jeweils der erste Teil. Bei Visconti sollten neben den Fischern noch die Arbeiter der Schwefelgruben und die Bauern zu Wort kommen. Die Originalfassung des ersten Teils allein läuft drei Stunden. In epischer Breite mit minutiöser Genauigkeit und in langen Einstellungen entwickelte Visconti die Handlung. Als Darsteller bediente er sich der sizilianischen Fischer, mit denen er in langwierigen Besprechungen und unter Verwendung ihrer situationsgebundenen Anregungen die einzelnen Szenen festlegte. Der Dialekt der Sizilianer erschwerte selbst den Italienern ein durchgehendes Verständnis. Der Film musste untertitelt werden. Visconti: "Die Originalfassung, die ich noch besitze, und die untertitelte Fassung, die in Venedig gezeigt wurde, ist in echtem Sizilianisch gesprochen. Es ist eine aussergewöhnliche Sprache. Une langue qui a des images. Nur Verga hat das nachfühlen können _..."

LA TERRA TREMA war Meisterwerk und Höhepunkt des Neorealismus, vollendeter Ausdruck der Geisteshaltung, wie sie einst von den Neorealisten postuliert worden war. Und es war nicht Kalligraphismus oder Manierismus, dessen Einfluss manche Kritiker aus den Bildkompositionen von LA TERRA TREMA ableiten wollten, sondern eher eine Verwandtschaft mit Flahertys MEN OF ARAN, an den stark die Szene mit den auf den Klippen wartenden Frauen erinnerte.

In den nächsten Jahren gelang es dann auch nur Visconti, erneut die "Interdependenz der Personen und der historischen Verhältnisse" (Gregor) zu gestalten, nämlich in SENSO (1954). Rossellini hatte sich in die Intimität von AMORE geflüchtet, seine Ingrid-Bergman-Epoche hielt ihn beschäftigt. De Sicas MIRACOLO A MILANO (Das Wunder von Mailand, 1950) und UMBERTO D. (1952) waren grosse Leistungen, jedoch keine Meisterwerke geworden. Sie schienen aber Wege einer möglichen Weiterentwicklung des Neorealismus aufzuzeigen. ROMA STAZIONE TERMINI (1953) brachte dann den Zusammenbruch. Und Viscontis Part mit Anna Magnani in dem Episodenfilm SIAMO DONNE (Wir Frauen, 1953) und BELLISSIMA (1951) zeigten deutlich, wie weit sich die ehemals Gleichgesinnten in einer veränderten Gesellschaft voneinander entfernt hatten; denn dass der Neorealismus Sozialrevolutionäre Tendenzen enthielt und so zu einem gefährlichen Kampfmittel werden konnte, hatten in Italien die Kräfte, die den neuen Staat aufzubauen und zu festigen gedachten, früh erkannt. Die Regierung Parri deklamierte zwar 1945, dass die "Ausübung der Produktionstätigkeit auf dem Gebiete des Films frei" sei, bezog sich aber gleichzeitig auf die Zensurbestimmungen aus dem Jahre 1923, die diese Freiheit begrenzen sollten. Am 16. Mai 1947 - De Gasperi wurden die linksradikalen Koalitionspartner gerade lästig - wurde das "Zentralbüro für Kinowesen" errichtet und direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt. 1949 endlich war es der Democrazia cristiana gelungen, über den "nationalen Charakter" der Filme entscheiden zu können und somit über den Empfänger der staatlichen Prämien. Damit keine Lücke blieb: das Gesetz erlaubte fortan dem Unterstaatssekretär u.a. auch, über Ein- und Ausfuhr von Filmen zu entscheiden, die Zensur zu überwachen und Konzessionen für Lichtspieltheater zu verteilen. Daneben liefen auf vollen Touren die Kreuzzüge der Interessierten: die neorealistischen Filme wurden zu "Filmen der nationalen Schande", deren Schöpfer in Listen "kommunistischer Filmkünstler" aufgenommen. Die regierungstreue und klerikale Presse überschlug sich geradezu. Das "Centro cattolica cinematografico" der "Katholischen Aktion" trat wahrhaft in Aktion: es veröffentlichte Zensurlisten, schuf die "Pfarrkinos" (1954: ca. 4000 d. h. ein Drittel). Den "Ciroli del Cinema" traten die "Cinefora", die "Schwarzen Filmclubs" gegenüber. Gewiss: diese Aspekte allein können das komplexe Bild der neuen Gesellschaftsordnung nicht vermitteln, wohl aber die Tendenzen aufzeigen.

Drei Jahre nach LA TERRA TREMA erschien, 1951, BELISSIMA. Maddalena Cecconi (Anna Magnani), Frau eines Arbeiters, versucht am "Glück der grossen Welt" zu partizipieren. "Der wahre Anlass", so Visconti später in einem Interview, "war die Magnani. Ich wollte mit ihr das Portrait einer Frau schaffen, einer zeitgenössischen Frau, einer Mutter. Und ich denke, dass mir das auch gelungen ist. Denn die Magnani stellte mir ihr Talent, ihre Persönlichkeit, zur Verfügung. Das war das, was mich interessierte - nicht so sehr das Film-Milieu". Die grosse Welt ist für die Proletarierin natürlich die Welt des Films. Ihre Tochter soll dort ein Kinderstar werden. Ehrgeizig und verbissen verfolgt sie ihr Ziel, gibt ihr Kind der Lächerlichkeit preis. Und nur die sarkastischen und zynischen Bemerkungen, mit denen die Filmleute die ungeschickten Versuche des Kindes kommentieren, vermögen sie von der Fragwürdigkeit ihres Vorhabens zu überzeugen. Sie lehnt schliesslich den angebotenen Vertrag ab.

Visconti traf die spezifische Atmosphäre der Arbeiterwohnungen und ihrer Umgebung, die der Studios. Das Freilichtkino, die Feiertagskneipe, sind mehr als Attribute, sind notwendige Elemente, die, wie in LA TERRA TREMA der nicht überpinselte Name "Mussolini" in der frischgetünchten Amtsstube, dort das politische, hier das soziale Bild kennzeichnen. So begleitete auch jeden Auftritt des Regisseurs in BELLISSIMA (dargestellt von dem zwiespältigen Regisseur Allessandro Blasetti) das musikalische Motiv "Le thème du Charlatan" aus "L' Elisier d' amour". Visconti enthielt sich jeder Sentimentalität; er denunzierte die Illusionen einer Arbeiterfrau, die Methoden der Filmindustrie und ihrer Randgestalten, führte die Mutter aus ihrer Traumwelt zur Selbstbehauptung. Das Thema des Widerstandes, Stimulans der Neorealisten in den ersten Jahren nach dem Kriege, griff Visconti erst 1954 auf. Schon die Wahl des geschichtlichen Hintergrundes zeigte, dass er nicht eine Chronik der Ereignisse, wie es vor ihm Rossellini getan hatte, zu schreiben gedachte. Der Abstand der Jahre beeinflusste sicher die Gestaltung des Themas, verdeutlichte aber erneut den grundlegenden Unterschied zwischen beiden Regisseuren: Rossellinis ROMA CITTA APERTA und PAISA faszinierten durch authentische Dokumentation, überwältigten emotional, während Viscontis LA TERRA TREMA durch die Intellektualisierung des Themas den Betrachter distanzierte, ihn überzeugte. Von hier aus ist auch das spätere künstlerische Versagen der Neorealisten in einer Wirklichkeit, die nicht mehr die des Jahres 1945 war, verständlich. Visconti bewies mit SENSO (Sehnsucht), dass die Ästhetik des Neorealismus, so verstanden, auch den Anforderungen einer anderen Zeit und einer anderen Gesellschaft gerecht werden kann, - ohne Verzicht auf politisches und soziales Engagement, ohne den Ausweg ins Artifizielle. Er wandelte die gleichnamige Novelle des romantischen Camillo Boito in wesentlichen Punkten ab. Livia betrügt zwar auch jetzt ihren Mann mit dem feindlichen Offizier, Franz Mahler, aber ihr Mann ist nicht mehr Soldat, sondern ein Opportunist, der mit der österreichischen Besatzung fraternisiert und gleichzeitig Verbindung zu den Widerstandskämpfern "für die Zeit danach" sucht. Livia, die gräfliche Geliebte, gibt dem Deserteur Franz nicht mehr ihre Juwelen, damit er die Ärzte, die ihn vom Kriegsdienst befreien sollen, bestechen kann, sondern das ihr von den Partisanen anvertraute Geld. Livia befriedigt durch die Denunziation ihres Geliebten bei Boito ihr Rachegefühl, Visconti dagegen lässt sie wahnsinnig werden. Boito kolorierte diese leidenschaftliche Liebesgeschichte lediglich mit den geschichtlichen Ereignissen.

