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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 38, Februar-April 1963

Inhalt
Editorial
Einsame Frauen
Die VERWEISUNG im FILM
Das Thiele
Werbung
Verspäteter Glückwunsch
Nach authentischen Berichten: VERGEWALTIGT
Alfredus Plagiator
L' Immortelle
Zur Topographie des Western II
FILMLITERATUR 1
KRITIK II
Neue Wege im jugoslawischen Film
CITIZEN DEAN oder der kleine Prinz
Rückumschlag
Die Marseillaise (La Marseillaise)
Der Fluss (The River)
Rasputin
Eine Landpartie (Une partie de campagne)
Das brot der frühen jahre
Der Kongress tanzt
Die drei von der Tankstelle
Tobby
Der Tag bricht an (Le jour se lève)
Die Hochmütigen (Les orgueilleux)


Editorial

Dem deutschen Film noch länger nachzutrauern, ist ebensowenig sinnvoll, wie immer aufs neue hohnlachend dessen Misere zu vermelden; weder Trauer noch Hohn sind hinlänglich geeignete Mittel, an dem etwas zu ändern, das man als Missstand erkannt hat. Es muss daher die Aufgabe einer Filmzeitschrift sein, über die Feststellung und Information hinaus zu der Darstellung der Gründe und besonders der sozialpolitischen Hintergründe zu gelangen.

Die Information, die sich lexikalisch darauf beschränkt zu sagen, was ist und was nicht, bleibt, da sie nicht dem nachfragt, das sie erst entstehen lässt, genauso dem ideologischen Verschleierungsprozess verhaftet, wie das Objekt ihrer Bemühungen. Einer Zeit, die sich selbst zur Anthologie der Halbwahrheiten machen lässt, indem sie Informationen über sich zulässt, solange sie nur im Schlagschatten des Zulässigen bleiben, einer solchen Zeit kann man nur mit systematischen Darstellungen und umfassenden Analysen beikommen.

Wer darin latente Langeweile sieht, der ist von der alles überdeckenden Betriebsamkeit der Konsumgesellschaft zugrunde gerichtet, der ist Opfer der Halbbildung, der er wegen seiner Informiertheit entronnen zu sein glaubt.

Die Aufsätze dieses Heftes versuchen, strukturelle Phänomene, die spezifisch dem Film als Massenmedium angehören, darstellend in den Gesamtkomplex des modernen Films so zu integrieren, dass auch der Blick auf die Peripherie nicht durch im Ansatz liegende Konzessionen verstellt wird. Film als Kunst ist nicht selbstverständlicher Ausgangspunkt, auf dem insistiert werden kann, sondern Endpunkt einer Reihe von Definitionen, die in der Methode bleiben; der künstlerische Film bedarf der Einbeziehung des Ausserkünstlerischen, um nicht steril und esoterisch zu werden.


EINSAME FRAUEN ist als Versuch gedacht; als Versuch, eine Gestalt der modernen Frau, wie sie sich in den Filmen verschiedener Länder seit etwa 1956 feststellen lässt, zu präzisieren. Die einsame Frau als Protagonistin des Films ist in sich kein vermerkenswertes Objekt, das der Analyse lohnte. Es bedarf vielmehr der Vermittlung der verschiedenen, national-gesellschaftlichen Tendenzen unter dem gleichen Gesichtspunkt der Veränderung. So wird deutlich, dass die moderne Gesellschaft, die sich auf ihre, allerdings fragwürdige, Liberalität so viel zugute hält, der Frau solches Leid antut, dass ihre ehemals weibliche Funktion zu der eines Seismographen des Schmerzes heruntergekommen ist.

CITIZEN DEAN, Bürger eines Landes, das ,God's Own Country' genannt wird, der Mythos des ,sensitive guy', die Ausbeutung der Frustration; JAMES DEAN, der geliebte Abgott einer Generation, die - in allen Ländern, innerhalb aller sozialen Schichten - ihn lebte; der tot ist und dessen Imitatoren noch heute mit dem ungetrübten Bewusstsein leben, dabei gewesen zu sein; DER KLEINE PRINZ, dessen Faszination zum Kurswert als Konsumgut gehandelt wurde. Das PORTRÄT versucht, im Bewusstsein der notwendigen Darstellung, die Kausalität des Dean-Mythos zu entwickeln; zu erarbeiten, warum DEAN zwar möglich war, aber nicht mehr möglich ist.

ZUR TOPOGRAPHIE DES WESTERN II setzt die in FILMSTUDIO 37 begonnene Vermessung der ,weissen Flecken der Filmgeschichte' fort. Verschiedene Trends und Aspekte der ,horse opera' werden deutlich gemacht, wobei es sich von selbst versteht, dass auch für andere Ansatzpunkte der Untersuchung noch Raum geblieben ist. Wir werden auf das Thema WESTERN noch zurückkommen.

MARGINALIEN ZUR LINKEN FILMKRITIK ist der erste Versuch einer Annäherung; weder wurden Vollständigkeit und Systematik, noch Katalog und scharfe Abgrenzung beabsichtigt. Vielmehr geht es hierbei um eine Diskussionsgrundlage, auf der aufgebaut werden kann und muss. Zusätze und Erweiterungen sind notwendig, soll das Problem ,LINKE KRITIK' zu Ende gedacht werden.

DIE VERWEISUNG IM MODERNEN FILM umfasst sowohl unausgewertete Filmgegenwart, als auch einen ebenfalls kaum behandelten Aspekt der Filmdramaturgie. Verweisung ist mehr als nur filmtechnische Einzelheit oder gar ,gag' - sie ist ein Konsistenz des modernen Films, in dem kinematographische Vergangenheit und Neuzuerstellendes zusammentreffen.

Das JOURNAL bietet Möglichkeit aktueller Polemik; der unanständige Raubzug durch Delbert Manns Filme von Alfred Weidenmann in ICH BIN AUCH NUR EINE FRAU, die Exzesse der WERBUNG und die zweifelhafte Erotomanie eines THIELE werden ebenso glossierend behandelt wie PETER OSTERMAYRs Filmschaffen. Ein Interview mit ALAIN ROBBEGRILLET über dessen ersten Film, der soeben geschnitten und kopiert wird und ein ausführlicher Beitrag über deutsche und ausländische FILMLITERATUR runden das Gesamtbild. Filmliteratur erscheint uns als notwendiges Mittel der filmischen Bildung so vernachlässigt zu werden, dass wir es in mehreren Teilen unternehmen wollen, sie unseren Lesern bekannt zu machen. Auch das scheinbar Unbedeutende, gerade das, muss mit der nötigen Ausführlichkeit diskutiert werden. Von allem nur ein bisschen, aber recht bunt und schillernd - das hat noch keinem, der mehr braucht, um selbst arbeiten zu können, auch nur einen Gran Nutzen gebracht.       phs
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Eine Frauengestalt in den Filmen von Antonioni, Bardem, Bergman, Chabrol, de Broca, Kalatosow, Malle, T. Nilsson

Einsame Frauen

1949 entstand Cesare Paveses Erzählung "Tra donne sole" (Einsame Frauen). Ein Jahr vor dem Freitod des Autors geschrieben, liegt ihr die gleiche oppressive Ausweglosigkeit zugrunde, die auch Pavese bestimmt haben mag, den Selbstmord zu wählen. Diese biografische Marginalie wäre unwesentlich, öffnete sich nicht schon in ihr ein Aspekt auf die seelische Landschaft, deren Panorama wir hier entwerfen wollen.

"Tra donne sole" beginnt mit einem missglückten Selbstmord - und endet mit dessen gelungenem Vollzug. Clelia kehrt in ihre Heimatstadt Turin zurück, um dort im Auftrag einer römischen Firma einen neuen Modesalon einzurichten. Im Nebenzimmer des Hotels, das sie bewohnt, unternimmt ein junges Mädchen einen Selbstmordversuch. Im Verlauf der Handlung wird Clelia mit der turiner upper-class bekannt, zu der auch dieses Mädchen gehört. Langweilige Ausflüge ans Meer, Künstlerfeste, Partys umreissen den Horizont des allgemeinen Lebensdégôuts, dem diese Gesellschaft verfallen ist und dem zu entkommen, einzig der Selbstmord verhilft.

Das Spezifische der Erzählung ist zum einen, dass sie sich aus den introspektiven Aufzeichnungen einer Frau, Clelias, konstituiert; zum anderen werden nur die Frauen fixiert; die Männer sind nicht mehr als schwach konturierte Schatten. Gegenstand von "Tra donne sole" ist also jener Typus der Frau, den der Titel bestimmt: Die Einsame.

Hier wurden in der Literatur die Umrisse einer Frauengestalt antizipiert, die von der Mitte der fünfziger Jahre an zu einem Topos des modernen Films geworden ist. Nichts anderes als vage Spekulation wäre diese Beziehung von Literatur auf den Film, läge nicht der konkrete Beweis dafür vor; Michelangelo Antonioni verfilmte 1955 Paveses "Tra donne sole". Mit diesem Film, LE AMICHE (Die Freundinnen), hatte Antonioni eine Thematik gefunden, deren Entfaltung er bis heute sein ganzes filmisches oeuvre widmete. Ein Jahr später, 1956, fand Ingmar Bergman mit "Lächeln einer Sommernacht" in Cannes zum ersten Mal internationale Beachtung.

Jetzt taucht das Bild einer Frau, die "als die wahre Leidtragende unserer Weltordnung" (Berghahn) erscheint, immer häufiger auf:
1956 Bardem: Calle Mayor (Hauptstrasse)
1957 Kalatosow: Letjat Shurawli (Wenn die Kraniche ziehen)
1957 Bergman: Smulstronstället (Wilde Erdbeeren)
1958 Louis Malle: Les Amants (Die Liebenden)
1959 Resnais: Hiroshima - Mon Amour
1960 Chabrol: Les Bonnes Femmes (Die Unbefriedigten)
1960 Antonioni: L' Avventura (Die mit der Liebe spielen)
1960 Antonioni: La Notte (Die Nacht)
1961 de Broca: Le Farceur (Wo bleibt die Moral, mein Herr?)
1961 Bergman: Sasom i en Spegel (Wie in einem Spiegel)
1961 L. Torre Nilsson: La Mano en la Trampa (Die Hand in der Falle)
1962 Antonioni: L' Eclisse (Liebe 1962)

Ingmar Bergman hatte diese Thematik schon in seinem ersten Filmen aufgegriffen. Dort war sein Interesse noch wesentlich auf die Generationskonflikte gerichtet. In KRIS (Krise) 1946, DET REGNA PA VA KERLEK (Es regnet auf unsere Liebe) 1946, MUSIK I MÖRKER (Musik in der Finsternis) 1948, kämpfen junge Paare um ihre Liebe, die sie gegen eine feindliche Umwelt bewahren wollen. Aber schon mit den 1949 gedrehten FÄNGELSE (Gefängnis) und TÖRST (Durst) rückt die Frau in den Mittelpunkt seiner vivisektorischen Analyse. 1950 und 1952 folgten TILL GLÄDJE (An die Freude) und KVINNORS VÄNTAN (Sehnsucht der Frauen), mit dem symptomatischen Originaltitel: Frauen warten.

Bergmans Filme haben viel vom Kammerspielcharakter der Stücke des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Einflüsse Strindbergs und Ibsens, deren analytisch - psychologische ,Rücksichtslosigkeit, geschärft noch durch die Erkenntnise der Psychoanalyse, lassen sich in allen diesen Filmen nachweisen; wenn auch der Einfluss der Psychoanalyse dem Regisseur nicht immer zum Vorteil ausgeschlagen ist, wie es sich in den aufdringlichen Symbolismen von TÖRST und im Eingangstraum Isaak Borks (SMULSTRONSTÄLLET) ablesen lässt. Soziale Konflikte sind weitestgehend ausgeklammert; reduziert auf eine genau abgemessene Umwelt, gilt die Aufmerksamkeit einzig den komplexen Verhältnissen der Personen zueinander, deren differenzierter Seelenanalyse. Innerhalb dieses Raumes nehmen die Frauen eine bedeutsame Rolle ein. Wegen ihrer biologischen Andersartigkeit sind sie enger ans Organische gebunden als die Männer. Ähnlich wie Nietzsche - nur nicht in dieser dezidierten Schärfe - spielt Bergman immer wieder "das Leben" gegen die "abstrakte Entsinnlichung des Geistes" aus. Für die Frau ist das Kind das Unterpfand der Sinnhaftigkeit ihres Lebens. In ihm ist alle Möglichkeit der Liebe beschlossen; so hält sie auch am Kind fest, wenn sie von dem Mann, den sie liebt, verlassen wird (Marta in KVINNORS VÄNTAN). Gibt sie dem Drängen des Mannes nach, tötet sie das Kind, lässt sie es abtreiben, so zerstört sie damit zugleich jede Möglichkeit ihres Glücks. Selbstmord ist nur die letzte Konsequenz der totalen Frustration (TÖRST).

Der unterschwellige, irrationale Protest gegen eine rationalisierte Gesellschaft, der allen Bergmanfilmen innewohnt, wird in SASOM I EN SPEGEL evident. Martins Liebe zu Karin heilt sie nicht von der Suche nach Gott, in dem allein Heil zu sein scheint. Die objektive, gesellschaftlich-psychologische Entfremdung des Menschen wird zu einer metaphysischen erweitert (Martin ist Atheist); eine versteckte Tendenz, die zwar ohne das überwiegend Positive ihrer Konkretion in SASOM I EN SPEGEL schon in allen früheren Filmen Bergmans vorhanden war. Man denke nur an ANSIKTET (Das Gesicht), wo der aufgeklärte, bürgerliche Atheist durch einen Scharlatan lächerlich gemacht wird, ganz zu schweigen von DET SJUNDE INSEGLET (Das siebte Siegel), das R. E. Thiel als "ein mittelalterliches Mysterienspiel" bezeichnet hat. Immer wieder kreisen die Gedanken der Menschen um Leben und Tod als extreme Pole menschlicher Existenz; um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Diese Fragestellung, auch das Auftauchen von typischen Gestalten aus der Literatur des 19. Jahrhunderts (Arzt, Schriftsteller, Künstler-Gaukler in SASOM I EN SPEGEL, SMULSTRONSTÄLLET, ANSIKTET, GYCKLARNAS AFTON), zeigt eher Bergmans Verbundenheit mit den Problemen des Bürgertums zu Beginn unseres Jahrhunderts, als dass sie die konkrete Gestalt des Menschen im modernen Industriestaat zum Gegenstand hätte. (Die Problematik Schriftsteller-Leben, wie sie in SASOM I EN SPEGEL - David - und in SMULSTRONSTÄLLET - Isaak Bork - entfaltet ist, lässt nicht von ungefähr an Thomas Manns "Tonio Kröger" und "Tod in Venedig" denken). Dies mag bedingt sein durch die soziale Struktur Schwedens, eines modernen Wohlfahrtsstaates, der die Erschütterung zweier Weltkriege, die sozialen Krisen und Kämpfe nicht durchschritten hat, so dass sich hier noch eine vergleichsweise intakte bürgerliche Gesellschaft erhielt.

Wie Stempel-Ripkens (Filmkritik 11/62) feststellten, gelang Bergman der Sprung über die Grenzen seiner Heimat erst, als sich in Europa eine neue Wohlstandsgesellschaft etabliert hatte. Die immanenten Aggressionen äusserten sich nicht mehr aktiv-expansiv; haben sich in den intimen Bereich verlagert, werden verdrängt. Die vollentfaltete Konsumgesellschaft gerinnt zum funktionalen Geflecht eines totalen Warenmarktes, der auch noch die aktiven Versuche, sie umzugestalten, in seine allgemeine Stagnation einbezieht. Wo jede Hoffnung auf eine Änderung der Gesellschaft angesichts der Realität zur falschen Utopie herabsinkt, wird sich der Mensch selbst zum Objekt.

Dieser Prozess der Verinnerlichung ist auch in der modernen Literatur zu verfolgen. Deren Introvertiertheit, besessen von der Darstellung des ganzen Menschen, deutet sich schon in den grossen Romanen von Joyce, Proust, Faulkner an. So verschieden ihre artifizielle Gestalt auch sein mag, gleich ist ihnen die Konzentration aufs Subjekt. (Joyce: PORTRAIT OF THE ARTIST AS A YOUNG MAN, Leonard Bloom aus dem ULYSSES, Prousts Erzähler in der RECHERCHE, Faulkners Benjy und Jason aus THE SOUND AND THE FURY). Die Umwelt erscheint durchs Spektrum des Individuums, der Erzähler entsagt seiner gottgleichen Allwissenheit, wie er sie noch in den Romanen des 19. Jahrhunderts besass. Zugleich wandelt sich die Figur des Helden. Reflexion, Intellektualisierung lassen Aktion, äusserlichen Realismus immer mehr zusammenschrumpfen. Der Schwund aktiver Handlung zeigt als Folge eher Zustandsanalyse als Entwicklung. Auch der Dialog wird unmöglich, wenn jeder Mensch nur die "Insel seines Ichs" ist. Wo die ",zwischenmenschliche Dialektik', die im Dialog Sprache wird" (Szondi), gestört ist, vermag nur noch das Bild zu sagen, was der Mensch leidet. Deshalb gewinnen stumme Gestik und Mimik, die Dinge, Chiffrencharakter - ohne Symbol zu sein, wie verschiedentlich angenommen wurde; Symbol setzte die intakte Sinnidentität von Individuellem und Allgemeinem voraus.

Die Totalität dieser hier nur angedeuteten Momente liesse sich an den avancierten Werken der modernen Literatur, etwa am Werk S. Becketts verifizieren. Das soll nicht unsere Aufgabe sein. Wesentlich ist nur, dass sich ähnliche strukturelle Umwandlungen im modernen Film vollzogen haben, so dass man schon von einer "Literarisierung des Films" gesprochen hat, wiewohl nicht unvermittelt die für das literarische Medium zutreffenden Erkenntnisse auf das Filmische transponiert werden können. Denn mehr als die Literatur ist der Film sui generis ins Gesellschaftliche integriert, reflektiert er unmittelbarer deren Gestalt. So ist die Erscheinung des Stars, des Glamour-Girls, der "Sexbombe" ein spezifisches Produkt des Konsumfilms. Hier erscheint die Frau als das undomestizierte, ursprüngliche Geschöpf, das in seiner sinnlich-animalischen Gestalt der Ersatzbefriedigung des Zuschauers dient.

Orson Welles versuchte in LADY OF SHANGHAI (1947) dieses Bild zu zerstören, setzte aber an dessen Stelle nur ein "negatives Klischee". Dieser misslungene Versuch einer Selbstkorrektur des Films bleibt nicht ohne positive Folgen.

Mit der Besinnung auf seine kritischen Möglichkeiten qua Kunst, rückt die Erscheinung der modernen Frau in den Mittelpunkt seines Interesses. Während der unreflektierte Film um die Gestalt der "Sexbombe" etc. die Emanzipation der Frau verleugnete, gegen den "tristen Alltag des normalen Lebens" seine vom Zwang gesellschaftlicher Präformation scheinbar freien Geschöpfe ins Klischee eines seiner Traumfabrikate schlüpfen liess, versucht der moderne Film eines Antonioni, Resnais, Bardem, die objektive Situation der Frau in der heutigen Gesellschaft aufzuzeichnen. Die, dass sie noch nicht emanzipiert ist. Und darin liegt zugleich die spezifische Möglichkeit, die "period of adjustment" besser zur Darstellung zu bringen als es durch einen männlichen Protagonisten möglich wäre. Gerade weil diese Frauen in die Vermittlung des Arbeitsprozesses nicht integriert sind wie die Männer, weil sie sich der Welt, die die Männer gemacht haben, nicht angleichen können, sind sie noch fähig, Leid in seiner bitteren Schärfe zu erfahren, das im Bewusstsein der Männer ausgelöscht ist.

So findet sich in den Gesichtern einer Jeanne Moreau, Monica Vitti, Anouk Aimée nicht pathetischer Protest; sondern die Schatten einer passiven Traurigkeit haben sich schmerzlich in ihre Gesichtszüge geschnitten. Immer wieder leuchtet dort jener Moment auf, in dem Sehnsucht und Entsagung, Hoffnung und Verzweiflung miteinander verschmelzen. Seismografisch registriert die weibliche Psyche, im Spiegel der Physiognomie, die Wunden, die Gesellschaft der Liebe schlägt.

Die Sehnsucht nach Erfüllung eines "reinen Glücks", das Insistieren auf der Möglichkeit der Liebe, wie es aus allen diesen Filmen spricht, kann leicht in die Nähe romantischen Illusionismus rücken. Dieser Gefahr, ins Ideologisch-Falsche abzugleiten, entging L. Malles LES AMANTS nicht. Das prononciert romantische Brimborium von: Flucht im Morgengrauen, Nachthemden, Schloss und Mondlicht täuscht über die reale Möglichkeit, "einfach neu anzufangen", hinweg. Was sich Filme wie HIROSHIMA - MON AMOUR, LE FARCEUR, Antonionis Trilogie versagten, wird hier hypostasiert: die unmittelbar konkrete Erfüllung eines utopischen Glücks, das nur in seiner ganzen Vermitteltheit erreicht werden könnte. Die Flucht der Liebenden von der Realität ist auch die des Regisseurs.

Dieser romantische Holzweg wird oft im heutigen französischen Film beschritten. Man denke nur an A. Cavaliers COMBAT DANS L' ILE oder auch an Truffauts JULES ET JIM. Obwohl beide Filme versuchen, konkrete gesellschaftliche Bezüge herzustellen - bei Cavalier das Frankreich der 5. Republik, OAS-Terror; Truffaut bettet seine Geschichte von Jules et Jim in den Zeitraum von etwa 1913 bis 1934 -, gelingt es ihnen nicht, kritische Aufschlüsse über ihren spezifischen und allgemeinen Gegenstand zu erlangen. Die wechselseitige Vermittlung von Individuellem und Allgemeinem, die Konstitution einer Perspektive, in der objektive Realität und konkrete Entfaltung der story verschmelzen, erreichte einzig Resnais in HIROSHIMA - MON AMOUR. Schärfer ist nie mehr die Frage nach der Möglichkeit der Liebe angesichts des unermesslichen Leids des letzten Krieges gestellt worden. Während Adorno einmal sagte, dass "nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich" sei, so fragt Resnais: "Ist nach Hiroshima Liebe noch möglich?" Das Leid, das dort die Erinnerung an ihre erste Liebe zu einem deutschen Soldaten während des Krieges wieder ins Bewusstsein der Frau ruft, lähmt die Möglichkeit einer neuen. Die Grausamkeit des Krieges, der äusserlich (im Museum von Hiroshima) und innerlich (im erinnernden Bewusstsein eigener Erfahrung) als permanente Bedrohung gegenwärtigen und zukünftigen Glückes weiterbesteht, diese in HIROSHIMA - MON AMOUR entfaltete Thematik, bestimmt auch Tadeusz Konwickis ZADUSZKI (Allerseelen - 1960). Ein Liebespaar fährt für ein Wochenende aufs Land, um noch einmal zu versuchen, "ein neues Leben anzufangen". Jedoch die Erlebnisse des Krieges und die wirren Verhältnisse der ersten Nachkriegszeit, die erneut ins Bewusstsein der beiden Liebenden steigen, scheinen alle Hoffnung auf einen Neubeginn zu zerstören; dass sich das Paar dann doch entschliesst, zusammen zu bleiben, gibt dem Film jenes Gran an Hoffnung, das sich Resnais verweigerte.

Auch Kalatosows LETJAT SHURAWLI zeichnet die Verwüstungen des Krieges in der Physiognomie der Liebe nach. Während aber Resnais emphatisch auf der Unauslöschlichkeit des Schmerzes besteht, die Übermacht des persönlichen Schicksals das Individuum von der Gesellschaft isoliert, geht es bei Kalatosow am Ende wieder in ihr auf, so als trage nicht jede Gesellschaft Schuld am Leid, das dem Menschen der Mensch zufügt. Das Mädchen, das ihren vermissten Geliebten erwartet, verteilt, als dieser nicht zurückkehrt, die Blumen an die heimkehrenden Sieger. Wie die äusserliche Darstellung der gesellschaftlichen Realität ins Fahrwasser ideologischer Verzerrung geraten kann, zeigte sich an LES AMANTS, COMBAT DANS L' ILE, JULES ET JIM. Nicht, dass in diesen Filmen zu sehr "privatisiert" und damit die Gestaltung der Umwelt vernachlässigt worden wäre, ist ihnen zum Nachteil ausgeschlagen; eher könnte man ihnen zum Vorwurf machen, dass sie nicht genug "privatisiert" sind, dass die geschilderten Konflikte nicht tiefer ins Individuelle reichen.

Denn wie die Filme eines Antonioni - und auch Torre Nilssons und Bardems, sogar de Brocas LE FARCEUR - zeigen, gelingt heute, wo "das Ganze das Unwahre ist" (Adorno), gerade in der Versenkung ins Detail, in der Konzentration auf den individuellen, privaten, intimen Lebensbereich des Menschen eine adäquatere Darstellung der gesellschaftlichen Realität als in deren bloss äusserlichen Reproduktion.