Das Risorgimento ist background für ihn, für Visconti politisches und moralisches Geschehen, mit dem individuelles Erleben untrennbar verbunden ist. Ein historischer Film? Szenen der Schlacht bei Custozza mussten auf Einspruch des römischen Verteidigungsministeriums hin entfernt werden; die Jury des Venediger Festivals hatte SENSO schon früher diskreditiert. Auf die Frage, ob ihm die gesellschaftlichen oder persönlichen Aspekte in SENSO wichtiger gewesen seien, antwortete Visconti: "Es war meine Absicht, ein Bild der italienischen Geschichte zu geben und diesem die persönliche Geschichte der Gräfin Serpieri gegenüberzustellen, obgleich sie nur die Vertreterin einer bestimmten Klasse ist. Mich interessierte die Geschichte eines Krieges, der in einer Niederlage endete und der das Werk einer einzelnen Klasse war. Die erste Fassung unterschied sich sehr von der jetzigen. Sie endete z. B. nicht mit dem Tod von Franz: wir sahen dort Livia durch eine Gruppe betrunkener Soldaten gehen, und der Schluss zeigte einen jungen österreichischen Soldaten - sehr jung, ungefähr sechzehn Jahre alt, vollkommen betrunken, an eine Mauer gelehnt, ein Siegeslied gröhlend _... Dann hörte er auf und weinte und rief: "Es lebe Österreich!" _... Wir hätten Franz mit seinen Problemen allein gelassen, hätten ihn nicht verdammt. Es war so unwichtig, ob er starb oder nicht _... Man sah nur sie (Livia), wie sie ihn denunzierte, durch die Strassen rannte, selbst so etwas wie eine Dirne wurde, von einem Soldaten zum anderen rannte, dann fortlief und "Franz, Franz!" schrie. Und dazu den jungen Soldaten, der all die repräsentiert, die den Sieg bezahlen mussten und der weinte und weinte und schrie: "Es lebe Österreich!". Aber ich musste schneiden. Die Negative wurden verbrannt _... Das wirkliche Ende, das war jener junge Soldat, ein junger österreichischer Bauer, der keine Verantwortung trug, der weinte, weil er betrunken war. Oder vielmehr: der singt, weil er betrunken ist, der weint, weil er ein Mensch ist, der schreit "Es lebe Österreich" am Tage eines vergeblichen Sieges, denn Österreich wird bald untergehen, wie es Franz gesagt hatte. Dieser Schrei und die Tränen des jungen Soldaten waren ungeheuer wichtig. Kurz, der Film hätte CUSTOZZA heissen und mit "Es lebe Österreich" enden müssen. Das wäre dann SENSO gewesen."

SENSO beginnt im Teatro La Fenice in Venedig, mit dem 3. Akt des "Troubadour"_... und dieses Melodrama verlässt das Rampenlicht und geht in die Wirklichkeit über. Das ist die Geschichte von SENSO, ein Melodrama: deshalb beginnt dieser Film mit der Theatersequenz. Meine Arbeit am Theater beeinflusste ganz sicher diesen Film." Und ein Kritiker stellte wohl zu Recht fest, dass alle Filme Viscontis ein wenig "theatralisch" und alle seine Theaterinszenierungen ein wenig filmisch seien. Visconti sieht darin keinen Vorwurf, eher ein Kompliment. Er beruft sich auf Georges Méliès.

Visconti begann seine Theaterarbeit als Bühnenbildner und auch heute noch, längst der berühmteste Theaterregisseur Italiens, entwirft er seine Bühnenbilder selbst. Nach OSSESSIONE, am 30. Januar 1945, debütierte er mit LES PARENTS TERRIBLES von Jean Cocteau. Es folgten Stücke von Hemingway, Kirkland, Tenessee Williams, Jean Anouilh, Arthur Miller, Tschechow, Strindberg und Giovanni Testori, vor allem aber Shakespeare. Stendhal soll sich als Grabinschrift "Er verehrte Cimarosa, Mozart und Shakespeare" ausbedungen haben, Visconti dagegen will "Er verehrte Shakespeare, Tschechow und Verdi" auf seinem Grabstein verewigt sehen. Denn Visconti ist nicht nur der berühmteste Theaterregisseur Italiens. Er inszenierte auch Verdis LA TRAVIATA, DON CARLOS, MACBETH und Vincenzo, Bellini, Donizetti. Berühmt wurden seine Inszenierungen an der mailänder Scala, mit der Callas. "Verdi und das italienische Melodrama sind meine erste Liebe gewesen. Fast stets in Filmen und auch in Theaterinszenierungen haftet meinem Werk ein melodramatischer Zug an." Film-, Theater- und Opernkritiker konstatieren immer wieder diesen Hang zum Melodramatischen, Unwahrhaftigkeit jedoch wirft ihm niemand vor. Seine Inszenierungen sollen durch die Präzision bestechen, die wir von seinen Filmen her kennen. Seine Arbeitsweise: nach wiederholtem Textstudium habe sich ihm ein ganz bestimmtes Bild eingeprägt, danach arbeite er jede Szene ganz genau aus, stecke den Rahmen ab. Es folge seine Interpretation, der sich die Schauspieler unterzuordnen, sich vollkommen zu eigen zu machen hätten. Dann "lege ich den Rhythmus fest und, wie für eine Symphonie, auf eine gewissermassen musikalische Weise die Rollen innerhalb des Handlungsablaufs, mit ihren tempi, - allegro, piano, andante." Bei seiner Filmarbeit sei das nicht wesentlich anders. Er hasse es, den Film im voraus bis ins kleinste Detail zu fixieren, halte sich nur an die allgemeine Konzeption, "auf den Millimeter genau _... Im Film muss man immer den Eindruck der Improvisation haben. Der Film existiert nicht. Man muss ihn, wenn man kann, auf dem Höhepunkt, erfinden. Ein Text von Tschechow ist trotz allem ein Text von Tschechow, während eine von mir fixierte Inszenierung eine ständige Umformung duldet." Viscontis Bühnentätigkeit erschöpft sich nicht in Theater- und Operninszenierungen. Er trat auch als Choreograph hervor: 1956 mit "Mario und der Zauberer" nach Thomas Mann und 1957 mit "Marathon de Danse" (Musik: Hans Werner Henze) in Berlin.

Viscontis LE NOTTI BIANCHE (Weisse Nächte, 1957), von einem Teil der Kritik als Seitensprung deklassiert, erinnerten nur in ganz wenigen Szenen an seine früheren Filme. Natalia (Maria Schell) wartet auf den Fremden (Jean Marais), der versprach, wiederzukommen. Sie erliegt der Faszination des Fremden. Mario ist nur ein Zwischenspiel. Vergessen, als aus der Irrealität die Traumgestalt eines Jahres wieder Realität wird. Eine Märchenwelt, theatralisch und romantisch zugleich, Kamera und Dekors geben sich alle erdenkliche Mühe, diesen Eindruck zu verstärken. Brücken, Kanäle, Trümmer, Bars, Neon - eine Nebellandschaft, in der die Personen nicht agieren, sondern bewegt werden, an der Grenze von Traum und Wirklichkeit. Nach Dostojewskis Novelle drehte Visconti diesen Film. Auf der Suche nach einer Vorlage, "realistisch, die mir aber auch die Möglichkeit gab, ein wenig ins Reich der Träume vorzudringen", schlug Emilio Cecchi diesen Stoff vor. Bei dem Versuch, "einmal etwas anderes zu machen als jenen Neorealismus _..., um eine neu geschaffene, ungeformte Realität zu erreichen _..." trat der Theater- und Opernregisseur in den Vordergrund, vernachlässigte die Aspekte, die bisher seine Filme ausgezeichnet hatten, beschrieb die andere Wirklichkeit als eine mythische, phantastische _... Der Film wurde in nur sechs Wochen fertiggestellt, für Visconti eine "phantastische" Zeit. Vielleicht war das das Übel, entschuldigte er sich später. Denn Visconti braucht viel Zeit, nicht nur zur Herstellung der Filme, sondern auch zur Entwicklung der Handlung und Charaktere. Zeit, die ihm offensichtlich auch zur Fundierung seiner Episode "Der Job" in BOCCACCIO 70 (1961) fehlte. Denn die wenigen grossen Sequenzen dieser gesellschaftskritischen Studie konnten den Eindruck einer klischeehaften Konstruktion nicht verwischen. Viscontis Hang zur Typisierung - angedeutet in ROCCO E I SUOI FRATELLI (Rocco und seine Brüder, 1960) und dort schon Ansatzpunkt einer jeden möglichen Kritik - erwies sich hier als entscheidender Fehler.

Mit ROCCO hatte Visconti ein Thema aufgegriffen, auf dass er schon beim Studium der Schriften Vergas und bei seiner Arbeit an LA TERRA TREMA gestossen war. Die Geschichte einer Familie nämlich, deren Mitglieder mit dem grossen Problem Italiens, dem Gegensatz zwischen dem hochindustrialisierten Norden des Landes und der Misere des Südens, konfrontiert werden. Jeden Tag verlassen Menschen ihre südliche Heimat, in der Hoffnung, im Norden Italiens ein menschenwürdigeres Leben führen zu können. Aus dem 'Ntoni (LA TERRA TREMA) ist Ciro in ROCCO geworden: der desillusionierte Fabrikarbeiter, der sich der neuen Umwelt angepasst, sich ihren Gesetzmässigkeiten unterworfen hat. Anders als 'Ntoni, dessen Niederlage nur eine vorläufige schien, resigniert Ciro, wenn auch mit dem Bewusstsein, dass diese Welt nicht die beste aller möglichen Welten sein kann. Ciro scheitert im Grunde, vermag aber weiterzuleben; seine Brüder, Simone, archaisch und vital, Rocco, ein Heiliger, versagen. Was in LA TERRA TREMA Visconti greifbar nahezuliegen schien, die endliche Selbstbehauptung seines Protagonisten nämlich, ist nicht erreicht, aber noch erreichbar. Luca, der Jüngste, bleibt seine Hoffnung. Rosario, die Mutter, ist Maddelena aus BELLISSIMA und 'Ntonis Mutter aus LA TERRA TREMA zugleich, Nadia nahezu die Giovanna des Jahres 1961 aus OSSESSIONE. Thomas Manns ,Joseph und seine Brüder', die Bibel, Dostojewskis ,Idiot' und Testoris ,Il ponte della Ghisolfa' lieferten die Motive zu ROCCO, meisterhaft in Regie und Bild. Die Kamera Rotunnos fing Bilder ein, deren Intensität Viscontis Pathos und Melodramatik spürbar reduzierte, Konfliktsituationen adäquat interpretierte. ROCCO ist der Versuch, die politischen, sozialen und individuellen Problemstellungen, die sich aus dem Phänomen der Binnenemigration ergeben, zu bewältigen, zugleich aber das Bild "des Menschen im Übergangsstadium zwischen der kapitalistischen Epoche und einer besseren Zukunft" (Berghahn) allgemeingültig zu zeichnen. Visconti warnt nicht nur durch Ciro den Jüngsten, Luca: "Simones Schlechtigkeit ist so gefährlich wie Roccos Güte _... Rocco ist ein Heiliger. Aber in der Welt, in der wir leben, in der Gesellschaft, die die Menschen geschaffen haben, ist kein Platz mehr für Heilige wie ihn. Ihre Frömmigkeit ruft nur Katastrophen hervor" sondern er lässt Ciro auch von der Zukunft seines Landes erzählen, vielleicht aber nur träumen.

"Ist das Pessimismus?" fragt Visconti sich selbst und antwortet "Nein, es ist nicht pessimistisch, da mein Pessimismus Mittel zur Ergründung der Wirklichkeit ist _..." Guido Aristarco schrieb: Die Erde bebt noch.       F. W. Vöbel
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Luchino Visconti: Werkverzeichnis

Filme

Ossessione, 1942 (Von Liebe besessen) Giorni di gloria, 1945 (Visconti Mitarb.)
La terra trema, 1948 (Die Erde bebt) Bellissima, 1951
Appunti su un fatto di cronaca, 1951 (Visconti Mitarbeiter) Siamo donne, 1953 (Wir Frauen, 5.Episode
Senso, 1954 (Sehnsucht) Le notti bianche, 1957 (Weisse Nächte)
Rocco e i suoi fratelli, 1960 (Rocco und seine Brüder) Boccaccio 70, 1961, 2. Episode: Der Job
(in Vorbereitung: ,Der Leopard' nach dem Roman von di Lampedusa)

Theater Oper Ballett

1945 Les parents terribles, von Jean Cocteau, Rom 1945 La cinquieme colonne, von Ernest Hemingway, Rom
1945 La machine à ecrire, von Jean Cocteau, Rom 1945 Adam, von Marcel Achard, Rom
1945 La route au tabac, von John Kirkland, Mailand 1946 Le mariage de Figaro, von Beaumarchais, Rom
1946 Schuld und Sühne, von Gaston Baty (nach Dostojewskij), Rom 1946 Die Glasmenagerie, von Tennessee Williams, Rom
1946 Eurydice, von Jean Anouilh, Mailand 1948 As You Like It, von Shakespeare, Rom
1949 A Streetcar Named Desire, von Tennessee Williams, Rom und Mailand (1951) 1949 Oreste, von Vittorio Alfieri, Rom
1949 Troilus and Cressida, von W. Shakespeare, Florenz 1951 Death of a Salesman, von Arthur Miller, Rom
1951 Il seduttore, von Diego Fabbri, Venedig 1952 La locandiera, von Carlo Goldini, Venedig
1952 Drei Schwestern, von Anton Pawlowitsch Tschechow, Rom 1953 Le tabac fait mal, von A. P. Tschechow, Mailand
1953 Medea, von Euripides, Mailand 1954 Festival, von Age, Scarpelli, Verde und Vergani, Mailand
1954 Come le foglie, von Giuseppe Giacosa, Mailand 1954 La vestale, von Gaspare Spontini, Mailand
1955 La somnambula, von Vicenzo Bellini, Mailand 1955 La Traviata, von G. Verdi, Mailand
1955 The Crucible, von Arthur Miller, Rom 1955 Onkel Wanja, von A. P. Tschechow, Rom
1956 Mario und der Zauberer, nach Thomas Mann, Choreographie L. Visconti, Mailand 1957 Froken Julie, von A. Strindberg, Rom
1957 Anna Bolena, von G. Donizetti, Mailand 1957 Iphigenie auf Tauris, von Chr. W. Gluck, Mailand
1957 Maratona di danza, Choreographie: L. Visconti Musik: H. W. Henze, Berlin 1957 L' impresario delle Smirne, von C. Goldoni, Venedig
1958 A View from the Bridge, von Arthur Miller, Rom 1958 Don Carlos, von Giuseppe Verdi, London
1958 Macbeth, von Giuseppe Verdi, Spoleto 1958 Immagini e tempi di Eleonora Duse, von G. Guerrieri, Rom
1958 Look Homeward, Angel, von Ketty Frings, Rom 1958 Two for the Seesaw, von William Gibson, Paris
1958 Mrs. Gibbons' Boys, von Will Glickman und Jos. Stein, Rom 1959 Figli d' arte, von Diego Fabbri, Rom
1959 Il duca d' Alba, von Gaetano Donizetti, Spoleto 1959 L' Arialda, von Giovanni Testori, Rom
1961 'tis Pity she 's a Whore, von John Ford, Paris
(nach Premier Plan 17, Lyon 1961)

Notiz [aus dem Heft 38 herübergenommen]:
Ein Verzeichnis der Literatur, die zum Porträt LUCHINO VISCONTI in FILMSTUDIO 37 herangezogen wurde, konnte dort leider aus Platzgründen nicht mehr mit abgedruckt werden.
Wir bitten unsere Leser um Verständnis und erlauben uns den Hinweis, dass die folgende Zusammenstellung keineswegs als vollständige Bibliographie zu werten ist. Aufgeführt sind nur die Arbeiten, die entweder zitiert wurden oder zur Information greifbar sind.