Berghahn hat schon auf kritische Momente in de Brocas LE FARCEUR hingewiesen: "Helene passt nicht in die Gesellschaft derer, die sich amüsieren wollen. Sie ist ihr Anlass, ihr Opfer _... ein Spielzeug, damit die allgemeine Belustigung weitergehe. Aber das Spielzeug geht kaputt und denunziert das Spiel, das man mit ihm treibt, als Aberwitz _..." Jedoch kann nicht, wie es Berghahn unterläuft, von einer durchgängigen Kritik gesprochen werden. In der Ambivalenz der Schlussszene wird die Zwiespältigkeit des ganzen Films evident. Zwar ist Helene Opfer des Farceurs, aber zugleich ist sie in den Augen des Zuschauers die Ausnahme aus der Regel. Die Sympathie, die er dem Farceur entgegenbringt, wird vom Regisseur geteilt. Jene Gestalt ist gar nicht so weit entfernt vom weiblichen Typus des Vamp. Die Frau, die mehr von ihm erwartet als ein unverbindliches Abenteuer, "ist selbst daran schuld", er befriedigt die Wunschvorstellung vom Mann, den die Frauen "umfliegen, wie Motten das Licht."

Was de Broca darzustellen nicht gelungen ist - nämlich dass der Farceur sich von Helenes Mann einzig in der Art seiner sexuellen Konsumtion unterscheidet: für beide ist die Frau nur Lustobjekt - das haben Bardems CALLE MAYOR und Leopoldo Torre Nilssons LA MANO EN LA TRAMPA konsequenter und kritischer entfaltet.

Bardems CALLE MAYOR zeigt das Leben in einer typisch spanischen Kleinstadt. Junge Männer, in der provinziellen Enge festgehalten, von einer freien Beziehung zum anderen Geschlecht durch die Barrieren des tradierten Moralkodex getrennt, verfallen aus Langeweile auf die Idee, einem älteren Mädchen zum Schein die Heirat anzubieten. Einer übernimmt es, den Liebenden zu spielen, während die anderen sich daran delektieren. Wie der Film das Erwachen der Hoffnung auf ein schon verloren geglaubtes Glück in dem Mädchen darstellt, dessen Wünsche und Sehnsüchte und dann den seelischen Zusammenbruch, als sie erkennt, dass man ihr nur etwas vorgespiegelt hat, das nun für immer dahin ist: das gibt CALLE MAYOR seine konkrete Farbigkeit und künstlerische Wahrheit. Männer wie Frauen sind in den Netzen einer überholten gesellschaftlichen Ordnung gefangen. Während aber die Männer sich noch zu deren Handlangern machen können, um so in einem schalen Spass ihrem realen Unglück zu entfliehen, ist ihnen die Frau bedingungslos ausgeliefert.

Ähnliches wird auch an Leopoldo Torre Nilssons LA MANO EN LA TRAMPA sichtbar. Eine Studentin kehrt in den Ferien in das Haus ihrer Mutter auf dem Lande zurück. Ein Zimmer dieses Hauses darf sie nicht betreten. Dort soll sich ein unehelicher Krüppel ihres Vaters, der schon lange tot ist, aufhalten, hermetisch von der Aussenwelt abgeschlossen. Das Mädchen aber entdeckt in diesem Zimmer eine Tante, die schon vor Jahren in die USA ausgewandert sein sollte. Sie hat sich dort eingeschlossen, weil der Mann, dem sie sich hingegeben hatte, sie nicht geheiratet hat. Bei ihren Recherchen bedient sich das Mädchen dieses Mannes, der sie zu seiner Geliebten macht. In Buenos Aires richtet er ihr eine Wohnung ein, die ihr ebenso zur Falle wird wie ihrer Tante das Zimmer.

CALLE MAYOR und LA MANO EN TRAMPA sind fixiert am Bild einer Gesellschaft, in der die Frau schon von vornherein nicht emanzipiert ist, die die Freiheit, sich zu enthalten, zugunsten der Verfügungsgewalt des Mannes über sie einschränkt. Während die Tante des Mädchens noch auf Grund eines Moralkodex, den sie selbst anerkannte, sich von der Welt ausschloss, zeigt der Film, dass die Frau auch dann noch unterliegen muss, wenn sie diesen Ehrenkodex nicht mehr anerkennt. Was das Appartement dem Zimmer auf dem Lande voraus haben mag, ist seine Luxuriosität, Falle ist es wie jenes; das Mädchen Gefangene des Mannes wie ihre Tante.

Von solchem äusserlichen Zwang sind die Frauen in Michelangelo Antonionis Filmen frei. Die soziale Umwelt ist eine andere. Spanien und Argentinien befinden sich noch auf einer Stufe der geschichtlichen Entwicklung, die im italienischen Norden und Rom längst überwunden ist. Wie kein anderer moderner Regisseur entwirft Antonioni mit differenzierter Schärfe das Bild der funktionalen Konsumgesellschaft, die sich in allen hochkapitalistischen Ländern findet. Über seinem filmischen oeuvre könnte mit Recht Marxens Prognose stehen, dass im Kapitalismus alles zur Ware werde, auch die Gefühle. Denn auf die Analyse der Gefühle in dieser Gesellschaft sind alle Intentionen des Regisseurs gerichtet. Die Konsequenzen dieser Darstellung sind: Schwund der Handlung (und damit auch des Dialogs), wie es sich an der Trilogie L' AVVENTURA, LA NOTTE, L' ECLISSE ablesen lässt. In der Logik seines Gegenstandes liegt es zudem, dass die Welt der Dinge keinerlei Beziehung auf die Vorgänge innerhalb des Menschen hat. Sie dient nicht etwa dazu, psychologische Zustände der Personen deutlich zu machen (wie etwa im Psychologismus Bergmans). Die Entfremdung des Menschen von sich ist nur Folge seiner Entfremdung von der Welt. So liegt die eigentliche Schwierigkeit Antonionis darin, die differenzierte Struktur der Gefühle konkret darzustellen, ohne in Symbolismus oder plakativen Realismus auszuweichen. In dieser Welt der Entfremdung sind die Frauen die einzigen, die sich auf die Suche nach der Ursprünglichkeit einer Liebe begeben. Die Männer haben sich dem ökonomischen Gesetz der Gesellschaft - das des Warenaustausches - so angeglichen, dass sie blind sind gegen den Wunsch, es solle anders sein als es ist.

Sandro ist der Freund Annas; kurz bevor sie verschwindet, macht er ihr einen Heiratsantrag und beginnt dann ein neues Verhältnis mit ihrer Freundin Claudia, um sie einige Tage später mit einer Salonhure zu betrügen (L' AVVENTURA). Eine Szene in diesem Film, signifikant für alle Filme Antonionis: Im Zug, auf der Suche nach der plötzlich verschwundenen Anna, sieht Claudia im Nebenabteil, wie ein junger Mann versucht, mit einem Mädchen ins Gespräch zu kommen. Amüsiert und heiter betrachtet sie die Szene. Sandro tritt von hinten an sie heran, umfasst sie. Ihr Gesicht, eben noch lächelnd und gelöst, die ganze Naivität des komischen Werbens spiegelnd, das sie betrachtet, erstarrt zur Maske, in der Zorn und Trauer zum Bild ihrer zerstörten Hoffnung verschmelzen. Naivität, ein Ursprüngliches, ist für diese Frauen verloren. Der Gang der Frau durch Mailand (LA NOTTE), der Negertanz in L' ECLISSE: alles Versuche, sich seiner selbst zu entäussern, dem eigenen Ich zu entfliehen. Glück ist, wenn überhaupt noch konkretisierbar, momentanes Aufblitzen, zufällige Enklave innerhalb einer Wirklichkeit, die sofort wieder ihr Recht verlangt. Man denke nur an die Liebesszene im Büro (L' ECLISSE). Als Vittorio gegangen ist, legt Piero einen Hörer nach dem anderen wieder auf die Telefongabeln. Mit den einsetzenden schrillen Geläute der Telefone bricht brutal die Wirklichkeit wieder über ihn herein. Das Spiel der Liebe ist aus.

Die Liebe der Männer ist fast ausschliesslich sexuell fixiert. Ihre Gleichgültigkeit für die Wahrheit des Gefühls schlägt um in Brutalität. "Sonst ist die Liebe ja langweilig", sucht sich Sandro (in L' AVVENTURA; man denke auch an die Schlusssequenz in LA NOTTE) zu rechtfertigen. Als Vittoria (L' ECLISSE) ihren früheren Geliebten verlässt, will sie allein nach Hause gehen. "Ich habe dich doch immer heimgebracht", sagt er. Sein Unverständnis sperrt sich gegen das, was sich ereignet hat; er begreift nicht, was es für diese Frau bedeutet, ihn nicht mehr zu lieben.

Wenn Claudia immer wieder von Sandro verlangt, er solle ihr sagen, dass er sie liebe, so versucht sie Liebe dort festzuhalten, wo sie ihre Fragilität am Augenscheinlichsten beweist: in der Sprache. Diese selbst ist fragwürdig, Gefühl transzendiert nicht in Kommunikation. Die Menschen in Antonionis Filmen haben sich nichts mehr zu sagen. Könnten sie sprechen, "sagen des Herzens Meinung", wäre die Fremdheit aufgehoben, in der sie sich befinden. Vittorias dauerndes "Ich weiss nicht _... vielleicht _..." hält noch in der Weigerung, sich festzulegen der Wahrheit ihrer Liebe eher die Treue, als es affirmatives Aussprechen vermöchte, das im Munde der Männer zur Phrase erstarrt ist. Von Film zu Film verliert der Dialog seine dominierende Bedeutung, wird reduziert auf momentane Einsprengsel, die eigentlich nur noch beweisen, dass nichts mehr gesagt werden kann. Zugleich drängen sich immer häufiger die Dinge in den Vordergrund, gewinnen sie essentielle Präsenz. Die vergangenen Erlebnispartikel in der minutenlangen stummen Evokation am Ende von L' ECLISSE schiessen zum Bild einer entfremdeten Welt zusammen, in der die Menschen nur Dinge sind unter anderen.

Mit diesem Film hat Antonioni seine Thematik bis an die äusserste Grenze ihrer Darstellbarkeit entfaltet. Endete L' AVVENTURA noch mit dem Verzeihen der Frau, so kündigte sich schon in dem hoffnungslosen Vergewaltigungsversuch des Mannes (LA NOTTE) jener düstere Horizont an, vor dem Liebe ihre totale Unmöglichkeit, sich auf Dauer zu konkretisieren, erweist (L' ECLISSE).       Wolfram Schütte
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Die VERWEISUNG im FILM (Zurück zu Heft 44

Die Filme der Neuen Welle - so hat man behauptet - seien im Grunde nur Spielbälle, die man sich von der einen Seite der Champs Elysées zur anderen zuwerfe. Nun, diese Behauptung ist sicher übertrieben. Und ebenso sicher eine Unterschätzung der jungen französischen Regisseure: ihr Ballspiel reicht nämlich bis nach Hollywood, wo es übrigens schon immer gepflegt wurde! Auch ist die Verweisung in Literatur, Musik und bildender Kunst durchaus geläufig, somit also keine Erfindung des Films.

I. Technik

Inhaltlich können bei der Verweisung zwei Arten unterschieden werden:

- Verweisung auf ausserkünstlerische Fakten, Ereignisse usw., z. B. auf Zeitgenossen, Bekannte, Feinde, persönliche Affären, politische Zustände und dgl.,

- Verweisung auf andere Künstler oder Kunstprodukte, wobei wiederum die Verweisung auf Werke einer anderen von der auf Werke der eigenen Kunstgattung zu unterscheiden ist.

Hier soll nur die letztere interessieren, also die Verweisung innerhalb eines Films auf andere Filme oder Filmkünstler.

Dabei bieten sich zwei Möglichkeiten an:     1. Die normale Handlung des Films läuft ab, ohne durch Verweisungen unterbrochen zu werden; die Verweisung wird hinter der Handlung angelegt. Während auf der - vereinfacht ausgedrückt - normalen "Handlungsebene" des Films ein Vorgang, eine Situation geschildert wird, rollt parallel zu ihr auf einer zweiten Ebene, der "Verweisebene", die Verweisung auf einen anderen Film ab (verdeckte Verweisung).

    Beispiel: Gocartrennen in UNE GROSSE TETE. - Auf der Handlungsebene wird ein Gocartrennen gezeigt, auf der Verweisebene durch die Art der Darstellung des Rennens (Standpunkt der Kamera, Bildausschnitt, Rad-an-Rad-Kampf usw.) der Verweis auf das Wagenrennen in BEN HUR von Wyler (bzw. von Andrew Marton und Yakirna Canutt) gegeben.

    2. Man kann die Verweisung in der Handlungsebene abspielen lassen; sie wird zu einem Bestandteil der normalen Handlung (offene Verweisung).

    Beispiel: In UNE GROSSE TETE findet Eddie als einzigen Rest seines verbrannten Segelflugzeugs ein Stück Papier mit der Aufschrift "Rose Bud" - dem Schlüsselwort aus CITIZEN KANE. - In THE GEISHA BOY baut Sessue Hayakawa eine verkleinerte Brücke am Kwai in seinem Garten.

Offene und verdeckte Verweisungen werden in der Regel wahllos nebeneinander verwendet. Eine klare Abgrenzung im Einzelfall kann schwierig sein. Zur besseren Unterscheidung sei folgende Probe erwähnt: Würde der Film, auf den die Verweisung anzuspielen versucht, nicht existieren, würde bei der offenen Verweisung die betreffende Filmszene ihren Sinn verlieren; bei der verdeckten Verweisung hingegen ihren - wenn auch auf die vordergründige Handlung reduzierten - Sinn behalten. Verweisungen können beliebig verwandt werden. Der Phantasie der Regisseure sind hier keine Grenzen gesetzt. Die häufigsten Methoden seien kurz skizziert:

Die Verweisung muss dem Regisseur bewusst, sie muss von ihm gewollt sein; eine unbewusste Verweisung ist keine Verweisung, sondern eine Übernahme fremder Ideen. Die Übernahme zeigt die Einflüsse, denen der Regisseur unterlegen ist; ihr Gelingen hängt von dem Grad ihrer Integration in den eigenen Film ab. Eine bewusste Übernahme wird sehr leicht zum Plagiat (z. B.: In THE NAKED EDGE plagiierte Michael Anderson skrupellos Szenen aus mehreren Filmen Hitchcocks).

II. Anwendung

In der amerikanischen Slapstick-Komödie war es üblich, populäre Filme und Stars zu parodieren. Mack Sennett beispielsweise drehte viele Filme, in denen er durch Verweisungen auf andere Filme komische Wirkungen zu erzielen versuchte. Es seien erwähnt:

THE GREAT VACUUM ROBBERY (1915) als Anspielung auf THE GREAT TRAIN ROBBERY.
CACTUS NELL (1917) als Parodie auf den Western. Polly Moran tritt als weiblicher Sheriff und als "cow girl" auf.
A HOLLYWOOD STAR (1929) als Verulkung des Starrummels.

Geradezu spezialisiert hat sich unter ihm in der Technik der Verweisung Ben Turpin; er war u. a. zu sehen in:
Salome vs Shenandoah (1919) in je einer Rolle aus SALOME und aus SHENANDOAH,
The Shriek of Araby (1923) in der Rolle Rudolfo Valentinos aus THE SHEIK,
Romeo and Juliet (1924) als Romeo,
Three foolish weeks (1924) in der Rolle Erich von Stroheims aus FOOLISH WIVES.

Die moderne amerikanische Filmkomödie hat viele dieser alten Verweisungsgags wiederaufgegriffen, erweitert und verfeinert. Insbesondere die Filme Frank Tashlins und Jerry Lewis' bestehen in ganzen Sequenzen aus derartigen Verweisungen.

Nun waren in Amerika die Gags der Slapstick nie in Vergessenheit geraten. Persönlichkeiten wie Buster Keaton, Charles Chaplin, W. C. Fields, Stan Laurel, die Marx Brothers, Bob Hope usw. variieren sie immer wieder. Insofern zeigt die amerikanische Filmkomödie eine kontinuierliche Entwicklung - wenn auch nicht immer zu ihrem Besten. So findet sich beispielsweise eine der schönsten Parodien des Westernhelden in dem Bob-Hope-Film ALIAS JESSE JAMES von Norman McLoad: Bob Hope als tolpatschiger Versicherungsagent tritt zum finalen Schusswechsel gegen den berüchtigten Jesse James und seine Bande an. Eine hoffnungslose Lage! Da erscheinen - von allen unbemerkt - Hopes hollywooder Kollegen Errol Flynn, Gary Cooper, Gene Kelly, Clark Gable, Bing Crosby und erledigen die feindliche Bande samt ihrem Chef: Bob Hope ist der Held des Westens. (Der Film wurde zwar 1959 gedreht, seine Technik jedoch ist die der dreissiger und frühen vierziger Jahre. Die Gags Bob Hopes könnten aus einem Film mit den Marx Brothers (etwa aus GO WEST) stammen. Auch Norman McLeod ist seiner konventionellen Technik treu geblieben. Man denke etwa an seinen Film TOPPER aus dem Jahre 1937.)

Die Rolle, die Ben Turpin zur Zeit der Slapstick spielte, nämlich berühmte Filme und Filmstars zu parodieren, scheint in der modernen amerikanischen Filmkomödie - etwas variiert - Jerry Lewis übernommen zu haben. Er verweist u. a. in
The Scared Stiff auf Bob Hope und Bing Crosby,
You 're Never Too Young auf Humphrey Bogart,
The Delicate Delinquent auf James Dean,
Don't Give Up the Ship auf Humphrey Bogart,
The Bellboy auf Stan Laurel,
The Ladies' Man auf George Raft, Gangsterdarsteller aus SCARFACE und SOME LIKE IT HOT
The Errand Boy auf Fritz Lang (nur in der Originalfassung erkenntlich).

Teilweise lässt Lewis, bzw. der betreffende Regisseur, diese Schauspieler persönlich auftreten, teilweise werden sie selbst parodiert. Zahlreich sind auch die Verweisungen bei Lewis auf sich und seine eigenen Filme: so in THREE RING CIRCUS und in THE ERRAND BOY. In THE BELLBOY, Lewis spielt einen Hotelangestellten, befindet sich unter den Gästen auch ein gewisser Jerry Lewis (Lewis in einer Doppelrolle); in THE ERRAND BOY erzählt Lewis die rührende Geschichte seiner eigenen Karriere. Einen derart ausgeprägten Narzissmus findet man nur noch bei Jean Cocteau. (Die ständigen Selbstzitate bei Hitchcock und bei Eddie Constantine haben eine andere Bedeutung; sie sind der Gütemarke einer Qualitätsware vergleichbar.) Jerry Lewis baute ferner in seinen Film THE LADIES' MAN Verweisungen auf LOLITA, THE GLASS MENAGERIE und den Kriegsfilm ein.

Frank Tashlin hat einen ganzen Film der Verulkung der Filmindustrie gewidmet: HOLLYWOOD OR BUST. Der Held ist ein Filmfan oder besser, ein Filmomane (Jerry Lewis), der komplette (unsinnige) Titelvorspanne auswendig herzusagen weiss und sich mit seinem Freund (Dean Martin) in Filmtitel und -Szenen unterhält. Seine Sucht treibt ihn nach Hollywood, zu Anita (Ekberg natürlich). Die Autofahrt von New York nach Hollywood, die über die nächsten Umwege führt, wird zum Anlass, die verschiedensten Filmgattungen zu parodieren. Tashlin übersteigert ironisch die Liebesschnulze und jene Filme, in denen die Schönheit der einzelnen Städte und Staaten in blöden Songs gepriesen wird, wobei natürlich jeder Staat behauptet, der wahre Wilde Westen zu sein. Zwitschernde Vögel, saftige Weiden, winkende, lachende Landarbeiterinnen, eine schöner als die andere - das ganze Arsenal der Heimat- und Naturfilme säumt den Weg und preist das unbeschwerte Landleben. Eine Gangsteroma treibt ihr Unwesen, ein Auto zerfällt wie zur seligen Slapstickzeit. Roger und Hammerstein besingen Oklahoma, und Indianer tanzen Rock'n Roll. Schliesslich landen beide in Hollywood, und jagen, vorbei an Bing Crosby, durchs Paramount-Gelände, stiften Verwirrung bei den Dreharbeiten zu irren Kostümfilmen. Der Film schliesst mit einem übertriebenen Happy-End, hinter dem sich die Bitternis seiner Unmöglichkeit verbirgt. Tashlin entfachte hier einen Wirbel wohlgesetzter Gags (und Verweisungen) wie selten sonst.

Auch in den anderen Filmen verwendet Tashlin sehr oft Verweisungen. Es seien als Beispiele erwähnt:


Artists and Models - Verweisungen auf AN AMERICAN IN PARIS, REAR WINDOW, Walt Disney, das Filmmusical und den Spionagefilm;
Will Success Spoil Rock Hunter - auf die Figur Tarzans und den VAMP;
The Geisha Boy - auf THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI und den Kriegsfilm; CINDERFELLA - auf CINDERELLA.

Unter den Regisseuren der Neuen Welle erfreut sich die Verweisung einer grossen Beliebtheit.

Bereits in LES MISTONS zitiert Truffaut L' ARROSEUR ARROSE von Lumiere, in TIREZ SUR LE PIANISTE bedient er sich in zwei kurzen Szenen alter Stummfilmmethoden, die Verweischarakter haben.

Claude Chabrols LES GODELUREAUX ist im Grunde ein einziger Verweis auf seine früheren Filme.

Jean-Luc Godard verweist in A BOUT DE SOUFFLE auf den Gangsterfilm und Humphrey Bogart, den prominentesten Gangsterdarsteller. In UNE FEMME EST UNE FEMME führt er die Verweistechnik bezüglich des Filmmusicals fort. So nennt er Lubitsch im Titelvorspann, verweist auf MODERATO CANTABILE (durch Jeane Moreau) und VERA CRUZ (Belmondo imitiert Lancaster). In LA PARESSE, der 5. Episode des Films LES SEPT PECHES CAPITAUX, lässt er Eddie Constantine als Star auftreten. Eines der schönsten Beispiele findet sich schliesslich in VIVRE SA VIE: der Verweis auf LA PASSION DE JEANNE D' ARC von Dreyer. Das überspannteste Beispiel eines Films mit Verweisungen lieferte Claude de Givray mit UNE GROSSE TETE. Dieser Film läuft fast durchweg auf zwei Ebenen ab: Auf der Handlungsebene wird erzählt, wie Eddie (Constantine) gegen den Widerstand zweier Gangstertypen in der Nähe von Paris eine Gocartrennbahn anlegt und einen jungen Mechaniker und seine ehemalige Geliebte als Ansagerin anheuert. Zwischen ihr und dem Jungen entsteht ein Liebesverhältnis, das jedoch wieder zerfällt, als er ihre Vergangenheit erfährt. Sie verlässt daraufhin beide, aber schon steht die nächste Schöne an der Gocartbahn bereit. Auf der Verweisebene tummeln sich Anspielungen auf mindestens 30 Filme, Filmgattungen und stereotype Filmszenen, so u. a. auf den Gangsterfilm, den Wildwest-Film, den Südstaaten-Fiim (Elia Kazan), zwei Slapstickfilme; auf SMULTRONSTÄLLET, BAD DAY AT BLACK ROCK, ET DIEU CREA LA FEMME, CITIZEN KANE, TIREZ SUR LE PIANISTE, THE GIRL CANT HELP IT, BEN HUR, LES COUSINS, IL TETTO, MON ONCLE, DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE, WILL SUCCESS SPOIL ROCK HUNTER, ROSE TATTOO u. a. m.

In TESTAMENT D' ORPHEE lässt Cocteau seine Werke parodieren, so u. a. auch seine Filme ETERNEL RETOUR und ORPHEE - nicht ohne heimliche Ironie, aber auch nicht ohne eine gewisse Eitelkeit.

Als ein Beispiel aus England sei noch der Film THE LEAGUE OF GENTLEMEN von Basil Dearden, mit seinen herrlich ironischen Verweisungen auf den britischen Kriegsfilm erwähnt.

III. Funktion

Die Frage nach der Bedeutung ist eng mit der Art der Verweisung verknüpft.

1. Einfache Verweisungen stehen in der Regel in keiner oder nur loser Beziehung zur Handlung des Films; bestenfalls kann durch ihre Häufung ein Film entstehen, der, wie HOLLYWOOD OR BUST, eine Persiflage auf den Konfektionsfilm darstellt. Die Funktion der einfachen Verweisung besteht darin, auf einen anderen Film, Filmgattung, Filmkünstler u. dgl. hinzuweisen, um entweder

Der Verdacht, dass sich hinter den unter e) und f) aufgeführten Arten der Verweisung mangelnde Potenz der eigenen Gestaltung und Aussage verbirgt, liegt nahe.

2. Rückwirkende Verweisungen erschöpfen sich nicht in der Verweisung auf den anderen Film. Durch die Verweisung werden Schlaglichter im eigenen Film gesetzt, die dessen Verständnis erhöhen oder gar erst ergeben.

In THE LADIES' MAN trägt Jerry Lewis den Namen Herbert H. Heabert, d. h. Herbert Herbert Heabert. Der Verweis auf Humbert Humbert liegt auf der Hand. So wird eine ironische, sich gegenseitig beleuchtende Beziehung zwischen dem vor jeder Berührung mit einer Frau geradezu krankhaft ängstlich und furchtsam zurückweichenden Herbert H. Heabert und dem nach dem Nymphchen Lolita süchtigen Humbert Humbert geschaffen.