Jacques Doniol Valcroze et Jean Domarchi: Entretien avec L. Visconti in: Cahiers du Cinéma, März 1959
diess.: Visconti interviewed in: Sight and Sound, Summer/Autumn 1959
Jean Slavik: Rencontre avec Visconti in: Cahiers du Cinéma, April 1960
Luchino Visconti: in: Films and Filming, Januar 1961
Questions à l' auteur (Interview mit Visconti) in: Cinéma Nr. 55
Guido Aristarco: The Earth Still Trembles in: Films and Filming, 1960
ders.: Reticences sur le fond in: Positif 1958, Nr. 28/29
Robert Benayoun: Pour un bilan positif du sujet in: Positif 1961, Nr. 40
Enno Patalas: Filmkunst im Präsens in: film 56, Nr. 1-3 (dort auch Zitat Antonio Pietrangeli)
ders.: Kritik zu Ossessione in: Filmkritik 1959/9
Wilfried Berghahn: Ciro und seine Brüder in: Filmkritik 1961/7
Ulrich Gregor: Fünfzehn Jahre nach Paisa in: Filmkritik 1961/7
Renzo Renzi: Dostoiewski et Visconti in: Cinema Nr. 28
Luigi Chiarini: Cinema quinto potere, 1954 Dokumentation der Ital. Filmtage, Kiel 1961
Manuskript: Der Film in der Welt, Internationale Rundfunkuniversität, österreichischer Rundfunk, Studio Wien, 1960
Hans Hinterhäuser: Italien zwischen Rot und Schwarz Stuttgart 1956
Patrice G. Hovald: Le Neo - réalisme italien et ses créateurs, Paris 1959
Meisterwerke des ital. Stummfilms, Filmstudio Uni Frankfurt, 1959
Georges Sadoul: Geschichte der Filmkunst, Wien 1957
André Bazin: Qu' est - ce que le cinema? T. l, Paris 1958
L. Visconti, Premier Plan, Nr. 17, Lyon 1961 Paul Rotha-Richard Griffith:
The Film till Now London 1960 (3. Aufl.)
Martin Schlappner: Von Rosselini zu Fellini, Zürich 1958
Spectaculum: Texte moderner Filme (Senso) Frankfurt/M. 1961
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Hans Magnus Enzensberger: Die Welt als Scherbenhaufen Anatomie einer Wochenschau

Teil II (Fortsetzung von Heft 36 )

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Verantwortlich für den herrschenden besorgniserregenden Zustand des Aktualitätenfilms sind die derzeitigen Produktions- und Verleihverhältnisse. Fünf grosse Gesellschaften - Paramount, Metro-Goldwyn-Mayer, Warner-Pathé, Gaumont und Fox - kontrollieren nach Angaben des Unesco-Berichts Produktion und Verleih von 115 Wochenschauen in 70 Ländern der Erde. Fast in allen Gebieten (abgesehen von denen des Ostblocks) werden die Marktgesetze für den Aktualitätenfilm von diesen fünf Gesellschaften diktiert. Als wäre damit die Machtkonzentration noch zu gering, sind die genannten Gesellschaften durch Aktienpakete noch untereinander auf undurchsichtige Weise verflochten. Selbst den Experten der Unesco ist es nicht gelungen, die Besitzverhältnisse und Kapitalverschränkungen, die in dieser Industrie vorherrschen, zu entwirren. Sie treffen jedoch folgende Feststellungen, die für die Beschaffenheit der Wochenschauen von Bedeutung sind: "Die grossen Aktualitätenproduzenten in England, USA und Frankreich sind in der Lage, sich zu allen Ereignissen der Welt Zugang zu verschaffen, weil sie über ein grosses Netz von Kameramännern und über Stützpunkte in allen Gebieten der Erde verfügen und weil sie untereinander Austauschverträge geschlossen haben, die ihnen sowohl finanzielle wie technische Vorteile verschaffen. Ihr wirtschaftlicher und technischer Apparat ist so hoch entwickelt, dass sie praktisch ein Weltmonopol für die Filmberichterstattung errichtet haben _... Auf Grund ihrer gegenseitigen Verträge haben sie die Konkurrenz untereinander bis zu einem gewissen Grad ausgeschaltet; an ihre Stelle ist eine Zusammenarbeit getreten, die ihre gemeinsame Herrschaft über den Markt verstärkt _... Diese Vorherrschaft ganz weniger Gesellschaften, die ihre Produktion ganz und gar auf die Wünsche des Durchschnittskonsumenten abgestellt haben, hat dazu geführt, dass sich die Wochenschauen immer mehr einem stereotypen Standardmuster angleichen." Die sogenannten unabhängigen Produktionen, die neben denen der grossen Trusts in vielen Ländern existieren, müssen sich ihrem Muster aus zwei Gründen anpassen: einmal aus reinen Konkurrenzgründen, weil sie auf den Austausch mit ihresgleichen oder mit dem grossen Konzern angewiesen sind. Sie müssen die importierten ausländischen Stories verwenden und umgekehrt Standard-Stories an ihre ausländischen Partner liefern. Letzten Endes unterscheiden sie sich nicht von den Produkten der fünf Grossen. Sie sind, wenn nicht finanziell und juristisch, so doch redaktionell, Filialen des grossen Monopols. Ein Ausscheren aus der Front der Uniformität ist auch für eine unabhängige Produktion unmöglich. Keine Wochenschau ist reich genug, um sich ein eigenes Korrespondentennetz aufzubauen, weil die Gewinnspannen im Wochenschaugeschäft ausserordentlich gering sind. Eine einfache Überlegung zeigt, woran das liegt. Während bei einem Spielfilm die Kosten für die Herstellung von Kopien kein entscheidender Faktor sind, geben sie bei der Wochenschau den Ausschlag. Der Aktualitätenfilm muss ja an alle Filmtheater gleichzeitig geliefert werden, während ein Spielfilm zuerst an wenige Erstaufführungskinos geht. Nach einer, spätestens nach zwei Wochen ist die Wochenschau nichts mehr wert, während der Spielfilm immer weitere Gelder einspielt. Es ist leicht einzusehen, dass für die eigentliche Produktion der Wochenschau nur ein sehr schmaler Kostenanteil bleibt. Dazu kommt, dass die Verleihmieten, die wiederum von den Monopolgesellschaften diktiert werden, ausserordentlich niedrig sind. Die wirtschaftliche Lage einer Wochenschau, die sich dem international üblichen Tiefstand nicht anpasst, wäre offensichtlich verzweifelt: deshalb existiert die intelligente Wochenschau, die Informationen statt Betäubung liefern könnte, nicht. Die Misere der Wochenschau hat strukturelle Gründe.

Der Kulturkritiker, der die erschreckende Qualität der Filmberichterstattung auf den Ungeist der Zeit, auf den Nihilismus oder auf das vulgäre Wesen des Films überhaupt zurückführt, ist mit dieser nüchternen Erörterung bereits widerlegt. Wir brauchen zur Erklärung des Übelstandes weder die Theologie, noch die Philosophie zu bemühen. Hier ist zunächst einmal die Volkswirtschaft zuständig. Sie lehrt uns, dass jede ästhetische oder moralische Kritik, so berechtigt sie sein mag, nichts an der Sache ändern kann, solange die bestehenden Marktverhältnisse unverändert bleiben.

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Das gegebene Fundament für die Produktion einer brauchbaren Wochenschau wäre eine Organisation, die unter öffentlicher, nicht aber unter staatlicher Kontrolle stünde, ein gemeinnütziges Unternehmen, das keine Gewinne ausschüttet und nicht in der Hand mächtiger Kapitalisten wäre: kurzum, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Als Vorbild bietet sich die Organisation des Rundfunks an: Er hat in Deutschland längst eine wirtschaftliche und rechtliche Form gefunden, die, wenn sie nicht das Beste leistet, so doch das Schlimmste verhütet.

Die Wochenschau-Corporation, die wir vorschlagen, sollte mehrere Programme herstellen, unter denen die Kinobesitzer wählen könnten. Sie wäre steuerlich, ebenso wie der Rundfunk, zu begünstigen. Sie könnte auf dieser Basis eine Wochenschau produzieren, die sowohl billiger als auch besser wäre als die Produkte, die heute den Markt beherrschen.