Ähnlich ist in dem gleichen Film die Verweisung auf THE GLASS MENAGERIE von Tennessee Williams. Jerry Lewis staubt eine Glasfigurensammlung, die Laura Wingfield gehören könnte, ab. Eine Figur fällt dabei zu Boden. Er will sie auffangen und stösst aber gleichzeitig mit dem Staubwedel die nächste Figur vom Tisch. Er will diese auffangen, wirft dabei eine weitere Figur um und so fort, bis alle Figuren zertrümmert sind.

Die sorgfältigsten und treffendsten Verweisungen verdanken wir Jean-Luc Godard. In seinem Film A BOUT DE SOUFFLE wird eine Verweisung zur tragenden Idee des ganzen Films: der Verweis auf den amerikanischen Gangsterfilm. Die Faszination, die von der Figur des Gangsters ausgeht, der die erlegen sind, die im Gangster einen Revoltanten gegen die Gesellschaft, einen Anarchisten sehen; die sich mit ihm identifizieren; dies drückt Godard in dem stummen Zwiegespräch zwischen Humphrey Bogart und Belmondo aus. Der Schluss des Films, der Lauf des angeschossenen Gangsters durch die Strassen, sein Tod: das ist der Schluss eines jeden zweiten Gangsterfilms. Dazu die folgende Verweisung: Jean Seberg flüchtet vor der Polizei ins Mc-Mahon, jenes pariser Kino, das sich dem harten amerikanischen Film verschrieben hat. (Seine vier Asse sind: Fritz Lang, Otto Preminger, Raoul Walsh und Joseph Losey.)

In VIVRE SA VIE zitiert Godard eine Szene aus LA PASSION DE JEANNE D' ARC. Nana, seine Heldin, sieht diesen Stummfilm von Dreyer und identifiziert sich mit Jeanne d' Arc. Nicht minder bedeutsam ist die Verweisung im Hinblick auf die stilistischen Mittel, deren Godard sich in seinem Film bedient.

Die rückwirkende Verweisung trifft man weitaus seltener an als die einfache Verweisung; sie wird sparsamer und überlegter eingebaut, wozu schon ihre kompliziertere Struktur zwingt.

IV. Verständlichkeit

Eine Verweisung vermag nur dann ihren Sinn zu erfüllen, wenn der Zuschauer den Film, auf den sie hinweist, kennt. Naturgemäss wählte man früher populäre Filme aus. Tashlin, Lewis und vor allem die Regisseure der Neuen Welle jedoch verweisen sehr oft auf Filme, die nur dem in der Filmgeschichte einigermassen bewanderten Zuschauer bekannt sein können. Gleichzeitig haben ihre Verweisungen einen derart diffizilen Charakter, dass ihnen lediglich ein ausgesprochen intelligentes Publikum zu folgen vermag. Die Gefahr, dass man sich in völlige Esoterik versteigt, soll nicht geleugnet werden. Und für einen grösseren Zuschauerkreis unverständliche Verweisungen können für einen Film tödlich werden - vor allem, wenn es sich um offene Verweisungen handelt.

Zur Illustrierung der Schwierigkeiten sei als Beispiel auf die Kritiken zu zwei Filmen hingewiesen, die in den beiden konfessionellen Filmdiensten erschienen. Zu

1. HOLLYWOOD OR BUST schreibt
    a) der Katholische Film-Dienst (57/6241):
_... Dem Film schwebt etwas wie eine Verspottung des Filmpublikums, des Sex-Appeal- und Star-Rummels vor, wie der Titelvorspann und die sich häufig produzierenden Bade- und Strandmoden-Girls auf Gartenzäunen und Erntewagen vermuten lassen. Ein filmgewöhntes Publikum wird auch im Dialog manchen Seitenhieb heraushören können. Was hierbei am Rande noch zur Wertung der Familie gesagt wird, erscheint uns deplaciert. Hauptsächlich triumphiert der Klamauk _... Dazwischen, nicht uninteressant, einige ansehnliche Landschafts- und Städtebilder. Von sentimentalen dahingeplärrten Songs abgesehen, bleibt es bei einer gewollt anspruchslosen Filmburleske amerikanischer Eigenart _..."
    b) der Evangelische Filmbeobachter (9/639):
_... Zwischen diesen beiden Ekberg-Erscheinungen liegt die eigentliche "Handlung" des Films, eben jene besagte Autofahrt quer durch die Staaten, begleitet von mehr oder weniger albernen und gleichtönigen Einheitssongs und mehr, zumeist minder erheiternden episodenhaften Vor-, Zu- und Reinfällen _... Der Film müsste eigentlich heissen: "Alles um Mr. Bascom" _...

"Wer noch an billigstem Situationsklamauk Vergnügen findet, mag ihn sich getrost ansehen."

Hat der KFD wenigstens einige Szenen als parodistische Verweisungen erkannt, so triumphiert beim EFB bares Unwissen.

Noch katastrophaler sind die Besprechungen zu

2. UNE GROSSE TETE,
    a) KFD (62/10 904): "François Truffaut soll einer der geistigen Väter dieses Abenteuers sein. Aber wer deswegen mit Erwartungen ins Kino geht, sieht sich um so bitterer enttäuscht. Offensichtlich ist der nur noch an wenigen Stellen erahnbare ehrgeizige Hintergrund des Drehbuchs der gewohnten Eddie-Masche zum Opfer gefallen. Das Ergebnis ist ein Film mit "Unterlänge" in zweifacher Hinsicht _... Fotogen an alledem sind allein die Go-Carts, wenn sie um den Spitzenplatz knattern. Das ist wenig für einen Film, von dem so schwer feststellbar ist, was er eigentlich will."
    b) EFB (14/98):
_... Wir können uns kaum entsinnen, jemals einen so langweiligen Film mit Eddie Constantine gesehen zu haben. Vielleicht hat ein Gocartclub seine Kasse geleert, um etwas Reklame zu machen. Dass dieses mehr als dürftige Drehbuch von Francois Truffaut stammt, einem Pionier der Neuen Welle, schämt man sich fast zu glauben _... Eddie richtet mit einigen Schwierigkeiten eine Gocartrennbahn ein. Ein langweiliger Film, der den unergiebigen Stoff mit Roheiten und schnoddrigem Gefasel auszufüllen sucht. Auch Freunden Eddie Constantines ist diesmal lebhaft abzuraten."

So findig also sind deutsche Berufsfilmkritiker im Aufspüren von Verweisungen!       Hans-Peter Kochenrath

Filmregister       H.P.K.
1. Verweisende Filme

A bout de Souffle (Jean-Luc Godard, 1960) = Ausser Atem Alias Jesse James (Norman McLeod, 1959) = Ein Schuss und 50 Tote
Artists and Models (Frank Tashlin, 1955) = Maler und Mädchen Bellboy, The (Jerry Lewis, 1960) = Hallo Page!
Cinderfella (Frank Tashlin, 1959) = Aschenblödel Delicate Delinquent, The (Don McGuire, 1957) = Der Held von Brooklyn
Don't Give Up the Ship (Norman Taurog, 1959) = Keiner verlässt das Schiff Errand Boy, The (Jerry Lewis, 1962) = Der Bürotrottel
Femme est une femme, Une (Jean-Luc Godard, 1961) = Eine Frau ist eine Frau Geisha Boy, The (Frank Tashlin, 1958) = Geisha Boy
Godelureaux, Les (Claude Chabrol, 1961) = Speisekarte der Liebe Grosse tête, Une (Claude de Givray, 1961) = Eddie und die scharfen Kurven
Hollywood or Bust (Frank Tashlin, 1956) = Alles um Anita Ladies' Man, The (Jerry Lewis, 1961) = Ich bin noch zu haben
League of Gentlemen, The (Basil Dearden, 1960) = Die Herren Einbrecher geben sich die Ehre Mistons, Les (François Truffaut, 1958)
Paresse, La (Jean-Luc Godard, 1962) 5. Epis. aus Les sept. Péchés Capitaux: Scared Stiff, The (George Marshall, 1953) = Starr vor Angst
Testament d' Orphée, Le (Jean Cocteau, 1958) = Das Testament des Orpheus Three Ring Circus (Joseph Pevney, 1954) = Im Zirkus der drei Manegen
Tirez sur le pianiste (Francois Truffaut, 1960) = Schiessen Sie auf den Pianisten Vivre sa vie (Jean-Luc Godard, 1962) = Das Leben der Nana S.
Youre Never Too Young (Norman Taurog, 1955) = Man ist niemals zu jung Will Success Spoil Rock Hunter (Frank Tashlin, 1957) = Sirene in Blond

2. Verwiesene Filme

American in Paris, An (Vincente Minnelli, 1951) = Ein Amerikaner in Paris Arroseur arrosé, La (Louis Lumière, 1895) = Der begossene Rasensprenger
Bad Day at Black Rock (John Sturges, 1954) = Stadt in Angst Ben Hur (William Wyler, 1959) = Ben Hur
Bridge On The River Kwai (David Lean, 1957) = Die Brücke am Kwai Cinderella (Walt Disney, 1950) = Cinderella
Citizen Kane (Orson Welles, 1940) = Citizen Kane Cousins, Les (Claude Chabrol, 1959) = Schrei wenn du kannst
Et Dieu créa la femme (Roger Vadim, 1956) = Und immer lockt das Weib Eternel Retour (Jean Delannoy, 1943) = Der ewige Bann
Girl Can't Help It, The (Frank Tashlin, 1956) = Schlagerpiraten Glass Menagerie, The (Irving Rapper, 1950) = Die Glasmenagerie
Lolita (Stanley Kubrick, 1961) = Lolita Moderato Cantabile (Peter Brook, 1960) = Moderato Cantabile
Mon Oncle (Jacques Tati, 1958) = Mein Onkel Orphee (Jean Cocteau, 1950) = Orpheus
Passion de Jeanne d' Arc, La (Carl Th. Dreyer, 1928) = Jeanne d' Arc Rear Window (Alfred Hitchcock, 1954) = Das Fenster zum Hof
Rose Tattoo (Daniel Mann, 1955) = Die tätowierte Rose Smulstronstället (Ingmar Bergman, 1958) = Wilde Erdbeeren
tausend Augen des Dr. Mabuse, Die (Fritz Lang, 1960) Tetto, II (Vittorio de Sica, 1955) = Das Dach
Tirez sur le pianiste (François Truffaut, 1960) = Schiessen Sie auf den Pianisten Vera Cruz (Robert Aldrich, 1954) = Vera Cruz

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Das Thiele oder: ein deutsches Kreuz in Zelluloid

Das Thiele heisst Rolf und ist ein deutscher Regisseur. Er ist sehr deutsch, besonders dort, wo es sich sehr welsch gibt. Dann nennt es sich ironisch und die Kritik klatscht ihm Beifall dazu. Tut sie das nicht, dann ist das Thiele bös und beschwert sich und sagt, es sei alles Undank. Es nimmt aber nie lange übel, weil doch eine Hand die andere verunreinigt, das nennt man dann den deutschen Film. Das Thiele lebt dort, wo es sinnlich-heiss-schwül ist. In seinen Filmen, den vielen, gibts viel Unmoral, weswegen sein neuestes Werk auch MORAL heissen soll. Denkt man an das Thiele, so stellt sich gleich auch Frau Tiller ein, mit der zusammen es oft Filme gedreht hat; aus dieser glücklichen Verbindung entspross auch der einzige stramme Sohn des Thieles, der dann aber leider ein Mädchen war: ROSEMARIE. Seitdem nennt man das Thiele auch des deutschen Wunders kritischsten Koch. Denn es kocht mit viel Liebe und Leidenschaft, Sünde und Pfuhl, wodurch seine Kritik an den herrschenden Zuständen keine mehr ist, sondern nur eine Gaudi. So ist des Thieles wichtigstes Requisit das Bett, in jedweder Farbe und Form, mal SCHWARZWEISSROT, mal HIMMELBETT.

Selten sind diese Betten leer; entweder ist einer drin oder eine, zumeist aber von jedem Geschlecht je ein Exemplar; einmal war nur eine drin, die damit nicht zufrieden war und noch eine hineinwollte. Das war sehr lesbisch und viel weniger schön, so dass man es LABYRINTH nannte, zuerst. Dann, als keiner darin suchen wollte, LABYRINTH DER LEIDENSCHAFT. Da hatte sich das Thiele aber sehr getäuscht - eine Pleite war 's, ohne Leidenschaft, trotz Frau Tiller, einfach nur ein grosser Stuss. Als auch das letzte Boulevardblatt aufgehört hatte zu verbreiten, dass alle Italiener Papagalli seien, deutsche Mädchen frässen, so sie blond seien, und überhaupt ganz grosse Schweine, gerade in dem Moment wachte das Thiele auf und drehte darüber einen Film. MAN NENNT ES AMORE - es wenigstens nannte es so. ,Paare rollen auf den luftbereiften Rädern der Alfa Romeos zur Paarung' liess das Thiele ein versoffenes Literatenmonstrum sagen, wodurch jenes in den dringenden Verdacht kam, den deutschen Film literatisiert zu haben. Was sich aber sehr schnell als Irrtum herausstellte, denn das Thiele hat zur Literatur nur den einen Bezug: den, der sich mittels besonders langer und ausgesucht schmutziger Finger herstellen lässt. Es muss einmal gesagt werden: das Thiele klaut und verunreinigt. Erst den Wedekind und dessen LULU, dann die halbe NOUVELLE VAGUE und jetzt gerade den Thoma. Ob er den VENUSBERG bei Wagner stehlen geht, ist noch nicht festzustellen. Für sein tiefernstes Bemühen um die deutsche Kultur sind alle dem Thiele sehr dankbar: die Kinogänger, die es ungemein aufheitert, die Kritiker, die es zu Höhenflügen befähigt und schliesslich die Literatur, die es zum allgemeinverständlichen Dreck macht, aber die kann nichts mehr dagegen tun. Da solche schweren Aufgaben honoriert werden müssen und weil dem Verdienst die Palme gebührt, verleiht man dem Thiele den Lubitsch-Preis. Ernst Lubitsch drehte Ninotschka und ist Gott sei Dank tot.       Peter H. Schröder
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Werbung

Man stelle sich vor, Veranstalter einer Ausstellung propagierten für ihre Unternehmung, die uns "Paul Kloes gewagteste Federzeichnungen" oder "Kokoschkas kolossalste Ölgemälde" ankündigten. Oder man denke sich einen Intendanten, der auf die Idee käme, "Don Giovanni" als "die aufwühlende Lebensgeschichte eines verrufenen Verführers" anzuzeigen. Man würde ihnen bedeuten, den Kunstbetrieb fürderhin mit ihrem Talent zu verschonen und lieber bei Varieté, Zirkus oder Jahrmärkten mitzuwirken. Oder in der Kinowerbung. Denn hier ist der schlimmste Anreisserjargon gerade gut genug. Was die Plakatwerbung bisweilen versucht, scheint bei den Anzeigentexten nicht denkbar. Eine sachliche Orientierung an diesen Texten ist völlig unmöglich. Die Verwirrung wird sogar noch auf die Spitze getrieben, seit sich clevere Manager der Terminologie der Cinéasten bemächtigen und somit den Schein der Sachlichkeit erwecken. Jeder Cinéast kann die Gründe für die Misere des Films, für den Mangel an Interesse für und Achtung vor dem Film im Schlaf aufzählen. Ein nicht zu unterschätzender Punkt ist hierbei die Werbung, die einen ernsthaften Kinobesucher zum oberflächlichen Vergnügungssüchtigen stempelt, dem der Inhaber jedes buntgemischten Theater- oder Opernabonnements im gesellschaftlichen Ansehen vorausrangiert. Hat sich aber dennoch einmal jemand entschlossen, einen Film wie ein Kunstwerk zu erwarten, dann strahlt ihn von der entblössten Leinwand das Ergebnis vereinter Werbemühen der Kinobesitzer an: "Mach dir ein paar schöne Stunden - geh ins Kino!" damit bekommt jeder Zuschauer wieder die Mentalität des Kaffeehausbesuchers übergestülpt.

Um genauer sagen zu können, an welche Komponenten des wehrlosen Zuschauerunterbewusstseins die kunstfernen Kinobosse hier appellieren, bedarf es noch immer ausstehender Untersuchungen in psychologisch - sozial - politischer Richtung. Fest steht bislang nur, dass mit so gearterter Werbung dem Film in unseren Kinos Tag für Tag nicht zu verantwortende Totengräberdienste geleistet werden.       Barbara N. Reischel
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Verspäteter Glückwunsch

Die Öffentlichkeit hat ihn zum Vater des Heimatfilms gekürt; die Fachwelt sieht in ihm den Pionier der deutschen Filmwirtschaft; die Bundesregierung hat ihm das Grosse Verdienstkreuz verliehen _..." (filmblätter) Verdienstkreuz, Verdienstorden, verdient gemacht um _..." Glauben Sie mir, es geht nicht nur um das Geld verdienen" (P. O.) "Schloss Hubertus", Geierwally", "Ochsenkrieg", "Grossstadtluft in Seewinkel": ländlich-bayrischer Mist in der Grossstadt. Wer solche Filme produziert, kann nicht an schnöden Mammon denken. "Die Natur und das wesensverwandte Buch schufen die lange Erfolgskette seiner Filme". (FILMWOCHE). Alpines Wesen, den Eispickel in immer dieselbe hohle Stelle menschlichen Filmverstehens gestossen, durchmass Peter Ostermayr 55 Jahre deutschen Filmschaffens - ununterbrochen - ohne bis heute einen Schritt vorwärts getan zu haben. 400 Filme. Kein Fortschritt? "Die Neunmalklugen, die nur nach Kunst rufen, mögen sich gedulden". (P. O.) Der Ruf nach aufrichtigen Filmen vermag die Mauern des "Schloss Hubertus" nicht zu durchdringen. Die "Geierwally" lächelt gequält: Gut ist was gut geht - "Glauben Sie mir _..." Und wenn's mal nicht so läuft: "Die Filmindustrie hat sich immer noch selbst geholfen" (P. O.) _... Und schreit nach Subventionen. Das war früher einfacher: heute ist, früher wurde man gezwungen aus der öffentlichen Hand in den Mund zu leben. Ostermayrs EMELKA-Konzern wurde kassiert, er selbst produzierte nur 23 Filme in der Zeit zwischen 1934 und 1945, produzierte für die Bavaria, für die Ufa, für die WIEN-Film, denn "ein Kulturvolk wie das deutsche kann und will auch in einer Zeit, in der es alle Kräfte anspannt, auf das heitere und ernste Spiel der Musen nicht verzichten _... in beiden Fällen schöpft es daraus neue Kraft und neue Entschlossenheit zum Daseinskampf" (Karl Hartl in "Die Arbeit im WIEN-Film", zitiert nach "Der deutsche Film 1943/44).

Das "Kulturvolk" hatte überlebt und suchte auf's neue die Wurzeln seiner Kraft. Hamsterfahrten wichen dem beschaulichen Ostermayr-Spaziergang. Bayern war wieder bayrisch, der gute Bayer Ostermayr blieb in München, und so.

Und nun ist er achtzig. Er denkt nicht ans Abtreten. Unter dem "Weitermachen" der Polit- und Filmprominenz wird er weiterhin "dazu beitragen, unsere bayrische Heimat über die Grenzen des deutschen Vaterlandes hinaus bekanntzumachen" (Dr. Ehard) _... die Dienste, die Sie unserem Volk und dem Ansehen Deutschlands in der Welt erwiesen haben" (Bundespräsident Dr. Lübke) und das "Ansehen des Films" (SPIO-Präsident Theile) zu mehren. "Ansehen Deutschlands" - "Ansehen des Films". Wer irrt hier eigentlich? "Bilde Künstler - rede nicht!" Ihrem eigenen Wahlspruch getreu, erlauben wir uns, sehr geehrter Herr Ostermayr, Ihnen, dem Ehrenpräsident der deutschen Ganghofergesellschaft, nachträglich die besten Wünsche zum Geburtstag auszusprechen. Wie gesagt: wir gratulieren.       Hanns Fischer
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Nach authentischen Berichten: VERGEWALTIGT

Dazu dann noch BEAUTIES OF NIGHT, Miss Lida, Les Sexycals, Ina Brandys und Peitschen-Lili, mit Bühnenzuschlag, ob vor oder nach der Vergewaltigung ist nicht auszumachen, Preise zwischen 4,- und 8,- DM. Auch das ist Kino-Reklame, 1963.

Ohnehin ist das Verhältnis der Konsumfilmproduzenten zur Kunst nur mit dem Wort Liaison hinreichend zu kennzeichnen, getreu den privaten Praktiken der Stars und Sternchen. Profit, der selbst die Caritas bestimmt, ist auch hier der Motor, der in Gang hält. Kultur sagend und Bordell meinend ist eine Devise, die den Gesetzen der freien Marktwirtschaft dort entgegenkommt, wo das Steueraufkommen den Blickwinkel ausmacht. Dass dabei auch die vorgeblich höchsten Kulturgüter der Nation verraten und verschachert werden, sei nur ganz am Rande vermerkt. Literatur wird vogelfrei und die ewigen Werte durchlaufen die Registrierkassen. Das Misstrauen den hochtrabenden Begriffen gegenüber kann nicht gross genug sein, jeder, der unwillig wird und einen nervösen Hautausschlag bekommt, wenn er aus den einschlägigen Mündern etwas von ABENDLAND hört, reagiert richtig. So weit ist es mit dem dauernden Eigenlob gekommen, dass anstelle des Abendlandes ein Gebilde aus Perversion und Scheckbüchern getreten ist, dass noch den naivsten Apologeten gerade als Leidtragenden dieser Ideologie Mitleid entgegengebracht werden muss.

Kino, zum Konsumgut degradiert und mit Zielstrebigkeit hierzulande provinziell gehalten, ist für das ekelhafteste public-relation Gebaren gerade so eben noch gut genug. Nicht, dass es schlechte Filme gibt, soll bemängelt werden; die Gründe dafür sind woanders zu suchen. Dass man jedoch die niedersten Machwerke, denen tatsächlich die Wirklichkeit noch nachsteht, mit den nackten Körpern von striptease Tänzerinnen kopuliert, weil man glaubt, dass eine ergänze trefflich das andere, während doch im Gegenteil nur das gleiche Phänomen ausbeutender Geilheit zur Schau gestellt wird, das ist das Ende eines dissonanten Liedes.

Sexualität und Verbrechen sind weitaus enger verschmolzen, als sich zwischen den Deckeln einer zweifelhaften Aufklärungsschrift denken lässt und die Phantasie, die dort am beweglichsten ist, wo der Bauch gestreichelt wird, muss sich mit dem jämmerlichen Abklatsch der Gefühle begnügen, weil nur diese profitabel und ausbeutbar sind. Das Weib mit der Peitsche auf der Bühne, vor dem Vorhang, der VERGEWALTIGT preisgeben soll, ist selbst das Opfer der tagtäglichen Vergewaltigung; die Beine der Dolores sind kein Kitschtraum muffiger Bürgerprüderie mehr, sie haben die Farbe toten Fleisches und um sie liegt der Mief gehandelter Ware. Die Liebeslaube ist von den Händlern der Liebe besetzt und der grüne Klee der Liebesseligkeit wurde von den Surrogaten des DOIT-YOURSELF verdrängt. Die tiefere Wahrheit alles dessen ist auf der Börse zu suchen.       Daniel Dachs
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Alfredus Plagiator

ICH BIN AUCH NUR EINE FRAU. Ich bin auch nur eine Schell. Ich bin auch nur ein Hubschmid. Ich bin auch nur ein Plagiator. Ich bin eine Psychotherapeutin. Ich bin auch keine Doris Day. Ich bin gar nicht Rock Hudson. Ich bin nur Alfred Weidenmann. Ich bin auch nur ein deutscher Film. Ich bin ein deutsches Lichtlustspiel. Ein Lustlicht-Leiderspiel. Ein leiderdeutsches. Ein Plagiat kommt selten allein. In der Nacht ist es halt nicht gern alleine. Und die Schell in der Hand? Bei Weidenmann nicht. Ist doch ganz in Weiss, die. Das lässt uns schwarz sehen. Der gebräunte Paul, der entbräunte Alfred. Lieber bleich und interessant. Über die Berge. Van Bergen bis zum Po. Pipapo. Dumpfgesang. Ich war auch mal Kabarettistin. Ich bin auch nur das deutsche Kabarett. Kein Hauch von Nerz. Zeit gelesen. Ach, du liebe _... Nicht doch Alfred. Schell hat 'n Hut verlorn. Schellenkappe. Alfred hat se. Rodenstock Holderblüh. Schönfelder. Kein schöner Land in dieser Zeit. O du mein Land. Über der Lende, die _... jaa _... niiicht? Maria im Rosenhag. Alfred they let you do it on films. Alfredus plagiator. Gib mir meine Kinokarte zurück. Ich bin auch nur ein Frau, ich bin auch nur       Hanne Frischkorn
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L' Immortelle Interview mit Alain Robbe-Grillet

Wir bringen im folgenden Anmerkungen Alain Robbe-Grillets, die er zu seinem neuen Film L' IMMORTELLE (Die Unsterbliche) in Form eines Interviews gemacht hat.

Robbe-Grillet, der 1960 das Drehbuch zu ,L' année dernière à Marienbad' für Alain Resnais geschrieben hat, inszenierte 1962 in Istanbul und am Bosporus seinen ersten eigenen Film.

Die Fragen der Interviewer sind als Ansatzpunkte zu verstehen, desgleichen die Antworten des Autors und Regisseurs.

Uns erscheint es von Bedeutung, etwas von den Intentionen Robbe-Grillets zu vermitteln, die er in seinem Film Gestalt werden liess, ohne sie jedoch zu verfestigen; es lässt sich keine reine Fabel abziehen, weil das Ineinander von Zeit - Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft - der Erinnerung mehr Raum gibt als den Fakten des Feststellbaren.       (Anm. d. Red.)

Frage: Gibt es gewisse Ähnlichkeiten oder Vergleichsmöglichkeiten zwischen Ihrem neuen Film und "Letztes Jahr in Marienbad"?

Robbe-Grillet: "Das Geschehen oder der sichtbare Ablauf der Handlung wird in ,L' Immortelle' sicher weniger abstrakt, denaturiert und weniger kompliziert erscheinen als dort. In ,Marienbad' war es unmöglich, die einzelnen Szenen zu datieren, sie zeitlich und im Ablauf des Ganzen einzuordnen. Hier existiert indessen eine ,gewisse Chronologie'. War ,Marienbad' ein Film der Suggestion, des Einredens, des Dialogs, so ist ,L' Immortelle' ein wesentlich stärker vom Optischen her bestimmter Film. Natürlich kreist im Grunde auch hier alles um das Problem, die Erinnerung an etwas zu schaffen, sie mit Hilfe des Gedächtnisses, der Vorstellung zurückzuholen. Und je Ungewisser das Gedächtnis arbeitet, um so stärker wird die Erinnerung. Im Film wird das ungefähr so deutlich, dass die Szene der ersten Begegnung des Paares am Bosporusufer wieder und wieder (vom Helden) heraufbeschworen wird. Dabei verändert sie sich von Mal zu Mal. Warum? Weil die Erinnerung sie allmählich umformt, sie zurechtschneidet und ihr andere Färbungen verleiht, sie in neuem Licht erscheinen lässt."

Frage: Sie operieren also auch hier mit dem Begriff der "geistigen Zeit", die die Realität in die Schwebe bringt und ihre Kausalität immer weiter aufhebt?

Robbe-Grillet: "Absolut, unter der einen Voraussetzung, dass der Zuschauer die eigentlichen ,Fakten' kennt. Natürlich gilt mein Interesse einzig der geistigen Zeit mit ihren Absonderlichkeiten, ihren Brüchen, Lücken, Dunkelheiten und Obsessionen, denn sie ist das einzig authentische Mass unserer Gefühle, unseres Lebens. Die Erinnerungen, die man ,wiedersieht', die fernen Gegenden, die Vorstellung von kommenden Begegnungen, die Impressionen vergangener Erlebnisse, all das, was jeder in seinem Hirn arrangiert, indem er nach Belieben den Ablauf modifiziert. Das ist wie ein ,innerer Film', der pausenlos in uns abläuft, sobald wir aufhören, dem Beachtung zu schenken, was um uns herum passiert. In anderen Augenblicken dagegen registrieren wir wieder mit allen Fasern unserer Sinne, was tatsächlich vor unseren Augen ist. So ermöglicht der totale Film unseres Geistes die völlig gleichwertige Aufnahme und Aneinanderreihung von Realitätsfragmenten aus der Aktualität des Lebens, Fragmenten aus der Vergangenheit, der Ferne, aus der Zukunft, oder gar völlige Phantasmagorien _..."

Frage: Wird Ihr Film stilistisch und formal Experimente aufweisen, die es ja in "Marienbad" in dieser Hinsicht kaum gab?

Robbe-Grillet: "Ja, ich fürchte sogar, dass der mehr oder minder totale Bruch mit der traditionellen Sprache des Films ziemlich schokieren wird. Es gibt beim Film Regeln, die kennenzulernen sehr interessant sein mag. Aber sie stellen doch nur eine Art Grammatik dar. Und ich habe nicht die geringste Lust, mich um diese eingebürgerten Regeln zu kümmern.

Alles Neue ist verwirrend und nichts ähnelt auf den ersten Blick einem Irrtum mehr als eine Neuerung. Wenn die Neuerung unverständlich und steril bleibt, ist sie effektiv ein Irrtum. Wenn sie jedoch erweiterungsfähig ist, fortzeugend und reich an Möglichkeiten, dann irren jene, die sie Irrtum nennen."

Frage: Sind Sie nach der Erfahrung dieses Films der Meinung, dass der kinematografische Schaffensprozess vom literarischen Schaffensvorgang sehr verschieden ist?

Robbe-Grillet: "Zwischen Schrift und Bild besteht natürlich ein fundamentaler Wesensunterschied. Ausserdem ist man für ein Buch in wesentlich stärkerem, wesentlich realerem Mass verantwortlich als für einen Film. Ein Buch, das schreibt man allein. Ein Film entgleitet einem doch mehr oder minder in jeder Phase seiner Entstehung durch deren Bedingungen. Der Imperativ der Zeit und der des Geldes herrschen, und dann beeinflussen auch die Schauspieler die Figuren, die sie verkörpern. Das ist vielleicht gut so, und man soll dagegen nicht ankämpfen. In diesem Fall hat Françoise Brion eine sehr schöne Gestalt ,komponiert', die mir gut gefällt. Aber es ist doch beunruhigend genug, sich vorzustellen, dass der gleiche Film, der genau gleiche Film, mit einer anderen Darstellerin ein anderer Film geworden wäre _..."
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Zur Topographie des Western Teil II (Fortsetzung von Heft 37)

4. William A. Wellmann

Henry Kings "The Gunfighter" aus dem Jahre 1950 hatte das traditionelle Schema des Western durchbrochen. Die Entmythologisierung des Helden war gelungen. Doch schon sieben Jahre früher hatte ein ansonsten ,klassischer' Regisseur erstmals mit den ungeschriebenen Regeln des Genres bewusst gebrochen. William A. Wellmanns "The Ox-bow Incident" (1943) verzichtete auf den Helden, konzentrierte sich auf das Thema (Lynchjustiz) und musste damit zwangsläufig auch den dramaturgischen Bau verändern. "The Ox-bow Incident" (Zwischenfall in Ox-bow) war bis heute in Deutschland nicht zu sehen. Auf der Grenze von Tradition und Moderne finden wir den Film Wellmanns, der nicht nur sein bester ist, sondern der überhaupt zu den grossen Wildwestfilmen zu zählen ist. "Yellow Sky" (Herrin der toten Stadt, 1947) berichtet über eine Gruppe von Outlaws, die unter der Führung Gregory Pecks auf der Flucht vor einer Sheriff-Posse nach vollführtem Banküberfall durch die Salzwüste in eine tote Goldgräberstadt geraten, in der nur noch ein alter Mann und seine Enkelin hausen. Der Alte besitzt eine beträchtliche Menge Gold und sobald die Banditen dies erfahren, splittert sich die Gruppe auf. Peck vertritt den "fairen" Standpunkt des Teilens: der Anführer der Gegenpartei, Richard Widmark, will alles. Der archaische Konflikt zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht ist hier auf den Banditenkodex relativiert, so dass auch das Schlussduell gleichsam in "geschlossener Gesellschaft" stattfindet. Der Handlungsaufbau ist durchaus klassisch. Modern nimmt sich dagegen die langsame Enthüllung des Charakters von Widmark aus, die ähnlich einer psychologischen Studie, in vielen kleinen Details zunehmend, nicht nur das "schlecht sein" zutage treten lässt, sondern auch Motive aufzeigt. Kameramann Joe McDonald hat den Film mit einer Folge grossartiger Bilder ausgestattet, die sich stilgerecht in das Konzept Wellmanns einfügen. "Westward the Women" (Karawane der Frauen) aus dem Jahre 1951 bleibt weit unter dem Niveau der beiden erstgenannten Filme. Das Thema der grossen Wagentrecks zum Westen hat Wellmann zwar im Stil epischer Western zu inszenieren versucht, die gute Anlage wird aber durch eine stellenweise unerträgliche Hollywood-Romantik regelrecht verwässert. (Die Liebesgeschichte zwischen Treck-Führer Robert Taylor und der widerspenstigen Denise Darcel). Packende Bilder - so etwa der Indianerangriff auf die Wagenburg - wecken wehmütige Erinnerungen an "Yellow Sky".

5. Henry Hathaway und King Vidor

Weniger profiliert, dafür aber von gleichbleibender handwerklicher Qualität sind die Western Henry Hathaways, unter denen "Rawhide" (Zwei in einer Falle) und "Garden on Evil" (Garten des Bösen) Erwähnung verdienen. Hathaway hat keinen persönlichen Stil. Seine Filme zeichnen sich durch technische Perfektion aus; sie sind von einer .harten Machart' und man muss ihnen im allgemeinen Tempo und Rasanz zugestehen.

Und da sind schliesslich die Filme King Vidors, der schon 1931 mit "Billy the Kid" seinen ersten Western drehte. Vidor ist es nicht gelungen, seinen Blick und sein Gespür für die Realität sowie seine Fähigkeit, unter der Oberfläche die Wirklichkeit sichtbar zu machen ("The Crowd", 1928), mit dem Ideal in Einklang zu bringen, das der Westerner letzten Endes verkörpert und dessen Faszination sich Vidor nicht entziehen konnte. Die Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit offenbart sich in "Duell in the Sun" (Duell in der Sonne, 1946) am deutlichsten. Die mythologische Figur des Films (Gregory Peck) ist zur gleichen Zeit Protagonist einer materiell orientierten Wirklichkeit, während die nüchterne Alltagsfigur (Joseph Cotten) Ideale vertritt, die ihn aber nicht zum persönlichen Ziel führen können. Die legendären Jahre der Besiedlung des Westens werden in vielen Szenen lebendig, so z. B. im Ritt der Rancher gegen die Vermessungstruppen der Eisenbahngesellschaften - eine der vollendetsten Sequenzen des Wildwestfilms überhaupt. Andererseits ist das titelgebende Duell in der Sonne, sowohl in der optischen Gestaltung wie in der dramaturgischen Durchführung, bis zur Geschmacklosigkeit überkitscht. Bedauerlich ist dies besonders im Hinblick auf die grossartigen Momente des Films, die ihn zu einem aussergewöhnlichen Werk hätten machen können.

III. Einzelfilme

So, als ob es sich um einen Nachruf handelt, nimmt sich ein Film aus, der die Legende des Wildwesthelden zu einem romantisch-verklärten Supermythos emportreibt und

jedweden Bezug zur Realität von vornherein ausschliesst. SHANE (Mein grosser Freund Shane), von George Stevens 1952 gedreht, ist das Wildwestmärchen par exellence. Shane (Alan Ladd), Inkarnation des Präriehelden, kommt von irgendwo in das Tal, in dem friedliche Farmer von brutalen Banditen terrorisiert werden. Shane wird der Freund einer Familie: Kampfgefährte des Mannes, verehrt vom Sohn und geliebt von der Frau. Er ist der fahrende Ritter Westamerikas. Hellgekleidet und blond, tritt er dem schwarzhaarigen und dunkel bewamsten Banditenführer (Jack Palance) entgegen, vernichtet ihn. Nach dem Kampf reitet Shane fort, irgendwohin. Die Einsamkeit ist nicht sein Schicksal, sie ist ein Teil von ihm.

Stevens hat die Geschichte vom optischen wie akustischen her auf ,Legendenton' gestimmt. Gut und Böse sind überdeutlich plaziert, archaische Elemente diktieren das Geschehen, in dem Wort und Tat gleiches Gewicht haben. Die klassische Einfachheit des Western hat Stevens bis ins Extrem vorgetrieben und dank seiner sorgfältigen Inszenierung wirkt "Shane" nie gekünstelt. Nur das Adjektiv ,schön' kann der vollkommenen Harmonie aller Details des Films gerecht werden. In seiner Art ist "Shane" vollendet und nur wenig fehlt ihm zum Meisterwerk.

Im gleichen Jahr entstand der Wildwestfilm, der bis heute der in Deutschland wohl berühmteste und am meisten überschätzte ist: Fred Zinnemanns HIGH NOON (Zwölf Uhr mittags).

Zinnemann hat seine Handlung exakt der Westerndramaturgie angepasst. Er ging noch einen Schritt weiter: die 90 Minuten der Vorführung sind die 90 Minuten der Filmhandlung. Das ist der dramatischen Konzentration dienlich, die Identifizierungsmöglichkeit ist ungleich grösser; doch die Idee war nicht so originell, wie mancher Kritiker sie empfand. In diesen 90 Minuten sieht sich Sheriff Will Kane (Gary Cooper) von seinen Freunden und seiner Frau (Grace Kelly) verlassen. Allein muss er den vier Banditen, die sein Leben und die Sicherheit der Stadt bedrohen, entgegentreten. Dabei ist er eigentlich nicht mehr im Amt. Doch die innere Verantwortung zwingt ihn zu handeln. "Ich muss hierbleiben!" gibt er seiner Frau zur Antwort, als diese ihn zur Flucht überreden will. Kane bleibt allein. Das Leitbild ist erfüllt.

Doch das neue und (leider) dominierende Element ist politischer Natur. Der Film erteilt eine Lektion in Fragen Demokratie. Die Ahnungslosigkeit der aller Wirklichkeit fernen Gerichte, die fehlende Bereitschaft, Freiheit und Sicherheit notfalls mit dem Leben zu verteidigen, die Notwendigkeit, jede Entscheidung erst zu diskutieren - kurz die Funktionsmängel einer Demokratie im Moment totaler Bedrohung. Aber der Betrachter kommt zu keinem ernsthaften Nachdenken. Das Problem löst der Film mittels des Westernschemas: der Gordische Knoten wird durch die Pistolenschüsse Gary Coopers zerschossen.

Wohlverstanden, "High Noon" ist ein sehr guter Film, nicht zuletzt dank der massgerechten Darstellung Gary Coopers, dem die Rolle auf den Leib geschrieben ist. Die zahlreichen Meriten erneut aufzuzählen, scheint überflüssig. Auf der Strecke bleibt jene ungetrübte Klarheit, die unmittelbar aktionsgebundene Dynamik, die den echten Western auszeichnen. Durch "High Noon" war andererseits der verpönte Wildwestfilm gesellschaftsfähig geworden. In der Zeichnung der Gestalt Kanes, dem die Möglichkeit und Wirklichkeit des Verzagens eingeräumt wird, tut Zinnemanns Film einen gewaltigen Schritt in die Richtung des modernen Western, in dem die Helden der Wirklichkeit näher kommen.

IV. Der moderne Western

Der ,adult western' kam in Mode. Oder - wie die findigen Schlagwortkritiker sagten: es vollzog sich die Eroberung des wilden Westens durch Freud! Gut und Böse musste motiviert werden. Die früher nur deklaratorisch bemühte Vergangenheit der Beteiligten wurde zum Schlüssel für Charakter und Verhalten. Man tat nicht mehr unbedingt, was man tun muss. Immer häufiger trat die Frage nach dem WARUM in den Vordergrund. Schwarz und Weiss wurden relativiert. Oft bleibt bis zum Ende die Position der Kontrahenten ungeklärt. Der Zuschauer war gezwungen, teilweise mitzudenken.

1. John Sturges

John Sturges lieferte eine ganze Reihe dieser ,adult western'. "Backlash" (Das Geheimnis der fünf Gräber), "Escape from Fort Bravo" (Verrat im Fort Bravo) und "The Last Train from Gun Hill" (Der letzte Zug von Gun-Hill) sind Filme minderer Qualität. Interessant war "The Law and Jake Wade" (Der Schatz des Gehenkten), in dem ein ehrlich gewordener ehemaliger Bandit als Sheriff eines kleinen Nestes eine alte Schuld abträgt und einen früheren Kumpan aus der Zelle des Gefängnisses befreit. Dies erweist sich als grober Fehler. Jake Wade (Robert Taylor) wird von seinem ,Kumpan' (Richard Widmark) erpresst. Will Wade nicht riskieren, dass seine Vergangenheit publik wird und er damit Posten und Ansehen verliert, muss er nachgeben. Es geht um einen seinerzeit geraubten Geldbetrag, der noch irgendwo vergraben sein soll. Trotzdem weigert sich Wade; aber Widmark und seine Begleiter drohen Wade, dessen Freundin zu entführen. Wade gibt nach. Natürlich erreicht Widmark sein Ziel nur beinahe, doch das Erstaunliche ist, dass nicht die Grösse Wades oder das ewig Gute siegen, sondern dass Widmark verliert, weil er in die Isolation gedrängt wird. Während Wade sich geliebt weiss, findet Widmark sich lediglich überlegen in der Wahl seiner Mittel. Das im strengen Sinne menschliche Verhalten Wades gibt den Ausschlag. Ähnliches kann man von den beiden Helden in Sturges' "Gunfight at the O. K. Corral" (Zwei rechnen ab) sagen. Das Remake des Fordschen "My Darling Clementine", diesmal mit Burt Lancaster als Wyatt Earp und Kirk Douglas als Doc Holliday, ist den historischen Tatsachen viel näher als der Film Fords. Aber Sturges entzieht der faszinierenden Story den Mantel der grossen Legende. Trotz aller Dynamik und Brillianz kann die Regie das Fehlen der bei Ford in jedem Bild spürbaren Atmosphäre nicht wettmachen. Schon hier wird deutlich, wieviel näher die Legende der Erlebniswahrheit steht als das genaue Faktum; um wieviel näher Ford am Wesen der Geschichte des Westens steht als Sturges. "Gunfight" ist zweifellos frappierender, ist stärker akzentuiert und kompensiert die gegenüber Fondas Darstellung abfallende Leistung Lancasters durch einen grossartigen Kirk Douglas als Holliday, der Matures Leistung im Film Fondas bei weitem übertrifft. Es fällt leicht, die Helden dieses Films zu bejahen, aber es ist kaum möglich, sich mit ihnen zu identifizieren -: die Schwäche aller Sturges-Western.

In "The Magnificent Seven" (Die glorreichen Sieben) aus dem Jahre 1960 ist der intellektuelle Zug in Sturges' Filmen am klarsten zu erkennen. Die Neuauflage des Kurosawa-Films "Die sieben Samurai" liegt zwar um einige Grade in der Qualität niedriger, doch hat Sturges eine fast fehlerfreie Inszenierung geliefert. Sieben Revolverhelden verteidigen ein mexikanisches Dorf gegen eine Horde von 40 Banditen. Das Verhalten der sieben Aufrechten ist nicht idealistischer Natur. Es entspringt vielmehr ihrer sozialen Situation. Hinzu tritt ein rationaler Appell: man muss notfalls unter sachkundiger Führung bereit sein, Heim und Herd mit der Waffe zu verteidigen. Ähnlich wie in "High Noon" erreicht die leicht fassliche Botschaft unreflektiert den Betrachter. Diese zweite Perspektive, die der Film neben dem ,blossen' Geschehen aufzeigt, geht auf Kosten der verlorenen Sage, deren Reiz kaum durch solche ,Tiefe' ersetzt werden kann. Es ist good cinema und good entertainment. Nicht mehr und nicht weniger!

2. Delmer Daves

Delmer Daves, der schon 1950 mit "Brocken Arrow" (Der gebrochene Pfeil) den ersten bedeutenden Film schuf, in dem der Indianer als respektforderndes Individuum erscheint, nähert sich der Realität auf andere Weise als Sturges. Für Daves ist das Problem nicht so sehr, wie sich ,gut' und ,böse' behaupten, sondern ihm geht es darum, wie sie sich beweisen. Die gute Sache ist keine Frage des mit dem Verstand messbaren Rechts. Es ist eine Frage des Herzens. Die Helden der Daves-Western sind ebenfalls einsam, doch sie sind überdies von einer wilden oder stillen Verzweiflung getrieben. Erst durch die Bindung zu einer Frau - eine rein innere Bindung - finden sie ihren Standort und letztlich auch ihr Ziel: ob es nun Richard Widmark in "The Last Wagon" (Der letzte Wagen) ist oder Gary Cooper in "The Hanging Tree" (Der Galgenbaum). Beides sind Filme zweifelhafter Qualität. Etliche sentimentalisch aufgeweichte Szenen, die den lyrischen Charakter der übrigen Passagen unschön unterbrechen, lassen diese Filme in den sog. ,harten Kitsch' abgleiten.

Eine hervorragende Leistung stellt Delmer Daves "3:10 to Yuma" (Zähl bis Drei und bete!) dar. Er entstand 1957. Ein Farmer (van Heflin) benötigt zur Aufrechterhaltung seiner Farm und zur Ernährung seiner Familie viel Geld. Kredit hat er nirgendwo. Da bietet sich ihm eine Gelegenheit. Ein gefährlicher Desperado (Glenn Ford) muss in das Gefängnis von Yuma gebracht werden. Und zwar mit dem Zug, der 3:10 abfährt. Der Desperado muss bewacht werden und seine Freunde dürfen keine Gelegenheit erhalten, ihn zu befreien. Der ausgesetzte Preis für die Erfüllung dieser selbstmörderischen Aufgabe veranlasst den Farmer, den Job anzunehmen. Wie Daves das Geschehen Detail um Detail ablaufen lässt, wie er Bewacher und Bewachten in ihrer moralischen Substanz blosslegt, wie sehr die materielle Notlage und der seelische Druck, unter dem der Farmer steht, für ihn den Gegner in zunehmendem Masse zu einem persönlichen Feind machen und wie sehr der Desperado die eiserne, aus der Not geborene Entschlossenheit des Farmers begreifen lernt, wie sich schliesslich eine seltsame Sympathie abzuzeichnen beginnt - all dies ist ein grosses Plus für "3:10 to Yuma", den besten Film, den Daves gedreht hat. Unter dem inneren Druck bricht die äusserlich festliegende Position der Gegner zusammen. An die Stelle archaischer Axiome tritt menschliche Reaktion.

3. Anthony Mann

Der bedeutendste Regisseur des modernen Western ist Anthony Mann. Ihm ist zu danken, dass das durch Ford geadelte Genre eine echte Renaissance erlebte. Was Ford für den Western der 30er und 40er Jahre war, ist Mann für die 50er Jahre geworden. Schon sein erster Western "Devil's Doorway" (Fluch des Blutes) liess das Talent des Regisseurs erkennen, das sich in "Winchester 73" entfaltete. Obwohl dieser Film an der Heterogenität der einzelnen Szenen leidet, ist er bis heute der interessanteste Film Manns. Er enthält alle Bestandteile des Wildwestfilms. Er ist eine wahre Anthologie des Western: das Rencontre im Saloon, das Wettschiessen, Pokerspiel um höchsten Einsatz, Indianerüberfall, Verfolgungsritte, Frau zwischen Gut und Böse, Belagerung eines durch Banditen besetzten Hauses, Schusswechsel. Bindeglied der vielen Episoden ist die Winchesterbüchse, die Lynn McAdam (James Stuart) von seinem Bruder Dutch (Stephan MacNally) geraubt wird und nun von Besitzer zu Besitzer wandert, bis sie zum Ende wieder in die rechten Hände gerät. Ein Kompendium an Westernsequenzen jede blendend inszeniert. Und schon finden sich die beiden typischen Mann-Elemente: die Affinität des Helden zum materiellen Wert (die Racheaktion Stewarts wird überlagert von der Suche nach der kostbaren Büchse) und das Schlussduell, das sich in den meisten Filmen Manns in Felsen oder kahlen Gesteinsformationen abspielt. Damit erhält die gewaltbetonte Auseinandersetzung eine beonders explosive Wirkung: in "Naked Spur" (Nackte Gewalt). "The Tin Star" (Stern des Gesetzes) und "Man of the West" (Der Mann aus dem Westen). In "Naked Spur" und "The Tin Star" steht im Mittelpunkt der Handlung ein Kopfgeldjäger, der steckbrieflich gesuchte Verbrecher tot oder lebendig gegen eine Belohnung zur Strecke bringt. In "Man of the West" verfolgt Cooper die Banditen, die ihm die für die Anwerbung eines Lehrers anvertraute Geldsumme geraubt haben. Ein Kopfgeldjäger ist ein im Westen gefürchteter und verachteter Mann. Hinzu kommt, dass in "Naked Spur" und "Man of the West" die Gegner ehemalige Freunde oder doch ,Zunftbrüder' waren: sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit als Outlaws.