Erst vor dem Hintergrund so einschneidender Veränderungen wird der Vorschlag sinnvoll, den wir abschliessend für den Aufbau einer publizistisch vertretbaren Wochenschau machen wollen. Dieser Vorschlag ist sehr einfach:

Die Anzahl der Stories ist - bei gleichbleibender Länge der Wochenschau - von etwa zwölf auf drei zu reduzieren. Begründung: in fünfundvierzig bis sechzig Sekunden ist keine brauchbare Abbildung eines wesentlichen Ereignisses zu geben. Die rasche Bildfolge verhindert jede Reflexion und desorientiert den Zuschauer statt ihn zu orientieren. Die musikalische Untermalung soll in den meisten Fällen unterbleiben und weitgehend durch die Aufnahme von Originalgeräuschen und Originalsprache ersetzt werden. Auch die hektischen oder überpointierten Begleittexte sind zu streichen und durch nüchterne Feststellungen zu ersetzen. Komplizierte Sachverhalte sind durch Filmgrafiken zu verdeutlichen, die es ermöglichen, auch rein abstrakte Dinge darzustellen. Begründung: die emotionelle Aufheizung des Zuschauers ist ein sachfremdes Mittel der Beeinflussung. Eine Wochenschau, die auf die Erzeugung von Rauschzuständen, auf die Überwältigung des Betrachters abstellt, hat ihren Sinn verfehlt. Auch die Lautstärke, schlichter gesagt, das Gebrüll, dem der Zuschauer heute ausgesetzt wird, ist unzulässig, weil sie dem Informationszweck zuwiderläuft.

Das gezeigte Ereignis muss nach seiner Herkunft und nach seiner Bedeutung ausgewiesen werden. Das blosse Zeigen isolierter Fakten genügt nicht. Begründung: Jede Nachricht wird erst durch ihren historischen Kontext sinnvoll und verständlich. Der Film ist durchaus in der Lage, er ist sogar dazu prädestiniert, Kausalität und Potentialität eines Ereignisses zu zeigen. Wozu gibt es die technischen Möglichkeiten des Filmarchivs, der Montage, der Filmgrafik? Jede Forcierung der reinen Tagesaktualität soll unterbleiben. Es kommt nicht darauf an, das gestrige, sondern das wichtige Ereignis zu zeigen. Begründung: eine Wochenschau ist keine Tageszeitung. Der Konkurrenz des Fernsehens, der Television-Tagesschau, ist die Wochenschau auf die Dauer, was pure Tagesaktualität angeht, nicht gewachsen. Ihre Chance ist mit der einer Wochenzeitung zu vergleichen. Sie kann Ereignisse der jüngsten Vergangenheit genauer und gründlicher, intelligenter und ausführlicher dokumentieren, als die an den Tag gebundene Fernsehsendung.

Reine Unterhaltungsstories haben in der Wochenschau nichts zu suchen. Der Typus "rosige Jolanthe" hat in ihr keinen Platz. Stattdessen hat die Wochenschau die Aufgabe, grosse publizistische Themen aufzugreifen, die in einem weiteren Sinn aktuell sind als dem der Tagessensation. Begründung: Jedermann hat das Recht, seine Bedürfnisse so weit herabzuschrauben, wie es ihm beliebt. Dies gilt auch für die geistigen Bedürfnisse. Der durchschnittliche Spielfilm wird anspruchslosen Gemütern immer gewogen bleiben und sie mit Unterhaltung versorgen, die niemand überfordert. Andererseits muss sich der Zuschauer, der an seiner Gegenwart interessiert ist, über deren wesentliche Fragen, seien sie politischer, wirtschaftlicher, technischer oder kultureller Natur, orientieren können. Dazu ist die Wochenschau da.

Und wie soll ein Fiimbericht aussehen, der nach diesen Grundsätzen redigiert wäre? Beispielsweise so: das erste und kürzeste Element der Bildfolge zeigt, unter dem Serientitel "Das Ereignis der Woche", ein Geschehnis aus dem Berichtszeitraum. Bei seiner Auswahl ist sehr sorgfältig zu Werk zu gehen. Ein Streik, eine Wahl, eine wissenschaftliche Entdeckung, eine schulpolitische Auseinandersetzung verdienen dabei den Vorrang vor manchem spektakulären Ereignis. Der Konsument der Boulevardpresse ist dabei genau zu berücksichtigen, allerdings so, dass das gängige Verfahren dabei umgekehrt wird: was er aus seiner Schlagzeile ohnehin erfährt, braucht ihm nicht noch einmal serviert werden. Auf die bloss formalistische Darstellung von Paraden, Händedrücken, Einweihungen und dergleichen kann man ruhig verzichten: aus diesen immergleichen Bildern ist meist nicht das geringste zu entnehmen.

Das zweite Element ist erheblich breiter darzustellen. Das dargestellte Ereignis sollte zeitlich nicht länger als einen Monat zurückliegen, aber in seinem Kontext gezeigt werden. Die Distanz vom Objekt müsste bei dieser zweiten Story grösser als beim "Ereignis der Woche" sein. Sie sollte bereits eine elementare Diskussion sein, sich nicht mit dem blossen Vorweisen begnügen, sondern Fragen stellen und Deutungen versuchen. Nehmen wir an, der Staatshaushalt sei verabschiedet worden oder eine Regierungskoalition zerbrochen. Die Wochenschau hätte die Ursachen dafür aus ihrem Archiv zu belegen, sie könnte verschiedene massgebende Leute interviewen, ein Schema des Vorgangs entwerfen und ihn dadurch erläutern.

Auf diesem Weg wäre konsequent fortzuschreiten. Die dritte und letzte Story, die zugleich auch die umfangreichste wäre, müsste sich dann, abgelöst von jeder Tagesaktualität, einem grossen Thema zuwenden. Sie hätte grössere, nicht an den Tag gebundene Vorgänge innerhalb unserer Zivilisation darzustellen, etwa die Automation, den Stand der Vorbereitungen zum Weltraumflug, die Problematik der abstrakten Malerei, die Abrüstungsfrage, die Entstehung von Zivilisationskrankheiten, die Rolle der Interessenverbände in unserer Gesellschaft, die Möglichkeiten und Hindernisse modernen Städtebaus: kurz, eine unerschöpfliche Fülle von Themen, die jeden angehen und die der Film sehr wohl darzustellen vermag.

Die meisten Wochenschauleute würden diesen Vorschlägen, so vorläufig und allgemein sie hier ausfallen mussten, vermutlich zustimmen. Mit ihrer Realisierung fiele ihnen eine grosse Chance zu: sie könnten die Fesseln der Routine abstreifen. Die Wochenschau, die sie heute machen, fordert von ihnen nichts als handwerkliche Erfahrung und moralische, ästhetische und intellektuelle Resignation ab. Eine Wochenschau, wie sie sein müsste, verlangt dagegen Intelligenz, Mut, Phantasie und publizistische Lauterkeit. An diesen Eigenschaften fehlt es nicht. Es fehlt an einer Institution, die ihnen die Möglichkeit gäbe, sich zu äussern und zum Besten aller zu wirken. An einer Wochenschau, die der Öffentlichkeit gehört, die von Monopolen, Parteien, Regierungen, Konfessionen unabhängig ist, und die uns statt eines Scherbenhaufens ein triftiges Bild unserer Welt an die Wand malen könnte.
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Rückumschlag

Wenn es für mich möglich wäre, würde ich Filme machen, die das Publikum nicht nur unterhalten, sondern ihm zugleich die absolute Gewissheit vermitteln, dass es nicht in der besten aller möglichen Welten lebt. Und ich glaube, dass meine Absichten dabei im höchsten Masse konstruktiv wären. Die heutigen Filme, auch die sogenannten neorealistischen, widmen sich einer völlig entgegengesetzten Aufgabe. Wie ist es möglich, auf eine Verbesserung des Publikums - und damit der Produzenten - zu hoffen, wenn man uns jeden Tag in diesen Filmen erzählt, und sogar in den fadsten Lustspielen, dass unsere sozialen Einrichtungen, unsere Vorstellungen von Heimat, Religion, Liebe etc. zwar möglicherweise unvollkommen, aber zugleich einzigartig und notwendig seien? Das wahre Opium für das Publikum ist der Konformismus; und die gesamte riesige Welt des Films ist der Propagierung dieses bequemen Gefühls gewidmet, selbst wenn diese Propagierung zeitweilig die trügerische Maske der Kunst annimmt.       Luis Buñuel 1958


Verehrter Leser,
Auf diesen farblich vom übrigen Heft deutlich unterschiedenen Blättern werden wir Ihnen in Zukunft unser jeweiliges Programm präsentieren. Hier werden Sie die wichtigsten Produktionsangaben zu den Filmen finden. Hier werden wir versuchen, Ihnen in wenigen Zeilen das Wichtigste über die Filme zu sagen und vor allem, Ihnen zu erklären, warum wir gerade diese Filme ausgewählt haben. Doch diese Besprechungen sind nur zur schnellen Information gedacht. In einem grösseren Zusammenhang werden die Filme erst durch die Artikel des gesamten Heftes gestellt. Beim Durchlesen werden Sie feststellen, dass es sich bei dieser Zuordnung um verschiedene Reihen von Filmen handelt, Reihen, die zum Teil ein kontinuierlicher Bestandteil jedes unserer Programme sind, zum Teil aber auch solche, deren Themen in jedem Semester vom Programmausschuss vorgeschlagen und danach im Heft und im Programm untersucht werden. Eine der Aufgaben eines Filmclubs ist es, die Filmgeschichte zu illustrieren. So ist die Reihe "früher deutscher Film" von vornherein ein fester Bestandteil des Programms. Der zweite Punkt, auf den ein Filmclub Wert legen sollte, ist die Konfrontation mit neuen Produktionen und neuen Strömungen des In- und Auslandes. In diese Reihe fallen "Samstagnacht bis Sonntagmorgen", Tresslers "Endstation Liebe", der dasselbe Thema schon vorwegnahm, Veselys "brot der frühen jähre", Resnais "Letztes Jahr in Marienbad" und "Moderato cantabile". Dem italienischen Film widmeten wir diesmal besondere Aufmerksamkeit. Wir zeigen von Antonioni "Der Schrei" und "L' Avventura" und im Zusammenhang mit dem Portrait Viscontis dessen Filme "La Terra Trema" und "Rocco und seine Brüder". Wegen seiner Filme "Senso" und "Ossessione" sind die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen. Eine weitere Reihe gilt dem Western. Warum wir uns ihm zuwandten und Ihnen "Rio Bravo", "Faustrecht der Prärie" und "Höllenfahrt nach Santa Fé" zeigen, erklären unsere Ausführungen in diesem Heft. Schliesslich zur letzten Gruppe: Wir wissen, dass die Begeisterung für Hitchcocks Filme gross und deshalb immer ein Kassenerfolg zu erwarten ist. Wir aber terminierten "Weisses Gift", "Aus dem Reich der Toten" und "Das Fenster zum Hof" aus einem anderen Grunde. Hitchcock erscheint uns als ein Beispiel dafür, wie Begeisterung und Kritik zum Teil nicht mehr die Grenzen finden, die das Sujet der Interpretation setzt. Zum Fasching bemühen wir uns um einen Jerry Lewis-Film. Wir hoffen, dass die technischen Schwierigkeiten, die immer eine grosse Rolle spielen, Ihnen und uns diesmal nicht allzuviel Ärger bereiten werden.       Ihr Filmstudio


Die mit der Liebe spielen (L' Avventura)
Frankreich 1959
Regie u. Buch: Michelangelo Antonioni
Darsteller: Gabriele Ferzetti, Monica Vitti, Lea Massari
Während sich Aldo in "Il grido" noch im Tod dem Zwang widersetzt, die Einmaligkeit seiner Liebe zu dementieren, ist sie für Sandro, die Hauptfigur des zwei Jahre später gedrehten Films, nur noch Routine des leeren Konsums. Das Verhältnis zu seiner Geliebten Anna gibt er auf, als diese auf unerklärliche Weise verschwindet. Er beginnt ein neues Verhältnis mit Annas Freundin Claudia, die er einige Tage später mit einer Prostituierten betrügt.
Der Film lässt sich nicht auf seine "reine Fabel" reduzieren. Sie ist nur Vehikel, um das Leid darzustellen, das die vollentfaltete Konsumgesellschaft den Gefühlen des Menschen antut.
Was Regisseure wie Fellini und Vadim plakativ anprangern und dabei im Schielen nach dem Effekt ihrem Objekt selbst verfallen: das leistet die kritische Analyse Antonionis in "L' Avventura": Liebe degeneriert zur Ware. Die hochkapitalistische Gesellschaft deformiert noch jene zu ihren Opfern, die ihre Nutzniesser sein sollten.       WS
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Der Schrei (II Grido)
Italien 1959
Regie: M. Antonioni
Buch: M. Antonioni, Elio Bartolini, Ennio de Concini
Darsteller: Steve Cochran, Alida Valli, Betsy Blair
Was in "Le Amiche" schon aufgegriffen und dann in allen späteren Filmen Antonionis zentrale Problematik wird: die Einsamkeit des modernen Menschen, sein Leiden an der Vergesellschaftung seiner Gefühle, findet in IL GRIDO schon eine erste künstlerische Konkretion. Der proletarische Protagonist des Films, Aldo, verliert seine Frau an einen anderen. Ziellose Wanderungen treiben ihn mit seiner Tochter durch die triste Landschaft der Po-Ebene, deren stumpfe Hoffnungslosigkeit die subjektive Kamera erfasst. Wenn sich Aldo am Schluss das Leben nimmt, so ist das, trotz der etwas melodramatischen Inszenierung, die notwendige Konsequenz seines insistierens auf der Möglichkeit des Glücks, der sich die brutale Realität widersetzt.       WS
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Stunden voller Zärtlichkeit (Moderato cantabile)
Frankreich/Italien 1960
Regie: Peter Brook
Drehbuch: Marguerite Duras, Gérard Jarlot
Kamera: Armand Thirard
Darsteller: Jeanne Moreau, Jean-Paul Belmondo
Eine Frau wird von ihrem Geliebten erstochen. Eine andere ist seltsam von diesem Mord angezogen. In dieser Begegnung weniger Tage gleicht sie einer Somnambulen. Der Fremde, der sie liebt, spürt, dass er nur ein Werkzeug für die unheimliche Lüsternheit auf den Tod ist, mit der die Frau sich aus ihrem bisherigen Leben der völligen Erstarrung befreien will. Er trennt sich von ihr. Die Frau weiss nun, dass ihr Leben ein fortschreitendes Absterben sein wird.
Aus diesem Minimum an Handlung drehte der vornehmlich als Theaterregisseur bekannte Peter Brook nach dem Roman der Marguerite Duras einen Film, der in seiner gemessenen Langsamkeit die musikalische Anweisung des Titels genau erfüllt. Bilder von melancholischer Schönheit bestimmen die Atmosphäre dieses Werkes, das denen Antonionis verwandt ist und das zu den Beispielen des literarischen Films gezählt wird.       BNR
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Der Kongress tanzt
Deutschland 1931
Regie: Eric Charell
Buch: Norbert Falk, Robert Liebmann
Musik: W. R. Heymann
Kamera: Carl Hoffmann
Darsteller: Lilian Harvey, Willy Fritsch, Conradt Veidt
Mit der Erfindung des Tonfilms mogelten sich neben dem Wort auch die Musik und besonders die altgewohnten Operettenklänge auf die Leinwand. "Der Kongress tanzt" nach bewährtem Wiener Ritual: die politische Vertretung, der Adel, taucht in den Waschzuber eines süssen Madels. Seine Bedeutung für einen Schwanz ähnlicher Produktionen ist allenfalls von filmhistorischem Interesse: zweifellos ist die technische Invention im Zeitpunkt seines Entstehens bedeutend. Zur Frage der politischen Abstinenz siehe Remake des Jahres 1961.       HF
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Letztes Jahr in Marienbad (L' année dernière à Marienbad)
Frankreich/Italien 1961
Regie: Alain Resnais
Musik: Francis Seyrig
Drehbuch und Dialoge: Alain Robbe-Grillet
Schnitt: Henri Colpi, Jasmine Chasney
Darsteller: Giorgio Albertazzi, Delphine Seyrig, Sacha Pitoëff
"Es gibt natürlich eine Fabel, mir kommt es aber vorwiegend auf die Darstellung verschiedener psychologischer Themen an: die Überredung durch Worte, die Furcht vor dem Unbekannten, die Vergewaltigung als rituelle und sogar psychoanalytische Vereinigung, wobei durchaus an Elemente unserer modernen Mentalität appelliert wird: die Darstellung nicht kausaler Vorgänge, die Wiederholung in Varianten, die materialisierte Wirklichkeit des Imaginären, die Aktualisierung der Vergangenheit oder der Zukunft und die Vermischung der Zeiten überhaupt."       (Alain Resnais)
Die Details, deren minuziöse Ausgestaltung, werden als Qualitäten des ,nouveau roman' für den Film umgesetzt; die Geschichte ist beendet, bevor sie angefangen hat und ihr filmisches Ende ist in Wahrheit nur die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Die Kamera vernichtet die Räumlichkeit der Zeit und die des Raumes selbst; die Sterilität der descriptiv erfassten Aktion ist Signum der Interpretation: der Betrachter wird in die Rolle des Autors gedrängt, sein Mitwirken am Film ist die Bedingung, die allein den Film ermöglicht. Die Schnittechnik und das Kopieren auf verschieden getöntes Material sind Lesarten eines variablen Geschehens, das in der diffusen Tiefe des Moments endet.       DD
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Faustrecht der Prärie (My darling Clementine)
USA 1946
Regie: John Ford
Buch: Samuel G. Engel
Kamera: Joe McDonald
Musik: Alfred Newmann
Darsteller: Henry Fonda, Victor Mature, Linda Darnell
Um es gleich zu sagen: Wyatt Earp starb 1929 als reicher Mann. Im Bett! Zeit seines Lebens Glücksritter und Aufschneider wurde er wie kein anderer zum legendären Symbol des Guten und Gerechten. Bei John Ford werden seine Attribute - Schlichtheit und Entschlossenheit - zum staatsbildenden Prinzip. Wie Liberty Valance avanciert Earp zum Archetypus einer idealistischen Geschichte Nordamerikas. Ähnliches gilt für Doc Holliday: der von europäischer Zivilisation angewiderte Intellektuelle übernimmt im Angesicht nachbarlicher Aktivität eine neue gesellschaftliche Funktion. Ford selbst gibt mit "Liberty Valance" den besten Schlüssel, "Clementime" wie für alle anderen Filme: Verfälschung der Wahrheit zur Legende ist legitim, wenn sie das GUTE lehrhaft konserviert.       sam
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Weisses Gift (Notorious)
USA 1946;
Regie: Alfred Hitchcock;
Darsteller: Cary Grant, Ingrid Bergmann.