Das interessanteste Phänomen der Filme Manns aber ist die besondere Betonung der Gewalt, der ,stress of violence', wobei ,violence' präziser ist als das deutsche Wort Gewalt. Diese ,violence' lauert ständig im Hintergrund und kommt in den entscheidenden Momenten explosionsartig zur Geltung. So, wenn in "Naked Spur" inmitten einer idyllischen Landschaft wie aus heiterem Himmel ein Indianergemetzel losbricht, wenn in "The Man from Laramie" eine Gruppe rüder Cowboys James Stewart einer Lasso-Tortur unterziehen oder wenn in "Man of the West" ein erbitterter, bis zur Erschöpfung währender blutiger Faustkampf auf einer blumenbesäten Wiese stattfindet. Der Akzent der Gewalt ist das Grundelement der Filme Anthony Manns, unter denen "Man of The West" und "The Man from Laramie" die besten sind.       Gert Berghoff

Die vorliegende Darstellung liess aus verschiedenen Gründen wichtige Western-Regisseure unberücksichtigt. Howard Hawks (bes. RIO BRAVO), John Huston, Budd Boetticher und Sam Peckinpah sollen später und in anderem Zusammenhang erörtert werden.       Anm. der Red.
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FILMLITERATUR 1

Von Kontinuität kann keine Rede sein. Filmbücher von Rang erschienen in Deutschland schon immer sporadisch. So etwa das ,Kinobuch' von Kurt Pinthus 1913; die ersten Arbeiten Béla Balázs 1924 und 1930; Pudowkins ,Filmregie und Filmmanuskript' 1928; Rudolf Arnheims ,Film als Kunst' 1932. Und abgesehen von wenigen Ausnahmen, dominierten seitdem Anthologien artig gesammelter Episödchen, unverbindliche Feuilletons oder flotter Illustriertenklatsch. Dumpfes Ahnen und hunderte verbrauchter Kinobillets machen eben noch keinen Filmhistoriker. Aufgeblasen zu dickleibigen Bänden und stets ,reich bebildert', erwies sich Schwatz als beredtes Pendant zum Provinzlertum des deutschen Films. Dass in anderen Ländern bemerkenswerte Filme produziert werden; dass dort die wichtigsten Aspekte des Films von einer interessierten Wissenschaft und aufmerksamen Filmpublizistik ununterbrochen diskutiert werden; dass dort Archive bestehen, die eine fundierte Auseinandersetzung mit den Problemen des Films erst ermöglichen -: will der Kinogänger also mehr als bestenfalls Geschmacksurteile, dann wird er neben den wenigen Untersuchungen in deutscher Sprache auch fremdsprachigen Publikationen seine Aufmerksamkeit zuwenden müssen.

Hier kann nur ein erster Überblick gegeben werden, ein Panorama, das aber auch weniger wichtige Veröffentlichungen erfasst. Die Anmerkungen beabsichtigen lediglich vorläufige Information, sind, soweit sie Kritik beinhalten, fragmentarisch und nicht geeignet, eine ausführliche Würdigung zu ersetzen. Wir werden deshalb auf einige der hier erwähnten Bücher später noch einmal zurückkommen müssen.

In den letzten Jahren wurden grundlegende Werke zur Theorie und Ästhetik des Films neu aufgelegt. So erschien 1961 die langerwartete 2. Auflage von

Béla Balázs: Der Film, Werden und Wesen einer neuen Kunst
Wien 1961, 359 Seiten, DM 21,-,

die den vielen Interessierten endlich Gelegenheit gibt, jene Gedanken nachzulesen, die sie bisher nur aus zweiter Hand kennenlernen konnten. Zudem fanden sie den neuen ,Balázs' um Texte aus den berühmten älteren Schriften ,Der sichtbare Mensch' oder ,Die Kultur des Films', 1924, und ,Der Geist des Films', 1930, erweitert. Probleme, Stile, Ideologie - neue Formsprache, Theater und Film, die schöpferische Kamera, Schnitt, Formalismus der Avantgarde. Und Anregungen: zu einem ,erzählten Film', der von dem Zwang befreien würde ,alle Details nur deshalb zu zeigen, damit der Gang der Handlung verständlich bleibe'; zu einer Filmlyrik mit ,kontrapunktischer Gleichzeitigkeit' von Bild und Text; zu einer ,Kunstgeschichte, die, ohne ästhetische Wertung, nur die sozialpsychologischen Ursachen der grossen Erfolge' untersuche und als erste Notizen dazu die Bemerkung, dass europäische und amerikanische Produktionen ideologisch auf den Kleinbürger eingestellt seien. ,Die Angst und Sorge des Kleinbürgers um seinen Besitz wird auch ausserhalb seiner sozialen Sphäre lokalisiert. Um die Angst vom legalen, alltäglichen Raub der kapitalistischen Ausbeutung abzulenken, wird die Gefahr romantisiert und erscheint ausschliesslich in der Gestalt des Verbrechens _... der Detektiv bedeutet die Romantik des Kapitalismus. Das Geld ist die blaue Blume der grossen Sehnsucht.'

Ein anderes, nützliches Werk, vom Arche-Verlag in der Sammlung Cinema als Band 3 vorgelegt und von Martin Schlappner (Redakteur der NZZ) ergänzt und neugefasst (besonders die Abschnitte Film für Kinder, Film und Staat, Film und Kirche!), ist

Ernst Iros: Wesen und Dramaturgie des Films,
Zürich 1962, 282 Seiten, DM 32,60.

Iros erläutert ausführlich in je einem Hauptteil seine Gedanken zu einer Ästhetik und Dramaturgie des Films. Ein Lehrbuch, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, durch Analyse der Filmelemente und Aufzeigen der Gesetzmässigkeiten den Nachweis der Kunstfähigkeit des Films zu erbringen. Als ,Filmgrammatik' wollte Iros seine Arbeit verstanden wissen, die ,Grundlage für Urteil und schöpferische Tätigkeit werden kann: Der Pädagoge überwiegt. Jedoch bleiben Sätze wie ,Während demjenigen, der aus einer Idee heraus gestaltet, das Geschehen ohne vorbestimmte Absicht zufliesst, setzt der Tendenzschaffende seinen Gestalten eine ganz bestimmte Absicht voran, nach welcher das Geschehen gemodelt wird' fragwürdig, wenn dann ,Ideen' als ,Werte, die den abstrakten Begriffen Leben und Erlebbarkeit verleihen' definiert werden.

Die Grundlage der Filmkunst sei die Montage, schrieb Pudowkin im Vorwort der 1. deutschen Auflage, die 1928 in Berlin herauskam. Und Eisenstein berichtet von den heftigen Auseinandersetzungen, die er mit Pudowkin über das Wesen der Montage führte. Es ist dem Arche Verlag in Zürich zu danken, dass er einige Schriften dieser beiden grossen, russischen Regisseure und Theoretiker

W. I. Pudowkin: Filmtechnik, Filmmanuskript und Filmregie
Zürich 1961, 246 Seiten, DM 14,80
und S. Eisenstein: Gesammelte Aufsätze I
Zürich o. J., 420 Seiten, DM 19,80
und S. Eisenstein: Vom Theater zum Film
Photos, Schriften, Dokumente
Sammlung Horizont
Zürich 1960, 120 Seiten, DM 9,80

wieder zugänglich gemacht hat. Die Montage war für beide von grösster Bedeutung. Eisenstein sah in diesem Stilmittel ,Konflikt', Pudowkin Verbindung, ,Kontinuität'. Ihre Filme sollten die gegensätzlichen Auffassungen verdeutlichen.

Während Pudowkin sich eingehend mit Fragen des Manuskripts und den Aufgaben und Möglichkeiten der Regie beschäftigt, enthalten die beiden Bände Eisensteins neben den wichtigen Aufsätzen ,Ein dialektischer Zugang zur Filmform', ,Filmsprache', ,Montage 1938' und ,Über den Bau der Dinge' auch biographische Schriften und kritische Essays; der Band der ,Sammlung Horizont', zudem hoch Zeichnungen und Lebensdaten.

Der Bedeutung Eisensteins entsprechend, wird - vor allem in den Ostblockländern - seinem Werk grosses Interesse entgegengebracht. Man kann von einer regelrechten Eisensteinforschung sprechen. Einige der Referate, die auf der Berliner Eisensteinkonferenz 1959 gehalten wurden, können jetzt in

Sergei Eisenstein: Künstler der Revolution
Berlin 1960, 389 Seiten, DM 12,-

nachgelesen werden. Hier berichten Jerzy Toeplitz über ,Der individuelle Held in den Filmen Eisensteins', Regina Dreyer über ,Eisenstein und das Theater', Jay Leyda ,Que Viva Mexiko - ein unvollendetes Werk' und Maxim Strauch über seine ,Erinnerungen an Eisenstein'. Zeichnungen Eisensteins und das Szenarium zu ,Panzerkreuzer Potemkin' runden das Bild, das man zu geben versuchte. Besonders hervorzuheben ist noch die wichtige Dokumentation von Hermann Herlinghaus zur Erstaufführung des ,Panzerkreuzer Potemkin' in Deutschland (1926). Kaum bekannte Zensurentscheidungen, Anklageschriften und Briefe vermitteln eindringlich Aspekte der damaligen ,Kulturpolitik'.

Nicht nur durch seine Mitarbeit an Jean Rouchs Film CHRONIQUE D' UN ETE (1961) wurde der französische Soziologe Edgar Morin bekannt. Schon 1956 hatte er mit einer anthropologischen Untersuchung ,Le cinéma ou l' homme imaginaire' Beachtung gefunden, die zwei Jahre später auch in deutscher Übersetzung erschien:

Edgar Morin: Der Mensch und das Kino
Stuttgart 1958, 248 Seiten, DM 14,50

Der Film sei seinem Wesen nach indeterminiert, offen _... ein anthropologischer Spiegel, der notwendig die praktischen und imaginären Realitäten reflektiere, ,Das heisst auch die Bedürfnisse, die Kommunikationsformen, die menschlichen Individualitätsprobleme seines Zeitalters. Gerade die verschiedenen Komplexe der Magie, des Gefühlslebens, der Vernunft, des Irrealen und des Realen, welche die molekulare Struktur der Filme bilden, weisen uns den Weg zu den zeitgenössischen sozialen Komplexen und ihren Komponenten, den Fortschritten der Ratio in der Welt, der Seelenkultur, den Formen der Magie und den fetischistischen Fixierungen unseres individuellen und kollektiven Lebens.' Die Realität des Menschen ist halb-imaginär, sagt Gorki. Morins Studie, nach Alfred Anderschs Urteil eine ,der tiefgründigsten, die über den Film geschrieben wurden', verdiente in Deutschland weit mehr Beachtung, als ihr bisher zuteil wurde. Problematisch erscheinen jedoch die morinschen Praemissen, die noch zu diskutieren wären.

In diesen Zusammenhang gehören auch die wichtigen Arbeiten von

Marcel Martin: Le langage cinématographique
Paris 1962, 243 Seiten, 12 NF
und
André Bazin:
Qu' est-ce que le cinéma?
3 Bände -
Paris 1958, 184 S., 7,80 NF
Paris 1959, 148 S., 7.50 NF
Paris 1961, 184 S., 9 NF,

die in der Reihe ,Collection 7e Art' erschienen sind. Marcel Martin: Kamera, Montage, Dialog, Raum und Zeit - brillante Untersuchungen, deren besonderer Wert darin liegt, dass Thesen durch eine Vielzahl von Filmen belegt werden (der Index der zitierten Flime umfasst 13 eng bedruckte Seiten). André Bazin: Essays des berühmten und zu früh verstorbenen französischen Kritikers und langjährigen Chefredakteurs der CAHIERS DU CINEMA wurden hier dreibändig zusammengestellt. Als nächster wird ,Une esthétique de la réalité: le neorealisme' herauskommen. Die bisherigen Bände enthalten u.a. die bekannten Studien ,Le mythe de Staline dans le cinéma soviétique' und ,William Wyler ou le janseniste de la mise en scène' (Ontologie et Langage), ,Pour un cinéma impur: Défense de l' adaption' und ,Theâtre et Cinéma' (Le cinéma et les autres arts), ,Entomologie de la pin-up girl', ,Mort d' Humphrey Bogart' und ,Le Western ou le cinéma americain par excellence' (Cinéma et Sociologie). Gewissermassen das Vermächtnis eines Filmpublizisten, dessen Einfluss auf die Produktionen der nouvelle vague als unbestritten festgestellt werden kann, dessen kritisches Schaffen noch heute - und nicht nur in Frankreich - nachwirkt, aber auch in zunehmenden Masse und besonders von der linken Kritik in Frage gestellt wird. Marcel Martin sieht beispielsweise in ihm einen ,Mann der Linken und Kritiker der Rechten'. Bazins Forderung nach einem ,cinéma impur', die unter seiner Leitung von den CAHIERS DU CINEMA entwickelte ,politique des auteurs' wurden modifiziert. Eine überzeugende Widerlegung steht noch aus.

Die Frage nach einer brauchbaren Geschichte der Filmkunst wird in Zukunft schnell zu beantworten sein. Seit kurzem steht nämlich

Ulrich Gregor - Enno Patalas: Geschichte des Fiims
Gütersloh 1962, 524 Seiten, DM 39,80

zur Verfügung. Die beiden Verfasser, den Lesern der ,Filmkritik', ,Der Zeit' und dem ,Spiegel' durch Rezensionen und Aufsätze bekannt, geben im Vorwort Kenntnis von ihrer Methode, Intention und der Schwierigkeit, ein Buch unter dem Titel ,Geschichte des Films' zu schreiben, das eigentlich ,Kritische Einführung in die Geschichte der Filmkunst - für Zeitgenossen' hätte heissen müssen. Mit dieser, von den Verfassern selbst gewählten Einschränkung, hat dieses Buch alle Chancen, zum bevorzugten Nachschlagewerk des deutschen Filminteressierten zu werden, wenn, ja wenn er ,nur' über die ,Geschichte der Filmkunst' unterrichtet werden möchte. Denn eine ,Geschichte des Films' ist immer noch zu schreiben. Die Verfasser wussten das: ,Eine Geschichte des Films, die ihren Titel zu Recht trüge, müsste sich darüber hinaus auch mit den ausserkünstlerischen Phänomenen der Filmgeschichte beschäftigen; sie müsste Kunst-, Sozial-, und Wirtschaftsgeschichte des Films in einem sein.' Es bleibt aber die ausserordentlich wichtige Frage, ob eine Geschichtsschreibung angesichts der Tatsache, dass es sich bei ihrem Objekt um ein auf grösstmögliche Breitenwirkung angelegtes Massenmedium handelt, ,ausserkünstlerische Phänomene' überhaupt vernachlässigen darf. Wir plädieren damit natürlich nicht für ,lexikalische Vollständigkeit' unter Verzicht auf ,vertiefende Interpretation'. Aber dass in Italien, um ein Beispiel zu geben, im Jahre 1959, grob gerechnet und eingeteilt, Horrorfilme (2), sog. Komödien (7), Abenteurer-(6) und Monumentalfilme (12) und nicht nur L' AVVENTURA und LA DOLCE VITA produziert wurden, könnte dem Historiker zumindest aufschlussreiche Aspekte vermitteln. Die Verfasser untersuchen zwar den ideologischen und politischen Gehalt' und ignorieren nicht die ,gesellschaftliche Grundlage, auf der ein Film entsteht'. Aber eben nur dort, wo es sich um ein ,Kunstwerk' handelt. Folgerichtig fehlt dann auch die längst fällige Auseinandersetzung mit dem Horrorfilm völlig, der Film des Dritten Reichs wird mit wenigen Seiten und einigen einführenden Bemerkungen abgetan.

In der Beschränkung liegt das entscheidende Versäumnis dieses Buches; dass die Verfasser sachkundig und mit ,dezidierter Parteilichkeit' die gestellte Aufgabe bewältigten, den Zeichentrick- und Kurzfilm miteinbezogen, umfassend informierten und dokumentierten und ein umfangreiches Register zusammenstellten, gehört zu den Vorzügen dieser .Geschichte des Films' und muss der Bedeutung entsprechend hervorgehoben werden.

Noch so umfangreiche Filmgeschichten können Einzeluntersuchungen und Monographien selbstverständlich nicht ersetzen. Den italienischen Neorealismus behandelt

Martin Schlappner: Von Rossellini zu Fellini
Zürich 1958, 303 Seiten, DM 17,50.

Dieses Buch zeichnet sich durch gründliche Information über den realistischen und neorealistischen Film aus. Es berichtet von Regisseuren und Kritikern und gibt Notizen zu bekannten und unbekannten Darstellern des neorealistischen Films. Bedenklich erscheinen einige Interpretationen (z. B. Rosselini, Visconti), überholt die Ausführungen zu Antonioni und ärgerlich Wertungen, wenn Tatsachen ignoriert werden. ,Wo der Neorealismus der politischen Linken zugehört, trennt sich des Verfassers eigene, in der Gedankenwelt des Liberalismus beheimatete Oberzeugung entschieden ab, soweit nicht im Künstlerischen das Menschliche so rein aufklingt, dass Berührung und Anerkennung von selbst sich ergeben', bekennt Schlappner. Der Leser ist also gewarnt.

Seit einiger Zeit erscheinen in Frankreich handliche Taschenbücher, die jeweils dem Werk eines Regisseurs gewidmet sind. In der Sammlung

Cinema d' aujourdhui
Editions Seghers, Paris ca. 230 Seiten, 6,90 NF

schrieben der bekannte Filmhistoriker Georges Sadoul über Georges Méliès und Pierre Leprohon über Michelangelo Antonioni. Die Bände enthalten einen einführenden Aufsatz, Drehbuchauszüge, Szenarios, temoignages und ein Panorama der Kritik. Filmografie und Bibliografie schliessen sich an. Der Band ,Antonioni' scheint im Gegensatz zu Sadouls Méliès-Studie mehr als Anregung gedacht. Die Reihe

Classiques du Cinema
Editions Universitaire ca. 190 Seiten, 6,20 NF

dagegen vereinigt Studien, die ausführlich das Werk eines Regisseurs untersuchen. Einige davon gehören mittlerweile schon zu den Standardwerken, ohne die nur schwer auszukommen wäre. Besonders Jacques Sicliers ,Ingmar Bergman' und Jean Mitrys ,S. M. Eisenstein' und ,René Clair'. Der eigenwillige Jean Semolue ist gleich zweimal vertreten, und zwar mit seinen Monographien über ,Dreyer' und ,Bresson' und Armand-Jean Cauliez untersucht die Filme Jean Renoirs. Eric Rohmers-Claude Chabrols berühmte Hitchcock-Exegesen erschienen ebenfalls in dieser Sammlung, die von Jean Mitry herausgegeben wird.

Bildgeschichten haben sicher ihre Reize. In der Regel vereinigen sie unter Vernachlässigung des Textes luxuriöse Ausstattung mit einem hohen Preis. Bedauerlich ist dies besonders dann, wenn es sich um eine so wenig beachtete Kunstgattung wie den Zeichentrickfilm handelt.

John Halas - Roger Manvell: Design in Motion
London 1962, 160 Seiten, 75 S

bringen vorwiegend Bilder aus neueren Filmen dieses Genre. Der vielbeachtete Vorspann zu ,Anatomie eines Mordes' und ,Der Mann mit dem goldnen Arm' der Saul Bass and Associates (USA), TV-Streifen und Werbefilme wurden ebenfalls aufgenommen. Ein ausführlicherer Text und wenigstens die Angaben der Produktionsjahre hätten den Informationswert des Buches gesteigert. Relativ besser wurde diese Aufgabe von

Parker Tyler: Classics of the foreign Film - A Pictorial Treasury
New York 1962, $ 8,50

gelöst, obwohl die Auswahl manchmal recht willkürlich erscheint. Ist ,Liebe in der Stadt' (Italien 1954) wirklich wichtiger als ,La Terra Trema' (1948), gehört der deutsche Olympiadefilm (1937, Leni Riefenstahl) in eine Anthologie der ,Classics'? In Polen scheint man nie Filme gedreht zu haben. Die Dokumentation zu ,The Time Machine' (England, 1960) erstreckt sich über vier Seiten. Buñuels ,Chien Andalou' und ,L' age d' or' zusammen müssen sich mit zwei Seiten begnügen. Wie sagt man doch? Ein repräsentatives Werbegeschenk _...,

Nachdem Enno Patalas bereits 1961 ,Texte moderner Filme' im Suhrkamp-Verlag herausgegeben hatte und damit einem wesentlichen Mangel der deutschen Filmliteratur abzuhelfen begann, richtet er nun mit Hilfe des jungen Marion-von-Schröder-Verlags eine

CINEMATHEK
Ausgewählte Filmtexte
Band 1: Ingmar Bergman - Wie in einem Spiegel
Band 2: Rene Clair - Schweigen ist Gold Hamburg 1962, je DM 6,80

ein. Von dem in der Galerie Sanssouci publizierten Drehbuch

F. Dürrenmatt: Die Ehe des Herrn Mississippi
Zürich 1961, 93 Seiten, DM 6,50

unterscheiden sich die Bände Cinemathek wesentlich: Szenenfotos wurden in den Text eingefügt, illustrieren, bebildern nicht, sind aber wertvolle Hilfsmittel der Rückerinnerung; ein ausführliches Nachwort versucht, den Film zu interpretieren, ihn im Gesamtwerk des Regisseurs zu lokalisieren. Reinold E. Thiel schrieb es zu ,Wie in einem Spiegel', Jean Mitry zu ,Schweigen ist Gold'. Nächstens sollen Fritz Längs ,M' und Luis Buñuels ,Viridiana' folgen. Zu hoffen bleibt, dass diese Reihe genügend Käufer findet, damit das Weiterbestehen wenigstens dieser Cinemathek gesichert ist.

Übrigens: umfangreiche Kataloge deutscher und ausländischer Filmpublikationen halten die Buchhandlungen Wolfgang Gielow, München, und Hans Rohr, Zürich bereit.       Jonas Janz
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KRITIK II

Marginalien zur Position der linken Filmkritik

Marginalien zur Position der konventionellen Filmkritik s. Heft 37

A map of the world, that does not include utopia, is not worse even glancing at, for it leaves out the one country at which humanity is always landing and when humanity lands there, it looks out and, seeing a better country, sets sail. Progress is realisation of utopias.       ( Oscar Wilde: The Soul of Man Under Socialism)

Das Bestehen der Utopie als Utopie ist eine unerlässliche Bedingung, dass sie einmal aufhört, Utopie zu sein.       ($Leszek Kolakowski Der Mensch ohne Alternative - Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu Sein. München 1961, S. 147. [Weiter mit ^LK aufgeführt.])

I

Die Frage nach der Position einer Kritik ist nur in einer kritischen Untersuchung ihrer Intentionen und der daraus ableitbaren Effekte zu klären. Wird am Vokabular eines kritischen Textes deutlich, dass er sich seitwärts in die Niederungen der Kunstbetrachtung schlägt, um dort emphatisch JA, NEIN oder ein mittleres NAJA zu sprechen, so redet er sich selbst die Qualifikation aus. Erweist seine Richtung, dass er dem dogmatischen Zwang einer Ideologie aufgesessen ist, die zu einem "Begriff mit institutionellem, nicht intellektuellem Inhalt" (^LK S. 8) geronnen die Kritiker anweist, einen Weg vorbestimmter kritischer Verhaltensweisen einzuschlagen, stolpert er in die nämliche Disqualifikation.

Diese beiden Feststellungen wollen nicht ein ideologisch geordnetes Fundament und eine daraus resultierende Terminologie negieren; sie werfen nur Schlaglichter auf Gefahren, die jedweder Kritik lauern, auch der, die darzustellen hier versucht werden soll: der LINKEN FILMKRITIK.

II

Die LINKE begreift sich als Gegensatz des Konservativen. Sie ist auf eine Revision der vorgefundenen Wirklichkeit bedacht. Auf der Negation des Bestehenden versucht sie eine neue Wirklichkeit zu konstruieren. "Aber das Negieren allein kennzeichnet die Linke noch nicht." formuliert Kolakowski (^LK. S. 145: "Aber das Negieren allein kennzeichnet die Linke noch nicht; es gibt nämlich auch Bestrebungen nach rückschrittlichen Veränderungen. Der Nationalsozialismus war eine Negierung der Weimarer Republik und deshalb doch nicht links: in Ländern, die nicht von der Rechten beherrscht werden, negiert die extrem konterrevolutionäre Bewegung immer die bestehende Ordnung. Die Linke wird also durch die Negierung gekennzeichnet, aber nicht nur durch sie: auch durch die Richtung der Negierung, das heisst eben durch den Charakter ihrer Utopie.") und, um seine Position zu präzisieren, gibt er als weiteres Charakteristikum die Frage nach der Richtung der Negation, nach der Physionogmie ihrer UTOPIE auf. (^LK. S. 145: "Unter Utopie verstehe ich jenen Zustand des sozialen Bewusstseins, der einer sozialen Bewegung entspricht, die auf radikale Veränderung der menschlichen Gesellschaft hinzielt, diesen Veränderungen aber nicht genau entspricht, sondern sie in idealisierter und mystifizierbarer Weise versinnbildlicht und so der wirklichen Bewegung den Sinn einer Realisierung eines "Ideals" verleiht, das in der reinen Sphäre des Geistes entsteht und nicht aus der gegenwärtigen geschichtlichen Erfahrung.")

Diese Physiognomie trägt das Signum der Humanität, die die Abschaffung der Privilegien, der Ungleichheit und Unterdrückung fordert und für eine Verweltlichung des sozialen Lebens" (^LK. S. 153.) eintritt. Die Aktionen der Linken tragen keinerlei sakralen Gefühle "keine vorgefundene geschichtliche Situation werden von ihnen als heilig empfunden". (^LK. S. 154.) Sie sind vollkommen auf das Diesseits bezogen.