Das Fenster zum Hof (Rear Window)
USA 1954;
Regie: Alfred Hitchcock;
Darsteiler: James Stewart, Grace Kelley, Wendell Corey, Raymond Burr.

Aus dem Reich der Toten (Vertigo)
USA 1958;
Regie: Alfred Hitchcock;
Darsteller: James Stewart, Kim Novak.
Die Entwicklung Hitchcocks nachzuzeichnen, heisst, seinen Weg zur totalen Psychologisierung der jeweiligen Vorlagen vermerken; während WEISSES GIFT Liebesidylle und Kriminalreisser zusammenschmilzt, hat der Regisseur für die Verliebtheit seines Helden in DAS FENSTER ZUM HOF nur ironische Seitenbemerkungen; die Rekonstruktion des Mordes, überhaupt das Aufrollen dessen, was war, ist wichtiger geworden als die Handlung selbst, die nur vorgeblich nach vorne tendiert. Der Fixpunkt ist immer mehr die Perspektive der Hauptperson. Aus ihr heraus entsteht das Bild einer Welt, deren Schlüssel nur Alfred Hitchcock besitzt. Die Realität seiner Filme ist seine hypertrophierte Vorstellung von der Realität. Zwar stimmen die Details pointillistisch genau, nicht aber die Zusammenhänge, die verschleiert werden. Daraus resultiert das primäre Spannungsmoment aller späteren Hitchcockfilme: die Auflösung kommt à la anglaise, wird nachgeliefert. Der Journalist Jefferies ermittelt nur durch Überlegung und private Recherchen die Fakten, die zum vollendeten Mord führen. Scottie, der Ex-Detektiv und Psychopath - er glaubt, durch seine Schuld sei ein Polizist tödlich abgestürzt und leidet seitdem an Schwindelanfällen - erfährt und ermittelt gar nichts, die Auflösung des metaphysisch verputzten Verbrechens wird ihm als billet douce zugestellt. Scottie, Held des Films AUS DEM REICH DER TOTEN, weiss weniger, als der Zuschauer längst ahnt. Der Jux, den sich Hitchcock in diesem Film auf Kosten der Nerven seiner Betrachter macht, distanziert die Spannung von der Fabel, die sie evozieren sollte: die oppressive Kameraarbeit, die Schnittechnik und vor allem der übersinnliche ,touch' bearbeiten einseitig die Kinogänger. Die Lösung kommt nicht als Klimax der Handlung, sondern geht weit über diese hinaus, lässt sie einsam zurück.
Die psychologische Perfektion, die Züge einer Pseudo-Psychologie trägt, lässt diesen Film als ,thriller' attraktiv erscheinen, weil sie ein verfremdetes Zuschauen möglich macht. Vor allem zeigt sich schon hierbei, wie PSYCHO ausfallen musste: ein Lehrstück für Psychoanalytiker.       DD
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Samstagnacht bis Sonntag morgen (Saturday Night and Sunday Morning)
England 1960;
Regie: Karel Reisz;
Buch: A. Sillitoe, nach seinem gleichnamigen Roman;
Darsteller: Albert Finney, Shirley Ann Field, Rachel Roberts.
Karel Reisz Film markiert die Rückkehr des modernen englischen Films zum bewussten sozialen Engagement. Wie seine Vorgänger, Richardons "Look back in Anger" und "The Entertainer", ist "Saturday Night and Sunday Morning" in der FREE CINEMA Schule entstanden. Im Gegensatz aber zu Richardons Osborne-Verfilmungen besitzt Reiszs erster Spielfilm grössere künstlerische Eigenständigkeit und eine realistischere Konkretion der gesellschaftlichen Gegebenheiten, woran Sillitoes hervorragendes Drehbuch wesentlichen Anteil hat. Die düsteren Lebensbedingungen des mittelenglischen Industrieproletariats werden mit fast dokumentarischer Strenge illusionslos dargestellt, ohne dass die Spielfilmhandlung aufgesetzt erscheint. Gerade ihre künstlerische Wahrheit ermöglicht eine überzeugende Darstellung gesellschaftlicher Realität.       GH
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Liebelei
Deutschland 1932
Regie: Max Ophüls
Buch: Hans Wilhelm und Curt Alexander, nach dem gleichnamigen Stück von A. Schnitzler
Musik: Theo Mackeben
Darsteller: W. Liebeneiner, M. Schneider, G. Gründgens
Ophüls 1932 gedrehte "Liebelei" ist ein erster Höhepunkt in seinem Schaffen. Alle spezifischen Momente seines späteren oevres sind hier schon entfaltet.
Erzählt wird die tragische Liebesgeschichte des "Wiener Vorstadtmädels" Christine und des jungen k. u. k. Leutnants, der im Duell mit dem Hahnrei eines seiner früheren erotischen Abenteuer fällt. Christine begeht Selbstmord.
Schnitzlers Fin de Siècle Stück kommt der lyrischen Erzählweise Ophüls entgegen. So entstehen Bilder von subtil-empfindsamem Reiz, die allerdings heute etwas angestaubt sind.       GH
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Endstation Liebe
Deutschland 1957;
Regie: Georg Tressler;
Darsteller: Horst Buchholz, Barbara Frey.
Nach ,Die Halbstarken' und ,Noch minderjährig' ist es Georg Tresslers dritter Film. Die Auffassung von Liebe in unserer Zeit, ohne Sentiment und ideologischem Kitsch, als gesellschaftliches Phänomen darzustellen, ist das Verdienst dieses Films, der zudem das von Illustrierten misshandelte Thema ,Generationsproblem' klar und richtig akzentuiert. Die zur Bewusstseinsaufgabe führende Arbeit des Arbeiters Mecky und das spiessbürgerliche Milieu der Arbeiterin Christa korrelieren zur Typologie zweier Positionen, die nicht das Extreme, sondern vielmehr das Normale erkennen lassen.
Das Milieu wird von Tressler so genau wiedergegeben, dass eingestreute Lyrismen, die mit der Kamera erreicht werden, nicht übermässig stören. Ohne Verschleierung wird verdeutlicht, wie Liebe zum Konsumgut wird, zur Ware, die gehandelt werden kann, in einer Gesellschaft, die den Handel mit allem treibt, was ihr vorgeblich ,heilig' ist. Die Selbstentfremdung des Menschen durch die Arbeit, die ihn zum Konsum zwingt, lässt keinen Raum für die Liebe des Arbeiters und der Arbeiterin; darüber will Tressler allerdings hinwegtäuschen, wenn er den Helden Mecky, der sich gemäss den Maximen seines Clans sehr unheldisch benommen hat, ohne Bewusstseinsveränderung die Liebe zu Christa in den Arbeitsprozess integrieren lässt.
Zumindest einer der wenigen, wenn nicht sogar der einzige Film aus der Bundesrepublik, der nicht schönfärbend das Arbeitermilieu ableuchtet, sondern kritisch darauf reflektiert.       DD

Sein oder Nichtsein (To be or not to be)
USA 1942
Regie: Ernst Lubitsch
Kamera: Rudolf Mate
Darsteller: Jack Benny, Robert Stack, Carol Lomabard
To be or not to be ist die Weiterführung von Lubitschs heiter-beschwingter Ninotschka-Komödie mit einem anderen Thema. Eine polnische Theatergruppe betreibt den Widerstand gegen die NS-Besatzer mit theatralischen Methoden. Die Auseinandersetzung von Geist und Spielfreuden mit brutaler Gewalt und sentimentalem Bierernst musste all jenen Spass bereiten, die sich auf Seiten des Geistes wähnen. Die leidige Problematik der Darstellung des NS-Menschen besteht auch bei diesem Film. Bissige Komik ist ein nur schwaches Mittel gegen Tendenzen der Ausrottung.       R. L.