Hier wird der Unterschied zu den grossen Religionen, die die nämlichen Begriffe in den Katalog ihrer Forderungen an ein menschenwürdiges Dasein eingeflochten haben, deutlich. Aber im Gegensatz zur gesellschaftlichen Utopie, die "geschichtliche Tendenz", (^LK. S. 145.) individuell konstruierter Prospekt einer Gesellschaft von morgen sein will, (^LK. S. 145: "Solange diese Tendenz nur ein geheimes Leben lebt und keinen Ausdruck in den gesellschaftlichen Massenbewegungen findet, erzeugt sie Utopien im engeren Sinne, das heisst individuell konstruierte Modelle einer Welt, wie sie sein sollte. Mit der Zeit wird die Utopie zum sozial aktualisierten Bewusstsein, das heisst, sie dringt in das Bewusstsein der Massenbewegungen ein und gehört zu ihren wesentlichen Triebkräften. Die Utopie geht dann aus dem Gebiet des theoretischen und moralischen Denkens in das Gebiet des praktischen Denkens über und beginnt, selbst das Handeln des Menschen zu bestimmen.") engagiert an die ökonomischen Bedingungen des Lebens, erleidet die gleiche Begriffswelt im Bereich der Religion ein jenseitiges Timbre. Die Utopie erstarrt zur Idee, die ihren Ursprung in einem nicht beweisbaren, metaphysischen Raum hat. Humanität kommt zum Ideal herab, das, da es am Jenseitigen orientiert ist, nicht genügend bezeichnet werden kann. Eine letzte Konkretisierung dieser Ideale, da die Hoffnung auf das Urbild in einer jenseitigen Welt alle Anstrengung, es auf die diesseitige zu ziehen, paralysiert, muss ausbleiben.

Die Linke kennt eine derartige Paralyse nicht. Sie ist die Haltung des "permanenten Revisionismus gegenüber der Wirklichkeit". (^LK. S. 154. Dem steht gegenüber: "Für die Rechte ist der Opportunismus gegenüber der bestehenden Welt charakteristisch. Die Rechte ist der Ausdruck des Beharrens bei der geschichtlichen Wirklichkeit.") Die Kriterien zur Auflösung dieser Realität schafft sie sich aus deren permanenter Analyse.

III

Die gesellschaftliche Realität prägt entscheidend alle Äusserungen, die eine Gesellschaft hervorbringt. Sie spiegelt sich in Politik und Wirtschaft ebenso wie in Literatur, Musik, Bildender Kunst und Film. Postulieren wir als Grundbedingung für ein Kunstwerk, dass es sich kritisch mit der Wirklichkeit auseinandersetzt, so besteht für die Kritik, die diesem Kunstwerk gegenübersteht, die Aufgabe (neben formalästhetischen Untersuchungen) aus diesem die kritischen Momente herauszulösen und zu verdeutlichen. Sie hat der Kritiker zu interpretieren; ihnen die Frage nach dem WIE der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorzulegen, der die Frage nach deren WARUM zu folgen hat. Anhand des Materials, das der Kritiker bearbeitet, hat er die Beantwortung dieser Fragen festzustellen, oder ihr Fehlen zu monieren. Er hat aufzuweisen, ob das KRITISCHE ZEICHEN latent oder offenbar vorhanden, und es auf einen utopischen Charakter zu untersuchen.

IV

Georg Lukacs schreibt in seiner Ästhetik des Kinos:

"Alles ist möglich, das ist die Weltanschauung des Kino, und weil seine Technik in jedem einzelnen Moment die absolute (wenn auch nur empirische) Wirklichkeit dieses Moments ausdrückt, wird das Gelten der Möglichkeit als eine der Wirklichkeit entgegengesetzten Kategorie aufgehoben; die beiden Kategorien werden einander gleichgesetzt, sie werden zu einer Identität. Alles ist wahr und wirklich, alles ist gleich wahr und gleich wirklich, das lehren die Bilderfolgen des Kino." (Aus dem Artikel in Heft 35)

Walter Benjamin notiert:

"Seine Charakteristika hat der Film nicht nur in der Art, wie der Mensch sich der Aufnahmeapparatur, sondern wie er mit deren Hilfe die Umwelt sich darstellt _... Der Film hat in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch in der akustischen, eine ähnliche Vertiefung der Apperzeption zur Folge gehabt." Die Identität des Wirklichen und des Möglichen, erzeugt durch die Aufnahmeapparatur, der der Mensch sich unterwirft, während er sich ihrer bedient, um sich und seine Umwelt darzustellen, bezeichnet die kritische Einstellung eines Films. In der Deformation der Wirklichkeit - also deren Negation - zur Möglichkeit liegt die Utopie, die durch die Richtung der Deformation bestimmt ist. (Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit - in: Illuminationen, Frankfurt 1961, S. 169.) (Hier sei auf die bedeutsame Analyse von Resnais' und Robbe-Grillets Film "Letztes Jahr in Marienbad" durch Peter Märthesheimer in den "Frankfurter Heften" 4/1962 verwiesen, die die gesellschaftskritische Komponente dieses Films genau herausarbeitet.)

V

Diesen Vorgang hat die Kritik herauszuarbeiten, ihn hat sie zu schildern und zu befragen. Eine genaue Kenntnis der formalen Mittel ist dazu unerlässlich, da sie die ART UND WEISE der Deformation sichtbar machen.

Der französische Kritiker André Bazin, der Vater der CAHIERS DU CINEMA gilt als Begründer einer Kritik, der ein hoher Standard bescheinigt werden muss, was die Beurteilung der filmischen Mittel anbelangt, die aber in der Analyse der Aussage einen doppelgesichtigen Charakter hat: Filme und Regisseure, die der Meinung Bazins entgegenkommen - wie Robert Bresson oder William Wyler - erfahren eine genaue und werkgerechte Auswertung, die allerdings dort, wo sie die Konsequenz aus gewonnenen Erkenntnissen ziehen sollte, sich in eine philosophische Betrachtungsweise flüchtete. (Gérard Gozlan versucht in POSITIF 46 und 47 eine generelle Abrechnung mit dem Nimbus und der Kritik André Bazins. Abgesehen davon, dass hier nicht der Platz besteht, sich mit diesem fundamentalen Essay auseinanderzusetzen, sei nur daraus angedeutet, wie Bazin, einem Mann wie Luis Buñuel begegnet. In der Kritik zu LAS HURDES sieht er die Misere der armen Bauern als Beispiel für die allgemein menschliche Misere. Weg von der Gesellschaft ins rein Menschliche projiziert Bazin seine Gedanken. Dass die Armut dieser Bauern Produkt gesellschaftlicher Missstände ist, vermag Bazin nicht zu erkennen, da ihm jegliches Element des Materialistischen mangelt. Er interessiert sich nicht für die politischen und ökonomischen Bedingungen, sondern flüchtet sich in die grossen Abstrakta, anstatt die filmische Realität zu beschreiben. Bazin maskiert das Gesicht der Wirklichkeit, wenn er erkennt, dass sich die Schicksale der Menschen in LAS HURDES aus dem fundamentalen Rapport zwischen Mensch und Natur ergeben. Dies ist eine konkrete, materielle Basis die Bazin ignoriert. Den Sinn dieses Filmes wo anders zu suchen, heisst ihn verkennen.) Hinter der Bazin'schen Kritik steckt ein Hang zur Metaphysik, die den Sinn fürs Konkrete trübt. Da schlägt die Kenntnis der formalen Mittel dann zu keinem anderen Resultat aus als dem des Todes der Kritik. (Die Bazin'sche Methode verabsolutierte sich bei seinen Schülern! Man beachte nur die heftelangen Verehrungen für John Ford, Howard Hawks etc. Man lese das Sonderheft KRITIK der CAHIERS DU CINEMA (126/1961) mit einem Discours zwischen Morvan Lebesque, Pierre Marcabru, Jacques Rivette. Eric Rohmer und Georges Sadoul, die Aufsätze von Labarthe, Douchet und Weyergans und nicht zuletzt von Hoveyda. Man lese auch die früheren Aufsätze und Kritiken von Truffaut, Godard (unter dem Pseudonym Hans Lukas) und Chabrol nach.)

VI

Ein ähnliches Beispiel bietet das Lob, dass sich in etlichen Ausgaben der Zeitschrift POSITIF, die sich als linksengagiert definiert, auf Alain Cavaliers KAMPF AUF DER INSEL (Le Combat dans l' île) ergoss: (Siehe POSITIF 46, S. 14: "Das Festival von Cannes 1962 war das Festival von Buñuel und Cavalier!" In POSITIF 49 ist die Kritik Gérard Legrands schon ein wenig verhaltener, obwohl sie immer noch von einem "film important", etc. spricht.) Die Rezensenten elimieren zugunsten der Parteilichkeit, die der Film gegen den Terror der OAS ergreift, jegliche kritische Betrachtungsweise. Ihnen verkehrt sich das Bewusstsein, einem Film zu begegnen, der sich an einem politischen Phänomen versucht, in ihre eigene Niederlage: Sie verkennen die atavistischen Linien, die von der "Ganzheit" des Mannes zu sprechen versuchen, der wie ehedem seine ramponierte Ehre nur mit dem Blut des Feindes zu säubern vermag. Die Tatsachen, dass es sich bei den Protagonisten dieser Heldensaga um zwei ehemalige Freunde handelt, denen die Weltanschauung in ein pittoreskes Links (mit Druckerei in einer alten Mühle, in der Flugblätter als bibliophile Kostbarkeiten im Handabzug hergestellt werden) beziehungsweise in ein pittoreskes Rechts (exotisches Spiel mit der Verschwörung gegen die herrschende Ordnung und der delikaten Gefahr eines Bazookaabschusses) verkümmert ist, sind hierzu nur geschmackvolle Details.

Die kritischen Hekatomben, die POSITIF diesem Film opfert, erweisen sich bei näherem Hinsehen als Torsen, die zur Kenntnis zu nehmen sich nicht lohnt.

VII

Beide Exempel sind gebrochen. Dabei ist ohne Interesse, dass es sich in einem Fall um eine dezidiert bürgerliche und im anderen um eine dezidiert linke Kritik handelt. Beide sind im Grunde ihres Wesens keine Kritiken, weil sie den Film als Ganzes auseinanderreissen, ihn in Fragmenten in die Betrachtung einbringen. Es genügt nicht, zu sagen, dieser Film sei exzellent, da er filmisch exzellent gemacht sei; (Siehe den Aufsatz von F. Hoveyda in den CAHIERS DU CINEMA 107 über Nicholas Rays PARTY GIRL. Hoveyda arbeitet hier formale Kriterien heraus, die seiner Meinung nach diesen allenfalls interessanten Film zu einem Meisterwerk machen. Er untersucht jeden Schwenk, jede Totale, versucht hinter den Sinn der Montage zu kommen und wittert hinter jeder Farbe psychologisches und philosophisches System. Die Geschichte an sich interessiert ihn nicht, aber er füllt zehn Seiten. - Im übrigen taugen in diesem Film weder Story noch deren formale Umsetzung.) es genügt nicht zu sagen, dieser Film sei gut, weil seine gesellschaftskritische Attitüde, seine utopische Projektion bedeutsam sei. (Viele antifaschistische Filme deutscher (DDR), polnischer oder tschechischer Provenienz haben ausser ihrem "echten Anliegen" nichts aufzuweisen. Ihre Tendenz gegen den Faschismus genügt allein nicht.)

Die richtige Betrachtungsweise scheint eher, die Aussage an deren Verwirklichung durch die Form zu messen und so die Divergenz herauszuarbeiten, die zwischen Form und Aussage besteht. Der so entstehende Hiatus ergibt erst die dialektische Position. Wird von der Form aus der Inhalt gemessen und der Inhalt unter dem Aspekt der Form als Ort seiner Verwirklichung gesehen so ist eine denkbar weite Integration der Elemente, die den Film bilden, erreicht.

Eine linke Kritik muss Form und Aussage evident machen, ohne jedoch beide Elemente zu verschmelzen. Die Divergenz bietet Raum für die Projektion einer Wirklichkeit, die die bestehende, dadurch, dass sie über diese hinausgeht, utopisch nach vorn verlegt und so zur Möglichkeit verändert.

Das verlangt vom Kritiker eine Position, die über die des Kritikers hinausgeht. Diese dialektische Position setzt dem Kritiker die Bedingung, dass er an der Kultur "teilhat" und "gleichzeitig nicht teilhat", dass er Affirmation und Negation im gleichen Moment vollzieht. (Theodor W. Adorno PRISMEN, Frankfurt 1955, S. 29.) Mit diesen Formulierungen wird dem dialektischen Kritiker ein Podest postuliert, welches ihm ermöglicht, jenseits des zur Erscheinung geronnenen Lebens zu stehen und sich dennoch gleichzeitig in "spontaner Beziehung auf das Objekt sich zu befinden". (Theodor W. Adorno PRISMEN, Frankfurt 1955)

Spontane Beziehung auf das Objekt aber fordert, sich innerhalb der Gesellschaft aufhalten, in der - für den Film - das Kunstwerk entsteht, und der es gezeigt wird, wenn man dieses kritisieren will, und die Kritik aus der rationalen Einsicht in diese Gesellschaft und ihrer daraus resultierenden Negation (auf eine Utopie hin) unter Zuhilfenahme der durch das filmische Kunstwerk bestimmenden Kategorien aufzubauen.

VIII

Enno Patalas und Wilfried Berghahn veröffentlichten in Filmkritik 3/61 unter dem Titel GIBT ES EINE LINKE? FILMKRITIK ein Manifest, das einen Katalog beinhaltet, dessen Begriffspaare eine Topographie der linken Kritik zu entwerfen versuchen. (FILMKRITIK 3/61 S. 133 ff: "Die herkömmliche alte Kritik" (AK) "identifiziert sich mit dem Film, die geforderte neue Kritik" (NK) steht dem Film fordernd gegenüber.

Patalas und Berghahn begreifen ihre Position aus dem Gegensatz zu der Kritik, die sie eine "konventionelle" nennen (Vgl. Heft 37 und der sie "unkritischen Impressionismus" und "blosse Geschmacksurteile" zuweisen. (FILMKRITIK 3/61 S. 131.) Ihr Katalog soll die "Oberflächlichkeit" dieser konventionellen umreissen, um die Relevanz der beigegebenen linken Alternative in einem Lichte von quasi höherer Prägnanz schimmern zu lassen.

Die Abstempelung der bestehenden Kritik - ausgenommen die der FILMKRITIK - als konventionell führt in der Ausschliesslichkeit, in der sie betrieben wird, zu deren Festlegung, die notwendigerweise auch die "neue, geforderte Kritik", also die linke mit gleicher Ausschliesslichkeit festgelegt erscheinen lassen muss. Aber indem die konventionelle Kritik nur abstrakt negiert wird, setzt sich deren Inhalt unkontrollierbar fest. Neben diese Negation wird nun die linke Kritik postiert, die, da sie sich an der Negierten orientiert, eine unvermittelte Negativfassung der konventionellen ist. Die Negation geht nur dann über das Negierte hinaus, wenn sie dieses in sich integriert; die Autoren haben die Notwendigkeit hierzu erkannt, genügen ihr aber nicht. Denn um über die blosse Negation zur Konstruktion eines Neuen zu bekommen, bedienen sich Patalas und Berghahn einer Vorstellung von LINKS, die über einen blossen Gegensatz zur etablierten Kritik nicht hinausgeht. Unter diesen Aspekten ist ihre Position festgefahren, bevor sie Gestalt annehmen kann; entdeckt sich der Katalog als dogmatische Anweisung, setzt sich zur Institution, die allein die Ansichten, die im übrigen nicht verstanden werden brauchen (^LK S.154), legitimiert.

Zudem erliegt der Katalog etlichen Irrtümern: Auch die "herkömmliche" Kritik steht dem Film fordernd gegenüber, unterscheidet im Film verschiedene Einflüsse, betrachtet ihn als Ausdruck der Zeitströmungen und interessiert sich für die Form und die Aussage. Und wie oft wird in den Kritiken der Filmkritik die Form als selbständige Qualität angesehen oder der Film zum Anlass genommen, das zu schreiben, was man selbst anprangert: in bester Bazin'scher Methode die "eigenen Intentionen hemmungslos in Filme recht unterschiedlichen Charakters hineinzuinterpretieren". (FILMKRITIK 3/61 S. 133.) Zudem scheint, was die Terminologie des Aufsatzes anbelangt weitaus weniger auf eine linke als auf eine filmsoziologisch fundierte Kritik Wert gelegt zu werden, die deskriptiv gesellschaftliche Axiome, die offen oder latent in einem Film vorhanden sind, herauspräpariert.

IX

Soziologie kann allenfalls Mittel für eine Analyse sein, so sie sich zum Selbstzweck mausert, vermag sie sicher noch immer Wichtiges zu einem Film zu sagen, dessen ideologische Konsequenz allerdings nicht zu ziehen da ihr die Richtung nach vorne fehlt.

Linke Kritik bedeutet ein prononziertes Engagement an die Gesellschaft: ihre Position die Negation, ihre Absicht die Revision, ihre Gefahr die Institutionalisierung.

Es scheint notwendig, dass sich eine linke Kritik über die Breite ihrer Position tagtäglich Rechenschaft gibt, dass sie Fehlleistungen aus der Erkenntnis dieser Breite unter Ablehnung jeglicher Dogmatik zu vermeiden trachtet. Es kann nur eine Kritik geben, die besser ist.       Wolfgang Vogel
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Neue Wege im jugoslawischen Film

Das Ende des Krieges kann als Anfang des jugoslawischen Filmschaffens im eigentlich kinematographisehen Sinne angesehen werden; alle Versuche vorher, bis 1945, ein künstlerisch bedeutsames Filmleben zu evozieren, sind nicht über den einfachen Gebrauch der Kamera hinausgediehen. In diesen fast 18 Jahren ist die Filmproduktion in Jugoslawien so angestiegen, dass heute ein Viertel des Repertoires aus den Produktionsstätten des eigenen Landes kommt. Zwar waren die ersten jugoslawischen Spielfilme vielmehr Ausdruck enthusiastischen Revolutionsgefühls als künstlerisch relevante Filmwerke, aber sie stellten den Beginn dar, dessen Bedeutung für den heutigen Stand nicht gering eingeschätzt werden darf.

1953 ist ein wichtiges Jahr. In diesem Jahr erscheinen einige Filme, die, mit den verwirklichten Intentionen der Autoren, gleichzeitig von ausserkünstlerischem Balast gereinigt sind. Im nächsten Jahr werden in Pula die jährlichen Filmfestspiele begründet, die mithelfen, die künstlerische Situation des jugoslawischen Filmschaffens zu verändern, indem sie es durch konkurrierende Filme beleben. Vielleicht von noch grösserem Einfluss ist jedoch die Hinwendung an die Autoren und Regisseure, die in zunehmendem Masse zu vermelden ist. Nicht mehr der jugoslawische Film schlechthin, sondern der Film, der von Jugoslawen vom Skript bis zur Herstellung gemacht wird, findet Interesse. Die einzelnen Regisseure werden so bedeutsam, dass sich die Entwicklung mit der Nennung einiger Namen verbindet, die jene ermöglichten.

Heute arbeiten in Jugoslawien fünfzehn Produktionsunternehmen, die Zahl der Regisseure ist gross, fast alle drehen auch ständig selbst Filme. Zweifellos ist ihre Rangstellung nicht gleich; wenn ich allerdings im folgenden versuche, nur einige wenige Namen zu nennen, dann nicht deshalb, weil ich glaube, die ausgelassenen seien unbedeutend, sondern eher deshalb, weil sich mit den angeführten mögliche Neuerungstendenzen sichtbar machen lassen, die den jugoslawischen Film weiterbringen können.

Bostjan Hladnik hat bisher einen berühmten Kurzfilm und einen Spielfilm gedreht, der 1961 die Filmenthusiasten begeisterte, die weniger Interessierten zu Missfallenskundgebungen hinriss.

Hladnik ist ein junger Autor, der schon als 17jähriger Amateur grosse Anerkennung fand. Nachdem er das Studium der Theaterwissenschaften beendet hatte, wurde er professioneller Filmregisseur, drehte 1957 den Kurzfilm DIE FANTASTISCHE BALLADE, mit dem er in Pula auf dem IV. Jugoslawischen Filmfestival grosse Anerkennung fand: er erhielt für diesen Film den ersten Preis. Anschliessend ging er nach Paris, wo er das Filmschaffen der anderen Länder kennenlernen konnte. Als er 1961 nach Jugoslawien zurückkehrte, drehte er DER TANZ IM REGEN, der als Schock für die auf das Provinzielle eingeschworene Kritik und das Publikum wirkte.

Die Jury des VIII. Festivals von Pula erteilte ihm das ,Auszeichnungsdiplom' für die, wie es in der Urkunde hiess, "expressive und neue Filmsprache und das artistische Können". Ausserdem zeichnete man den Regisseur mit der ,Goldenen Feder', der höchsten Anerkennung, die von der Jury der jugoslawischen Filmkritik vergeben werden kann, für "das gewagte Regieexperiment und die ernsthafte Bemühung, das Filmleben und die Ausdrucksfähigkeit zu bereichern" aus.

Die Fabel des Films DER TANZ IM REGEN ist dem Roman SCHWARZER TAG - WEISSER TAG des bekannten jugoslawischen Schriftstellers Dominik Smole entnommen, in dem es Handlung im herkömmlichen Sinne nicht gibt, das Geflecht von inneren Monologen und Assoziationsreihen die Stelle der Deskription und vorwärtsdrängenden Epik ersetzt hat. Reale Welt und Fiktion sind zusammengeschmolzen, innerer Monolog und dialogisches Sprechen gehen ineinander über, die Welt des Traumes und die der Wirklichkeit bilden ein diffuses Ganzes, dessen Ränder auseinanderfliessen in zeitlich nicht bestimmbare Erinnerung.

Der Protagonist des Films, Petar, versucht, während zweier Tage seines Lebens, die gezeigt werden, sein eigenes Ich zu finden, peinigt sich selbst und seine Umgebung, zieht aus der masochistischen Selbsterniedrigung die Legitimation, seine Freunde und seine Umwelt zu erniedrigen und wird schliesslich durch ein alles überschattendes Schuldgefühl zur selbstquälerischen Beschimpfung seines eigenen Lebens gebracht. Erinnerung und unerfüllte Wünsche bestimmen die Technik der Reproduktion auf der Leinwand; das langsame Tempo, die langen Fahrten mit der eingeblendeten Totalen aus den perspektivischen Winkeln des jeweiligen Zustandes sind Auflösungen des Leitmotivs: der Vision des Glücks, das Petar und Marusa nicht erreichen können. Interieur und Aussenwelt wechseln in sorgfältigen Einstellungen einander ab, aber so, dass die Realität durch das Interieur gewaltsam der Vorstellungswelt unterworfen wird. Vertikale und Horizontale werden in Schwenks zusammengefügt und vermitteln den Eindruck der ziellosen Suche nach dem Greifbaren der Liebe. Als Symbol dieses Glücks nimmt Hladnik ein tanzendes junges Liebespaar, das am Ende jeder Sequenz ins Bild gerückt wird.

Nach dieser Beschreibung lässt sich verstehen, wieso Beifall und Pfuirufe in Pula zusammengestossen sind. Die Konkretisierung des Stoffes entzieht sich dem normativen Zuschauen, bei dem alles seinen Platz hat, wenn nichts mehr als fest und stagnierend empfunden wird. Dieser Film Bostjan Hladniks ist der Schritt zum avantgardistischen Film unseres Landes.

Zika Mitrovic ist Hladnik von der künstlerischen Tendenz und der Technik her völlig entgegengesetzt. Seinen ersten Spielfilm schuf er 1954: ESCHALON DES DOKTOR M, der alsbald zum populärsten Film der ganzen damaligen Produktion geworden war. Seine nächsten Filme, die zum Teil weniger reüssierten, veranlassten ihn, nach USA zu fahren, um dort Studien zu betreiben, die ihn weiterbringen konnten. 1959 erst drehte er seinen nächsten Film MISS STONE, der die ,action film' Produktion in Jugoslawien initiierte. Die Epitheta der Kritik können besser als eine Beschreibung dem Film gerecht werden: ,ein ehrlicher Händler', ,ein unprätentiöser Autor', ,Autor des Pseudowestern', ,Schöpfer der besten Jugendfilms', ,der redliche Handwerker', ,der grosse Zika'.

Zu diesem Enthusiasmus kommen ausserordentliche Popularität, eminente Kassenerfolge und nahezu mythische Bekanntheit des Helden seiner Filme, Kapitän Lesi. Wenngleich man seine Filme als durchschnittlich und ihn selbst als mittelmässig klassifizieren könnte, so hat er doch einen neuen Aspekt in den jugoslawischen Film eingebracht, der kurz skizziert werden muss.

Innerhalb von neun Jahren, von 1947-1956, sind hier bei uns 64 Spielfilme gedreht worden, die als Kardinalthema den Partisanenkrieg abhandeln. Für die nachfolgenden Jahre hat sich die Anzahl der Filme mit diesem Sujet zwar etwas verringert, aber nicht wesentlich. Krieg, Widerstand und Revolution sind also die Hauptthemen des jugoslawischen Films. Die Regisseure haben jedoch, teils aus Bequemlichkeit, teils aus Unerfahrenheit, immer nur den Partisanenkrieg und die Revolution als Ganzes rezipierend gestaltet, wenig oder überhaupt nicht die Struktur der Partisanen und der Revolutionäre. Sie insistierten auf der Einheitlichkeit der Personen, unter Verzicht auf die individuelle Psyche derjenigen, die die Revolution gemacht haben. Zika Mitrovic macht sich von dieser Konzeption frei: nicht mehr die Revolution, der Krieg und die Guerillakämpfe sind bei ihm zentrales Thema, sondern die einzelnen Kämpfer, deren moralische und psychologische Struktur, ihre Charaktere. Er hat nicht die Tatsache der Revolution, sondern die Wirklichkeit der Revolutionäre nachgezeichnet; noch etwas zurückhaltend in ESCHALON DES DOKTOR M, fest konturiert aber in KAPITÄN LESI.

1945 in Kosmet (verkürzter Name für die autonome Provinz Kosovo und Metohija im südwestlichen Serbien - von Gegnern des neuen Staates ziehen plündernd und marodierend durch die Berge und töten die Bauern, die nach fünf Jahren Krieg an ihre verbrannten Wohnorte zurückkehren wollen. Kapitän Lesi, ehemaliger Partisan und Vertreter der jetzigen Volksregierung, beschützt die Bauern vor den Banditen. Siegreicher Held unzähliger Gefechte und Schlägereien, gewinnt er kurz vor Filmende auch noch ein junges Mädchen für sich. Diese naive Geschichte klingt sehr schlecht - aber: lässt sich ein durchschnittlicher Western in zwei Sätzen zusammenfassen?

Mitrovic stellt dem Mythos der Revolution den der Revolutionäre und Partisanen entgegen, differenziert und gestaltet das individuelle Schicksal für die Volksrepublik. Deutliche Parallelen zum amerikanischen oder sowjetischen Filmepos lassen sich dort ziehen, wo sich die Tendenz zum allgemeinen Bild sichtbar machen lässt.

KURZFILME

Der grösste Teil der jugoslawischen Filmproduktion besteht aus Kurzfilmen. Eine statistische Angabe ist dafür Beweis: in den ersten 10 Jahren des neuen Jugoslawiens sind gedreht worden: 806 Reklame-, Unterrichts-, Trick- und Puppenfilme; 618 Wochenschauen und 656 andere Kurzfilme. Dazu kommen etwa hundert Kurzfilme, die von der Armee hergestellt wurden.

Das Jahr 1945 markiert auch hier den Wendepunkt und den Anfang. Fieberhafte Registrierung der neuen Phänome des wiederbefreiten Landes, Rezeption der neuen Wirklichkeit und Sichtbarmachung des Geschehenen: DIE INVALIDEN, DAS NEUE LAND, VOM ALTEN DAS NEUE, DIE PARADE DES SIEGES, DIE NEUEN SIEGE, nur einige Titel, die zeigen sollen, was man filmisch reproduzierte. Der Einfluss des sowjetischen Films auf gerade diese ist deutlich erkennbar. Ab 1952 findet man Verweisungen auf Grierson, Ivens, Flaherty, dazu Tendenzen des kurzen Spielfilms.

Heutzutage dreht man durchschnittlich 100 Dokumentationsfilme und zehn kurze Spielfilme, die ihre Sujets aus der älteren Vergangenheit, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Kunst und Sport beziehen. Jeder junge Regisseur dreht, gleichsam als Talentprobe, zuerst Kurzfilme, bevor er sich dem Spielfilm zuwendet. Die Vorstellung, Kurzfilm sei eine Lehrlingsarbeit, ist erst langsam im Verebben. Vielleicht ist das der Grund, warum es nur wenige Regisseure gibt, die ausschliesslich Kurzfilme drehen.

Ich bin der Meinung, dass es im jugoslawischen Dokumentationsfilm wenig wirklich gute Filme gibt, viel eher scheinen mir einige gute kurze Spielfilme zu existieren. Einer der Regisseure dieses Genres ist Ante Babaja.

Er ist seit 1953 als Regisseur tätig und hat bis jetzt etwa 10 kurze Spielfilme gedreht, in die wahrscheinlich mehr Dokumentationsmaterial eingearbeitet ist als in den meisten Dokumentationsfilmen. Seine ausdrückliche Neigung zur Sozialsatire hat uns zu einigen ausserordentlich gut gemachten Filmen verholten, die durch ihre filmisch brillante Lösung Einblicke in das gesellschaftliche Leben vermitteln, die scharfsinnig genug sind, dass man sie bei uns für richtig und decouvrierend hält. Er ist einer der wenigen wirklich profilierten Regisseure des jugoslawischen Films, der den durchschauenden und entlarvenden Blick für die Realität mitbringt. Ein Auszug aus seinem einzigen Film, der Dialoge enthält, sei angefügt, um deutlich zu machen, was Babaja will. Der Film heisst DES KAISERS NEUE KLEIDER und ist nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen gedreht.

(Der Narr kniet vor dem Priester.)
PRIESTER: Mein Sohn, deine letzte Stunde hat geschlagen, bekenne deine Sünden und erleichtere dein Herz!
NARR: Vater, ich'bin nur ein Narr, das ist mein Beruf, ich habe meiner Lebtag nur Spasse gemacht und die Wahrheit gesagt.
PRIESTER: Der liebe Gott möge sich deiner erbarmen.
(Die Wache zieht den Narr zu der Hinrichtungsstelle, wo der Henker mit dem Beil auf ihn wartet).
NARR: Lasst mich, lasst mich! Ich bin unschuldig! Ich bin der Narr, ich habe nur gespasst!
BÜTTEL: Wir kennen keinen Spass!
NARR: Kaiser ist nackt! Der Kaiser ist nackt! (wispert) Kaiser ist nackt! Der Henker schwingt sein Beil, als man plötzlich
DIE STIMME DES REGISSEURS hört: Halt! Halt! Wir ändern das Ende!
(Der Henker und der Narr umarmen sich und beginnen, fröhlich zu schreien):
HENKER UND NARR: Der Kaiser ist nicht nackt! Der Kaiser ist nicht nackt!
(erscheint auf der Leinwand: ENDE)

Der jugoslawische Trickfilm, oder wie man ihn überwiegend etwas präziser zu nennen pflegt: die zagreber Schule des Trickfilms, hat sich schon so viele internationale Auszeichnungen erworben, dass es kaum notwendig ist, ausführlich in diesem informativen Artikel, der nur eine Übersicht sein will und kann, auf ihn einzugehen.

Das spezifisch jugoslawische Element im Trickfilm ist die neue Konzeption von der mise-en-scene der Animation und die andere Auffassung von Montage. Die Tonbearbeitung ist abgegangen von der explizierenden Funktion des Geräuschs und der Musik und hat sich der konkreten Geräuschkulisse zugewandt, die verfremdend hinter den Bildern steht. Auf dieser Veränderung des Trickfilms beruht es, dass jugoslawische Filme dieser Art in Berlin, London, San Francisco, Oberhausen, Karlovy Vary, Cork und Bergamo Auszeichnungen erhielten.

Der schöpferischste Trickfilmer ist sicherlich Vatroslav Mimica; er hat als Spielfilmregisseur begonnen und ging, nach dem totalen Misserfolg seiner Filmkomödie HERR IKLES JUBILÄUM, zum Trickfilm über. Frei von aller malerisch-arabesken Konvention drehte er bis jetzt fünf sehr interessante und gelungene Filme. Er hat, in der konsequenten Verwirklichung des Trickfilmtreatments, dessen Bereiche fast schon verlassen, hat dadurch, dass er diesem Genre ein neues Feld der Betätigung erschloss, es bis an die Grenzen des Herkömmlichen ausgemessen.

In seinem neuesten Film KLEINE CHRONIK hat er die gezeichneten Hintergründe in der Manier Dufys, wie sie die zagreber Schule jahrelang verwandt haben, abgeworfen und sie durch Teile funktioneller Mechanismen ersetzt. So dekoriert er mit Feilen, Eisenspänen, wo früher das Panorama der gestalteten Umwelt seinen Platz hatte. Die Farben entnimmt er nicht der Kitschskala Disneys, sondern wählt dunkle, weniger oberflächliche. KLEINE CHRONIK ist ein ernster Film für das ernste Publikum.

Dank Vatroslav Mimica ist die zagreber Trickfilmschule heute auf dem Weg, die künstlerische Inspiration aus der Kunst selbst zu holen, von Klee und Miro zum Beispiel. Die letzten Reste der täuschenden Disney-Manier werden ausgeräumt, so dass auch für den Trickfilm das gleiche gilt wie für die anderen Arten des Films: dass die Möglichkeiten der NEUEN WEGE aufgezeigt sind, es gilt sie nun zu verfolgen.       Tomislav Radic
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CITIZEN DEAN oder der kleine Prinz

Der literarischen Erzeugnisse, die der Tod des James Dean in Deutland entstehen und gedeihen liess, sind wenige. Neben den üblichen BRAVO und FILMREVUE true-stories hatten nur das im List-Verlag erschienene Taschenbuch "James Dean - Idol einer Jugend" von William Bast und Alfred Anderschens gedruckte Funkmontage "Der Tod des James Dean" (erschienen im Tschudy-Verlag) einigen Erfolg.

Obwohl Andersch in gültiger Form versuchte, die Erscheinung DEAN in einen grösseren gesellschaftlichen und künstlerischen Rahmen zu stellen, muss seine Publikation notwendigerweise auf die sachlichen Hinweise verzichten, die zur Erkenntnis der Ursachen für ein solches Phänomen angebracht erscheinen. Dennoch fand Andersch, der Texte von John Dos Passos mit einer Boxreportage, moderner amerikanischer Lyrik und Jazz montierte, besonders in studentischen Kreisen beachtlichen Widerhall.

Anspruchsloser ist dagegen die Bast-Broschüre. Zwar mag der Autor, ein Studienfreund Deans, mit interessanten Einzelbeobachtungen aufwarten, jedoch ist der Charakter seiner Ausführungen wegen der persönlichen Verbundenheit mit seinem Objekt keineswegs kritisch. Wenn Bast im folgenden dennoch häufig zitiert wird, so geschieht das eben wegen jener, dem Autor dieses Aufsatzes wichtig erscheinenden Details, die sich so mühelos in das Mosaik einreihen lassen; weiter, weil diese biografische Publikation den Einfluss Deans über seinen Tod hinaus fortsetzt. Zeichen hierfür ist das Zitat aus dem Tagebuch eines 19jährigen Oberschülers.

"Als James Dean tot war, hatten sich alle aufgemacht, ihn zu suchen. Alle: das waren seine Freunde, seine Manager, die Reporter, seine Verehrer, hie und da ein Dichter. Sie befragten sich gegenseitig, da Jimmy ja tot war; der Dichter den Soziologen, der Manager den Fan: WER WAR ER? Und seine Tante gab die letzte seiner Lederjacken für Geld aus dem Hause. Er hatte viele solcher Jacken gehabt, aus Leder, Jimmy. Sie waren Dein Pergament, auf das Du schriebst, schriebst mit Deinen Augen, alle diese Worte, in Leder, noch tränenfeucht. Für mehr als wenige Cents _..."

Abgesehen von der pathologischen Sonderstellung ihres Autors - er starb an Kinderlähmung - macht die Tagebucheintragung - 1959 entstanden - einiges deutlich: sie scheint sich auf Bast zu berufen, notiert den Einfluss Deans als nicht land-, zeit- oder gruppengebunden, dehnt das Interesse über die Filmperson Dean auf dessen Privatleben aus, auf den "Jimmy in der Stadt", wiederholt publizierte Charaktereigenschaften, Hobbies und biografische Einzelheiten. Ins Auge fällt der antimerkantile Zug, Objekt und Autor der Notiz gemeinsam.

Der Tod des James Dean und die danach einsetzenden Publikationen rückten ihn aus dem reinen Bereich des Films in eine komplexen Betrachtungsweise. Anhand der biografischen Daten (auch als Film "The James Dean Story") liess sich der - wenn auch in mythische Höhen erhobene - Prototyp einer Jugend konstatieren, deren dürftiger Status in seiner kargen Nacktheit sichtbar wurde.

"Im allgemeinen hätte sein Werdegang für verhältnismässig normal, ja sogar einigermassen alltäglich gelten können, abgesehen von einer ungewöhnlich störenden Note während seiner Entwicklungsjahre. Bis zu seinem neunten Lebensjahr lebte er zufrieden mit seiner liebevollen Mutter Mildred und seinem gütigen, sanften Vater Winton. Aber nur kurze Zeit nachdem Winton seine kleine Familie von Fairmont in Indiana nach Santa Monica in Kalifornien verpflanzt hatte, erkrankte Mildred an Krebs und starb. Unbeholfen und verlassen, wie er nun war, hielt Winton es für klüger, den Jungen zurück auf die Farm in Indiana zu schicken, wo er unter der Leitung und Aufsicht von Ortense und Marcus Winslow, Wintons Schwester und Schwager, heranwachsen konnte. So begleitete also der kleine Jimmy mit seiner Grossmutter die sterblichen Reste seiner Mutter zurück nach Indiana, wo sie auf einem stillen Friedhof in Marion beigesetzt wurden. In Fairmont wurde er in den Winslowschen Haushalt aufgenommen und machte den normalen Entwicklungsgang zum jungen Mann durch. Die einzige grössere Schwierigkeit während der neun Jahre, die er bei seiner Tante und seinem Onkel verbrachte, schien darin zu bestehen, sich mit dem Verlust seiner Mutter abzufinden, einer Tragödie, die er als ein ihm persönlich angetanes, grausames Unrecht empfand. Nach Absolvierung der Mittelschule verliess er Fairmont, um zu seinem Vater und seiner Stiefmutter, die er in den vorhergegangenen Jahren nur selten gesehen hatte, zu gehen und trat dann in das College von Santa Monica ein" (Bast).

Der hier referierte Lebenslauf ist normal, hätte in einer anderen Zeit auch normal geendet, das heisst mit der totalen Integration in die gerade herrschende Gesellschaftsordnung. Jedoch: die Umstände sind verändert worden.

"Die Farmerjungen aus dem Mittelwesten wissen nichts mehr von Kühen, die vor Tagesanbruch gemolken werden müssen. Sie haben kein Holz mehr zu hacken, keine Pferde mehr zu striegeln, keinen Hafer mehr auszuteilen, keine Öllampen mehr nachzufüllen. Sie haben nichts mehr zu tun, und vor dem Schlafengehen wartet kein Kapitel aus der Bibel mehr darauf, vorgelesen zu werden, keine stimmgewaltigen Pfarrei; bläuen ihnen mehr Sonntag für Sonntag von der Kanzel herab ein: der schmale Pfad führt in den Himmel, der breite in die Hölle; niemand prüft sie mehr auf Herz und Nieren; höchstens ist da mal ein Paket vom Supermarket heimzubringen oder vielleicht der Wagen zu waschen, ehe man rasch zum Drugstore um die Ecke fährt, um ein Coca-Cola zu trinken oder ein Päckchen Zigaretten zu holen - die bekannte Marke - oder ein Comic-Heft voller wüster Zinken, die rufen Mord und Nierenschlag und Vergewaltigung. Saftige Sachen sind das Geschäft. Die fiesen Verkaufskanonen wissen, wo der Nerv sitzt."

Das ist die Umgebung in der James Dean aufwächst, wie sie Dos Passos schildert. Die Umgestaltung der sozialen Landschaft ist fast abgeschlossen und mit ihr die gesamtcharakterliche ihrer Bewohner. Der Erste Weltkrieg und die Durchbrechung der Monroe-Doktrin schafften gewaltige Änderungen.

Wie Paris das Ideal der New Yorker, New York das der Chikagoer, so wurde allerorten die grössere Stadt der kleineren Gemeinde zum Vorbild. Die bisher in ihrer eigens entwickelten Tradition befangenen ländlichen Gegenden brachen auf zu der städtischen Zivilisation, zu der fortschreitenden Arbeitseinteilung, die später zur Automation führte, zu dem damit verbundenen Arbeits- und Freizeitverhalten und den ihr eigenen Moralgesetzen, die den bis dahin gepflegten Traditionen widersprachen. Die Kirche wurde ihres jenseitsbezogenen Charakters weitgehend entkleidet und nahm mehr und mehr ihren heutigen privatgesellschaftlichen Status an.

Die Aufgabe der Traditionslenkung zugunsten der augenblicklichen, durch Massenkommunikationsmittel gesteuerten Aussenlenkung, ist erfolgt; sie gibt den Hintergrund für die persönlich-charakterologische Entwicklung aller Deans ab: "Das gemeinsame Merkmal der aussengeleiteten Menschen besteht darin, dass das Verhalten des Einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert wird; entweder von denjenigen, die er persönlich kennt, oder von jenen anderen, mit denen er indirekt durch Freunde oder durch die Massenunterhaltungsmittel bekannt ist. Diese Steuerungsquelle ist _... verinnerlicht", und zwar insofern, als das Abhängigkeitsgefühl von dieser dem Kind frühzeitig eingepflanzt wird. Die von dem aussen-gesteuerten Menschen angestrebten Ziele verändern sich jeweils mit der sich verändernden Steuerung durch die von aussen empfangenen Signale. Unverändert bleibt lediglich diese Einstellung selbst und die genaue Beachtung, die den von den anderen abgegebenen Signalen gezollt wird."
(Riesmann "Die Einsame Masse" rde)

Der Totalitätsanspruch der Aussenlenkung, der Manipulation, richtet sich naturgemäss gegen jene, die den Willen zur Autonomie haben, ruft diesen Willen geradezu hervor, ob sie sich nun geschlossen ideologisch oder kommerziell-pragmatisch gibt. Immerhin ist Autonomie noch möglich, "aber die diffuse und anonyme Autorität der modernen Demokratie ist für die Autonomie der Person ungünstiger, als man annehmen möchte". (Riesmann) Bleibt dem reflektiert-autonomen Menschen noch die Wahl zwischen verschiedenen an ihn herangetragenen Zielsetzungen, so führt die völlige Ablehnung eben aller dieser Zielsetzungen zu dem Phänomen, das man seit Durkheim mit Anomie bezeichnet: Unwille oder Unvermögen zur gesellschaftlichen Anpassung, hier, zur Übernahme der aussengesetzten Normen.

Wie kein anderer verkörperte James Dean eine Kombination aller drei, in der oben geschilderten Gesellschaft auftretenden Grundtypen: des konform-aussengeleiteten, des autonomen und des anomischen Typs. Anhand seiner Filme und seiner Vita lassen sich unzählige jugendtypische Verhaltensformen aufweisen. Der im folgenden aufgestellte Katalog kann weiter ergänzt werden; er soll nur die wichtigsten Fragen der Familie, Verhältnis zum anderen Geschlecht, zum Staat, zur Gesellschaft, der Literatur und Kunst berühren.

Die Überleitung zum aussen-geleiteten Typ zeigte die Rolle Deans als Caleb in "EAST OF EDEN" (Regie: Elia Kazan, nach dem Roman von John Steinbeck). Zwar ist das Streben nach Anerkennung durch den Vater, das traditionelle Leitbild, zentrales Thema, allein stehen die Mittel, deren Caleb sich bedient, im Gegensatz zu den herrschenden Gewohnheiten. Die kommerzielle Spekulation an sich ist zwar üblich, ihr Objekt und Ziel aber widersprach den Usancen, widersprach der sentimentalen Auffassung, sich am Kriege zu bereichern (damals noch). Die schwache Besetzung des väterlichen Leitbildes in "REBEL WITHOUT A CAUSE" (Regie: Nicholas Ray) ist schon typisch für die aussen-geleitete Gesellschaft wie sie sich besonders in den USA etabliert hatte. Es ist das Bild des amerikanischen Vaters in seinem Verhältnis zum Sohn, wie es etwa Geoffrey Gorer in seiner sozialpsychologischen Studie "Die Amerikaner" (rde) entwirft, der seiner familiären Stellung weitgehend beraubt, zum Brotverdiener degradiert, für den Sohn allenfalls Kumpel ist, und auch nicht mehr sein will. Gorers Bild entspricht auch die Mutter des Jim Stark. Ihr Verhalten, den persönlichen und sozialen Aufstieg des Sohnes weiterzulenken als den des Vaters, wird deutlich an den Fehlschlägen, die sie dabei erleidet und den entsprechenden Reaktionen darauf. Wo sie im Konkurrenzkampf der Mütter den vermeintlich guten, da von aussen herangetragenen Zielsetzungen nicht näherkommt, wenn sie gesellschaftliche Missachtung des Publikums, der Nachbarn und Lehrer, fürchtet, drängt sie auf Umzug.

Jim Stark misstraut dem durch seine Mutter propagierten und von seinem Vater beschrittenen Weg zur Erreichung der gesellschaftlichen Zielsetzungen, während er diese selbst grösstenteils anerkennt. Dass auch die Regie diese Leitsätze, deren oberster da lautet "success", nicht in Frage stellt, wird ebenfalls klar. Nur in einem Fall, kurz vor der tätlichen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn, wird diese Welt angezweifelt: die Kamera wird aus der Horizontal- in Schräglage gebracht. Die Mutter wird zwar in ihrer Widerwärkeit als ausfallendes Einzelbeispiel karikiert, ihre allgemeine Stellung in der amerikanischen Gesellschaft aber nicht angegriffen: "Der idiosynkratische Zug des amerikanischen Gewissens ist, dass es vorwiegend weiblich ist. Dank der grossen Rolle, die die Mutter bei der Erziehung des Kindes durch Belohnung und Bestrafung spielt, werden weit mehr Anschauungsmomente der Mutter als des Vaters aufgenommen. Die Pflicht, die richtige Lebensführung, werden zu weiblichen Figuren" (Gorer).

Interessant wird hier eine Mitteilung von Bast, die ein bezeichnendes Licht auf James Deans Verhältnis zur Stellung der Mutter in der Familie wirft: "Als er noch ein Kind war, hatte seine Mutter ihm eingeschärft, wie viel ihr sein Erfolg bedeutete _... Alle die Jahre, bis er erwachsen war, hatte er, tief in seiner Seele vergraben, die Verpflichtung gegenüber seiner Mutter _..."

Mehr klischeehaft, weniger typisch wird das Verhalten anderer Eltern in Rays Film geschildert: Judys Vater, der seine inzestuösen Gefühle der Tochter um die Ohren schlägt, oder der Hinweis auf die zerrüttete Ehe der Eltern Platos (Sal Mineo), die monatlichen Schecks, die wiederum die mangelnden Fähigkeiten des Regisseurs ans Licht bringen.

Jim Stark will autonom handeln. Er will "einmal etwas richtig machen", jedoch: er hat keine Alternative. Der familiären Welt steht die geschlossene Gruppe Jugendlicher, der ,roughnecks', gegenüber, die ihre gesellschaftliche Frustration durch Gewalt kompensieren. Nun gestattet die amerikanische Elterngeneration zwar die Bildung jugendlicher "gangs" zur Ausübung gemässigter Flegeleien, und auch der rohen Gewalt wird eine gewisse Achtung zuteil, zu keiner Zeit aber war der kriminelle Einschlag in diesen Banden so gross wie heute. Die Gewalt wird mit furchtloser Gelassenheit ausgeübt und geduldet, von Buzz auf der einen, von Stark auf der anderen Seite, so dass sie schliesslich als Selbstzweck erscheint. Man steht ihr als ,tough guy' gegenüber.

Die Mutproben, die wie die Initiationsriten primitiver Kulturen praktiziert werden, die ganze Überorganisation der Bande, lassen die Anwenwendung des Begriffs "Subkultur" zu; "Subkultur" die keinen Endzweck hat. "Irgend etwas muss man ja machen", meint Buzz vor dem für ihn tödlichen Wagenrennen. In ihrer Organisation übernimmt die Gruppe eine Reihe wesentlicher Punkte aus dem Erziehungsprogramm der Gesamtgesellschaft, etwa den Kampf um die Stellung in der Bandenhierarchie, die Behandlung der weiblichen Mitglieder. Rays gang ist für die amerikanische Gesellschaft typischer als etwa der in Benedeks "The Wild One", da er nicht an einen bestimmten sozialen Ort gebunden ist. Sein Verhalten entspringt nicht einem teilökonomischen Druck, er ist allein existentielle Antithese der Durchschnittsgesellschaft.

Typisches Verhalten schildert Ray auch in den persönlichen Dualismen Jim Starks, die der Regisseur zwischen den beiden Polen, gang und Familie anlegt: das Verhältnis zwischen Jim und Judy ist ein fast geschwisterliches, asexuelles, das auf die sexualpsychologischen Klischees, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben, wohltuend verzichtet. Wichtiger noch ist das Verhältnis Jims zu "Plato", der nach idealistischer, über den rein antithetischen Charakter der Kameradschaft hinausgehender Freundschaft sucht. Jims Verhalten zeigt hier schöne Konformität mit den überkommenen Vorstellungen: sich selbst als "underdog" fühlend, verweigert er dem noch ausgeprägteren "Untertyp" die Freundschaft, als dieser mit ihm konkurrierend ihm gleich sein will. "Plato" muss sich mit der reinen "acceptance", mit dem du-bist-schon-in-Ordnung zufriedengeben.

Jim Stark hat keine Alternativlösung, um sich von der Gesellschaft, der Familie, dem gang zu lösen. Sein Ausbruch endet im Leeren, in dem alten, schlossähnlichen Haus. Hier in einer verlassenen grossväterlichen Welt versuchen Jim, Judy und Plato intaktes Familienleben zu inszenieren. Auch in den Planetariumsszenen entfaltet sich ein menschenleerer Kosmos, der in seiner Unheimlichkeit zuerst bewitzelt, dann lyrisiert wird: "Die Welt wird in der Morgendämmerung untergehen". Wie die Flucht ins Planetarium oder in das unbewohnte Haus die Abwendung von der Gesellschaft zeigen, weist auch die erste Sequenz, in der ein trunkener Jim Stark mit einer beweglichen Puppe spielt, auf einen Rückzug aus der menschlichen Umgebung hin. In dieser Szene nimmt Dean jenen Kindcharakter an, den wir auch - in anderer Form - bei Jerry Lewis finden. (Vgl. die Puppenszene in "The Errand Boy").