Die grosse Illusion (La grande illusion)
Frankreich 1937;
Regie: Jean Renoir unter Mitarbeit von Jacques Becker;
Drehbuch und Dialoge: Charles Spaak und Jean Renoir;
Darsteller: Jean Gabin, Eric von Stroheim, Pierre Fresnay.
Der Mensch in Uniform sei nicht identisch mit der Uniform, die er trägt; das, mit völkerverbindendem Pathos und humanitären Zügen, will der Film Renoirs lehren, der wegen seiner toleranten Konzeption bemerkenswert ist; Eric von Stroheim, Vertreter einer engstirnigen Klasse, wird zur Versöhnlichkeit gezwungen durch die urbane Haltung des gefangenen französischen Offiziers. Die Vertreter dreier Klassen des Bürgertums, die in einer deutschen Festung gefangen gehalten werden, sind sicher zu stark typisiert; es ändert aber nichts daran, dass der Film die Gedanken der Einzelnen über den Krieg so wiedergibt, wie sie möglich waren.       DD

das brot der frühen jahre
Deutschland 1962;
Regie: Herbert Vesely;
Buch: Herbert Vesely und Leo Ti, nach der Erzählung von Heinrich Böll;
Kamera: Wolf Wirth;
Musik: Attila Zoller;
Darsteller: Christian Doermer, Karen Blanguernon, Vera Tschechowa.
Herbert Vesely hatte zehn Kurzfilme gedreht, bevor er sich des literarischen Vorwurfs von Heinrich Böll annahm, um jenen für seinen ersten Spielfilm umzufunktionieren; das Ergebnis ist zwar frei von Clischés der Erzählung, hat aber neue durch die perfektionierte Kamera Wolf Wirths aufgesetzt bekommen.
Walter Fendrich, der Protagonist, erfährt einen Bruch in seinem Leben, als er Hedwig begegnet, einem Mädchen, das er jahrelang nicht mehr gesehen hat; Fendrichs Flucht aus der Realität in die antizipierte Zukunft mit Hedwig vermag Vesely durch Aufheben der Zeitkontinuität, durch Rück- und Vorblenden und durch Doppelschau optisch umzusetzen; jedoch mangelt es dem Film an der Gestaltung der Realität, aus der heraus zwei Menschen sich verändern wollen. Die Handlungen sind reduziert auf die Möglichkeiten der Aktion, der schwebende Zustand der Darsteller vernachlässigt die fixierte Problematik.
Der Eindruck, dass Vesely das Portrait einer Stadt habe projizieren wollen, wird verstärkt durch die starke Beweglichkeit der Kamera: sie lässt das Idealbild einer Welt transparent werden, die es nie geben kann, weil darin nur die Menschen leben könnten, die sich vom Zwang der Gesellschaft befreit haben; diese Liberation ist jedoch unmöglich. Veselys Versuch, eine neue Welle in Deutschland zu kreiern, ist weitestgehend fehlgeschlagen. Das Interesse, das wir dem Film entgegenbringen, gilt dem Experiment, dem vielleicht ein Neubeginn folgen wird.       DD
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Wir sind keine Engel
Produktion: USA 1955;
Regie: Michael Curtiz;
Drehbuch: Ronald McDougall;
Musik: Friedrich Holländer;
Kamera: Loyal Griggs;
Darsteller: Humphrey Bogart, Aldo Ray, Peter Ustinov, sowie die Schlange Adolf.
Zwei Mörder und ein Dieb fliehen aus dem Gefängnis zurück in die bürgerliche Gesellschaft, die sie, einem riesigen Pansen gleich, einnimmt und ihnen Rollen dediziert, die die Drei mit der skeptischen Wurstigkeit von "Outsidern" ausfüllen. So wird es grotesk. Alltägliche Begriffsvorstellungen werten sich um: die Regeln der Gesellschaft kehren sich gegen diese. Das Alltägliche nimmt sich in dem Spiegel, der ihm vorgehalten wird, absurd aus, gerinnt zum Zerrbild, über das wir lachen; aber noch im Gelächter dämmert die Ungeheuerlichkeit dieses Tuns, wissen wir, das endlich etwas getötet wird, was schon lange auf der Bahre liegt.       CC
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Rio Bravo (Rio Bravo)
USA 1959;
Regie: Howard Hawks;
Buch: Jules Furthman, Leigh Brackett;
Kamera: Russell Harlan;
Musik: Dimitri Tiomkin;
Darsteller: John Wayne, Dean Martin, Walter Brennan, Ricky Nelson.
Howard Hawks, Idol Godards, verzichtet in seinem Film auf die übliche Wildwestszenerie, sondern entwickelt seine Story in fast anonymer Umgebung, vornehmlich in Zimmern. Sein Thema ist somit nicht spezifisch westlerisch sondern ganz allgemein: Lösung einer gefährlichen Situation durch Intelligenz. Er kann daher auf die übliche sentimentale Motivierung des Handelns verzichten, die der zweitrangige Western mit Fleiss kultivierte. Der Sheriff erledigt seinen Job, dafür wird er bezahlt. Für die anderen Personen gilt Ähnliches: vorm Handeln steht die Analyse. Nebenbei bringt uns der Film einen Martin mit Charakter, den er im Sinatra-Clan niemals erreichen wird.       sam
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Der blaue Engel
Deutschland 1930;
Regie: Josef von Sternberg;
Buch: Carl Zuckmayer und Karl Vollmöller, nach dem Ro man "Professor Unrat" von Heinrich Mann;
Musik: Friedrich Holländer;
Darsteller: Emil Jannings, Marlene Dietrich, Kurt Gerron, Rosa Valetti, Hans Albers.
Dieser Film des Amerikaners von Sternberg ist der erste Tonfilm von Rang; Ton nicht länger als Epitheton, sondern als Qualität für sich. Leitmotivisch kehren zwei Melodien wieder, immer den beiden Hauptakteuren zugeordnet, die sie charakterisieren sollen. Der Roman Heinrich Manns hat durch diese Umsetzung in bewegte Bilder eine sehr bedeutende Wertminderung erfahren: Manns Affront gegen die bourgeoise Kasernierung wurde umgefälscht in Seelendramatik und sentimentale Verzerrung. Professor Unrat ist nicht länger der Philister, der den Philistern zum Opfer fällt, sondern wird zum sexuell verklemmten Oberlehrer, dem das Mitleid zuzuführen ist.
Abgesehen von den Einwänden, bleibt ein Film, der wegen seiner expressionistischen Attitüde und der Virtuosität der Tonbehandlung von filmischen Interesse ist. Richard Whitehall bezeichnet den BLAUEN ENGEL als "Fragment sozialer Geschichtsschreibung und als die erste gewaltige Explosion der Sexualität"!       DD
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Der letzte Mann
Deutschland 1924;
Regie: F. W. Murnau;
Drehbuch: Carl Mayer;
Kamera: Carl Freund;
Bauten: Robert Herlth, Walter Röhrig;
Darsteller: Emil Jannings.
Dieser Film entstand aus der Zusammenarbeit jener Männer, die für den Film des deutschen Expressionismus bestimmend waren. Beschrieben wird die Tragikomödie eines Hotelportiers, dem seine Uniform zu Hause in den Hinterhöfen Autorität und Glanz verleiht. Als er sie ausziehen muss, hat sein Leben keinen Sinn mehr. Er gehört nun zu den Untersten der Gesellschaft, bis ihn eine Erbschaft ganz oben plaziert. Beachtenswert ist vor allem die Führung der "entfesselten Kamera", die den Portier durch verschiedene Tricks wichtig, unwichtig oder sogar betrunken erscheinen lässt.

Der Film ist eines der wichtigsten Dokumente des frühen deutschen Films.       BNR
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