In diesem Zusammenhang ist die übergrosse Verehrung zu sehen, die James Dean (nach Bast) für St. Exuperys "Der Kleine Prinz" pflegte. "Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar", "Man kann nur mit dem Herzen sehen". Diese Worte des "Kleinen Prinzen" sind kennzeichnend für Dean, wie für die Millionen Deans in allen Staaten, die mit diesen Worten ihre sentimentale Hilflosigkeit vor einer funktionell-durchrationalisierten Welt verbergen wollen, ja sie bisweilen als Entschuldigung allgemeiner Denkenthaltung anführen.

Die Kenntnis St. Exupérys mag James Dean als Kenner von Literatur und Kunst auszuzeichnen. In Wirklichkeit ist sein privates Verhältnis zu diesen Dingen ein recht amerikanisches, wie Gorer es referiert. Er las alles, sah alles, was ihm vor die, übrigens kurzsichtigen, Augen kam. So häufte er ein beachtliches Wissen an, konnte aber, wie Bast meint, Zusammenhänge grösserer Art schwerlich selbst herstellen. Die Beschäftigung mit Freud, ortsüblich, zeigt sich an einem von ihm gemalten Bild, das Bast so beschreibt. "Es war ein Ölgemälde und stellte das nur mit einer greulichen grünen Haut überzogene Skelett eines Mannes dar, der bis zu den Hüften in dem Abflusswasser eines langen, einem Abzugskanal ähnlichen und in der Perspektive sich verjüngenden Stollens stand. Den Kopf und einen Arm erhoben, als flehe er um Rettung, zerschmolz er langsam in dem Schmutzwasser, das unter ihm floss und löste sich in ihm auf. Jimmy nannte das Bild ,Mensch in einer Gebärmutter'." Neben der Malerei übte sich James Dean nacheinander in Lyrik, Jazz, Bildhauerei und Photografie, deren bevorzugtes Objekt er selbst war.

Beschäftigung mit Kunst und darüber hinaus mit Fragen der Philosophie und Psychologie als Antithese zur gesellschaftlichen Umgebung des jugendlichen James Dean, weisen über ihn hinaus auf die beiden grossen, hauptsächlich von Jugendlichen getragenen, anomischen Gruppen, die sich inzwischen in den Vereinigten Staaten herausgebildet haben: HIP und BEAT. Die Mitglieder beider Gruppen verhalten sich antigesellschaftlich, akzeptieren aber in ihren "Subkulturen" bestimmte, auch von der Gesellschaft praktizierte Verhaltensnormen, besonders die "Hipsters", wie auch allgemein die ganze Generation der jugendlichen Amerikaner bezeichnet wird, in ihrer rein sentimentalischen Aversion gegenüber der Erwachsenen -, der Geschäftswelt: "HIP ist die Sprache des weisen Primitiven in einem gigantischen Dschungel. Deshalb entzieht sich das Verständnis des HIP dem zivilisierten Bürger", versucht Norman Mailer, zu definieren. Der Intellektualisationsprozess hingegen, den das Streben nach Autonomie bei den Beats durchläuft, verlangt die reflektierte Wahl zwischen Konformität und Nonkonformismus. Das hat in den Zeitläuften zu totaler gesellschaftlicher Abstinenz geführt, die Ablehnung aller institutionalisierter Mittel ist umfassend, reicht über Politik, Kirche, Besitz bis zur Manipulation durch die Massenunterhaltungsmittel, worüber ein Absatz aus Lawrence Liptons Inside-Bericht "Die heiligen Barbaren" Auskunft gibt: "Die Beats kaufen nur selten Zeitschriften und Zeitungen und drehen kaum das Radio oder das Fernsehen an, weil sie mit der Reklame und der versteckten staatlichen Propaganda in Zeitungen, Radio und Fernsehen nichts zu tun haben wollen _... Ich habe erlebt, dass sie ganz bewusst Waren boykottierten, für die viel Reklame gemacht wurde, und ohne auf den Wert zu achten, irgendeine andere Marke kauften, für die nicht geworben wurde."

Den Zusammenhang zwischen Dean und Beat hat Andersch erkannt. In sein Feature montierte er lange Passagen aus Allen Ginsbergs Gedicht "Das Geheul". Durch Verwendung von Miles Davies' Filmimprovisationen zu "Fahrstuhl zum Schaffot", betont er auch richtig die Nähe zum Jazz.

Ist einerseits die Stellung Deans auf der Leinwand und im Privatleben als Produkt seiner gesellschaftlichen Umwelt klar, lässt sich doch seine kommunikative Rückbeziehung auf eben diese Welt durch den Film kaum abschätzen. Der Einfluss, den er mit seinen nur drei Filmen hatte, zielte eindeutig in eine Richtung: Erstellung eines Leitbildes für den maladjustierten Jugendlichen im "Kampf" gegen Eltern und Gesellschaft. Dass die Stellung des Helden in seinen Filmen in ihrer Grundsituation stets gleich, aber auf verschiedene Landschaften und Geschichten auch verschieden relativiert war, verstärkt diesen Eindruck nur. So ergänzt der Caleb aus "Eden" den "Jim" aus "denn sie wissen nicht was sie tun _..." in seinem Einfluss, was sich gut am deutschen Beispiel ablesen lässt: es werden nicht nur die schon aussen-geleiteten Jugendlichen der sozial niederen Schichten sondern durch Caleb auch die des mittleren und oberen Bürgertums angesprochen.

Zu seinem Einfluss auf die Kleidung der jungen Europäer lassen sich einige Feststellungen machen. Während die Lederjacke als Symbol der Mannesgeltung und die engen Bluejeans, "das Décolleté der Hüfte" (H. Habe), als das der sexuellen Potenz sich in breiten Kreisen einbürgerten, blieben die traditionell leibscheuen Jugendlichen - vorläufig - bei jener weiten Kleidung, die auch James Dean im Privatleben bevorzugte. In dieser Leibscheu, die Dean in seinen photographischen Selbstportraits zum Narzissmus steigert, liegt wiederum die Ablehnung des üblichen "necking"- und "petting"-Verhaltens der amerikanischen Jugendlichen, die heute Kunststoffbüsten Deans, die bei Erwärmung auf Körpertemperatur richtiges Hautgefühl vermitteln, schätzen gelernt haben. Das Fassmich-nicht-an der Caleb, Jim Stark und Jett Rink wurde nach Deans Tod ins Gegenteil verkehrt.

Der Einfluss Deans kann natürlich nur in der konformrezeptiven Einstellung der Jugendlichen zum massenkommunikativen Leitbild gesehen werden. Die Verlagerung der Vorbildwahl aus der Familie und aus der geschichtlichen Tradition heraus auf die gesellschaftliche Gegenwart führt direkten Weges zum Phänomen des Stars, das eine neue Form mythologischer Heldenverehrung markiert. Den mythologischen Helden Dean, die ausser Zeit und Raum existierende Abstraktion seiner Rollen, schildert Edgar Morin in seinem Buch "Les Stars": "Er muss sein Schicksal im Kampf gegen die Welt schmieden, _... stellt seine Fähigkeiten unter Beweis und drückt zugleich seine Sehnsucht nach einem fast allumfassenden, totalen Leben aus".

Diese Abstraktion erleichtert die Identifikation unter veränderten Bedingungen. Gelingt sie nicht ganz, treten in der Filmgeschichte national abgewandelte Leitbilder hinzu, die die speziellen Fragen des eigenen Landes berücksichtigen. So tauchen fast gleichzeitig oder nur kurze Zeit später die Horst Buchholz, Zgbiniew Cybulski, Gérard Blain oder Albert Finney auf. Muss man dabei Cybulski als ideologische Relativation begreifen, so werden Finney und Buchholz allein auf die sentimentale Rebellion in der sozial umgrenzten Arbeiterjugend bezogen. Im Nachhinein erscheint uns auch der anarchistische, bisweilen faschistisch sich gebärdende Belmondismus in Frankreich als konsequente Weiterführung des Deanschen Mythos. Der etwas linkische, physiognomisch eher geeignete Nachfolger Deans in de Gaulles Reich, Gerard Blain, konnte sich dagegen nicht behaupten. Der Zusammenhang mit der Ausstrahlungskraft des gleichzeitig auftauchenden Rock'n Roll-Interpreten Elvis Presley lässt den Wandel des Leitbildes leicht aufzeigen. Filmstar Presley, heute nur noch der sympathische Junge, hat allenfalls noch individuell erotische Schwierigkeiten.

Sympathischer Junge ist auch Anthony Perkins, der unter den amerikanischen Jungstars wohl am meisten akklamiert wird. Sein Verhalten nach aussen ist durchaus gesellschaftskonform, aber hinter der Fassade wird jene seelische Landschaft erkennbar, die Perkins in "Psycho" oder "Der Prozess" bewohnt.

In seiner eigenen Stellung als Leitbild einer Generation trat James Dean die Nachfolge Marlon Brandos an, der den lyrischen Lederjacken gerade entwachsen war. Gemeinsam hatten sie ein bestimmtes Kompensationsbedürfnis ihrer "underdog"- Gefühle, die sich in Tierliebe, Motorrädern und Sportwagen niederschlug. Gemeinsam hatten sie auch die Schauspielausbildung nach jener Stanislawskij-Methode, die Strasberg und Kazan im new yorker "Actor's Studio" kultivierten, einer Methode, die die Selbstanalyse und totale Identifikation mit der Rolle forciert: "Ich versuche die Wirklichkeit eines Stückes zu jener des Schauspielers zu machen: die darzustellende Person muss mit der Persönlichkeit des Schauspielers identisch sein", meinte Kazan selbst dazu. Und James Dean: "Ein Schauspieler muss das Leben darstellen, und um das zu «innen, muss er bereit sein, alle Erfahrungen, die das Leben zu bieten hat, auf sich zu nehmen _... Er darf in seinem Bemühen nicht ablassen, im Lagerhaus seines Unterbewusstseins alles aufzuspeichern, was er vielleicht einmal als Ausdrucksmittel seiner Kunst würde brauchen können. Nichts sollte dem Künstler wichtiger sein als das Leben, nicht einmal das eigene Ich. Die volle Bedeutung des Lebens zu erfassen, ist die Pflicht des Schauspielers, es darzustellen, sein Problem. Und ihm Ausdruck zu geben, seine Berufung" (Bast).

Dass James Dean - wie Brando - seine grösste Leistung unter der Regie Kazans erreichte, ist bezeichnend für den Erfolg der "Methode". Der Zwang seiner Darstellung wirkte ähnlich wie der der neorealistischen Magnani, wobei anzumerken ist, dass die Stanislawskij-Methode in der Nachfolge der ersten Importe neorealistischer Filme in die USA gesehen werden muss.

Die Grenzen von Deans Schauspielkunst zeigen sich in "Giganten" (Regie: George Stevens), deren letzte Episoden einen 60jährigen Jett Rink auf die Leinwand bringen. In seiner Bitterkeit und Einsamkeit scheint allerdings eine logische Entwicklung dieser Jugend zu liegen, die auch Ginsberg in einigen Versen beschreibt:

"Ein paar alte Männer leben noch, aber die Süchtigen sind fort - Wir sind Legende, unsichtbar aber legendär, wie vorausgesagt." Dean wurde 24 Jahre alt; er verunglückte am 30. September 1955 mit einem Sportwagen.

"Als James Dean tot war, hatten sich alle aufgemacht, ihn zu suchen _..." Es war die Suche nach dem Citizen Dean. Sein Xanadu war leer. Sein "Rosebud", alles was ihm gehört hatte, wurde zu Phantasiepreisen gehandelt. Der kleine Prinz selbst war zu seinem Planeten zurückgekehrt.       3§Hanns Fischer
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[Die an dieser Stelle abgedruckten Literaturnachweise zu Visconti wurden an die zugehörige Stelle in das Heft 37 gezogen.]


Rückumschlag

Mein Problem - das Problem, mit dem ich mich befasse - sind die Gefühle. Wenn man heute einen Film gestaltet, muss man nach meiner Überzeugung vor allem zwei Dinge im Auge behalten: einmal die Wirklichkeit um uns herum sowohl in ihren alltäglichsten als auch in ihren aussergewöhnlichsten Erscheinungsformen, und zweitens das Echo, welches diese Eindrücke in unserer Seele hervorrufen. Dabei ist es angesichts der Tatsache, dass die äussere Welt, die uns umgebende Wirklichkeit heutzutage etwas chaotisch ist und tiefgreifende Veränderungen durchmacht, ausserordentlich wichtig, das Wesen des Menschen von innen herzu betrachten. Man muss auch die Veränderungen des Menschen zu verstehen suchen, die Veränderungen in unserer Seele, in unseren Gefühlen, in unserer Psychologie.       Michelangelo Antonioni
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Verehrter Leser,
zunächst erfüllen wir wieder eine der wichtigsten Aufgaben der Filmclubs: wir belegen die Filmhistorie mit Beispielen, wobei wir uns bemühen, Ihnen Filme zu zeigen, die im allgemeinen nur schwer zugänglich sind, aber oft gerade die überzeugendsten Dokumente darstellen. Nachdem Sie in den vergangenen Semestern deutsche Stummfilme wie "Faust" und "Tartuffe" sahen, wollen wir lhnen diesmal Filme aus den Anfängen des Tonfilms - etwa um das Jahr 1930 - vorstellen. Wir begannen diese Reihe, in die auch René Clairs "Unter den Dächern von Paris" gehört, mit "Der blaue Engel" und "Liebelei" und setzen sie nun fort mit "Der Kongress tanzt", "Die Drei von der Tankstelle" und "Rasputin".
Ferner fassen wir diesmal Frankreich näher ins Auge, um Ihnen Werke des späten sogenannten "Poetischen Realismus" vorzuführen, einer Epoche, die etwa von 1930 bis 1939 datiert und die geprägt ist einmal vom Erlebnis der Weltwirtschaftskrise, die eine im Inneren widersprüchliche Gesellschaft zeitigte, und zum anderen von der Vorahnung des Zweiten Weltkrieges. Die Kennzeichen dieses "Realismus", der nicht eigentlich ein Realismus ist und deshalb den Beinamen "poetisch" beigelegt bekommen hat, sind sozialkritische Themen, Themen, die den einzelnen und sein Verhältnis zur Gesellschaft untersuchen, Darstellungen, in denen die düsteren Komponenten des Lebens und eine pessimistische Einstellung zum Dasein vorherrschen. Wir zeigen Ihnen Filme von späten Vertretern dieser Gruppe von Regisseuren, nämlich von Renoir und dem Team Carné-Prévert, nachdem wir Sie schon mit den frühen Vertretern wie Clair, Feyder und Vigo bekanntgemacht haben. Von Carné zeigen wir "Der Tag bricht an", von Renoir drei Filme, die nicht unbedingt alle diese Thematik treffen, die aber sonst kaum zu sehen sind, nämlich "The River", "Die Marseillaise" und "Eine Landpartie". Noch zutreffender wären "Die Spielregeln" und "Die grosse Illusion", die Sie aber schon sahen. Schliesslich zeigen wir mit Allegret und seinem Film "Die Hochmütigen" einen Regisseur, der diese Filmart nach dem Kriege als "films noirs" fortsetzte.
Neben der Pflege der Historie bemühen wir uns wie immer um das Verständnis des neuen Films. Wir versuchen diesmal, zur Auseinandersetzung mit dem neuen deutschen Film anzuregen. Leider existieren aus finanziellen Gründen bis jetzt kaum Spielfilme des deutschen Regisseurnachwuchses, der sogenannten "Oberhausener". Zudem mussten ihre Filme mit zahlreichen Kompromissen hergestellt werden. Wir zeigen Ihnen trotzdem "Das Brot der frühen Jahre" von Vesely und "Tobby" von Pohland. Mit der Zielsetzung, Ihnen die "Oberhausener" vorzustellen, deckt sich auch unser Kurzfilmprogramm.
Wir hoffen, dass Sie mit unserem Ferienprogramm zufrieden sind.
Ihr Filmstudio


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Die Marseillaise (La Marseillaise)
Frankreich 1937/38
Regie: Jean Renoir
Darsteller: P. Renoir, L. Jouvet.
Mit "Die Marseillaise", einem 1937 gedrehten Film, den die Volksfrontregierung in Auftrag gab und die Gewerkschaft finanzierte, unternahm Renoir den ehrgeizigen Versuch, die französische Revolution in Marseille und Paris nachzuzeichnen. Er wollte damit nicht nur die französische Demokratie verherrlichen, sondern auch in dieser Zeit vor dem Krieg daran erinnern, was von der in der Revolution gewonnenen Freiheit auf dem Spiele stand.
Der Film lebt wesentlich von der Bildwirkung. Die einzelnen Szenen aus dem Marseiller Schiffermilieu, der Marsch der Revolutionäre, der festliche Einzug in Paris, die Einnahme der Tuillerien, zeigen Renoirs sicheren Blick für das Malerische und Dekorative. (Um diesen Film zu drehen, unterbrach er die Arbeit an "Eine Landpartie".) Den Sequenzen, in denen kritisch die Lächerlichkeit der monarchistischen Emigranten unter Beweis gestellt wird, setzt er eine der Intelligenz des entthronten Ludwigs XVI. gerechtwerdende Charakterisierung gegenüber.
Der Realismus der Details, der diese dokumentarischen Gemälde auszeichnet, schadet dem dramatischen Aufbau, der nach mehr Distanz vom Geschehen verlangt hätte.       rb

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Der Fluss (The River)
USA 1950/51
Regie: Jean Renoir
Kamera: R. Godeen, J. Renoir
Renoir bekam den Auftrag eines Mäzens für diesen Film, den er in Indien drehte, nach seiner Rückkehr aus der amerikanischen Emigration. Der Film rechnet zum Alterswerk des Regisseurs. Er erzählt von dem ersten Liebeserlebnis dreier junger Frauen und stellt eigentlich einen Hymnus an das Leben dar, das einem Strom vergleichbar ist. Wo es der Geschichte an Tiefe fehlt, gleicht Renoir das durch wunderschöne dokumentarische Passagen aus.       N.

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Rasputin
Deutschland 1932
Regie: Adolf Trotz
Darsteller: Conrad Veidt, C. L. Diehl, B. Horney, F. Kinz, Th. Loos, P. Henkels
Wir zeigen diesen Film, der ein französisches Pendant besitzt, das sechs Jahre später gedreht wurde, aus filmhistorischem Interesse.

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Eine Landpartie (Une partie de campagne)
Frankreich 1936-1947
Regie: Jean Renoir
Produktion: P. Braunberger
Musik: J. Kosma.
Renoir drehte diesen Film nach einer Novelle von Maupassant: Eine Frau wird an ein glückliches Jugenderlebnis erinnert, und sie, die inzwischen zur Spiessbürgerin geworden ist, erkennt, dass sie das Glück nicht festzuhalten gewusst und ihr Leben vertan hat und vor allem weiter vertun wird.
Der Film nimmt eine Sonderstellung in Renoirs Werk ein. Der Regisseur schuf hier die neue filmische Form der Filmnovelle. Viele halten den Film für Renoirs Meisterwerk, obwohl den sozialen Aspekten, die Renoir sonst sehr akzentuiert, nur wenig Raum gegeben wird. Das Werk ist vielmehr von naturhafter Poesie bestimmt und zeigt deutlich die Einflüsse des Impressionismus.       B.

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Das brot der frühen jahre
(Hier nur die Besprechung aus Heft 37:)
Herbert Vesely hatte zehn Kurzfilme gedreht, bevor er sich des literarischen Vorwurfs von Heinrich Böll annahm, um jenen für seinen ersten Spielfilm umzufunktionieren; das Ergebnis ist zwar frei von Clischés der Erzählung, hat aber neue durch die perfektionierte Kamera Wolf Wirths aufgesetzt bekommen.
Walter Fendrich, der Protagonist, erfährt einen Bruch in seinem Leben, als er Hedwig begegnet, einem Mädchen, das er jahrelang nicht mehr gesehen hat; Fendrichs Flucht aus der Realität in die antizipierte Zukunft mit Hedwig vermag Vesely durch Aufheben der Zeitkontinuität, durch Rück- und Vorblenden und durch Doppelschau optisch umzusetzen; jedoch mangelt es dem Film an der Gestaltung der Realität, aus der heraus zwei Menschen sich verändern wollen. Die Handlungen sind reduziert auf die Möglichkeiten der Aktion, der schwebende Zustand der Darsteller vernachlässigt die fixierte Problematik.
Der Eindruck, dass Vesely das Portrait einer Stadt habe projizieren wollen, wird verstärkt durch die starke Beweglichkeit der Kamera: sie lässt das Idealbild einer Welt transparent werden, die es nie geben kann, weil darin nur die Menschen leben könnten, die sich vom Zwang der Gesellschaft befreit haben; diese Liberation ist jedoch unmöglich. Veselys Versuch, eine neue Welle in Deutschland zu kreiern, ist weitestgehend fehlgeschlagen. Das Interesse, das wir dem Film entgegenbringen, gilt dem Experiment, dem vielleicht ein Neubeginn folgen wird.       DD

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Der Kongress tanzt
(Hier nur die Besprechung aus Heft 37:)
Mit der Erfindung des Tonfilms mogelten sich neben dem Wort auch die Musik und besonders die altgewohnten Operettenklänge auf die Leinwand. "Der Kongress tanzt" nach bewährtem Wiener Ritual: die politische Vertretung, der Adel, taucht in den Waschzuber eines süssen Madels. Seine Bedeutung für einen Schwanz ähnlicher Produktionen ist allenfalls von filmhistorischem Interesse: zweifellos ist die technische Invention im Zeitpunkt seines Entstehens bedeutend. Zur Frage der politischen Abstinenz siehe Remake des Jahres 1961.       HF

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Die drei von der Tankstelle
Deutschland 1930
Regie: Wilhelm Thiele
Darsteller: L. Harvey, W. Fritsch, H. Rühmann, O. Karlweiss
Drei junge Leute, denen das Geld ausgegangen ist, versetzen ihr Auto und kaufen sich dafür eine Tankstelle. Sie verlieben sich alle drei in eine junge Dame, die mit ihrem Sportwagen regelmässige Kundin des Betriebes ist. Einem der Freunde gelingt es schliesslich, das Mädchen zu erobern.
In diesem Film kann man die Anfänge des Musicals studieren. Wie in "Der Kongress tanzt" wird hier bewiesen, dass Tanz und Chanson ohne weiteres ein harmonisches Ganzes mit einer regulären Spielhandlung bilden können. Als besonderer Reiz kam das Ungewöhnliche des Schauplatzes der Handlung hinzu.
Vorzuwerfen wäre dem Film, dass er das Elend der Arbeitslosenzeit durch seine Neigung zum Harmlosen verfälscht darstellt.       R.

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Tobby
Deutschland 1961
Regie: Hans Jürgen Pohland
Darsteller: Tobias Fischelscher
Nach dem Vorbild des CINEMA VERITE der Franzosen Jean Rouch und Edgar Morin ("Chronique d' un été") versucht Pohland hier die Lebensgewohnheiten, Allüren, Passionen, Schrullen und Träume des berliner Jazzsängers Tobias Fischelscher zu notieren. Trotz gewisser Sentimentalitäten (z. B. die zeitweilig deutlich werdende Vorliebe der Autoren für ein der "beatitude" der amerikanischen Beatniks nahes Lebensgefühl), einer sehr manirierten Kamera (Wolf Wirth produziert schöne Bilder im Stil des "Twen") und sehr konventioneller Montage: der gelungene Versuch einer Dokumentation.       CC

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Der Tag bricht an (Le jour se lève)
Frankreich 1939
Regie: Marcel Carne
Darsteller: Arletty, Jean Gabin u. a.
Die Geschichte vom Proletarier, der einen Rivalen umgebracht hat und sich nun vor der Polizei in seinem Dachzimmer verbarrikadiert, trägt mythische Züge. Jede Person lebt in einem Zirkel, dessen Grenzen undurchbrechbar sind. Dialog, Dekor besitzen symbolischen Stellenwert: sie bezeichnen das Aussenseitertum des Protagonisten, illustrieren sein Benachteiligtsein gegenüber der Gesellschaft, die als unaufrichtig ungerecht konzipiert ist.       CC

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Die Hochmütigen (Les orgueilleux)
Frankreich 1953
Regie: Yves Allegret
Darsteller: Michele Morgan, Gerard Philippe.
In einer epidemieverseuchten mexikanischen Hafenstadt wartet eine Europäerin auf das Schiff, das sie nach Hause bringen soll.
Dieses Warten vollzieht sich in einer Umgebung, die aus Misstrauen, Neid, einer unheimlichen Krankheit, Hitze, Schwüle, einer unverständlichen Sprache sich zusammensetzt. Der Regisseur suggeriert "Fatalität und Todesnähe" (Patalas, Gregor) doch nur zum Selbstzweck des Nervenkitzels. Exemplarisch wird der Film nicht.       CC

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